Individualität und Gemeinschaft

Rudolf Steiner, Vortrag vom 29.8.1922, GA 305, S. 223ff. | Überschriften und Hervorhebungen H.N.


Inhalt

Freiheit ... und Liebe
Dreigliederung erfordert lebendiges Denken
Geistesleben, Rechtsleben, Wirtschaftsleben
Kapitalverwaltung – Impulse statt Dogmen
Arbeit – Rechtsfragen statt Marktware
Schenkgeld fließt wieder ins Geistesleben


Einleitung

Meine Damen und Herren, wenn ich heute noch versuche, die Schilderung des sozialen Lebens der Gegenwart und der sozialen Forderungen der Zeit in einer gewissen Weise abzuschließen, so bin ich mir bewußt, daß alles dasjenige, was ich hier sagen konnte und werde sagen können über das soziale Leben und die sozialen Fragen, nur ganz spärliche Richtlinien sein können. Denn die soziale Frage in unserer Zeit ist eine sehr umfassende, sehr universelle, und vor allen Dingen sind zwei Betrachtungen notwendig für denjenigen, der einen Gesichtspunkt gewinnen will in der sozialen Frage. [...]

Freiheit...

Was gegenwärtig, wenn man überhaupt in das soziale Leben hineinsehen will, anzuschauen notwendig ist, das ist, daß der Mensch aus alten Bildungen überall herausstrebt und lediglich Mensch sein will, freier Mensch sein will.

Daher brauchen wir heute vor allen Dingen eine Weltanschauung – wie man im Deutschen sagen kann –, eine Weltanschauung der Freiheit, hier [in England] muß man sagen, weil das Wort Freiheit hier eine andere Bedeutung hat: Eine Weltanschauung der spirituellen Aktivität, des Handelns, des Denkens, des Fühlens, aus der menschlichen geistigen Individualität heraus. [...]

Man fragte in früheren Zeiten, wenn es sich darum handelte, sich sozial hineinzustellen in die menschliche Gemeinschaft als Individuum, man fragte: Was ist gut priesterhaft? Wie verhält man sich als Priester zu den anderen Menschen? Wie verhält man sich als Bürger zu den anderen Menschen? Wie verhält man sich als Adeliger zu den anderen Menschen? – Heute frägt man: Wie verhält sich der Mensch, wenn er sich seiner Menschenwürde und seiner Menschenrechte voll bewußt sein kann?

Da muß aber dann der Mensch in sich etwas finden. Er muß die Antriebe, die ihm früher das Bürgertum, das Adelstum, das Priestertum gegeben und die ihn zu seinem sozialen Handeln getrieben haben, er muß diese Antriebe in sich selber finden. Und er kann sie nicht in seinem Körper finden, er muß sie in dem Geiste, der eingeprägt ist seiner Seele, finden. Deshalb bezeichnete ich in meiner „Philosophie der Freiheit“ den sittlichen Impuls, der zu gleicher Zeit der tiefste soziale Impuls ist, das moralisch Impulsierende im Menschen, das bezeichnete ich als moralische Intuition. Es muß etwas aufgehen in dem Menschen drinnen, was ihm sagen soll im konkretesten Falle des Lebens: So sollst du handeln.

Sehen Sie, da ist alles auf die menschliche Individualität gestellt. Da muß man den einzelnen Menschen, die Individualität anschauen und muß voraussetzen: In diesem Herzen, in dieser Seele sind moralische Intuitionen. Darauf muß alle Erziehung hinauslaufen, diese moralischen Intuitionen zu wecken, so daß jeder Mensch fühlt von sich: Ich bin nicht von dieser Erde allein, ich bin nicht bloß ein Produkt der physischen Vererbung, ich bin aus den geistigen Welten heruntergestiegen auf die Erde und habe etwas zu tun auf dieser Erde als dieser einzelne individuelle Mensch.

