Die geistige Signatur der Gegenwart

Rudolf Steiner: Die geistige Signatur der Gegenwart. Vortrag vom 28.7.1921, GA 77a, S. 53ff. | Zwischenüberschriften H.N.


Inhalt
Das wesenlos gewordene Denken
Moderner Autoritätsglaube und Uniformierung
Das antisoziale Element
Die anthroposophische Geisteswissenschaft...
...appelliert an den individuellen Menschen
Das reine Denken und das soziale Wollen
Bewusstes Erringen des Seelisch-Geistigen 


Das wesenlos gewordene Denken

[...] Vielleicht wird es manchen sonderbar, ja paradox berührt haben, als ich gestern einen Satz aussprach, der eigentlich mit sehr vielem in Widerspruch steht, was gerade da in der neueren Menschheitsgeschichte heraufgezogen ist, wo man Weltanschauungen zu gestalten beabsichtigt. Ich habe den Satz ausgesprochen, daß der Mensch, wenn er so recht heranwächst im naturwissenschaftlichen Bewußtsein, das ja längst zum allgemeinen Menschheitsbewußtsein geworden ist und das auch in gewisse religiöse Auffassungen übergegangen ist –, daß sich der Mensch da einen Seinsbegriff aneignet, ein Gefühl vom Existieren auch seiner selbst, den er nicht mehr festhalten kann, wenn er in seiner Selbstbesinnung auf sein eigenes Denken zurückblickt. Ich habe den Satz ausgesprochen, daß der Mensch aus dem Zeitbewußtsein allein – und ich meine damit das Bewußtsein der letzten drei bis vier Jahrhunderte schon – zu dem Satz kommen kann: „Ich denke, also bin ich nicht“. – Der Mensch kann den Seinsbegriff, den er braucht, um seine naturwissenschaftliche Weltanschauung zu rechtfertigen, nicht auch gleichzeitig anwenden darauf, was sich ihm in [55] seinem Denken, namentlich in seinem intellektuellen Leben erschließt. Und man muß vielleicht in dem Weltanschauungsstreben, das mit Descartes heraufgezogen ist, und das doch fast das ganze Weltanschauungsstreben der neueren Zeit infiziert hat, man muß in dem Satze „Ich denke, also bin ich“ mehr eine Art Rettungsversuch sehen, ein Suchen nach irgendeinem festen Punkte im eigenen Innern. Man muß das Heraufkommen dieses Satzes „Ich denke, also bin ich“ psychologisch ergreifen, könnte man sagen. Und die Psychologie könnte uns sagen: Die Philosophen und diejenigen, die ihnen anhängen, beschäftigen sich mit diesem Satze, glauben an diesen Satz, weil er ihnen eine gewisse illusorische Hilfe bietet gegen das Versinken im Nichtsein, [das einen ereilt,] wenn man auf das eigene Innere blickt und sich für das Sein an der äußeren naturwissenschaftlichen Weltanschauung heranerzogen hat. [...] Man wird aber nur zum Verständnis des eben Ausgesprochenen [56] gelangen, wenn man [...] sich ein wenig bekanntmacht mit der Signatur unserer Zeit, mit den hauptsächlichsten charakteristischen Eigenschaften dieser unserer Zeit.

Moderner Autoritätsglaube und Uniformierung

Und eine solche, man kann sagen auf alle übrigen lichtwerfende Eigenschaft, folgt gerade aus der Art und Weise, wie die Menschheit unseres Zeitalters der wissenschaftlichen Überzeugung gegenübertritt, in die man sich in den letzten Jahrhunderten eingewöhnt hat. Meine verehrten Anwesenden, der Mensch ist heute so stolz darauf, zu sagen, er habe den Autoritätsglauben der früheren Jahrhunderte, wie ihn die Bekenntnis-Verwaltungen vorgeschrieben haben, abgestreift. Der Mensch ist heute so stolz darauf, sich zu sagen, er glaube nur an das, was er in seinem eigenen, persönlichen Wesen ergreifen könne. Und dennoch ist es für den Tieferblickenden so, als ob der alte Autoritätsglaube der Bekenntnisreligionen nur auf ein anderes Gebiet übergesprungen wäre, und dieses Gebiet ist gerade das, was man mit einer großen Unbestimmtheit, aber dafür mit einem umso stärkeren Glauben, abstrakt „die Wissenschaft“ nennt. Die Wissenschaft. – Sobald der heutige Mensch hört: „die Wissenschaft“, dann regt sich in ihm wiederum alles, was vom alten Autoritätsglauben einstmals nach ganz anderen Richtungen hingegangen ist. Was wissenschaftlich festgestellt sein soll, ist heute – aus Gründen, die sich die Menschen in weiteren Kreisen gar nicht sehr stark klar machen ~ eine Autorität von viel stärkerer Kraft, als jemals eine Autorität es war. Wie oft hört man heute die Antwort auf irgend etwas, was herausquillt als Frage aus dem menschlichen Innern: Die Wissenschaft sagt dieses oder jenes. – Diese allgemeine Macht, die Wissenschaft, hat heute alle Autorität für sich in Anspruch genommen. [57] Sie hat diese Autorität bei denjenigen Menschen, die von sich selbst der Ansicht sind, daß sie auf der Höhe ihrer Zeit stehen, auch mit Bezug auf Weltanschauungsfragen in Anspruch genommen.

