Was und wie soll sozialisiert werden?

Vortrag Rudolf Steiners vor Arbeitern der Daimler-Werke, Stuttgart-Untertürkheim, 26. April 1919, GA 330. | Hervorhebungen und Zwischenüberschriften H.N.

siehe auch: Zeit der Entscheidung. Die "Finanzkrise" und neue Begriffe für eine grundlegend menschliche Gesellschaft. (Inhaltsverzeichnis, siehe v.a. Band II). | Das menschliche Manifest.


Inhalt
Die Blindheit der politischen Führer
Die tiefere Sehnsucht der arbeitenden Bevölkerung
Soziales Krebsgeschwür, krankes Geistesleben und furchtbare Kulturlüge
Staatliche Geistes-Sklaven oder freies Geistesleben
Der Mensch als Arbeits-Sklave oder echtes Rechtsleben
Das Kapital den Fähigen!


Die Blindheit der politischen Führer

[...] Es wird sich heute darum handeln, dasjenige, was man in der Gegenwart Sozialisierung nennt, was wie ein weltgeschichtlicher Ruf auf der einen Seite und wie ein allgemein menschlicher Ruf auf der anderen Seite heute so mächtig und gewaltig ertönt, einmal von einem weiteren und breiteren Gesichtskreise zu behandeln, als es gewöhnlich behandelt wird. Und zwar nicht aus dem Grunde, weil das etwas irgendeiner Vorliebe Entsprechendes wäre, sondern weil die große, gewaltige Forderung unserer Zeit nur dann in der richtigen Weise erfaßt werden kann, wenn man das, um was es sich da handelt, so weitherzig und so großzügig als möglich anfaßt. [...]

Sehen Sie, vor fünf bis sechs Jahren hätte eine Versammlung wie diese mir zugehört, hätte nach den sozialen Anschauungen, die sie gehabt hat, sich ein Urteil darüber gebildet, ob das eine oder andere, was der Redner sagt, von den eigenen sozialen Anschauungen vielleicht in der einen oder anderen Weise abweicht, und man hätte ihn dann abgelehnt, wenn er irgend etwas vorgebracht hätte, was mit den eigenen Anschauungen wenig übereinstimmte. Heute muß es auf etwas ganz anderes ankommen, denn diese fünf bis sechs Jahre sind als bedeutungsvolle, einschneidende Ereignisse enthaltende über die Menschheit hingegangen, und heute ist es schon notwendig, daß das Vertrauen zu jemand, der in bezug auf Sozialisierung etwas sagen will, nicht nur dann einsetzt, wenn er genau dasselbe will, was man selbst will, sondern wenn er zeigt, daß er mit Bezug auf die berechtigten Forderungen der Zeit, die sich ausdrücken in der immer mehr und mehr anwachsenden proletarischen Bewegung, daß er für diese berechtigten Forderungen der Zeit ein ehrliches, aufrichtiges Gefühl und Wollen hat. [...]

Ich will Sie, wie gesagt, nicht mit irgendwelchen persönlichen Ausführungen besonders langweilen, aber das darf doch vielleicht einleitungsweise bemerkt werden, daß ich gezwungen war, persönlich gezwungen war, im Frühling des Jahres 1914 in einer kleinen Versammlung in Wien – eine größere Versammlung hätte mich wahrscheinlich dazumal aus den Gründen, von denen ich gleich sprechen werde, ausgelacht – zusammenzufassen, was sich mir, ich möchte bildlich sagen, in blutiger Lebenserfahrung über die soziale Frage und soziale Bewegung an Anschauungen herausgebildet hatte. Ich mußte dazumal als Abschluß jahrzehntealter Erfahrungen, jahrzehntelanger Beobachtung des sozialen Lebens der heutigen sogenannten zivilisierten Welt das Folgende sagen: Die in der Gegenwart herrschenden Lebenstendenzen werden immer stärker werden, bis sie sich zuletzt in sich selber vernichten werden. Da schaut derjenige, der das soziale Leben geistig durchblickt, überall, wie furchtbar die Anlagen zu sozialen Geschwürbildungen aufsprießen. Das ist die große Kultursorge, die auftritt für denjenigen, der das Dasein durchschaut. Das ist das Furchtbare, was so bedrückend wirkt und was selbst dann, wenn man allen Enthusiasmus sonst für das Erkennen der Lebensvorgänge durch die Mittel einer geist-erkennenden Wissenschaft unterdrücken könnte, einen dazu bringen müßte, von den Heilmitteln zu sprechen, die dagegen verwendet werden können –, daß man Worte darüber der Welt gleichsam entgegenschreien möchte. Wenn der soziale Organismus sich so weiter entwickelt, wie er es bisher getan hat, dann entstehen Schäden der Kultur, die für diesen Organismus dasselbe sind, was Krebsbildungen im menschlichen natürlichen Organismus sind.

Nun, wenn einer das im Frühling 1914 gesagt hat, so haben ihn die sogenannten gescheiten Leute selbstverständlich für einen Phantasten gehalten. [...] Hören wir uns zum Beispiel an den für die äußere deutsche Politik damals mitverantwortlichen Außenminister. In einer entscheidenden Sitzung des deutschen Reichstages, vor mehreren hundert ja auch mit Politik erleuchteten Herren, hat er etwa folgendes zu sagen gewußt über dasjenige, was bevorstand. Er sagte: Die allgemeine Entspannung in Europa macht erfreuliche Fortschritte. [...]