Aber da muß man wissen nicht bloß, daß man etwas zu tun hat, sondern was man zu tun hat. Man muß in sich finden in der einzelnen konkreten Situation darinnen, was man zu tun hat. Das muß einem die Seele sagen. Das unbestimmte Gewissen muß zur moralischen individuellen Intuition werden. Das heißt: Frei werden als Mensch, das heißt: Nur bauen auf dasjenige, was in dem Menschen selber drinnen ist.

Und das haben manche Menschen sehr übelgenommen, weil sie gemeint haben, dann sei alles Moralisch-Soziale in die Willkür des einzelnen Individuums gegeben. Das ist es nicht, sondern es ist gestellt auf diejenige Basis, auf der allein das soziale Leben stehen kann; nämlich einerseits auf der Basis des Vertrauens. [...]

In diesem Vertrauen – was ein goldenes Wort ist –, in der Erziehung zu diesem Vertrauen, zu dem Glauben an den einzelnen Menschen, nicht bloß an die Nation oder an die Menschheit, in dieser Erziehung zu dem Glauben an den einzelnen Menschen liegt dasjenige, was allein Impuls sein kann für das soziale Leben der Zukunft; denn von dem einzelnen Menschen zur Gemeinschaft führt auf der einen Seite nur dieses Vertrauen.

Und die andere Basis ist diese: wir müssen, wenn niemand dasteht, der uns zwingt, irgend etwas zu tun, den Antrieb in uns selber finden. Auch den Gefühls-, den Gemüts-, den Seelenantrieb müssen wir in uns selber finden. [...]

...und Liebe

Und da kommen wir zu der Frage: Was soll jetzt der Gefühlsimpuls werden für dasjenige, was soziales Handeln ist, wenn nicht mehr die Priestertugend, nicht mehr die Bürgertugend, nicht mehr die Adelstugend, die Tugend des vierten Standes von hinten treibt?

Es kann nur das werden: wenn wir zu dem, was wir zu tun haben, namentlich gegenüber anderen Menschen, ein solches Vertrauen fassen können, wie wir es zu einem Menschen fassen, wenn wir ihn lieben. Frei sein heißt: in Handlungen sich ausleben, die man liebt.

Vertrauen ist das eine goldene Wort, das in der Zukunft das soziale Leben beherrschen muß. Liebe zu dem, was man zu tun hat, ist das andere goldene Wort. Und in der Zukunft werden diejenigen Handlungen sozial gut sein, die aus allgemeiner Menschenliebe gemacht werden.

Aber man muß diese allgemeine Menschenliebe erst verstehen lernen. Man muß sich nicht in bequemer Weise einreden, sie ist schon da. Sie ist eben nicht da. Und je mehr man sich sagt: sie ist nicht da, desto besser ist es. Denn diese allgemeine Menschenliebe, die muß eben die Liebe zu Taten sein, die muß aktiv werden, die muß sich in Freiheit ausleben können. Dann wird sie aber allmählich aus einem Urteil des häuslichen Herdes oder der Kirchturmnähe zu einem Universellen, zu einem Welturteil. [...]

Es müssen die Blicke, die heute das soziale Elend schauen, wenn man den richtigen Gesichtspunkt hat, dahin führen, daß die Menschen „mea culpa“ sagen, daß jeder Mensch „mea culpa“ sagt. Denn daß der einzelne Mensch als Individualität sich fühlt, schließt nicht das aus, daß er auch mit der ganzen Menschheit sich verbunden fühlt. Man hat in der Menschheitsentwickelung nicht das Recht, sich als Individualität zu fühlen, wenn man sich nicht zu gleicher Zeit als Angehöriger der ganzen Menschheit fühlt.

Das ist, ich möchte sagen, der Grundton, die Grundnote, die aus einer jeden Philosophie der Freiheit kommen muß, die den Menschen in einer ganz anderen Art hineinstellen muß in die soziale Ordnung. Die Fragen werden dann ganz anders. [...]

Dreigliederung erfordert lebendiges Denken

Wir müssen uns klar sein, daß jedes Ursache und Wirkung ist, daß alles ineinanderwirkt, und daß wir vor allen Dingen heute die Frage aufwerfen müssen: Was für Einrichtungen müssen da sein, damit die Menschen die richtigen Gedanken haben können in sozialer Beziehung? Und was für Gedanken müssen da sein, damit im Denken auch diese richtigen sozialen Einrichtungen entstehen? [...]