Nun aber, welcher Art ist das Verhältnis der heutigen Menschheit gerade gegenüber der wissenschaftlichen Autorität? Die Dinge haben es mit sich gebracht, daß wissenschaftlich dasjenige anerkannt wird, wovon man glaubt, daß es jeder Mensch, so wie er nun einmal nach der gewöhnlichen Menschenerziehung, der gebräuchlichen Menschenerziehung bis zu einer gewissen Stufe hin sich entwickelt hat, begreift. Wissenschaft soll im Grunde genommen nichts anderes feststellen, als wozu jeder Mensch, wenn er eben nur die nötigen Vorbedingungen dazu hat, Ja sagen kann. Wissenschaft soll etwas ganz Allgemeines sein. Wissenschaft soll in jedem Menschen auf ein und dieselbe Art leben. Denn man weiß ja, wie es von denen, die vor allen Dingen an der Autorität der Wissenschaft hängen, aufgenommen wird, wenn von einer einzelnen Persönlichkeit irgendwo ein Aufbäumen gegen diese allgemeine Gültigkeit des wissenschaftlichen Urteils stattfindet. So daß man sagen könnte: Das Ideal wissenschaftlicher Weltanschauung ist das, daß sie eine Summe von Urteilen über Welt- und Menschheitsangelegenheiten gibt, die mit vollständigem Nivellement in jedem Menschen auf die gleiche Art gelten. Eine Uniformierung gigantischer Art, möchte man sagen, ist das Ideal dieser wissenschaftlichen Überzeugung.

Wenn man so etwas ausspricht, könnte es zunächst vielleicht sogar als eine Trivialität erscheinen. Im Leben bedeutet diese Trivialität aber außerordentlich viel. Denn bei dem großen Einflüsse, den Wissenschaft, namentlich insofern, als sie sich auf naturwissenschaftliche [58] Grundlagen stützt, in unserer Zeit gewonnen hat – und wie ich gestern ausgeführt habe, mit Recht auf gewissen Gebieten –, muß man annehmen, daß, wo Wissenschaftlichkeit die Menschen immer mehr und mehr uniformiert, es immer mehr und mehr so wird, daß der eine Mensch nur der Abklatsch des anderen wird. Und in der Tat, wenn man Wissenschaft nun nicht ihrem Inhalte nach nimmt, sondern darnach, was sie geleistet hat in der neusten Zeit in bezug auf die Entwicklung des Menschengeschlechts, so sieht man, wie diese Uniformierung aus der wissenschaftlichen Überzeugungskraft heraus zu einer allgemeinen Menschheitsangelegenheit gemacht werden will. Man braucht nur hinzusehen auf die furchtbaren, zerstörenden Mächte, die heute im Osten von Europa wüten – Mächte, deren Bedeutung hier leider in bezug auf ihre Zerstörungsgewalt noch immer nicht hinlänglich genug gewürdigt werden –, so sieht man, wie ja die Menschen, die sich heute solchen Zerstörungsgewalten mit einem gewissen Fanatismus hingeben, eigentlich davon ausgegangen sind, gewisse Lehren, die aus wissenschaftlichen Untergründen herauskommen, oder vielleicht besser gesagt eine gewisse Seelenverfassung, die aus diesen wissenschaftlichen Untergründen herauskommt, auch zur Basis des sozialen Denkens zu machen [wie auch der herrschende Neoliberalismus, der "Wohlstand" gerade dann verspricht, wenn "Wirtschaft" und Kapital frei schalten und walten können, H.N.]. Und was durch dieses Überführen der wissenschaftlichen Seelenverfassung in das soziale Denken angestrebt wird, jenes große Menschheitsgefängnis, wo eben der eine nur der Abklatsch des anderen auch in sozialer Beziehung sein soll, wie etwa im Leninismus oder Trotzkismus, da wird es bis zur Paradoxie, aber allerdings bis zur höchst tragischen Paradoxie geführt. Man sieht schon überall – ich habe ja da nur hingewiesen auf einen extremen, einen radikalen Fall –, man sieht [59] schon überall, man könnte sagen wie ausfließend in den Entwicklungstendenzen unserer Zeit, wie die wissenschaftliche Seelenverfassung dieses Nivellement der Menschheit bewirken will. Das ist im Grunde eine der Hauptkräfte, welche in der Signatur der gegenwärtigen Menschheitsentwicklung sich finden: dieses Nivellement von der Theorie, vom Denken, vom Forschen her. Dadurch wird gar nichts gesagt gegen die Berechtigung dieses Forschens, wie aus meinen gestrigen Ausführungen hervorging. Denn auf naturwissenschaftlichem Boden ist dieses Forschen eben voll begründet, und es hat die Wissenschaft und die Technik einmal zu den großen, voll berechtigten Triumphen geführt, die ich hier nicht zu schildern brauche.