Diese allgemeine Entspannung hat so große Fortschritte gemacht, diese Beziehungen zu Petersburg sind von der Regierung so gut eingeleitet gewesen, diese Unterhandlungen mit England haben solche Früchte getragen, daß bald darauf die Zeit begann, in welcher, gering gerechnet, zehn bis zwölf Millionen Menschen innerhalb Europas totgeschlagen und dreimal soviel zu Krüppeln geschlagen worden sind. Nun darf ich Sie vielleicht fragen: Wie waren der Herr und diejenigen, denen er als seiner Klasse angehörte, unterrichtet über dasjenige, was in der Welt vorging? Wie stark war ihr Verstand in der Lage, dasjenige einzusehen, was man braucht für die allernächste Zeit? Waren sie nicht wahrhaftig mit Blindheit geschlagen? Und kam dazu nicht noch jener furchtbare, jener scheußliche Hochmut, der jeden als einen Phantasten bezeichnete, der darauf hinwies, daß da ein soziales Krebsgeschwür ist, welches in der nächsten Zeit in einer furchtbaren Weise aufgehen werde? Solche Fragen, sie müssen heute gestellt werden. Sie müssen aus dem Grunde gestellt werden, weil zahlreiche Persönlichkeiten heute wiederum, trotz der laut sprechenden Tatsachen, so blind wie jene sind mit Bezug auf dasjenige, was heute erst im Anfange seiner Entwickelung steht: die Gestalt der sozialen Bewegung, welche diese mehr als ein halbes Jahrhundert schon dauernde soziale Bewegung in ihrer neueren Form seit dem Herbst des Jahres 1918 angenommen hat. Das möchte man heute bewirken, daß es Menschen gäbe [...], welche in ihren Köpfen ein Bewußtsein von dem haben, was eigentlich geschehen muß.

Die tiefere Sehnsucht der arbeitenden Bevölkerung

Wer im Laufe der letzten Jahrzehnte gelernt hat, nicht nur, wie so viele, die heute über Sozialismus reden, über das Proletariat zu denken, wen sein Schicksal dazu gebracht hat, mit dem Proletariat zu denken und zu empfinden, der muß heute in einer viel ernsteren, in einer viel breiteren Weise über die soziale Frage denken, als viele denken. Der muß hinschauen, was diese Bewegung heute geworden ist aus ihrer Entwickelung heraus in den letzten fünf, sechs, sieben Jahrzehnten, seit Karl Marx' großer Ruf durch die Welt gegangen ist; er muß gewahr werden, wie die soziale Bewegung, wie die sozialen Programme heute es notwendig haben, aus dem Stadium der Kritik herauszutreten, herauszutreten auf den Boden des Schaffens, auf den Boden, auf dem man wissen kann, was zu geschehen hat zu einem Neuaufbau der menschlichen Gesellschaftsordnung, dessen Notwendigkeit eigentlich heute jeder, der nur mit wacher Seele lebt, empfinden muß.

Auf drei elementaren Lebensgebieten hat die Arbeiterschaft empfunden, was ihr eigentlich frommt, was für sie anders werden muß in ihrer ganzen Stellung zur Welt, zur menschlichen Gesellschaft und so weiter. Aber die Verhältnisse der letzten Jahrhunderte, namentlich des neunzehnten Jahrhunderts und ganz besonders des Anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts, haben bewirkt, daß, während mehr oder weniger unbewußt, instinktiv der Arbeiter mit dem Herzen sehr wohl fühlte, daß der Wege zu seinem Zukunftsideal drei sind, doch gewissermaßen das Augenmerk nur auf ein einziges Ziel hingerichtet worden ist. Die moderne bürgerliche Gesellschaftsordnung hat alles gewissermaßen auf das Gebiet des Wirtschaftlichen abgeschoben. Dem modernen Arbeiter war es nicht gestattet, nicht möglich, aus seinem Arbeitsverhältnis heraus eine ganz freie, voll bewußte Ansicht über dasjenige zu bekommen, was eigentlich notwendig ist. Er konnte, weil ihn eingespannt hat die moderne Technik, namentlich der moderne Kapitalismus, in die bloße Wirtschaftsordnung, er konnte eigentlich nur, weil das Bürgertum alles aufs Wirtschaftliche geschoben hat, glauben, daß sich der Untergang des Alten, der Zusammenbruch des Alten, und der zu ersehnende, zu erwirkende Aufbau auf dem wirtschaftlichen Gebiete ausbilden müßte, auf dem Gebiete, wo er sah, daß wirkte: Kapital, menschliche Arbeitskraft und Ware. Und heute, wenn der so berechtigte Ruf nach Sozialisierung ertönt, hat man eigentlich, selbst wenn man die anderen Lebenszweige berücksichtigt, nur im Auge die wirtschaftliche Ordnung. Wie hypnotisiert, möchte ich sagen, ist der Blick hingerichtet rein auf das wirtschaftliche Leben, rein auf dasjenige, was gefaßt wird unter den Namen Kapital, Arbeitskraft und Ware, Lebensverhältnisse, materielle Leistungen. Aber tief unten im Herzen des Proletariers, wenn er es auch im Kopfoberstübchen nicht so genau weiß, da sitzt es, was ihm sagt, daß die soziale Frage eine dreigliedrige ist, daß diese neuere soziale Frage, an der er leidet, für die er einstehen will, für die er kämpfen will, eine Geistesfrage, eine Rechts- oder Staatsfrage und eine Wirtschaftsfrage ist. [...]

Wenn wir heute mit Recht nach Sozialisierung rufen, so müssen wir doch auch fragen: Ja, was soll sozialisiert werden und wie soll sozialisiert werden? [...]

