Wie kann die seelische Not der Gegenwart überwunden werden?

Rudolf Steiner: Wie kann die seelische Not der Gegenwart überwunden werden? Vortrag vom 10.10.1916, GA 168, S. 90ff.


Was wir suchen als geisteswissenschaftliche Wahrheiten, soll uns nicht sein ein totes, sondern ein lebendiges Erkennen,
ein Erkennen, das wirklich in das Leben, an allen Stellen dieses Lebens und an den wichtigsten Punkten dieses Lebens, seinen Einzug halten kann. Es ist nur natürlich und selbstverständlich, daß Geisteswissenschaft heute noch vielfach recht abstrakt aufgenommen wird und daß man in dieser Abstraktheit, in der man die Geisteswissenschaft aufnimmt, durch sie vielleicht sogar zu einer Art abgezogenen Wissens kommt, das sich zunächst wenig fruchtbar für das Leben erweist und das insbesondere den Leuten, die noch wenig Kenntnis genommen haben von der Geisteswissenschaft, den Eindruck macht: Was soll denn das eigentlich alles, wenn man da nun schon weiß, der Mensch bestehe aus soundso viel Gliedern, die Menschheit habe sich durch verschiedene Kulturepochen entwickelt und werde sich weiterentwickeln – und so weiter. Menschen, die da glauben, nach den Anforderungen unserer heutigen Zeit so ganz im praktischen Leben drinnenstehen zu sollen, denen kommt dann Geisteswissenschaft oftmals recht unfruchtbar vor. Und unfruchtbar wird sie ja vielfach auch von solchen, die auch heute schon etwas Herz und Sinn für sie haben, getrieben.

Dennoch, Geisteswissenschaft selbst ist, so wie sie ist, etwas unendlich Lebendiges, etwas, das bis in die äußersten Lebenspraktiken hinein lebendig werden kann und auch im Laufe der Zeit lebendig werden muß. Wir wollen das, was ich so einleitungsweise gesagt habe, heute uns einmal an einem besonderen Beispiel klarlegen. Wir wollen etwas herausgreifen aus unserer Geisteswissenschaft, das wir ja alle voraussichtlich kennen, das uns gut bekannt ist, an dem wir aber zeigen wollen, wie es nach und nach, indem man es lebensvoll betrachtet, erst recht lebendig wird. [...] [92] [...]

Soziales Menschenverständnis

Das ganze Menschenleben war in dem [...] griechisch-römischen Zeitraume anders. Da ist gewissermaßen auf der Stufe, auf der die Menschheit eben stand in der nachatlantischen Zeit, dieser Menschheit geschenkt worden die Kraft des Verstandes und die Kraft des Gemütes. Verstand ist etwas, was vieles in sich schließt. Man betrachtet das heute nicht mehr vollständig genau. Die Griechen, die Römer waren anders von ihrem Verstande in ihrer Seele abhängig als die Menschen der heutigen fünften Kulturperiode. Die Griechen und Römer, sie bekamen gewissermaßen den Verstand, soweit sie ihn brauchten, fertig mit in ihre natürliche Entwickelungsanlage hinein. [...] [93] [...]

Und ebenso war es mit dem Gemüte. So wie es angemessen war für diese vierte nachatlantische Zeit, so entwickelte sich das Gemüt. Wenn ein Mensch einem anderen Menschen gegenübertrat, so wußte er sich – die Geschichte erzählt uns davon wenig, aber es war doch so –, er wußte sich einzustellen auf den anderen Menschen. Das insbesondere ergibt einen großen Unterschied zwischen den Menschen der früheren Jahrhunderte bis ins 15. Jahrhundert und den Menschen unserer jetzigen Zeit. Die Menschen dieser früheren Jahrhunderte gingen nicht, ich möchte sagen, so stark interesselos aneinander vorbei, wie das oftmals in der heutigen Zeit der Fall ist. Heute brauchen wir, wenn ein Mensch dem anderen begegnet, oftmals lange Zeit zum rechten Bekanntwerden. Man muß dies oder jenes gegenseitig von sich kennenlernen, bis man anfängt, sich zu trauen, bis man Vertrauen gewinnt. Dasjenige, was heute erst nach langem Umgang gewonnen wird und auch da oftmals nicht, das wurde in früheren Jahrhunderten, namentlich in der Zeit der griechisch-römischen Kulturperiode, mit einem Schlag erobert, wenn die Menschen einander begegneten. Wie sie zueinander kommen konnten vermöge ihrer Individualitäten, das wurde rasch entwickelt; man brauchte nicht so lange Gedanken und Gefühle auszutauschen. [...] Das Gemüt des einen Menschen wirkte noch viel spiritueller in das Gemüt des anderen Menschen hinüber. [94] [...]

