Rudolf Steiner als Gegner des Antisemitismus

siehe auch: Hans-Jürgen Bader, Manfred Leist, Lorenzo Ravagli: Rassenideale sind der Niedergang der Menschheit. Anthroposophie und der Antisemitismus-Vorwurf. Verlag Freies Geistesleben, 2001. 112 Seiten.


Im Folgenden wird durch die Worte Rudolf Steiners selbst gezeigt werden, wie verleumderisch Gegner Steiners und der Anthroposophie vorgehen, wenn sie ihm Antisemitismus unterstellen.

Schon 1881, als Eugen Dührings antisemitische Kampfschrift „Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage“ erschien, schreibt Steiner als erst Zwanzigjähriger über diesen:

Ich habe Dührings dickes Buch „Kursus der Philosophie“ eben am Tische; auch zum größeren Teile schon durchgelesen. Ich habe mein Urteil über Dühring vollständig abgeschlossen. Seine Philosophie ist der ärgste Ausbund aller philosophischen Rückläufigkeiten. Seine Anschauungen sind durchaus barbarisch und kulturfeindlich, zuweilen sogar roh. Seine Schriften über die Juden und über Lessing sind die strengsten Konsequenzen seiner beschränkten egoistischen Philosophie. Damit ist genug gesagt.
Brief vom 27.7.1881, GA 38, S. 21.


1884 wurde Steiner in Wien Privatlehrer in der jüdischen Familie Specht. Auf Bitten der Mutter Pauline Specht unterrichtete er ihren behinderten Sohn, der dann später Abitur machen und Medizin studieren konnte. Steiner war der ganzen Familie freundschaftlich eng verbunden und hielt zu Pauline Specht auch später immer wieder Briefkontakt.

Als dieser kulturfeindliche, barbarische Antisemitismus bei den Reichstagswahlen im Juni 1893 einen gewissen Erfolg feierte – die „Deutsche Reformpartei“ gewann durch den Zusammenschluss mit der „Antisemitischen Volkspartei“ 16 Sitze – schreibt Steiner, der inzwischen in Weimar lebte, an Pauline Specht über den Führer der „Reformpartei“, Otto Boeckel, einen antisemitischen Agitator, der zugleich Redakteur des antisemitischen „Reichsherolds“ war:

Durch die letzte Wahl hat sich eine Zunahme an Roheit und Unverstand in den Massen gezeigt, die ich wahrhaft erschreckend finde. Daß ein – von allem übrigen abgesehen – maßlos alberner Mensch, der alle Luegers [Karl Lueger, ein führender Antisemit und später eines der Vorbilder Hitlers] an Lügen„genie“ turmhoch überragt, zwei Parlamentssitze erobert und zahllose Anhänger hat, zeugt doch von einer Verkommenheit des öffentlichen Geistes, die man nicht genug beklagen kann.
22.7.1893, GA 39, S. 179.


Für Rudolf Steiner war nicht die Rasse oder irgendetwas anderes Gattungsmäßiges das Wesentliche, sondern der Geist des Menschen, der das Vermögen hat, sich über alles Gattungsmäßige zu erheben. In seiner „Philosophie der Freiheit“ schrieb er:

Von diesem Gattungsmäßigen macht sich aber der Mensch frei. [...] Der Mensch entwickelt Eigenschaften und Funktionen an sich, deren Bestimmungsgrund wir nur in ihm selbst suchen können. Das Gattungsmäßige dient ihm dabei nur als Mittel, um seine besondere Wesenheit in ihm auszudrücken. Er gebraucht die ihm von der Natur mitgegebenen Eigentümlichkeiten als Grundlage und gibt ihm die seinem eigenen Wesen gemäße Form. Wir suchen nun vergebens den Grund für eine Äußerung dieses Wesens in den Gesetzen der Gattung. Wir haben es mit einem Individuum zu tun, das nur durch sich selbst erklärt werden kann. Ist ein Mensch bis zu dieser Loslösung von dem Gattungsmäßigen durchgedrungen, und wir wollen alles, was an ihm ist, auch dann noch aus dem Charakter der Gattung erklären, so haben wir für das Individuelle kein Organ.
1894, GA 4, S. 237f.


Es ist vielleicht nicht uninteressant, dass Rudolf Steiner sich auch in der Dreyfus-Affäre eindeutig positionierte.