Wir müssen nämlich heute von einem uns durchdringen können, davon, daß wir gar nicht mehr etwas lernen können von alledem, was die Leute im Sinne des Kapitalismus, im Sinne der Privatwirtschaft als das Praktische, als das den Menschen Angemessene angesehen haben. Wer sich heute dem Glauben hingibt, daß man weiter kommt mit Einrichtungen, welche nur so gedacht werden, wie man bisher gedacht hat, der gibt sich wahrlich den allergrößten Illusionen hin. Aber lernen muß man von diesen Einrichtungen. Sehen Sie, das Charakteristischste, was sich im sozialen Leben seit langer Zeit, aber besonders bis heute so stark ergeben hat, das ist ja das, daß auf der einen Seite die bisher führenden Klassen stehen, gewohnt in ihrem Denken an dasjenige, was ihnen bequem war seit langer Zeit; jene führenden Klassen, welche immer wieder in ihren Wortführern und bei ihnen selbst in das Lob, ja in eine wahre Lobhudelei ausgebrochen sind über all dasjenige, was die neuere Kultur, die neuere Zivilisation so Herrliches, Großes hervorgebracht hat. [...]

Heute aber muß gefragt werden, ja, die Zeit frägt selbst danach: Wie war allein in wirtschaftlichem Sinne diese neue Kultur möglich? Dadurch war sie allein möglich, daß sie sich erhoben hat als Oberkultur über dem leiblichen und seelischen Elend, über der leiblichen und seelischen Not der breiten Masse, die nicht teilnehmen durfte an der so viel gelobten Kultur. Wäre diese breite Masse nicht gewesen, hätte die nicht gearbeitet, so hätte diese Kultur nicht sein können. [...]

Soziales Krebsgeschwür, krankes Geistesleben und furchtbare Kulturlüge

Sehen Sie, es kann heute einer kommen und kann sagen: Ja, sieh mal, du bist der Ansicht, daß es künftig nicht mehr faulenzende Rentiers geben darf? [gemeint sind leistungslose Einkommen, jedoch nicht die Rentner im heutigen Sinne! H.N.] – Jawohl, ich bin dieser Ansicht. Da wird er mir sagen, wenn er im Sinne der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung als ihr Anhänger kämpft: Aber bedenke doch nur, wenn du alle die Rentenvermögen zusammenzählst und verteilst, wie wenig das ist, wie klein das ist mit Bezug auf dasjenige, was nun all die Millionen von arbeitenden Menschen zusammen haben. – Ich werde ihm sagen: Ich weiß ebensogut wie du, daß die Rentenvermögen nur weniges sind, aber sieh mal, eine Gegenfrage: Es ist ein ganz kleines Geschwür, das jemand an irgendeiner Körperstelle hat. Dieses Geschwür ist im Verhältnis zum ganzen Körper sehr klein. Aber kommt es auf die Größe des Geschwürs an oder darauf, daß, wenn es auftritt, es zeigt, daß der ganze Körper ungesund ist? Nicht darauf kommt es an, die Größe des Rentenvermögens auszurechnen, nicht darauf, die Rentiers unbedingt moralisch zu verurteilen – sie können ja nichts dafür, sie haben diese Weisheit, Rentner zu sein, ererbt oder dergleichen –, sondern darauf kommt es an, daß, ebenso wie sich im natürlichen menschlichen Organismus eine Krankheit, ein Ungesundes in seiner Ganzheit zeigt, wenn ein Geschwür ausbricht, so zeigt sich das Ungesunde des sozialen Organismus, wenn in ihm überhaupt Müßiggang oder Rente möglich ist. [...]

Die Gedanken müssen einfach in ein ganz anderes Fahrwasser gebracht werden. Man muß sich überzeugen können davon, daß unser Wirtschaftsleben ungesund geworden ist. Und man muß jetzt die Frage stellen: Woher kommt es denn, daß innerhalb des Wirtschaftskreislaufes Kapital, Menschenarbeit, Ware sich in einer so ungesunden Weise – namentlich für die Frage der breiten Massen der Menschheit, ob man als Arbeiter ein menschenwürdiges Dasein führen kann – ausgestalten? Das muß gefragt werden. Dann aber kann man nicht mehr innerhalb des bloßen Wirtschaftslebens stehenbleiben, dann wird man notwendig dazu geführt, wenn man diese Frage in all ihrer Tiefe sieht, die soziale Frage dreigliedrig zu fassen, als Geistesfrage, als Staats- oder Rechtsfrage und als Wirtschaftsfrage. [...]

Wenn ein Ackerboden krank ist, dann wächst darauf auch keine Frucht. Wenn das Geistesleben einer Menschheit in einem bestimmten Zeitalter nicht gesund ist, dann wächst diejenige Frucht nicht darauf, welche wachsen soll als ökonomische Wirtschaftsübersicht, als eine Möglichkeit, die ökonomische Wirtschaftsordnung so zu beherrschen, daß wirklich ein Heil für die breiten Massen daraus entstehen kann. Auf dem Boden eines kranken Geisteslebens der letzten Zeit ist entstanden all das Chaos, welches heute in unserem Wirtschaftsleben vorhanden ist. [...] Ich frage Sie, Hand aufs Herz, was wissen Sie eigentlich von dem, wie fabriziert werden in den Universitäten, in den Gymnasien, in den Realschulen diejenigen persönlichen Fähigkeiten, welche im Geistesleben, im Rechtsleben, im Wirtschaftsleben die eigentlich leitenden sind? Nichts wissen Sie davon! Einiges wissen Sie von dem, was Ihren Kindern in der Schule gelehrt wird, aber auch da wissen Sie nicht, welche Absichten, welche Ziele für diesen Schulunterricht aus den höheren Unterrichtsanstalten in die gewöhnlichen Schulen herunterfließen. [...]