Wir müssen denken, daß diese Art des Gemütszusammenhanges zwischen den Menschen für den vierten nachatlantischen Zeitraum wohl angemessen war. Denn heute umspannt die Welt ein ganz anderes Netz von Gefühlszusammenhängen als damals. Denken Sie doch, daß das weitaus meiste in den Verhältnissen der Menschen im vierten nachatlantischen Zeitraum beruhte auf dem persönlichen Zusammentreffen, und daß dasjenige, was die Menschen untereinander auszumachen hatten, durch das persönliche Zusammentreffen ausgemacht worden ist. Die Buchdruckerkunst, die den Verkehr unpersönlich, in unpersönlicher Weise schon bis heute gestaltet hat und ihn immer mehr und mehr gestalten wird, gehört erst dem fünften nachatlantischen Zeiträume an. Und die modernen Verkehrsverhältnisse bringen die Menschen so zueinander, daß im Grunde genommen Verhältnisse, die sich auf einen Schlag bilden, gar nicht zum Heil sein könnten. So treten durch diese ganzen modernen Verkehrsverhältnisse die Menschen viel, viel unpersönlicher einander in der Welt entgegen. Daraufhin ist auch die Menschheit organisiert, die nun nicht fertig mitbekommt Gemüt, das schlagkräftig wirkt, nicht fertig mitbekommt Verstand, der durchdringend wirkt, sondern, durch die Bewußtseinsseele ausgebildet, ich möchte sagen etwas viel Abgesonderteres, Individuelleres, mehr auf den Egoismus hin, auf die menschliche Einsamkeit im eigenen Leibe hin Organisiertes mitbekommt, als Verstandes- oder Gemütsseele es waren. Durch die Bewußtseinsseele ist der Mensch viel mehr ein einzelnes Individuum, ein Einsiedler, der durch die Welt wandelt, als er es war durch die Verstandes- oder Gemütsseele. Und das ist auch das wichtigste Charakteristikum schon geworden [95] für unsere Zeit und wird es immer mehr und mehr werden, daß sich die Menschen in sich abschließen werden. Die Bewußtseinsseele gibt den Charakter des Sich-Abschließens von der übrigen Menschheit, des mehr Isoliert-Lebens. Daher macht es größere Schwierigkeit, mit dem anderen bekannt und namentlich vertraut zu werden; es bedarf erst der Verhältnisse eines umständlichen Kennenlernens, um mit dem anderen vertraut zu werden.

Was soll denn durch dieses alles erreicht werden? Das werden wir am besten einsehen, wenn wir eine gewisse geisteswissenschaftliche Wahrheit wohl erwägen, die uns sagt: So wie wir Menschen überhaupt im Leben heute zusammenkommen, so ist das nicht zufällig, wahrhaftig nicht zufällig. [...] Wir werden durch dasjenige, was wir in früheren Inkarnationen durchgemacht haben, mit den Menschen zusammengeführt. Es erscheint «zufällig», daß diese oder jene Menschen sich treffen; in Wahrheit beruht das alles auf den früheren Inkarnationen, wo man sich schon getroffen hat, wo die Kräfte erzeugt wurden, daß man in einer gewissen Weise jetzt wieder zusammengeführt wird.