Die Menschen haben nämlich gerade, wenn es auf das äußere praktische Leben ankommt, die Ansicht: Erst kommt dieses, dann kommt dieses. Damit kommt man in der Welt nicht vorwärts. [...] Man muß im Kreise denken; man muß sich denken, wenn man die äußeren Verhältnisse anschaut, sie sind vom Menschen gemacht, aber sie machen auch die Menschen; oder wenn man die menschlichen Handlungen anschaut, sie machen die äußeren Verhältnisse, aber werden auch wiederum getragen von den äußeren Verhältnissen. Und so müssen wir fortwährend mit unseren Gedanken hin- und hertanzen, wenn wir die Wirklichkeit haben wollen. Und das wollen die Menschen nicht. [...]

Und so hat mein Buch: „Die Kernpunkte der sozialen Frage“ aus den sozialen Verhältnissen heraus Leser voraussetzen müssen, welche mit ihren Gedanken sich umkehren können. Aber das wollen die Menschen nicht, sie wollen vom Anfang bis Ende lesen und dann wissen: Jetzt haben sie das Ende erreicht. Daß das Ende der Anfang ist, darauf wollen sie nicht eingehen. Und so war das das ärgste Mißverständnis dieses sozial gemeinten Buches, daß man es falsch gelesen hat. Und man fährt fort, es falsch zu lesen. Man will sich nicht mit den Gedanken dem Leben anpassen, sondern man will, daß das Leben sich dem Denken anpasse. [...]

Als der Blick auf die drei Ideen der Dreigliederung, den Impuls der Dreigliederung geworfen wurde, da kamen zunächst diejenigen Menschen, die vielleicht mit ihrem Körper ganz gut in der Welt drinnenstehen, vielleicht sogar Fabrikanten sind in ihrem äußeren Leben, Pastoren sind in ihrem äußeren Leben, also mit ihrer Leiblichkeit irgendwo im äußeren Leben lokalisiert sind, sie kamen und sie dozierten nun: Ach ja, nun können wir froh sein, nun taucht eine neue Idee auf, die endlich wieder die alte grandiose Plato-Idee zur Geltung bringt, denn es ist ja nur ein Aufwärmen desjenigen, was Plato als Gliederung der Menschen hingestellt hat in Nährstand, Wehrstand, Lehrstand. Da haben wir den alten Plato wiederum zu Ehren gebracht.

Nun, meine Damen und Herren, ich hatte nichts anderes zu sagen, als: Für all jene Menschen, die zunächst, wenn eine neue Idee auftaucht, in die Bibliothek gehen und nachschauen, wo die registriert ist, mag das so sein; für denjenigen, der die Dreigliederung versteht, ist die Dreigliederung das Gegenteil von dem, was Plato geschildert hat als Nährstand, Wehrstand und Lehrstand, das genaue Gegenteil. Und zwar, weil Plato so und so viel Jahre vor dem Mysterium von Golgatha gelebt hat. Für die damalige Zeit war die Gliederung im Nährstand, Lehrstand und Wehrstand richtig; heute sie wiederum auffrischen zu wollen, ist absurd. Denn bei der Dreigliederung des sozialen Organismus handelt es sich nicht darum, daß hier wiederum die Menschen gegliedert werden, so daß einer drinnensteckt in dem Lehrstand, der andere in dem Wehrstand, in dem juristischen und Kriegerstand, der andere drinnensteckt in dem Nährstand, sondern es handelt sich um Einrichtungen, um Institutionen, in denen abwechselnd jeder drinnen sein kann, weil wir es in der neueren Zeit mit Menschen zu tun haben, und nicht mit Ständen.