Weil es nicht anders ging, als der Demokratie gewisse Verbeugungen zu machen, hat man einige Brocken in allen möglichen Formen von der sogenannten neueren Bildung an das Volk abgegeben; Volkshochschulen wurden errichtet, Volkskurse abgehalten, Künstlerisches dem Volke gezeigt, so wohlwollend: Es soll auch das Volk etwas haben davon. Was man damit erreicht hat, mit alledem, was ist es denn eigentlich? Nichts ist es, als eine furchtbare Kulturlüge. Es hat alles das die Kluft nur noch bedeutsamer aufgerichtet. Denn wann könnte denn der Proletarier mit einem aufrechten, ehrlichen Empfinden aus dem ganzen Herzen, aus der ganzen Seele heraus hinschauen auf das, was innerhalb der bürgerlichen Klasse gemalt, auf dasjenige, was innerhalb der bürgerlichen Klasse als Wissenschaft fabriziert wird, wie könnte er darauf hinschauen? Wenn er mit denjenigen, die es hervorbringen, ein gemeinsames soziales Leben hätte, wenn kein Klassenunterschied bestünde! Denn es ist unmöglich, ein gemeinsames Geistesleben zu haben mit denjenigen, zu denen man nicht sozial gehört. Das ist es, was geistig vor allen Dingen die große Kluft gezogen hat. Das ist es, was einen geistig hinweist auf dasjenige, was zu geschehen hat.

Staatliche Geistes-Sklaven oder freies Geistesleben

Sehr verehrte Anwesende! Es soll wahrhaftig, wie schon gesagt, nicht viel Persönliches von mir gebracht werden, aber das, was ich zu Ihnen hier spreche, das spricht zu Ihnen jemand, der seine sechs Lebensjahrzehnte so zugebracht hat, daß er sich möglichst, und später immer mehr und mehr, ganz ferne gehalten hat in seinem geistigen Streben von denjenigen, die in geistigem Streben gestützt werden vom Staate oder vom modernen Wirtschaftsleben. Nur dann konnte man ein wirklich auf sich gebautes Geistesleben, ein gesundes Urteil sich bilden, wenn man sich unabhängig gemacht hat von alledem, was mit dem modernen Staat, mit dem modernen Wirtschaftsleben in geistiger Beziehung zusammenhängt. Denn sehen Sie, Sie zählen sich zum Proletariat, Sie können sich dazu zählen, Sie können sich mit Stolz einen Proletarier nennen gegenüber dem Beamten, der einer anderen Gesellschaftsordnung angehört. So ist es auf dem Gebiet der materiellen Welt. Sie wissen, was der Proletarier gegenüber dem Beamten in der Welt durchzumachen hat. Aber auf dem geistigen Gebiete, da gibt es im Grunde genommen keine richtigen Proletarier; da gibt es nur diejenigen, die Ihnen offen gestehen: Hätte ich mich jemals gebeugt unter das Joch eines Staates, einer Kapitalistengruppe, ich könnte heute nicht vor Ihnen stehen und Ihnen dasjenige sagen, was ich Ihnen sage über die modernen sozialen Ideen, denn in meinen Kopf wäre dann das nicht hereingegangen. – Das können nur eben diejenigen sagen, die sich freigehalten haben vom Staat und von der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die sich ihr Geistesleben selbst aufgebaut haben. Die anderen aber, sie sind nicht Proletarier, sie sind Kulis. Das ist es, daß heute der Begriff des Geisteskuli, der im Geiste abhängig ist von dem gegenwärtigen Staat und der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung, daß der im Geistigen die Leitung und damit auch im Grunde genommen wirtschaftlich und staatlich die Leitung in der Hand hat. Das ist es, was sich aus der kapitalistischen bürgerlichen Wirtschaftsordnung im Lauf der letzten Jahrhunderte herausgebildet hat, was den Staat dazu gebracht hat, ein Diener zu sein der bürgerlichen Wirtschaftsordnung, was das Geistesleben wiederum dazu gebracht hat, dem Staate sich zu unterwerfen. [...]

Nun frage ich Sie: Ist es zu verwundern, daß der moderne Proletarier, wenn er hinschaute auf dieses Geistesleben, dieses Geistesleben empfand als ein Luxusgeistesleben? Ist es zu verwundern, wenn er sich sagt: Dieses Geistesleben, das wurzelt nicht in einem besonderen Geist, das trägt die menschliche Seele wahrhaftig nicht, das verrät auch nicht, daß es der Ausfluß ist einer göttlichen oder moralischen Weltordnung. Nein, es ist die Folge des Wirtschaftslebens. Wie die Leute ihr Kapital einheimsen, so leben sie geistig. Das macht ihnen ihr Geistesleben möglich. Deshalb konnte auch im modernen Proletariat nicht aufkommen eine wirklich freie Anschauung über ein Geistesleben, das die Seele wahrhaftig trägt. Aber ich weiß aus jahrzehntelanger Erfahrung: In dem modernen Proletarier lebt die tiefe Sehnsucht nach einem wahren Geistesleben, nicht nach einem solchen Geistesleben, welches haltmacht an der bürgerlichen Grenze, sondern welches hineinträufelt in die Seelen aller Menschen. Deshalb steht in dem Aufruf, über den zu sprechen mir heute Gebot ist, daß dieses Geistesleben in der Zukunft auf sich selbst gestellt sein muß, und nicht nur die letzten Reste des Geisteslebens, der Kunst und dergleichen, enthält, die noch geblieben sind. In Berlin hat man auch diese schon stark in die Staatsallmacht einbeziehen wollen.