Das antisoziale Element

Diesem einen Pol der neuzeitlichen Menschheitsentwicklung steht nun aber allerdings ein anderer gegenüber, der nicht minder zur Signatur der gegenwärtigen Geistigkeit der Menschheit gehört. In demselben Maße, wie vom Intellekt und von der intellektualistischen Naturbeobachtung her dieses Nivellement der Menschheit angestrebt wird, in demselben Maße rächt sich in der menschlichen Natur das Individuelle, das Persönliche; es treten ja überall in der Welt Polaritäten auf, hier ist auch eine solche, eine innerliche. Und wir sehen, wie gegenüber dem eben geschilderten Nivellement auf der anderen Seite die instinktiven Kräfte der Menschennatur auftreten. Man möchte sagen bis zum animalischen Niveau hin treten die Willensimpulse mit instinktiver Gewalt aus dem Individuellen des Menschen heraus. Während die Menschen mit ihrem Kopf hinstreben nach einem gewissen Nivellement, macht sich überall das Allerpersönlichste aus den Untergründen des Menschen heraus geltend, dasjenige, was den einzelnen Menschen von je-[60]dem Nebenmenschen im höchsten Maße unterscheidet. So daß wir in dem Augenblick, wo wir absehen von den Gedanken, die sich die Menschen über die Welt im angedeuteten wissenschaftlichen Sinne machen möchten, und übergehen zu dem, was die Menschen fühlen, was die Menschen als Grundlage, als Impuls ihres Wollens anerkennen, wir sehen können, wie die Menschen vollständig aneinander vorbeigehen, wie der einzelne für den anderen nicht mehr ein irgendwie geartetes Verständnis hat. Nur auf engste Kreise noch beschränkt sich ein – oftmals auch künstlich gezüchtetes – Verständnis des einen Menschen für den anderen. Die Menschen verstehen sich heute nicht. Wir reden so viel von sozialen Idealen, von künstlichen Institutionen, welche ein soziales Leben herbeiführen sollen, und dies hauptsächlich aus dem Grunde, um uns über die elementare Tatsache hinwegzutäuschen, daß wir in unserem Instinkt, in unserer Willens- und Gefühlsentwicklung eigentlich furchtbar antisozial geworden sind. Ein antisoziales Element geht durch die Menschheit, sobald man von dem Gedankenleben absieht, und auf dasjenige sieht, was in den Untergründen des Gefühlslebens, in den Untergründen der Willensimpulse eigentlich lebt. Das ist der große Streit in unserer Zeit, in den die Menschheit eingesponnen ist: daß sie auf der einen Seite ein Kopfnivellement sucht und auf der anderen Seite aus den Untergründen der menschlichen Organisation heraus eine Differenzierung entwickelt, die eigentlich in unerhörtester Weise antisozial wirkt. [...] [61] [...]

Die anthroposophische Geisteswissenschaft...

Dem gegenübergestellt findet sich in einer gewissen Weise jene anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft, die eine Angelegenheit des ganzen, des Vollmenschen werden will, die sein Gefühl und seinen Willen ergreifen will. Sie schöpft auf der einen Seite, wie ich gestern ausgeführt habe, aus Erkenntnisquellen, welche in das menschliche Innere hineinschauen lernen. Sie schöpft aus gewissen Fähigkeiten, die über die alltäglichen hinaus durch die gestern angedeutete Methode entwickelt werden können. Sie schöpft aus diesen latenten, im gewöhnlichen Leben und in der gewöhnlichen Wissenschaft schlafenden Erkenntniskräften heraus etwas, was hinunterschaut in die menschliche Natur, in diejenigen Regionen, die im gewöhnlichen Leben durch das so notwendige Erinnerungsvermögen, durch das Gedächtnis, zugedeckt werden, so wie der Raum, der hinter einem Spiegel ist, durch den Spiegel zugedeckt wird. Durchbrechen wir auf dem gestern angedeuteten Wege das, wovor die Kraft unseres Erinnerungsvermögens steht, entwickeln wir Kräfte zur übersinnlichen Schau, dann gelangen wir allerdings, wie ich es gestern angedeu-[62]tet habe, zuerst dahin, die menschlichen Organe selbst in ihrer Lebendigkeit zu durchschauen. Wir gelangen da hinein, wohinein eine lebendige Medizin forschen muß, wohinein eine lebendige Anthropologie forschen muß. Aber wir gelangen dann über das, was wir am gegenwärtigen Menschen als das Geistig-Materielle finden, hinaus zu dem vorgeburtlichen Menschen, besser gesagt zu dem Menschen, wie er war in der geistigen Welt, bevor er dieses Erdenleben angetreten hat durch die Konzeption. Wir gelangen zu einer wirklichen Erweiterung derjenigen Kräfte des menschlichen Seelenlebens, die sich sonst – die Spanne Zeit ausfüllend, die da liegt einige Jahre nach unserer Geburt bis zu unserem gegenwärtigen Zeitpunkte – nur über dieses Leben innerhalb des irdischen Daseins erstrecken. Wir gelangen dadurch, daß wir das Gedächtnis durchbrechen, zu einer höheren Seelenkraft, zu einer höheren Erkenntniskraft; wir gelangen dadurch zum Anschauen der geistig-seelischen Wesenheit des Menschen, wie sie war, bevor der Mensch für dieses Erdenleben hier konzipiert worden ist. Und von da aus geht dann die Strömung, an welche zu denken dem heutigen Menschen so schwer wird: die Strömung, von der Selbsterkenntnis aus zur Welterkenntnis vorzudringen.