Nun kann sich – was geschehen soll für unseren Zeitpunkt – die in sich abgeschlossene Bewußtseinsseele nur ausbilden, wenn weniger [96] in Betracht kommt dasjenige, was jetzt in der Gegenwart zwischen Menschen und Menschen sich abspielt, als wenn wirksam werden kann im Inneren, einsiedlerisch, das, was aufsteigt in uns als Ergebnis früherer Inkarnationen. [...] Jetzt, wenn wir zusammentreffen, damit die mehr im Menschen isolierte Bewußtseinsseele sich entwickeln kann, jetzt soll mehr die Sache so sein: Ein Mensch trifft den anderen; da soll mehr wirksam werden das, was in dem einen oder in dem anderen Menschen auftaucht als Ergebnis früherer Inkarnationen. Das braucht länger als das unmittelbare Kennenlernen, ich möchte sagen auf den Augenschein hin; das braucht, daß die Menschen erst nach und nach, gefühlsmäßig, instinktmäßig heraufkommen lassen dasjenige, was sie mit dem anderen Menschen durchlebt haben. Das ist eben das, was wir heute fordern: daß wir einander kennenlernen, daß sich die Individualitäten erst abschleifen. Denn in diesem Kennenlernen, Abschleifen der Individualitäten, darin liegt es, daß aufsteigen noch unbewußt, instinktiv die Reminiszenzen, die Nachwirkungen der früheren Inkarnationen. Und nur, wenn so der Mensch mehr aus seinem Inneren heraus auch in ein Verhältnis zu anderen Menschen tritt, kann die Bewußtseinsseele sich ausbilden; während mehr durch das schlagkräftige Sich-Kennenlernen im Gegenübertreten die Verstandes- und Gemütsseele sich ausbildet.

So sind die Dinge recht einander angepaßt. Und was ich Ihnen jetzt charakterisiert habe, ist für den fünften nachatlantischen Zeitraum erst im Anfange. Immer schwieriger und schwieriger werden es die Menschen haben, indem dieser fünfte nachatlantische Zeitraum abläuft, sich in ein rechtes Verhältnis zueinander zu bringen, weil dieses Sich-in-ein-rechtes-Verhältnis-Bringen eben Aufwendung innerer Entwickelung, innerer Betätigung fordert. Es hat schon begonnen; aber das, was begonnen hat, wird immer weiter und weiter sich verbreiten, intensiver und intensiver werden. Wie ist es heute schon für Menschen, die durch das Karma zusammengeführt werden, schwierig geworden, sich unmittelbar zu verstehen, weil sie [97] vielleicht wiederum durch andere karmische Verhältnisse nicht die Kraft finden, alle Beziehungen sich instinktiv zu vergegenwärtigen, die aus früheren Inkarnationen bestehen! Menschen werden zusammengeführt, lieben sich; das rührt her von gewissen Wirkungen aus früheren Inkarnationen. Aber andere Kräfte wirken dem entgegen, wenn solch eine Reminiszenz aufsteigt; sie kommen wieder auseinander. Und nicht nur Menschen, die sich so im Leben getroffen haben, müssen probieren, ob das, was in ihnen aufsteigt, wirklich ausreicht, um ein dauerndes Verhältnis zu begründen, sondern immer schwieriger wird es, daß die Söhne, die Töchter die Väter und Mütter verstehen, immer schwieriger und schwieriger wird es, daß die Eltern ihre Kinder verstehen, immer schwieriger wird es, daß die Geschwister einander verstehen. Das gegenseitige Verständnis wird immer schwieriger und schwieriger, weil immer mehr und mehr es notwendig wird, daß die Menschen dasjenige, was karmisch in ihnen sitzt, erst wirklich aus dem Inneren aufsteigen lassen.

Sie sehen, welche Perspektive negativer Art sich da über den fünften nachatlantischen Zeitraum hin eröffnet – Schwierigkeit im gegenseitigen Verständnis der Menschen. Das aber erfordert, daß wir dieser Entwickelungsbedingung klar ins Auge schauen, daß wir nicht träumerisch im Dunkeln hinleben wollen; denn diese Entwickelungsbedingung ist durchaus notwendig. Würde das nicht über die fünfte nachatlantische Menschheit verhängt sein, daß das gegenseitige Kennenlernen schwierig ist, so würde sich nicht die Bewußtseinsseele ausbilden können, so würden die Menschen mehr im Gemeinsamen aus natürlichen Anlagen leben müssen. Dann würde sich nicht das Individuelle der Bewußtseinsseele ausbilden können. Also es muß so sein, die Menschen müssen diese Prüfung durchmachen. Aber auf der anderen Seite muß dem klar ins Auge geschaut werden, denn selbstverständlich würde, wenn nur diese negative Seite der Entwickelungsbedingungen des fünften nachatlantischen Zeitraumes herauskommen würde, Krieg und Streit bis in die kleinsten Verhältnisse hinein in der fünften nachatlantischen Menschheit entstehen müssen. [...] [98] [...]