Das ganze Geistesleben, vom niedersten Schulwesen bis hinauf zum höchsten Schulwesen, muß auf sich selbst gestellt sein, denn der Geist gedeiht nur, wenn er jeden Tag aufs neue seine Wirklichkeit und Kraft zu beweisen hat. Der Geist gedeiht nimmermehr, wenn er abhängig ist vom Staate, wenn er der Kuli des Staates, des Wirtschaftslebens ist. Was auf diesem Gebiete geworden ist, das hat die Menschenköpfe gelähmt. Ach, wenn wir heute hinschauen auf die herrschenden Klassen, wenn wir, die wir verstehen wollen den Ruf nach Sozialisierung, hinschauen nach denen, die heute die Fabriken leiten, nach denen, die die Werkstätten leiten, die die Schulen, die Universitäten leiten, die Staaten leiten – ach, es jammert einen in der Seele –, es fällt ihnen ja nichts ein, es geht in ihre Köpfe der ganze Ernst der Lage nicht hinein. Warum denn nicht? Ja, woran sind denn die Menschen allmählich gewöhnt worden gegenüber dem Wirtschaftsleben, dem Rechts- oder Staatsleben, und gegenüber dem Geistesleben? Der Staat übernimmt gewissermaßen, wenn der Mensch nur über die ersten Erziehungsjahre hinaus ist – die der Staat noch nicht übernommen hat, weil ihm die ersten Erziehungsjahre des Menschen zu unreinlich verlaufen –, mit seiner Schule den Menschen. [...] Ich saß einmal zusammen mit den Herren einer Prüfungskommission, und als wir so sprachen, wie schlimm es doch eigentlich mit unserem Gymnasialwesen beschaffen ist, da sagte er: Ja, es jammert einen auch, wenn man so die Leute prüfen muß und sieht dann, welche Kamele man loslassen muß auf die Jugend.

Ich erzähle Ihnen das als kulturhistorische Tatsache, als Symptom, damit hingewiesen wird auf dasjenige, was unter den Menschen lebt, die die Welt geleitet haben, denen in gewisser Weise die Führung der Menschen anvertraut war und warum die Menschen die Welt endlich in diese furchtbare Katastrophe hineingebracht haben. Aus Millionen von Einzelheiten setzen sich die Ursachen zusammen, die die Menschheit in diese Katastrophe hineingebracht haben. Und unter diesen Ursachen ist vorzugsweise diese soziale Erscheinung des Geisteslebens, und weil man heute an Sozialisierung denkt, so kommt es vor allen Dingen auf die Sozialisierung des Geisteslebens an. Darauf kommt es an, daß man in der richtigen Weise die menschlichen Begabungen und Fähigkeiten pflegt, wie auf dem Acker dasjenige, was auf dem Acker wachsen soll, gepflegt wird. Das ist bisher nicht geschehen. Der Staat übernahm den Menschen, dressierte ihn für seinen Gebrauch, da wurde alle Aktivität, alles Aufsichgestelltsein den Menschen ausgetrieben. Der Mensch hatte schließlich gegenüber dem Wirtschaftsleben, gegenüber dem Geistesleben aus dem Rechtsleben des Staates heraus nur ein Ideal: Wirtschaften. Der Staat hatte ihn übernommen, er hat ihn für sich ausgebildet. Nun beginnt, wenn der Mensch gut dressiert ist, das staatliche Wirtschaftsleben für ihn. Da war er versorgt; dann war er brav, auch wenn er nicht mehr arbeiten wollte, bis zu seinem Tode versorgt in Form einer Pension, das heißt durch die Arbeit derjenigen, die keine Pension hatten. [...] Alles war für ihn in Ordnung, er brauchte nicht mehr selber zu denken oder einzugreifen so in die soziale Ordnung, daß daraus etwas Gedeihliches entstehen konnte; er brauchte sich nicht aktiv zu beteiligen. Daher ist es so geworden, daß man nach und nach nicht mehr in der Lage war, nachzudenken über das, was geschehen soll, nachzudenken über das, was als eine Art von Neuentwickelung in die Welt treten soll. [...] Daher haben wir als erste Forderung gerade die nach einer Emanzipation des Geisteslebens, nach einer Neugestaltung des Geisteslebens. Das ist die erste Frage, auf die es ankommt.

Der Mensch als Arbeits-Sklave oder echtes Rechtsleben

Die zweite Frage, wir finden sie, wenn wir unsern Blick werfen auf das Rechtsgebiet, auf dasjenige Gebiet, welches dem eigentlichen Staat angehören soll. Allein, wir finden uns auf diesem Gebiet in der rechten Art heute nur verständnisvoll zusammen, wenn wir gerade von ihm aus auf das Wirtschaftsgebiet sehen. Was ist denn da eigentlich im Wirtschaftsgebiet? Im Wirtschaftsgebiet ist Warenproduktion, Warenzirkulation, Warenkonsum. [...] Aber durch die wirtschaftliche Entwickelung der neueren Zeit in ihrer Verknüpfung mit der staatlichen Entwickelung hat das Bürgertum hineingeschoben in das Wirtschaftsleben etwas, wovon heute der Proletarier in der allerberechtigtsten Weise fordert: es darf das nicht weiter in dem Wirtschaftsleben drinnen sein, und das ist die menschliche Arbeitskraft. [...] Hier fühlt der Proletarier: So lange meine Arbeitskraft gekauft und verkauft werden muß auf dem Arbeitsmarkt, wie nach Angebot und Nachfrage Ware auf dem Warenmarkt, so lange kann ich mir die Frage: Führe ich ein menschenwürdiges Dasein? nicht mit Ja beantworten. [...]