Ich weiß sehr gut, meine verehrten Anwesenden, wie sehr paradox befunden wird, was ich von Welterkenntnis in meiner „Geheimwissenschaft“ gezeichnet habe. Ab er wer sich hineinfindet in dieses Wachsen einer übersinnlichen Erkenntniskraft, in dieses – ich möchte den Ausdruck lieber gar nicht gebrauchen, weil heute so viel Mißbrauch damit getrieben wird –, in dieses wahre, echte Hellsehen, der wird schon finden, wie sich erweitert, was sonst nur für eine kleine Spanne Zeit in der Erinne-[63]rungsfähigkeit gegeben wird, wie es sich erweitert zu einer Welterkenntniskraft.

Das, was hier vorliegt – gewiß, die Leute sagen immer, man solle das beweisen. Aber diejenigen, die immerfort und bei jeder Gelegenheit vom Beweisen sprechen, die haben sich nie bekannt gemacht mit der Natur des Beweisens selbst. Bewiesen werden kann nur, was zunächst als Tatsache wenigstens vermutet wird. Alles andere sogenannte Beweisen ist ein dialektisches Spielen mit Begriffen, ist ein Häufen von Begriff auf Begriff. Und die Menschheit gibt sich in bezug auf dieses Beweisen, das so oftmals gefordert wird, nur großen Illusionen hin; gegen das berechtigte Beweisen soll damit nichts eingewendet werden, selbstverständlich. Der anthroposophische Forscher hat einfach hinzuweisen darauf, was sich ihm ergibt, wenn das Erkenntnisvermögen in der angedeuteten Weise erweitert wird. Und was da geschieht, möchte ich in der folgenden Weise andeuten. [...] [65]

Der Mensch hängt in seiner ganzen Wesenheit mit dem gesamten Weltendasein zusammen. Und wie er als der Mensch, der eingeschlossen ist zwischen Geburt und Tod, nur damit zusammenhängt, was er in der charakterisierten Weise gemeinsam mit der Welt genossen oder erlebt hat, so hängt er damit, was man dann durch weiteres Forschen in sich entdeckt, mit der gesamten Menschheitsentwicklung der Erde und auch mit der Erdentwicklung selber zusammen. Es ist nichts anderes, als zu gleicher Zeit eine Überwindung, ein Durchbrechen des Gedächtnisses und ein Wiederauftreten der Gedächtniskraft auf einer höheren Stufe. Indem wir diejenige Gedächtniskraft im kleinen, die uns unsere irdischen Erlebnisse bewahrt, überwinden, gelangen wir auf einer höheren Stufe zu einer neuen Gedächtniskraft, durch die wir die Bilder entwickeln können von den Schicksalen, die die Erde selber durchgemacht hat in anderen planetarischen Formen, wie ich das in meiner „Geheimwissenschaft“ dargestellt habe. [...] [66]

So sehen wir, meine sehr verehrten Anwesenden, wie anthroposophische Geisteswissenschaft eine Erweiterung des Menschheitsbewußtseins wird. Wir sehen, wie man dadurch, daß man in größere Tiefen des Menschenwesens hinuntersteigt, zu gleicher Zeit hineinsteigt in das objektive Weltenwerden. In demselben Maße, in dem man gewissermaßen für Augenblicke verzichtet auf das gewöhnliche Innenleben, tritt in dieses Innenleben hinein, was sonst objektives Außenleben geblieben ist. In demselben Augenblick, in dem man untertaucht in die Regionen, die sonst dem Bewußtsein entzogen sind, taucht man in diejenigen Regionen ein, die uns als objektive Wesenheit, als Mensch herausgebildet haben aus dem gesamten Weltenall. Nicht anders kommt das zustande, was anthroposophische Geisteswissenschaft an Welterkenntnis liefern will. [...] [68]