Geistesleben, Rechtsleben, Wirtschaftsleben

So daß es sich darum handelt, daß eine Institution da ist, in welcher universell das geistige Leben des Menschen gepflegt wird, das lediglich auf die Fähigkeiten der Individualitäten gebaut sein muß; daß zweitens da ist die staatlich-juristische Institution in ihrer Selbständigkeit, ohne Intentionen, die anderen Glieder des sozialen Organismus zu verschlingen, und daß drittens da ist eine Institution, die rein wirtschaftlich ist.

Die staatlich-juristische wird es zu tun haben mit all dem, was der einzelne Mensch mit dem anderen abzumachen hat, was von Mensch zu Mensch festzusetzen ist.

Im geistigen Leben kann nicht jeder ein Urteil haben; im geistigen Leben kann jeder nur das Urteil haben, zu dem er befähigt ist. Da muß alles aus der Individualität herauskommen. Das geistige Leben muß auf die Individualitäten gebaut sein. Das geistige Leben macht notwendig, daß es ein in sich geschlossener, einheitlicher Körper ist. [...]

Und drittens das ökonomische Gebiet. Da zeigt sich, wie da alles nicht von dem einzelnen Urteil ausgehen kann – das Urteil des einzelnen ist gleichgültig, denn es kann niemals richtig sein –, sondern von den Assoziationen, von den Gemeinschaften der Menschen, die aus dem Zusammenfluß ihrer Urteile ein gemeinschaftliches Urteil heraus zustande bringen. Nicht darauf kommt es an, daß man sagt, man solle den Staat oder sonst irgendeine Gemeinschaft in drei Glieder teilen, sondern darauf kommt es an, daß von diesen drei Gliedern jedes dasjenige tun kann, was es tun soll, damit der soziale Organismus richtig wirkt. [...]

Wir schauen nach Rußland – Elend. Warum? Weil die sozialen Kräfte nicht richtig eingreifen können in den sozialen Organismus; weil der soziale Organismus nicht in der richtigen Weise nach seinen naturgemäßen drei Gliedern gegliedert ist. Wenn ein sozialer Organismus so gegliedert ist, daß darinnen das Geistesleben frei auf die Individualitäten gestellt ist, daß ein juristisch-staatliches Leben da ist, welches alle die Angelegenheiten ordnet, wofür jeder Mensch kompetent ist, gleichgültig was er für einen Bildungsstand und so weiter hat, und wenn drittens ein selbständiges wirtschaftliches Leben da ist, das es nur zu tun hat mit Produktion, Warenkonsumtion und Zirkulation, dann ist dieser Organismus so gegliedert, daß die einzelne Handlung, die einer tun kann, wirklich so durchfließt durch den sozialen Organismus, wie das Blut durch den Menschen durchfließt. [...]

Wir brauchen ein Geistesleben, das wiederum ganz in der Welt drinnensteht, wir brauchen ein Geistesleben, wo die Bücher aus dem Leben heraus geschrieben sind, ins Leben hinein wirken und nur Anregungen sind für das Leben, nur Mittel und Wege sein wollen für das Leben. Wir müssen aus der Bibliothek heraus. Wir müssen gerade im geistigen Leben in das Leben hinein. Und wir müssen ein Erziehungswesen haben, das nicht nach Regeln verfährt, das nach den Kindern verfährt, die real da sind, nach Menschenkenntnis; aus Menschenkenntnis heraus die Kinder kennenlernt und aus dem Kinde selbst herausliest, was zu tun ist jeden Tag, jede Woche, jedes Jahr.

Wir brauchen ein staatlich-juristisches Leben, in dem Mensch dem Menschen gegenübersteht, wo nur nach dem geurteilt wird, wozu eine berechtigte Kompetenz jeder einzelne hat, wie ich schon sagte, gleichgültig in welchem Beruf, in welcher sonstigen Situation er drinnensteht. Das gehört in das staatlich-juristische Leben hinein; was alle Menschen gleich macht.