Über der griechischen und römischen Kultur ist durchaus noch ein Anflug von Gattungsseelentum. Wir sehen den Menschen noch hineingestellt auch in eine soziale Ordnung, die, wenn sie auch mehr durch moralische Kräfte ihre Struktur, ihre Formation hatte, so doch eine feste Formation hatte. Aber diese Formationen werden im fünften nachatlantischen Zeitraum immer mehr und mehr aufgelöst werden. [...] [99] [...] Dafür aber muß bewußterweise soziales Verständnis auftauchen, das heißt, es muß auftauchen alles dasjenige, was hervorgeht aus einem tieferen Verständnis für richtige individuelle menschliche Wesenheit. Dafür wird erst Geisteswissenschaft dieses richtige Verständnis entwickeln. Und Platz greifen wird, wenn die Geisteswissenschaft aus dem Abstrakten ins Konkrete, ins Lebensvolle sich immer mehr und mehr hineinentwickeln wird, innerhalb der Kreise, welche Geisteswissenschaft treiben, eine ganz besondere Art, ich möchte sagen von Menschenkunde, von Erweckung für menschliches Interesse. Da wird es geben diejenigen, die gewisse Anlagen dazu haben, ihre Mitmenschen zu unterrichten darüber, wie die Menschen verschiedene Temperamente haben, wie die Menschen verschiedene Charakteranlagen haben, wie der eine Mensch, der ein solches Temperament hat, so genommen werden muß, wie ein anderer Mensch, der eine solche Charakteranlage hat, mit diesem Temperament wieder anders genommen werden muß; da werden die Menschen, die besonders dafür begabt sind, andere Menschen, die etwas lernen müssen, darinnen unterrichten: Sehet es euch genauer an: Es gibt diesen Menschentyp, es gibt einen anderen Menschentyp, und man muß den einen Menschen so nehmen und den anderen anders nehmen. [...] [100] [...]

Praktische Menschenkunde, praktisch wirkendes Menschheitsinteresse, das ist es, worauf es ankommt. Heute ist die Menschheit auf diesem Gebiete noch gar nicht besonders weit, noch sehr wenig weit gediehen. Wie urteilen wir denn heute, wenn wir einem Menschen gegenübertreten? Er ist uns sympathisch oder antipathisch. Gehen Sie durch die Welt und sehen Sie, wie in den meisten Fällen dies das einzige Urteil ist, oder, wenn mehrere Urteile auftreten, wie sie doch ganz beherrscht sind von diesem einzigen Gesichtspunkte: der ist mir sympathisch, der ist mir antipathisch, oder: das an ihm ist mir sympathisch, das an ihm ist mir antipathisch. Vorgefaßte Meinungen! Man stellt sich vor: so und so sollte der Mensch eigentlich sein; wenn man dann sieht, er ist in dem oder jenem anders, dann fällt man über ihn ein Urteil. Ehe nicht diese Art des Sympathisch- oder Antipathischfindens aus Vorurteilen, aus besonderen Liebhabereien heraus, die man über diesen oder jenen Menschencharakter hat, aufhört, und ehe sich nicht verbreitet die Gesinnung, den Menschen zu nehmen, wie er ist, kann nicht vorwärtsgeschritten werden in wirklicher praktischer Menschenkenntnis.

Denken Sie doch, wie heute sehr häufig, wenn zwei Menschen einander gegenübertreten unter diesen oder jenen Voraussetzungen, in dem einen sogleich etwas auftaucht von Antipathie – er mag den anderen nicht – und wie dann alles das, was er diesem Menschen gegenüber tut, in das Licht dieses Nichtmögens gestellt wird. Dadurch wird sehr häufig ein karmisches Verhältnis ganz und gar ausgelöscht, ganz und gar auf eine falsche Fährte geführt und muß erst wiederum zurückgelegt werden bis in die nächste Inkarnation, wo diese Menschen wiederum zusammentreffen. Sympathien und Antipathien sind die größten Feinde des wirklichen sozialen Interesses. Das beachtet man sehr häufig nicht. Derjenige, der weiß, was in wirklichem, sozialem Verständnis liegt für [101] die Weiterentwickelung der Menschheit, der beachtet mit manchmal furchtbar beklommenem Herzen, wie Lehrer in der Schule wirken, die aus gewissen Vorurteilen heraus den einen Schüler von vornherein sympathisch oder nicht sympathisch dem anderen gegenüber finden. Das ist oft furchtbar; während es sich darum handelt, jeden zu nehmen, wie er ist, und aus dem, was er ist, das Allerbeste zu machen. [...]