...appelliert an den individuellen Menschen

Wer das ganz kennenlernt, was auf dem inneren Wege gesucht und gefunden wird, der wird immer mehr und mehr sich klarmachen können, wie sich da ein inneres Vermögen, eine innere Fähigkeit entwickelt, die eigentlich dem ähnlich ist, was der Mensch in der mathematischen Seelenverfassung hat. [Es ist] wie in der Mathematik, wo wir etwas haben, was uns einen bestimmten seelischen Inhalt gibt, der ganz aus dem Innern gewonnen ist. Denn die Mathematik ist ganz aus dem Innern gewonnen; wir wissen, daß eine mathematische Wahrheit wahr ist, wenn wir sie innerlich durchschaut haben, mögen auch Millionen von Menschen es anders sagen. Dasjenige, was sich da abspielt in der Seele, indem wir eine mathematische Wahrheit festzuhalten wissen, die zu gleicher Zeit innerlich und äußerlich ist, das spielt sich in ähnlicher Weise [in der Seele] ab, wenn wir – allerdings durch das Subjektive hindurch – zu dem innerlich Objektiven kommen, das uns in anthroposophischer Geisteswissenschaft wirklich vorliegen kann. Nur der Anfang des Forschungsweges ist subjektiv, von dem schweigt aber der wahre Anthroposoph. Das, was sich dann nach Überwindung der subjektiven Eigentümlichkeiten des Forschers ergibt, das ist durchaus ein Objektives, von dem kann man sprechen wie von einer äußeren Beobachtung, die man durch die Sinne oder auch durch die Waage oder mit dem Meßstab gemacht hat; geradeso, wie man von mathematischen Feststellungen sprechen kann, nur daß diese formal sind, während diejenigen Feststellungen, die man durch Geisteswissenschaft macht, eben inhaltvoll sind.

Das zeigt aber, daß diese anthroposophische Geisteswissenschaft vor allen Dingen bemüht ist, unmittelbar zum Menschen zu sprechen. Das ist auch ihre Aufga-[69]be. Während die gegenwärtige Wissenschaftlichkeit nach einem Nivellement strebt, gewissermaßen danach strebt, den einen Menschen zum Abklatsch des andern zu machen, kann anthroposophische Geisteswissenschaft nicht anders, als zu jedem Menschen als zu einer Individualität zu sprechen. Das ist, möchte ich sagen, das unmittelbare soziale Vertrauen, das man sich im Wirken für diese anthroposophische Geisteswissenschaft erwirbt, daß man nicht irgendetwas hinstellen will, was dadurch, daß man es erforscht hat, nun gelten soll für alle Menschen, sondern durch das man nur appellieren will an die Menschen, indem man sagt: man hat den Inhalt anthroposophischer Geisteswissenschaft selbst erforscht. Aber dieser Inhalt ist der wahre Inhalt der Menschennatur. Spreche ich zu den einzelnen Menschen, so spreche ich so, daß ich sie nicht im Nivellement sehe, sondern jeden einzelnen als Individualität anspreche. Ich rechne darauf, daß, weil ja der Mensch Mensch ist, weil die Menschen gleichen seelisch-geistig-leiblichen Ursprungs sind, daß verwandte Saiten anklingen, daß aus dem Innersten heraus auf individuelle Weise dasselbe wiederkommt, was von dem einen Menschen angeschlagen wird. Nicht so, wie man sonst in der Wissenschaft spricht, spricht man durch Anthroposophie zu den Menschen, als ob man Anhängerschaft für etwas nun einmal Festgestelltes suchen würde, sondern so spricht man durch Anthroposophie, daß man an das Innere eines jeden einzelnen Menschen appelliert und sagt: Wenn du in dein eigenes Inneres hineinschaust, dann entdeckst du auf diesem Wege in deiner eigenen Wesenheit das, was ich dir mitteilen will, weil ich es erforscht habe. – Die Art des Sprechens von Mensch zu Mensch über Geisteswissenschaft, alle Art des Unterrichtens nimmt einen anderen Ton, eine andere [70] Gesinnung an, indem man die Mitteilungen in Formeln der anthroposophischen Geisteswissenschaft hüllt. Das ist das, was an anthroposophischer Geisteswissenschaft wirksam ist gegen die Signatur unserer Zeit, wie ich sie geschildert habe: Dasjenige, was wiederum aus dem Denken, aber aus dem Denken aus dem Vollmenschen heraus, appelliert, appelliert zu gleicher Zeit an jeden einzelnen Menschen. Das Gegenteil davon ist das, was angestrebt wird im Nivellement. Es wird angestrebt die Individualisierung des Menschen durch das, was Erkenntnis ist, durch das, was Erarbeitung eines Weltanschauungsinhaltes ist. Dieser Inhalt anthroposophischer Geisteswissenschaft soll der allersubjektivste und zugleich der objektive, der allerpersönlichste und zugleich der allgemein geltende Inhalt der menschlichen Wissenschaftlichkeit sein. Die Menschheit der Gegenwart braucht diesen Gegensatz gegen das Nivellement. Von dem Nivellement ist ausgegangen das, was ich Ihnen geschildert habe, was im Grunde genommen ein antisoziales Element ist, weil es sich als Gegenpol geltend macht: das Unverständnis des einen Menschen gegenüber dem anderen Menschen. Von anthroposophischer Geisteswissenschaft soll ausgehen das liebevolle Verstehen des einen Menschen gegenüber dem anderen; und es wird vor allen Dingen nicht nur eine allgemeine Menschenkenntnis, eine allgemeine Anthroposophie kommen, sondern durch das, was diese allgemeine Anthroposophie und Welterkenntnis sein wird, wird eine Seelenverfassung angeregt werden, die auch wiederum liebevolles Verständnis für jede einzelne Eigentümlichkeit unseres nächsten Menschen in sich schließt. [...] [71] [...]