1894 war man in Frankreich auf einen militärischen Geheimnisverrat an die Deutschen gestoßen. Schnell geriet der elsässische jüdische Offizier Alfred Dreyfus in Verdacht. Obwohl er seine Unschuld beteuerte, wurde er auf die Teufelsinsel in Französisch-Guyana verbannt. 1896 stieß der neue Geheimdienstchef Picquart auf Indizien, die den Generalstabsoffizier Esterházy belasteten, wurde aber nach Tunesien versetzt. Ein Pro-Forma-Prozess gegen Esterházy endete Anfang 1898 ergebnislos. Einen Höhepunkt erreichte die Affäre als Émile Zola unter dem Titel „J'accuse …!“ (Ich klage an) einen offenen Brief an Staatspräsidenten Félix Faure richtete.

Auch in Deutschland war die Dreyfus-Affäre hoch umstritten. Steiner schrieb jedoch im Dezember 1897 absolut eindeutig:

Wenn die Dinge, die sich jetzt in Frankreich abspielen und deren bedauernswürdiges Objekt der Hauptmann Dreyfus ist, mir als Inhalt eines Romans entgegenträten, so würde ich wahrscheinlich den Verfasser als einen Phantasten bezeichnen, dessen Einbildungskraft die Wirklichkeit in unerhörter Weise verzerrt, ja fälscht. Man muß fast jeden Tag umlernen, wenn man die Wirklichkeit verstehen will.
Trocken und nüchtern will ich sagen, was ich meine. Ich habe den Kapitän Dreyfus immer für unschuldig gehalten. Kein einziger der Eindrücke, die ich von dem ersten Tage der Verhandlungen über seine Angelegenheit empfangen habe, hat mich in dieser meiner Überzeugung auch nur einen Augenblick wankend machen können.
Ich will von den Gründen meiner Überzeugung absichtlich nur den allerschwächsten nennen. Wer Menschencharaktere beurteilen kann, wird mich verstehen. Ich sage mir: wer wirklich begangen hat, wessen Dreyfus beschuldigt wird, verhält sich vor und nach der Verurteilung nicht so, wie der Kapitän sich verhalten hat. Alles, was er sagte und tat, trug einen Charakter, der auf das tiefste Bewußtsein der Unschuld hindeutet.
11.12.1897, GA 31, S. 221f.


Im Herbst 1898 wurde schließlich ein Revisionsverfahren begonnen, das das Urteil zwar aufhob, Dreyfus jedoch erneut schuldig sprach und die Strafe in zehn Jahre Festungshaft umwandelte. Der neue Staatspräsident Loubet bot Dreyfus eine Begnadigung an, wenn er auf eine Berufung verzichte – was Dreyfus akzeptierte. Erst 1906 kam es nach dem Wahlsieg der Linken zu einer neuen Revision, in der Dreyfus endgültig freigesprochen und rehabilitiert wurde.

Doch zurück zu Rudolf Steiner und seiner leidenschaftlichen Verurteilung des Antisemitismus. Im „Magazin für Literatur“, das Steiner 1897 bis 1900 herausgab, schreibt er im September 1900:

Für mich hat es nie eine Judenfrage gegeben. Mein Entwicklungsgang war auch ein solcher, daß damals, als ein Teil der nationalen Studentenschaft Österreichs antisemitisch wurde, mir das als eine Verhöhnung aller Bildungserrungenschaften der neuen Zeit erschien. Ich habe den Menschen nie nach etwas anderem beurteilen können als nach den individuellen, persönlichen Charaktereigenschaften, die ich an ihm kennenlerne. Ob einer Jude war oder nicht: das war mir immer ganz gleichgültig. Ich darf wohl sagen: diese Stimmung ist mir auch bis jetzt geblieben. Und ich habe im Antisemitismus nie etwas anderes sehen können als eine Anschauung, die bei ihren Trägern auf Inferiorität des Geistes, auf mangelhaftes ethisches Urteilsvermögen und auf Abgeschmacktheit deutet.
Der Kulturhistoriker der letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts – ob auch der ersten des zwanzigsten? – wird zu untersuchen haben, wie es möglich war, daß im Zeitalter des naturwissenschaftlichen Denkens eine Strömung entstehen konnte, die jeder gesunden Vorstellungsart ins Gesicht schlägt.
1.9.1900, GA 31, S. 378f.


Rudolf Steiner war eng mit dem jüdischen Dichter Ludwig Jacobowski befreundet. Dieser leitete das „Bureau zur Abwehr des Antisemitismus“ und gab die „Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ heraus. Im März 1900 gründet Jacobowski die „Kommenden“ mit wöchentlichen Treffen von Vertretern der Kultur (Dichter, Musiker, Journalisten usw.), an denen auch Steiner engagiert teilnahm.