Das ist dasjenige, was im fünften nachatlantischen Zeitraum ganz besonders auftreten muß, damit die Menschheit die Bewußtseinsseele voll entwickeln kann. Die Menschen müssen die Dinge alle durch Prüfungen durchmachen, indem sich ihnen gewissermaßen die Gegenkräfte in den Weg stellen. So werden die Sympathie- und Antipathiegefühle wirklich sich ausbreiten, und nur im Bekämpfen, im bewußten Bekämpfen der oberflächlichen Sympathie- und Antipathiegefühle wird die Bewußtseinsseele richtig geboren werden können. Ebenso werden entgegentreten sozialem Verständnis zwischen Mensch und Mensch immer mehr und mehr die nationalen Gefühle und Empfindungen, die im Grunde genommen erst im 19. Jahrhundert in der Form, wie sie jetzt vorhanden sind, überhandgenommen haben und die in eminentester Weise entgegenwirken dem sozialen Verständnisse, dem wirklichen Interesse von Mensch zu Mensch. Und so, wie heute diese nationalen Gegensätze, nationalen Sympathie- und Antipathiegefühle auftreten, so sind sie eine starke, eine furchtbare Prüfung für die Menschheit, weil ein Heil nur darinnen liegen kann, daß sie überwunden werden. Würden die Sympathie- und Antipathiegefühle, die aus dem nationalen Empfinden hervorgehen, weiter überhandnehmen, wie sie sich angelassen haben, dann würde die Menschheit [102] verträumen die Entwickelung der Bewußtseinsseele. Denn die nationalen Gefühle gehen nach der entgegengesetzten Richtung hin; die gehen darauf hin, den Menschen nicht selbständig werden zu lassen, sondern ihn so zu machen, daß er nur wie ein Abklatsch, wie ein Abbild erscheint dieser oder jener Gruppenhaftigkeit, Nationalität.

Das ist das erste, was wir ins Auge fassen müssen, wenn wir praktisch den sonst abstrakten Satz vor unsere Seele hinführen, daß in diesem fünften nachatlantischen Zeitraum die Bewußtseinsseele besonders zur Entwickelung kommen müsse.

Gedankenfreiheit

Ein Weiteres muß eintreten in diesem fünften nachatlantischen Zeitraum, wenn die Bewußtseinsseele sich wirklich entfalten soll. Das ist, daß in den Menschen, insofern sie individueller und immer individueller werden, ein gewisses Veröden, ein richtiges Veröden des religiösen Lebens eintreten muß, wenn dieses religiöse Leben sich nicht anpassen will dem fünften nachatlantischen Zeitraum, sondern so bleiben will, wie es richtig war für den vierten nachatlantischen Zeitraum. Für den vierten nachatlantischen Zeitraum mußten, weil die Menschen noch mehr auf die Gruppenhaftigkeit angelegt waren, Gruppenreligionen entstehen. Es mußte gleichsam über Menschengruppen ausgegossen werden durch Macht Gemeinsames in Dogmen, Gemeinsames in religiösen Grundsätzen, in religiösen Gedanken. Weil aber der Drang nach Individualität durch die Bewußtseinsseele immer stärker und stärker werden wird im fünften nachatlantischen Zeitraum, wird es so sein, daß dasjenige, was so spricht aus den Gruppenreligionen heraus, nicht mehr zum Herzen, nicht mehr zur Individualität der einzelnen Seelen dringen wird. Und die Menschen werden einfach nicht verstehen dasjenige, was aus den Gruppenreligionen heraus kommt. Im vierten nachatlantischen Zeitraum konnte man noch die Menschen gruppenhaft über den Christus unterrichten, im fünften nachatlantischen Zeitraum zieht in Wirklichkeit der Christus in die einzelnen Seelen schon hinein. Wir tragen im Unbewußten oder Unterbewußten alle den Christus schon in uns. Aber er muß erst in uns selber wiederum zum Verständnis gebracht werden. Das geschieht nicht dadurch, daß den Menschen festgestellte, starre, erstarrte Dogmen aufgedrängt werden, sondern das geschieht dadurch, daß versucht wird, alles dasjenige, was [103] beitragen kann, den Christus allseitig den Menschen verständlich zu machen, oder überhaupt das religiöse Erkennen allseitig, vielseitig zu fördern, daß alles, was dies fördern kann, auch wirklich versucht wird. [...] Da handelt es sich darum, daß eben, weil die Menschen immer individueller und individueller werden, versucht wird, vom Dogma ganz freizukommen und dogmenfrei dasjenige, was man mehr aus persönlichem innerem Erleben dem anderen Menschen erzählen, beschreiben kann, wirklich so vor ihn hinzubringen, daß sein eigenes, freies religiöses Gedankenleben individuell in ihm entwickelt werden kann. Die Dogmenreligionen, die einzelnen festen Dogmen, Konfessionen, die werden im fünften nachatlantischen Zeitraum das religiöse Leben in Wahrheit ertöten. Daher beginnt man richtig für den fünften nachatlantischen Zeitraum, wenn man den Menschen immer mehr und mehr begreiflich macht: In den ersten Jahrhunderten des Christentums war dieses ganz besonders für die Menschen geeignet, wirkte das, in den folgenden Jahrhunderten ein anderes. Aber es gibt andere Religionen. Man versucht, das Wesen anderer Religionen verständlich zu machen; man versucht, verschiedene Seiten der Christus-Auffassung verständlich zu machen. Dadurch bringt man vor jede Seele dasjenige, was diese Seele vertiefen kann. Aber man formt die Seele selber nicht, man läßt ihr, namentlich auf religiösem Gebiet, ihre Gedankenfreiheit, um diese Gedankenfreiheit zur Entfaltung zu bringen.