Wer das menschliche Leben wirklich durchschaut, der weiß, daß dem, was ich eben gesagt habe, daß im modernen Wirtschaftskreislauf sich drinnen befindet unrechtmäßig die menschliche Arbeitskraft des Proletariers wie eine Ware, daß dem zugrunde liegt wiederum eine ungeheure Lebenslüge. Denn menschliche Arbeitskraft ist etwas, was sich niemals durch irgendeinen Preis vergleichen läßt mit einer Ware, mit einer Hervorbringung. Das kann man sogar ganz gründlich beweisen.

Ich weiß, die Vorträge, die ich jetzt halte in dieser Weise – gerade bei den führenden Klassen wird mir immer wieder und wiederum direkt oder indirekt gesagt, sie seien schwer verständlich. Nun, jüngst hat mir ein Mensch gesagt: Sie sind halt schwer verständlich für diejenigen, welche sie nicht verstehen wollen. – Und als ich neulich in Dornach vor einer Proletarierversammlung ungefähr den Vortrag gehalten habe, den ich Ihnen heute halte, da sagte auch jemand von der Sorte derjenigen Leute, die diese Worte so schwer verständlich finden, er hätte sie doch nicht richtig verstanden. Da antwortete ihm ein Proletarier: Na, da muß man ja ein Kalb sein, wenn man das nicht versteht. -Also ich fürchte diese Schwerverständlichkeit nicht, denn ich war jahrelang Lehrer der von Wilhelm Liebknecht gegründeten Arbeiterbildungsschule und weiß, daß der Proletarier manches von dem versteht, was der Bürgerliche ganz unverständlich findet. [...]

Die erste Frage war die Geistesfrage. Die zweite ist eine große soziale Frage: Wie gelangt der moderne Arbeiter dazu, seine Arbeitskraft des Charakters der Ware zu entkleiden? Denn was empfindet der moderne Proletarier bei der heutigen wirtschaftlichen Verwendung seiner Arbeitskraft? [...] Im Altertum gab es Sklaven, da kauften und verkauften die Kapitalisten den Menschen, wie man eine Kuh kauft und verkauft, den ganzen Menschen. Später gab es eine Leibeigenschaft; da verkaufte man nicht mehr den ganzen Menschen, sondern nur einen Teil von dem Menschen, aber immerhin noch genug. Gegenwärtig, trotz aller Versicherung von Freiheit und Humanität, trotz des sogenannten Arbeitsvertrages, weiß der Proletarier sehr gut, daß jetzt noch immer gekauft und verkauft wird seine Arbeitskraft. Das weiß er. Darüber täuscht ihn der sogenannte Arbeitsvertrag keineswegs hinweg. [...] Deshalb empfindet er es, was leider die führenden Klassen zu begreifen im rechten Moment verpaßt haben: daß heute der weltgeschichtliche Moment eingetreten ist, wo die Arbeitskraft ferner nicht mehr Ware sein darf. Das Wirtschaftsleben darf in sich nur den Kreislauf haben von Warenproduktion, Warenkonsumtion, Warenverkehr. [...]

Das Geistesleben steht auf sich selbst, das Geistesleben muß ein freies sein. Da drinnen müssen die Begabung, die menschlichen Fähigkeiten in der richtigen Weise gepflegt werden. [...] Ernst gemacht werden muß im freien Geistesleben mit der Pflege der menschlichen Begabung, dann werden wir das Geistesleben sozialisieren. Dem Staat gehört alles dasjenige, worin alle Menschen gleich sind, wofür besondere Begabungen nicht in Betracht kommen, wofür das in Betracht kommt, das dem Menschen eingeboren ist, wie ihm eingeboren ist im gesunden Auge die Fähigkeit, blau oder rot zu sehen. Für den Staat kommt in Betracht das Rechtsbewußtsein. Dieses Rechtsbewußtsein, es kann in der Seele schlafen, aber es ist in das Herz eines jeden Menschen gelegt. Der Proletarier suchte die Auslebung dieses Rechtsbewußtseins. Was fand er? Wie er auf dem Gebiete des Geisteslebens den Geistesluxus fand, der wie ein Rauch war, der aus dem Wirtschaftsleben hervorquoll, so fand er auf dem Gebiete des Staates nicht die Auslebung des Rechtsbewußtseins, sondern Standesvorrrechte, Klassenvorrechte und Klassenbenachteiligungen. Da haben Sie die Wurzel des antisozialen Lebenselementes der neueren Zeit. Dem Staat gehört alles dasjenige, worin alle Menschen gleich sind. Gleich sind sie nicht in bezug auf geistige und physische Fähigkeiten und Geschicklichkeiten. Die gehören zur Pflege dem freien Geistesleben. Der Staat wird erst dann etwas Gesundes sein, wenn er nicht im Sinne der modernen bürgerlichen Ordnung, man könnte auch sagen, der eben ihrem Niedergang entgegengehenden bürgerlichen Ordnung, aufsaugt das Geistesleben und das Wirtschaftsleben, sondern wenn er auf der einen Seite das Geistesleben, auf der andern Seite das Wirtschaftsleben für deren eigene Sozialisierung freigibt. Das ist das, um was es sich handelt. Dann wird es möglich sein, daß der Arbeiter, als gleicher allen Menschen im Gebiete des Staates gegenüberstehend, regelt Maß und Art und Charakter seiner Arbeitskraft, bevor er sich überhaupt in das Wirtschaftsleben zu stürzen hat. Es muß in Zukunft so unmöglich sein, daß durch wirtschaftliche Konjunktur, durch die wirtschaftlichen Zwangsverhältnisse etwas über das Arbeitsrecht bestimmt wird, wie es einfach durch Naturverhältnisse unmöglich ist, daß aus dem wirtschaftlichen Kreislauf oder aus sonstigem heraus die Naturkräfte, Regen und Sonnenschein, geregelt werden. Unabhängig vom Wirtschaftsleben muß staatlich festgestellt werden auf demokratischem Boden, wo ein Mensch dem andern gleich ist, in dem vom Wirtschaftsleben ganz abgesonderten Staat, was Arbeitsrecht ist, und was dasjenige ist, was diesem Arbeitsrecht entgegensteht, was Verfügung über eine Sache ist, was man heute Besitz nennt, was aber im weitestgehenden Umfang aufhören muß und einem Gesunden weichen muß in Zukunft. Wenn nicht das Wirtschaftsleben bestimmt die Arbeitskraft, sondern wenn umgekehrt das Wirtschaftsleben sich richten muß nach dem, was der Arbeiter aus sich selber heraus in der staatlichen Demokratie über seine Arbeit bestimmt, dann ist eine wichtige Forderung erfüllt. [...]