Das reine Denken und das soziale Wollen

Dieses antisoziale Element, woher kommt es denn eigentlich? Es kommt davon her, daß, indem gerade die Kopfkultur einen Höhepunkt erreicht hat, die Instinkte aus der menschlichen Natur heraus walten und das Fühlen und Wollen ergreifen. Was anthroposophisches Erkennen ist, leuchtet hinein in das Fühlen, leuchtet hinein in das Wollen; es stumpft nicht ab die elementare Gewalt des Fühlens und Wollens, wie die Menschen so leicht glauben; es nimmt den Menschen nicht ihre ursprüngliche Naivität. Nein, wenn irgend etwas Schönes beleuchtet wird, verliert es seine Eigentümlichkeit nicht, sondern sie tritt erst recht hervor. Das, was in den Untergründen der menschlichen Natur liegt, wird nicht stumpfer, wenn es anthroposophisch beleuchtet wird, sondern es wird gerade in richtiger Weise entfaltet [...]. Der Gedanke leuchtet wiederum hinein in das Fühlen, das Fühlen ergreift ihn, und indem wir in das Fühlen mit dem Gedanken hineinleuchten, verwandelt sich das „Ich denke, also bin ich nicht“, das „Ich bin nur im Bilde, indem ich denke“ – es verwandelt sich das Denken in ein Sein. [72] Und erst indem wir in das Wollen untertauchen, das sonst nur im Schlafe erlebt wird – denn was weiß der Mensch im gewöhnlichen Erkennen von der Beziehung, die da herrscht zwischen einem Gedanken, der zum Willen führen soll, und dem Heben der Hand? –, indem dieses Denken geisteswissenschaftlich in dieses Wollen eintaucht, entwickelt sich das, was nun, wie man sagen könnte, im hellen Licht der Geisteserkenntnis von dem einen Menschen zum anderen Menschen hinführt. Die Menschheit kann ein soziales Ganzes nur dadurch werden, daß die Gefühle, daß die Willensimpulse durchleuchtet werden, jetzt nicht von abstrakter, intellektualistischer Erkenntnis, sondern von dem höheren Schauen. Dadurch aber, daß sie von dem höheren Schauen durchtränkt werden, wird eine wahrhafte Sozialwissenschaft, eine Sozialethik entstehen. Gerade eine solche Sozialethik sollte in meinem Buche „Die Philosophie der Freiheit“ gegeben werden. Da zeigte ich, daß sich der Mensch ja im Grunde genommen nur frei fühlen kann, indem er aus dem reinsten Denken heraus einen Impuls für das Handeln, für das Wollen entwickelt. Der Mensch könnte sich niemals frei fühlen, wenn er aus irgendwelchen anderen Untergründen heraus Willensimpulse schöpfen müßte.

Wenn wir einem Spiegel gegenüberstehen, und bloß ein Bild vor uns haben – der Vergleich ist mehr als ein Vergleich –, so kann uns dieses Bild nicht zwingen. Wenn mich irgend etwas schiebt, so bin ich gezwungen durch Kausalität. Wenn ich das Bild anschaue, kann ich nicht gezwungen werden; das Bild hat keine Kraft in sich, um mich zu zwingen. Wenn ich meine Willensimpulse in dem reinen Bildgedanken erfasse, dann haben diese Bildgedanken keine kausale Macht, keine Schwungkraft. Indem man die Bildhaftigkeit des [73] Denkens erkennt, erkennt man, wie im reinen Denken der freie Wille wirklich aufgeht, so daß nur im Individuellsten des Menschen auch die Impulse für freies Handeln gefunden werden können. Dadurch aber, daß in dieses reine Denken, das uns zunächst Bild ist, der Wille einzieht, gerade dadurch, daß der Wille einzieht, wie es der Fall ist beim liebevollen sozialen Handeln oder bei höherer übersinnlicher Erkenntnis, wie Sie in den Ausführungen meines Buches „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ sehen können, dadurch wird das sonst reine Denken von dem erfüllt, was des Menschen ureigene, ewige Wesenheit ist. Und das erste Hellsehen, meine verehrten Anwesenden, ist schon da, wenn ein freier Willensentschluß im Gedanken aufleuchtet. Und im Grunde genommen ist alles das, was dann von mir als Methode zum Heraufführen in die höchsten Geisteswelten angegeben wird, nichts anderes als eine metamorphosierte Ausgestaltung dessen, was ich in meiner „Philosophie der Freiheit“ als dem freien Wollen zugrunde liegend geschildert habe. Erkennt man, wie in diesem vom Willen durchzogenen reinen Denken dasjenige vorliegt, worin der Mensch das Weltgeschehen zunächst erfassen kann wie an einem Zipfel, dann lernt man auch allmählich einsehen, wie man diese Seelenverfassung, die sonst nur in der freien Handlung des Menschen vorhanden ist, in der gestern geschilderten Weise erweitern kann, und wie man dadurch zu übersinnlichen Erkenntnissen kommen kann. [...] [74] [...]