So wie soziales Verständnis in dem einen Punkte notwendig ist, den ich charakterisiert habe für die fünfte nachatlantische Periode, so ist zur Entwickelung der Bewußtseinsseele Gedankenfreiheit auf dem Gebiete der Religion die Grundbedingung: Soziales Verständnis auf dem Gebiete des menschlichen Zusammenlebens – Gedankenfreiheit auf dem Gebiete der Religion, des religiösen Lebens. [104] [...]

Und immer mehr und mehr wird es notwendig sein, den der Gedankenfreiheit entgegengesetzten Jesuitismus auf allen Gebieten für den fünften nachatlantischen Zeitraum auszumerzen; denn vom religiösen Leben ausstrahlend, muß sich die [105] Gedankenfreiheit immer mehr und mehr auf allen Lebensgebieten entfalten. Aber da sie selbständig erworben werden muß, so ist die Menschheit gewissermaßen in eine Prüfung hineingestellt, und es erwachsen überall die größten Schwierigkeiten. Und diese Schwierigkeiten werden um so größer, als die Menschheit der fünften nachatlantischen Zeitepoche sich eben gerade zur Bewußtseinsklarheit entwickeln soll, aber dies als ein Unbequemes zunächst empfindet und daher sich in vieler Beziehung betäubt.

So sehen wir, daß ein scharfer Kampf besteht zwischen dem Aufkeimen der Gedankenfreiheit und der aus alten Zeiten hereinwirkenden, in unsere Zeit hereinwirkenden Autorität. Und die betäubende Sucht, sich über den Autoritätsglauben Täuschungen hinzugeben, ist vorhanden! In unserer Zeit ist der Autoritätsglaube ungeheuer gewachsen, ungeheuer intensiv geworden, und unter seinem Einfluß entwickelt sich eine gewisse Hilflosigkeit der Menschen in bezug auf das Urteilen. Im vierten nachatlantischen Zeitraum war dem Menschen als natürliche Gabe ein gesunder Verstand mitgegeben; jetzt muß er sich ihn erwerben, ihn entwickeln. Autoritätsglaube hält ihn zurück. Aber wir werden ganz eingespannt in Autoritätsglauben. [...] Auf dem Gebiete der Medizin, auf dem Gebiete der Jurisprudenz, aber auch auf allen sonstigen Gebieten erklären sich die Menschen von vornherein für unzuständig, ein Verständnis zu [106] erwerben, und nehmen dasjenige nun, was die Wissenschaft sagt, hin. Bei der Kompliziertheit des modernen Lebens ist das ja auch schließlich begreiflich. Aber die Menschen werden unter dem Einflusse einer solchen Autoritätskraft immer hilfloser und hilfloser, und systematisch diese Autoritätskraft, diese Autoritätsgesinnung auszubilden, das ist eigentlich das Prinzip des Jesuitismus. Und der Jesuitismus in der katholischen Religion ist nur eine Spezialisierung von Leistungen, die auf anderen Gebieten ebenso auftreten, wo man es nur nicht so merkt. [...] Dies wird immer stärker und stärker werden. Die Menschen werden immer mehr und mehr eingeschnürt werden in das, was die Autorität über sie verhängt. Und das Heil des fünften nachatlantischen Zeitraums wird darin bestehen, gegen diese ahrimanischen Widerstände – denn solche sind es – geltend zu machen das Recht der Bewußtseinsseele, die sich entwickeln will. Das kann aber nur dadurch geschehen, daß die Menschen, da sie jetzt natürlichen Verstand nicht wie ihre beiden Arme mitbekommen, wie es vergleichsweise noch der Fall war in der vierten nachatlantischen Periode, wirklich auch Verstand, gesunde Urteilskraft entwickeln wollen. [...] [107] [...]