Kapitalverwaltung – Impulse statt Dogmen

Was wird dann in das geistige Leben hineinkommen, wenn das geistige Leben so aufgefaßt wird, wie ich es jetzt beschrieben habe? Vom wirtschaftlichen Leben wird von selbst nach und nach die Kapitalverwaltung in das geistige Leben hineinkommen. Schimpft man heute über den Kapitalismus – man kann ja nichts machen gegen den Kapitalismus, man braucht doch den Kapitalismus. Es handelt sich nicht darum, daß Kapital da ist, Kapitalismus da ist, sondern: welche sozialen Kräfte in dem Kapital und Kapitalismus wirken. Der Kapitalismus ist entstanden aus der geistigen Erfindungsgabe der Menschheit. Er ist schon aus dem Geistigen heraus entstanden durch Arbeitsteilung und geistige Erkenntnis. Ich habe nur zur Illustration, weil ich keine Utopie geben wollte, in meinen „Kernpunkten“ gesagt, wie etwa dieses Hinströmen des Kapitals zum geistigen Glied des sozialen Organismus geschehen könnte, indem derjenige, der zunächst Kapital erworben hat und dadurch Kapital arbeitend hat, und mit seiner eigenen Person bei dieser Arbeit des Kapitals dabei ist, indem der so, wie man es heute mit den Büchern macht, die nach dreißig Jahren an die Allgemeinheit übergehen, dafür sorgt, daß das Kapital an die Allgemeinheit übergeht. Ich habe es nicht als einen utopischen Standpunkt aufgestellt, sondern gesagt, so könnte man vielleicht dazu kommen, dem Kapital diese Strömung zu geben, so daß es, statt daß es überall stockt, in die Blutzirkulation des sozialen Lebens hineinkomme. Alles das, was ich gesagt habe, ist gesagt als Illustration, sind nicht Dogmen, nicht utopische Begriffe, sondern ich wollte etwas anführen, was vielleicht durch die Assoziation geschehen wird.

Es kann vielleicht aber etwas ganz anderes geschehen. Derjenige, der lebensvoll denkt, setzt nicht Dogmen hin, die ausgeführt werden sollen, sondern rechnet mit Menschen, die aus ihrem Zusammenhang dasjenige herausbringen, was sozial ziel- und zweckvoll ist, wenn diese Menschen in der richtigen Weise in den sozialen Organismus hineingestellt sind. Überall ist gerechnet mit Menschen und nicht mit Dogmen. Aber ich habe es ja erleben müssen: Dasjenige, was eigentlich gemeint war mit den „Kernpunkten“, ist gar nicht diskutiert worden. Dagegen haben die Leute gefragt: Wie wird man es dahin bringen, daß das Kapital sich nach so und so viel Jahren an den Fähigsten vererbt? Und so weiter. Die Menschen wollen ja nichts Wirkliches, wollen nur Utopien. Das ist es aber, was gerade gegen die unbefangene Aufnahme eines solchen Impulses spricht, wie er in der Dreigliederung vorliegt.

Arbeit – Rechtsfragen statt Marktware

Und so wird man sehen, wenn das juristisch-staatliche Leben in der richtigen Weise sich auswirken kann, daß dieses juristisch-staatliche Leben vor allen Dingen dann die Arbeit des Menschen einbezieht. Die Arbeit des Menschen steckt ja heute ganz im wirtschaftlichen Leben drinnen. Sie wird nicht behandelt als etwas, was von Mensch zu Mensch bestimmt wird. Ich habe etwa 1905 einen Aufsatz geschrieben über die soziale Frage, und habe da klarmachen wollen, daß unter unserer heutigen Arbeitsteilung Arbeit nur eine Ware wird, indem sie hineinfließt in den ganzen übrigen Organismus. Für uns selber hat in Wirklichkeit unsere Arbeit nur einen Scheinwert. Nur was die anderen für uns tun, hat einen Wert; während das, was wir tun, für die anderen einen Wert haben soll. Das ist etwas, was die Technik schon erreicht hat. Nur sind wir mit unserer Moral noch nicht nachgekommen. [...] Die Arbeit ist dasjenige, was der Mensch für den Menschen macht, die nicht darnach geordnet werden kann, wieviel Arbeitszeit man in der Fabrik braucht. Die Bewertung der Arbeit führt im eminentesten Sinne hinein in das Gebiet des Rechts, der staatlich-juristischen Ordnung.