Dann aber begründet sich noch etwas anderes. Was ich in meiner „Philosophie der Freiheit“ geschildert habe als Grundlage des sozialen Wollens, ist viel, viel verkannt worden. Die Leute haben eingewendet: Wie sollen die Menschen denn zusammenwirken im sozialen Organismus, wenn jeder nur den inneren Antrieben seiner individuellen Wesenheit folgt? – Darum geht es aber gar nicht. Es geht darum, daß durch eine wirkliche, echte, wahre geistige Entwicklung des Menschen heranerzogen werden kann, was ich nennen möchte: das wirkliche soziale Vertrauen. Ein menschenwürdiges Dasein im sozialen Leben ist ja doch nur möglich, wenn wir nicht von außen her durch Gebote oder anderes zum Handeln gezwungen werden, sondern wenn wir aus dem innersten Triebe unseres Wesens heraus frei handeln können. Dann aber müssen wir dieses große Vertrauen zum anderen entwickeln können, das Vertrauen, daß er allmählich auch dazu gelangt, aus dem innersten Trieb seiner Menschennatur heraus zu handeln. Und dadurch, daß der Mensch vorschreitet zum Innersten seines Wesens und allmählich sich ein solches Verständnis des einen zum anderen entwickelt, wird durch ein volles gegenseitiges Vertrauen eine soziale Ethik, ein sozialer Organismus aus der individuellen Gestaltung des einzelnen Wollens heraus sich ergeben können. [...] [77] [...]

Bewusstes Erringen des Seelisch-Geistigen

Wenn wir mit anthroposophisch geschärftem Blick eine verhältnismäßig kurze Spanne in der Menschheitsentwicklung zurückschauen, so finden wir, wie wir zum Beispiel schon das Griechentum nicht verstehen kön-[78]nen. [...] Herman Grimm, der, trotzdem er in vieler Beziehung angefochten wird, für solche Dinge den feinen Blick eines historischen Schauers sich bewahrt hatte, er hat mit folgenden scharfen Worten auf dieses unser Verständnis-Verhältnis zu den Griechen hingewiesen. Er sagte: Dasjenige, was die Römer dargelebt haben, wie ein Cäsar, ein Brutus gelebt hat, das können wir verstehen. Unsere Bewußtseinselemente haben sich seither nicht so verändert, daß wir das nicht verstehen konnten. Dasjenige, was uns von Alkibiades, von Perikles, von Plato, Sophokles erzählt wird, das bilden sich die Leute nur ein zu verstehen, wenn sie auf dem Standpunkte des heutigen Menschheitsverständnisses bleiben. Wie Märchenhelden sind eigentlich die nur schattenhaft vor den gewöhnlichen Menschheitsideen aufsteigenden Gestalten eines Perikles und Alkibiades. – Märchengestalten sieht Herman Grimm in der ganzen griechischen Geschichte. Geisteswissenschaft ist dazu berufen, das herbeizuführen, was das Bewußtsein erweitern kann, so daß man wirklich die innere Seelenverfassung so wandelt, daß man wiederum drinnenstehen kann in diesem besonderen inneren Erleben der Griechen. Und da muß man sagen: Dieses Erleben der Griechen, es beruhte auf einem historischen Gesetz, das heute erst von der anthroposophischen Geisteswissenschaft in seinem vollen Umfange anerkannt wird. Es ist das Gesetz, das ich Ihnen nun in der folgenden Weise charakterisieren will. [79]