Was von selbst entstehen wird, wird Entfremdung der einzelnen untereinander sein. Was aus dem menschlichen Herzen herausquellen wird müssen, das wird bewußt anzustreben sein. Schwierigkeiten geht jede einzelne Seele im fünften nachatlantischen Zeitraum entgegen. Denn nur in der Überwindung dieser Schwierigkeiten werden sich die Prüfungen ergeben, unter denen die Bewußtseinsseele entwickelt werden kann.

Da kommt heute mancher, der sagt: Ach, ich fühle nicht, was ich aus mir machen soll, ich weiß nicht, wie ich mich hineinstellen soll in die Lebenszusammenhänge. – Das rührt davon her, daß er noch nicht die richtige Möglichkeit gefunden hat, klar über die Bedürfnisse der heutigen Zeit und des Darinnenstehens eines Menschen nachzudenken. Bis zur physischen Krankheit, bis zur physischen Haltlosigkeit entwickeln sich heute schon bei vielen Menschen die Verhältnisse. Richtiges Verständnis dafür, das ist dasjenige, was immer mehr und [108] mehr und immer intensiver und intensiver gefordert werden muß. Dasjenige, was sich ausgießen wird über die Menschheit, weil es notwendig ist im fünften nachatlantischen Zeitraum, das wird sein die Gefahr der Seelennot, Seelennot in der besonderen Nuance, wie es geschildert worden ist durch dasjenige, was eben heute vorgetragen worden ist.

Viele Menschen sehen das, was ich geschildert habe, und fühlen, daß es notwendig ist, richtig notwendig ist, daß die Menschen kommen auf der einen Seite zum sozialen Verständnisse und auf der anderen Seite zur Gedankenfreiheit. Aber wenige, sehr wenige sind heute noch geneigt, zu den rechten Mitteln zu greifen. Denn demjenigen, was für das soziale Verständnis notwendig ist, wird oftmals mit allerlei idealistisch klingenden Redensarten zu dienen gesucht. Was wird heute alles geschrieben über die Notwendigkeit einer individuellen Behandlung des aufwachsenden Menschen! Was werden für ausführliche Theorien ersonnen auf allen möglichen pädagogischen Gebieten! Das ist es weniger, um was es sich handelt. Möglichst viele positive Schilderungen, wie die Menschen sich wirklich entwickeln, positive, ich möchte sagen Naturgeschichte individueller Menschenentwickelung, das ist es, was verständnisvoll verbreitet werden soll; wo wir nur können, erzählen, wie sich der Mensch A, der Mensch B, der Mensch C entwickelt hat, und liebevoll eingehen können auf die Entwickelung eines Menschen, die sich vor uns abspielt. Das ist vor allen Dingen vonnöten: Lebensstudium, der Wille zur Lebenskunde, nicht zum Programm; denn das theoretische Programm ist der Feind der fünften nachatlantischen Kulturperiode. [...] [109] [...] Wir sehen die Lehren überall auftreten, die von Abstraktionen nur so triefen, in denen den Menschen alle möglichen Ideen und Ideale vorgeführt werden. Darum kann es sich nicht handeln, sondern allein darum, ins Konkrete, ins wirkliche Leben verständnisvoll einzudringen. [...]