Der Arbeiter wird, bevor er in die Fabrik geht, wissen, wieviel und wie lange er zu arbeiten hat; er wird überhaupt gar nichts mehr zu regeln haben mit irgendeinem Arbeitsleiter über das Maß und die Art seiner Arbeit. Er wird nur zu reden haben über dasjenige, was als Verteilung zu existieren hat des gemeinsam mit dem Arbeitsleiter Hervorgebrachten. Das wird ein möglicher Arbeitsvertrag sein. Es wird Verträge geben bloß über die Verteilung des Geleisteten, nicht über die Arbeitskraft. [...]

Das Kapital den Fähigen!

Über etwas kann ich noch kurz sprechen, was dem Arbeitsrecht, das den Arbeiter frei machen wird, entgegensteht. Der gewöhnliche Sozialismus spricht sehr viel davon, daß das Privateigentum in die Gemeinsamkeit übergehen soll. Aber die große Frage dieser Sozialisierung wird ja eben das Wie sein. In unserer heutigen Wirtschaftsordnung haben wir nur auf einem Gebiete ein bißchen gesundes Denken mit Bezug auf das Eigentum. Das ist auf demjenigen Gebiet, das der modernen bürgerlichen Phraseologie, der modernen bürgerlichen Unwahrhaftigkeit innerlich doch nach und nach das unbedeutendste Eigentum geworden ist, es ist nämlich das geistige Eigentum. In bezug auf dieses geistige Eigentum, sehen Sie, denken die Leute doch noch ein bißchen gesund. Sie sagen sich da: Mag einer ein noch so gescheiter Kerl sein, er bringt sich mit der Geburt seine Fähigkeiten mit, aber das hat keine soziale Bedeutung, im Gegenteil, das ist er verpflichtet der menschlichen Gesellschaft darzubringen, mit diesen Fähigkeiten wäre es nichts, wenn der Mensch nicht drinnenstehen würde in der menschlichen Gesellschaft. Der Mensch verdankt, was er aus seinen Fähigkeiten schaffen kann, der menschlichen Sozietät, der menschlichen sozialen Ordnung. Es gehört einem in Wahrheit nicht. Warum verwaltet man sein sogenanntes geistiges Eigentum? Bloß deshalb, weil man es hervorbringt; dadurch, daß man es hervorbringt, zeigt man, daß man die Fähigkeiten dazu besser hat als andere. So lange man diese Fähigkeiten besser hat als andere, so lange wird man im Dienste des Ganzen am besten dieses geistige Eigentum verwalten. [...] Es gibt keine andere Rechtfertigung dafür, daß man geistiges Eigentum zu verwalten hat, als daß man, weil man es hervorbringen kann, auch die besseren Fähigkeiten hat.

Fragen Sie heute den Kapitalisten, ob er einverstanden ist, für das ihm wertvolle materielle Eigentum einzugehen auf das, was er für das geistige Eigentum für das Richtige hält! Fragen Sie ihn! Und doch ist das das Gesunde. Es muß einer gesunden Ordnung zugrunde liegen, daß jeder aus der geistigen Organisation, die eine gesunde Verwaltung der menschlichen Fähigkeiten sein wird – Sie finden das näher ausgeführt in meinem Buche „Die Kernpunkte der sozialen Frage“ –, zu Kapital kommen kann. Dahin muß es aber kommen, daß die Mittel und Wege gefunden werden, zu dieser großen, umfassenden Sozialisierung des Kapitals, das heißt der Kapitalsrente und der Produktionsmittel, daß jeder zu Kapital und Produktionsmittel kommen kann, der die Fähigkeiten dazu hat, daß er aber nur so lange die Verwaltung und Leitung von Kapital und Produktionsmitteln haben kann, als er diese Fähigkeiten ausüben kann oder ausüben will. Dann gehen sie über, wenn er sie selber nicht mehr ausüben will, auf gewissen Wegen in die Gesamtheit. Sie beginnen zu zirkulieren in der Gesamtheit.