Je mehr wir zurückgehen in der Menschheitsentwicklung, ins Griechentum, Ägyptertum, ins Persertum, ins Indertum und in die vorhistorischen Zeiten, desto mehr finden wir, daß eigentlich die ganze menschliche Konstitution eine andere ist. Wir sehen heute das Leben sich in dem Kinde so entwickeln, daß das Seelenleben in einem hohen Grade an die körperliche Organisation gebunden ist. [...] Sie werden sehen, wie mit dem Zahnwechsel im siebenten, achten Jahr die ganze Seelenverfassung des Kindes sich ändert. Und aus dem gewöhnlichen Leben heraus ist ja bekannt, wie die ganze Seelenverfassung des Menschen sich ändert, wenn er geschlechtsreif wird. Weniger bemerkbar ist schon, daß ähnliche Veränderungen wiederum im Beginn der zwanziger Jahre und am Ende der zwanziger Jahre vor sich gehen; diese spielen sich mehr innerlich ab, aber sie sind ganz deutlich auch für den Gegenwartsmenschen noch vorhanden. Wenn wir dagegen in die höheren Jahre heraufkommen, in die dreißiger Jahre, dann wird da das seelisch-geistige Leben des Menschen in hohem Grade unabhängig vom Körperlichen. Da treten wir ein in dasjenige Stadium unserer Entwicklung, in dem wir durch äußere Erfahrung, durch das Zusammensein mit der Welt, unsere Seele verändern. Da verändern wir unsere Seele nicht mehr durch das, was etwa in solcher Art wie der Zahnwechsel, die Geschlechtsreife, oder die Umänderungen nach dem zwanzigsten Jahr in uns vorgeht. – Das aber, was sich bei uns mehr auf die jugendlichen Jahre bis an das Ende der zwanziger Jahre erstreckt, das erstreckte sich [80] in alten Zeiten bis hinauf in das hohe Menschenalter. [...] Dieses Zusammenklingen des Körperlichen mit dem Seelisch-Geistigen ging in alten Zeiten bis ins hohe Menschenalter hinauf. Der Mensch erfuhr in jenen alten Zeiten auch jene absteigende Linie der körperlichen Entwicklung, die etwa mit dem 35. Jahr beginnt. Bis dahin wächst und sproßt unser Organismus; von da ab geht es abwärts, von da ab ist eine niedersteigende Entwicklung vorhanden. Diese niedersteigende Entwicklung machen wir heute nicht in derselben Weise durch; wir werden allerdings von dem Alter bedrückt, das ist aber etwas anderes, als das in alten Zeiten war. In alten Zeiten war es so, daß gleichzeitig mit dem Steiferwerden, mit dem Vertrockneterwerden der äußerlichen Körperlichkeit ein helles Aufleuchten der Geistigkeit vorhanden war, so daß man im Patriarchenalter hineinwuchs in naturgemäßer Entwicklung in eine gewisse Geistigkeit. [...] [82] [...]

Wir erreichen – wenn ich in derselben Redeweise fortfahren soll – eine physische Entwicklung, die auf die seelische noch einen Einfluß hat, in unserem heutigen Zeitalter nur bis zum Ende der zwanziger Jahre. Dadurch hört für unsere späteren Lebensjahre dasjenige auf, was aus den Tiefen der Menschennatur heraufsteigt und die Weltanschauung durchzieht. Dadurch ist aber auch die Notwendigkeit heraufgezogen, daß das, was sich nicht mehr auf natürliche Art in der Menschheit entwickelt nach dem 28. Lebensjahr, auf bewußte Art durch anthroposophisch-geisteswissenschaftliche Erziehung errungen werde, daß das tatsächlich seelisch innerlich errungen werde, was früher aus der Menschennatur selber aufstieg. [...]

Was anthroposophische Geisteswissenschaft will, das ist, daß wir das, was uns die Natur nicht mehr gibt, nun-[83]mehr geradeso naiv, wie wir es früher von der Natur empfangen haben, vom Geiste empfangen, daß wir den Mut entwickeln, die Kraft entwickeln, vom Geisteslande aus zu empfangen, was wir aus dem Naturlande nicht mehr empfangen können. Die geistige Signatur unserer Zeit weist uns darauf hin, unsere volle Menschlichkeit, die wir nicht mehr von der Natur erlangen können, aus geistiger, aus freier Willensbetätigung heraus zu entwickeln. [...] [84] [...]

Und beherzigenswerte Worte hat gerade Gideon Spicker im Jahre 1909 gesprochen, indem er in seiner Art die Signatur unserer Zeit beschrieben hat. Er sagte: Wir haben es dahin gebracht, eine Metaphysik zu haben ohne übersinnliche Überzeugung; eine Erkenntnistheorie ohne objektive Bedeutung; eine Logik ohne Inhalt, eine Psychologie ohne Seele, eine Ethik ohne Verbindlichkeit und eine Religion ohne Vernunftgründe. –

Nun, meine sehr verehrten Anwesenden, liebe Kommilitonen. Anthroposophie will dem Menschen wiederum eine Erkenntnistheorie geben, die in die Wirklichkeit hineinführt, weil die Wirklichkeit zugleich materiell und geistig ist. Anthroposophische Geisteswissenschaft will dem Menschen eine wirkliche Überzeugung von der übersinnlichen Welt geben – durch die Aufzeigung des Weges zum Schauen dieser Welt. Anthroposophische Geisteswissenschaft will eine Logik begründen, die wiederum in die Wirklichkeit der Dinge untertaucht. Anthroposophische Geisteswissenschaft will von einem Seelenleben als Wirklichkeit sprechen, nicht bloß von demjenigen Seelenleben, das wir bildhaft herausdeuten aus den naturwissenschaftlichen Ergebnissen der Anthropologie. Anthroposophische Geisteswissenschaft will aus den Untergründen der Menschheit heraus eine verbindliche Sozialethik schaffen. Und anthroposophische Geisteswissenschaft will eine religiöse Überzeugung geben, die gestützt ist auf die Erkenntnisse, auf das Schauen dessen, was im religiösen Leben als das göttliche Dasein existieren muß. [...]