Wir müssen in die Lage kommen, zwar die Autorität schaffen zu lassen, aber die Autorität beurteilen zu können. Das lernen wir nicht, das eignen wir uns nicht an dadurch, daß wir auf alle einzelnen Spezialitäten wirklich eingehen, sondern dadurch, daß wir uns aus etwas, was umfassend unseren Verstand, unsere Urteilskraft bilden kann, heraus die Möglichkeit eines Urteils aneignen. Das kann aber nie geschehen aus dem materiellen Erkennen der einzelnen Spezialitäten heraus, sondern aus dem umfassenden Geist-Erkennen. [110]

Geisteswissenschaft muß das zentrale Erkennen sein. Denn diese Geisteswissenschaft wird nicht nur aufklären über die Zusammenhänge in der Entwickelung des Menschen, sondern durch die Art von Gedanken, die sie hat, wird sie uns gesunden Verstand entwickeln, der heute aus größeren Tiefen hervorgeholt werden muß, als er in der griechisch-römischen Kulturepoche, der vierten nachatlantischen Kulturperiode, herausgeholt, hervorgeholt werden mußte. Die von dem anderen Wissenschaftlichen verschiedene Art des Begriffebildens, des Vorstellungbildens, die notwendig ist für die Geisteswissenschaft, die befähigt uns nicht, eine Autorität auf diesem oder jenem Gebiete zu werden, aber urteilsfähig zu werden. [...]

Dies müssen wir besonders betonen als etwas, was durch die Geisteswissenschaft gebracht werden muß, daß sie nicht nur die Menschen belehrt, sondern die Menschen in dieser Beziehung urteilsfähig macht, das heißt, ihnen erst die Möglichkeit der Gedankenfreiheit gibt, die Gedankenunabhängigkeit erst in ihnen fördert. [...] Denn es ist sehr, sehr viel gesagt mit dem, was ich damit eigentlich meine, daß Geisteswissenschaft gleichsam ummodeln wird das menschliche Verständnis, so daß der Mensch urteilsfähig wird, Verstandeskraft entbindet aus [111] seinem Seelenleben. Erst dadurch kann er sich die Gedankenfreiheit in Wirklichkeit erwerben. [...]

Lebendiges Wissen von der geistigen Welt

Wenn ich jetzt etwas bildlich sprechen darf, so möchte ich Ihnen diesen Gedanken noch in bildlicher, in imaginativer Form ausführen. Wir hören in der Geisteswissenschaft von wirklicher geistiger Welt, von konkreter geistiger Welt, von elementarischen Wesenheiten, die uns umgeben; wir hören von den Hierarchien, Angeloi, Archangeloi und so weiter. Die Welt bevölkert sich für uns mit konkreten geistigen Inhalten oder mit geistigen Kräften und geistigen Wesenheiten. Diesen Wesenheiten, die da in den geistigen Welten leben, ist es nicht gleichgültig, daß wir von ihnen wissen! [...] [112] [...]

Nur dann können sie uns helfen, wenn wir uns Gedanken über sie machen können, wenn wir auch noch nicht dahingelangt sind, hellseherisch in die geistige Welt hineinzublicken, sie können uns helfen, wenn wir von ihnen wissen. Dafür, daß wir Geisteswissenschaft studieren, kommt uns aus der geistigen Welt Hilfe. Es sind nicht bloß die Dinge, die wir lernen, die Erkenntnisse, sondern es sind die Wesen der höheren Hierarchien selber, die uns helfen, wenn wir von ihnen wissen. Stehen wir also den Autoritäten fernerhin gegenüber in der fünften nachatlantischen Periode, dann ist es für uns heilsam, wenn wir hinter uns haben nicht bloß unseren eigenen menschlichen Verstand, sondern das, was die geistigen Wesen in unserem Verstande zu wirken vermögen, wenn wir von ihnen wissen. Die befähigen uns zum Urteilen gegenüber der Autorität. Die [113] geistige Welt hilft uns. Wir brauchen sie, wir müssen von ihr wissen, wir müssen sie wissentlich aufnehmen. Das ist das dritte, das kommen muß für den fünften nachatlantischen Zeitraum. Das erste ist soziales Menschenverständnis, das zweite ist Erwerbung der Gedankenfreiheit, das dritte ist lebendiges Wissen von der geistigen Welt durch die Geisteswissenschaft. Diese drei Dinge müssen die großen, realen Ideale für den fünften nachatlantischen Zeitraum sein. Auf dem Gebiete des sozialen Lebens muß kommen soziales Verständnis; auf dem Gebiete des religiösen und sonstigen Zusammenlebens der Seelen Gedankenfreiheit; und auf dem Gebiete der Erkenntnis muß kommen Geist-Erkenntnis. Soziales Verständnis, Gedankenfreiheit, Geist-Erkenntnis – das sind die drei großen Ziele, Impulse des fünften nachatlantischen Zeitraums. [...]