Das wird ein gesunder Weg sein zur Sozialisierung des Kapitals, wenn wir dasjenige, was sich heute als Kapitalien im Erbschaftsrecht, im Entstehen von Renten, von Müßiggängerrecht, von anderen überflüssigen Rechten, was so sich aufhäuft in Kapitalien, in Fluß bringen im sozialen Organismus. Darauf kommt es an. Wir brauchen gar nicht einmal zu sagen: Privateigentum muß Gesellschaftseigentum werden. Der Eigentumsbegriff wird überhaupt keinen Sinn haben. So wenig wird er einen Sinn haben, wie es einen Sinn haben würde, wenn sich in meinem Leibe an einzelnen Stellen Blutzuschüsse anhäufen würden. Das Blut muß in Zirkulation sein. Das, was Kapital ist, muß von den Fähigen zu den Fähigen gehen. Wird mit einer solchen Sozialisierung der Arbeiter einverstanden sein? Ja, das wird er, weil ihn seine Lebenslage dazu zwingt, vernünftig zu sein. Er wird sich sagen: Ist der mit den richtigen Fähigkeiten der Leiter, dann kann ich zu ihm Vertrauen haben, dann sind meine Arbeitskräfte unter dem richtigen Leiter besser angewendet als unter dem Kapitalisten, der nicht die Fähigkeiten hat, sondern den nur ein ungesunder Anhäufungsprozeß von Kapitalien an seinen Platz hingesetzt hat. Diese Dinge kann ich jetzt nur andeuten. Das wird die zukünftige Sozialisierungslehre von der Zirkulation von Kapital und Produktionsmitteln sein, der konkrete, der wahre Ausbau von dem sein, was auch von Karl Marx in abstrakter Weise als großes Menschheitsziel hingestellt worden ist: Jedem nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen. [...]

So habe ich Ihnen heute auf einem breiteren Boden sprechen müssen von der Sozialisierung. Denn das allein, was auf diesem breiten Boden entsteht, ist das wahrhaft Praktische. Sonst wird immer nur in der Sozialisierung gepfuscht werden, wenn man nicht die allererste Frage diese sein läßt: Was hat der Staat zu tun? Er hat zuerst freizugeben das Geistesleben nach der einen Seite, dann das Wirtschaftsleben nach der andern Seite; er hat auf dem Boden des Rechtslebens stehenzubleiben. Das ist nichts Unpraktisches, sondern das ist eine Sozialisierung, die jeden Tag durchgeführt werden kann. Was gehört dazu? Mut, Courage, nichts anderes! [...]

Als die Morgenröte der neueren Zeit anging, da waren diejenigen Menschen, welche am meisten ein Herz hatten für den Fortschritt der zivilisierten Menschheit, durchdrungen von drei großen Idealen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Diese drei großen Ideale, es hat damit eine sonderbare Bewandtnis. Auf der einen Seite fühlt jeder gesunde und innerlich mutige Mensch: Das sind die drei großen Impulse, welche die neuere Menschheit nun endlich führen müssen. Aber ganz gescheite Leute haben im neunzehnten Jahrhundert immer wieder nachgewiesen, welcher Widerspruch doch eigentlich herrsche zwischen diesen drei Ideen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Ja, es herrscht ein Widerspruch, sie haben recht. Darum sind sie aber doch die größten Ideale, trotzdem sie sich widersprechen. Sie sind eben aufgestellt in einer Zeit, in der der Blick der Menschheit noch wie hypnotisiert hingerichtet war auf den Einheitsstaat, der bis in unsere Zeit noch wie ein Götze verehrt worden ist. [...]

Diejenigen aber, die sich nicht haben hypnotisieren lassen von diesem Einheitsstaat auf dem Gebiete des Geisteslebens, die von der Freiheit dachten wie ich selbst in meinem Buche „Die Philosophie der Freiheit“, das ich im Anfang der neunziger Jahre verfaßt habe, und das gerade jetzt in unserer Zeit der großen sozialen Fragen, des großen Umdenkens wieder erscheinen mußte, die wußten: Nur deshalb sah man Widersprüche zwischen den drei größten sozialen Idealen, weil man glaubte, sie im Einheitsstaat verwirklichen zu müssen.

Erkennt man in richtiger Weise, daß der gesunde soziale Organismus ein dreigegliederter sein muß, dann wird man sehen: Auf dem Gebiet des Geisteslebens muß herrschen die Freiheit, weil gepflegt werden müssen Fähigkeiten, Talent, Begabung des Menschen in freier Weise. Auf dem Gebiet des Staates muß herrschen absolute Gleichheit, demokratische Gleichheit, denn im Staate lebt dasjenige, worin alle Menschen einander gleich sind. Im Wirtschaftsleben, das abgesondert sein soll von dem Staats- und Geistesleben, aber dem geliefert werden soll vom Staatsleben und vom Geistesleben die Kraft, muß herrschen Brüderlichkeit, Brüderlichkeit in großem Stile. Sie wird sich ergeben aus Assoziationen, aus Genossenschaften, die aus den Berufsgenossenschaften und aus jenen Gemeinschaften hervorgehen werden, die gebildet sind aus gesunder Konsumtion, zusammen mit gesunder Produktion. Da wird herrschen können im dreigeteilten Organismus Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit. Und verwirklicht wird werden können durch die neuere Sozialisierung dasjenige, was gesund denkende und gesund fühlende Menschen seit langer Zeit ersehnen. Man wird nur den Mut haben müssen, manches alte Parteiprogramm wie eine Mumie zu betrachten gegenüber den neuen Tatsachen. Man wird den Mut haben müssen dazu, sich zu gestehen: Neue Gedanken für neue Tatsachen, für die neuen Entwickelungsphasen der Menschheit sind notwendig. [...]