Daß das nicht unzeitgemäß, sondern zeitgemäß ist, das können Sie daraus entnehmen, daß die Arbeit überall geschützt wird, gesichert wird und so weiter. Aber das sind alles nicht halbe, das sind Viertelsmaßregeln, die nur dann voll zur Geltung kommen können, wenn eine richtige Dreigliederung des sozialen Organismus da ist. Denn dann wird erst der Mensch dem Menschen gegenüberstehen und wird erst die Arbeit eine richtige Regelung finden, wenn Menschenwürde gegen Menschenwürde sprechen wird, aus dem heraus, für das alle Menschen kompetent sind. [...]

Im ökonomischen Glied des sozialen Organismus werden die Assoziationen dastehen, in denen werden Konsumenten und Produzenten und Händler in gleicher Weise aus ihren Lebenserfahrungen heraus ein assoziatives Urteil – nicht ein individuelles, das gar keine Bedeutung hat –, ein assoziatives Urteil abgeben. [...]

Schenkgeld fließt wieder ins Geistesleben

Dann wird vor allen Dingen innerhalb dieser Assoziationen aus der wirtschaftlichen Erfahrung heraus eines richtig erfolgen, woraus tatsächlich eine soziale Ordnung kommen kann – wie aus dem gesunden menschlichen Organismus eben die menschliche Gesundheit kommt im menschlichen Leben –, eine ökonomische Zirkulation: Produktionsgeld, Leihgeld und Schenkungsgeld, Stiftung. Ohne daß diese drei Glieder darinnen sind, gibt es keinen sozialen Organismus. Man kann heute noch so viel wettern gegen die Stiftungen, Schenkungen, sie müssen da sein. Die Menschen machen sich nur etwas vor. Sie sagen sich: Ja, in einem gesunden sozialen Organismus gibt es keine Schenkungen. Aber sie zahlen ihre Steuern. Die Steuern sind ja nur der Umweg; denn darin sind die Schenkungen, die wir an die Schulen und so weiter abgeben, das sind die Schenkungen. [...]

Und sie werden sehen, wie mit dem Menschen zusammenhängt auf der einen Seite im Handels-, Zirkulations-, Produktions- und Erwerbsgeld dasjenige Geld, das angelegt wird, damit es auf dem Wege des Leihens, indem es verzinst wird, wiederum in die Produktion übergeht, und auf der anderen Seite das Schenkgeld, das zufließen muß dem, was freies Geistesleben ist. [...]

Und so handelt es sich bei der Dreigliederung wirklich nicht darum, wiederum in alter Weise, diese Begriffe, die wir haben: Geistesleben, Staatsleben, wirtschaftliches Leben so herumzukollern, und ein bißel anders herumzukollern, als man es in der jüngsten Zeit versucht hat, herumzukollern; sondern es handelt sich darum, überhaupt einmal den Begriff des Organismus zu erfassen, und dasjenige, was allmählich so ungeheuer stark hineingedrängt hat in das Abstrakte, wiederum zum Leben zurückzuführen. In diesem Zurückführen zum Leben liegt dasjenige, worauf es ankommt. Denn in den Assoziationen des Wirtschaftslebens werden alle sitzen; auch die Vertreter des geistigen Lebens werden drinnensitzen, denn sie essen. Es werden die Staatsvertreter drinnensitzen. Und umgekehrt werden in den anderen Gliedern alle drinnen sein. [...]

Geradeso wie immer neues Leben die soziale Ordnung durchströmen wird, oder die soziale Ordnung wird in die Dekadenz kommen, so muß man sagen: Entweder muß der Mensch wirklich Mensch werden, das heißt, er muß mit seinen Fähigkeiten zirkulieren können im sozialen Organismus, oder wir kommen in die Dekadenz hinein. Man kann ja die Dekadenz wählen, wenn man will, wenn man auf dem alten Standpunkt stehenbleiben will; aber Stehenbleiben, das läßt uns eben die Evolution nicht. Das ist es, auf was es ankommt. [...]