In einer Serie von Aufsätzen für die „Mitteilungen“ nahm Steiner 1901 immer wieder gegen den Antisemitismus Stellung:

Der Antisemitismus verfügt nicht gerade über ein großes Besitztum an Gedanken, nicht einmal über ein solches an geistreichen Phrasen und Schlagwörtern. Man muß immer wieder dieselben abgestandenen Plattheiten hören, wenn die Bekenner dieser „Lebensauffassung“ den dumpfen Empfindungen ihrer Brust Ausdruck geben.
13.11.1901, GA 31, S. 398.

Der Antisemitismus ist ein Hohn auf allen Glauben an die Ideen. Er spricht vor allem der Idee Hohn, daß die Menschheit höher steht als jede einzelne Form (Stamm, Rasse, Volk), in der sich die Menschheit auslebt. [...]
Der Antisemitismus ist nicht allein für die Juden eine Gefahr, er ist es auch für die Nichtjuden. Er geht aus einer Gesinnung hervor, der es mit dem gesunden, geraden Urteil nicht Ernst ist. Er befördert eine solche Gesinnung. Und wer philosophisch denkt, sollte dem nicht ruhig zusehen. Der Glaube an die Ideen wird erst dann wieder zu seiner Geltung kommen, wenn wir den ihm entgegengesetzten Unglauben auf allen Gebieten so energisch als möglich bekämpfen. [...]
Jede unbestimmte Haltung ist vom Übel. Die Antisemiten werden die Aussprüche einer jeden Persönlichkeit als Wasser auf ihre Mühle benutzen, wenn diese Persönlichkeit auch nur durch eine unbestimmte Äußerung dazu Veranlassung gibt. Nun kann der Philosoph ja immer sagen, er sei nicht verantwortlich für das, was die andern aus seinen Lehren machen. Das ist zweifellos zuzugeben. Wenn aber ein philosophischer Sittenlehrer in die aktuellen Tagesfragen eingreift, dann muß in gewissen Dingen seine Stellung klar und unzweideutig sein. Und mit dem Antisemitismus als Kulturkrankheit liegt heute die Sache so, daß man bei niemandem, der in öffentlichen Dingen mitredet, in Zweifel sein sollte, wie man seine Aussprüche über denselben auslegen kann.
4.12.1901, GA 31, S. 412ff.


In einem längeren Abschnitt erinnert Steiner sich an das Aufkommen des Antisemitismus in Wien, vorangetrieben durch Georg von Schönerer, später ebenfalls ein Vorbild Adolf Hitlers. Sehr konkret beschreibt Steiner, wie durch die Propaganda der Antisemiten das Denken ausgeschaltet, die Logik „entthront“ und die Empfindungen vergiftet werden:

Diejenigen dumpfen Empfindungen, aus denen neben allerlei anderem auch der Antisemitismus entspringt, haben das Eigentümliche, daß sie alle Geradheit und Einfachheit des Urteils untergraben. An keiner sozialen Erscheinung hat man das in neuerer Zeit vielleicht besser beobachten können als am Antisemitismus selbst. Ich war dazu in meinen Wiener Studienjahren vor etwa zwanzig Jahren in der Lage.
Es war die Zeit, in welcher der bis dahin in der Hauptsache radikal-demokratische niederösterreichische Gutsbesitzer Georg von Schönerer zum „nationalen“ Antisemiten wurde. Bei Schönerer selbst diesen Umschwung zu erklären, wird nicht so ganz leicht sein. Wer diesen Mann in seinem öffentlichen Wirken zu beobachten Gelegenheit hatte, weiß, daß er eine ganz unberechenbare Natur ist, bei der die persönliche Laune mehr als der politische Gedanke bedeutet, die ganz von einer ins Unbegrenzte gehenden Eitelkeit beherrscht wird. Nicht die eigenen Wandlungen dieses Mannes, sondern vielmehr die Wandlungen derer, die seine Anhänger wurden, sind in der Entwicklungsgeschichte des neuen Antisemitismus eine bedeutungsvolle Tatsache.
Vor Schönerers Auftreten war es in Wien leicht, sich mit den jungen Leuten, die unter dem Einflusse der liberalen Gesinnungen herangewachsen waren, zu unterhalten. Es lebte in diesem Teile der Jugend echter, von der Vernunft getragener Freiheitssinn. Antisemitische Instinkte gab es auch damals. Auch im vornehmeren Teil des deutschen Bürgertums fehlten diese Instinkte nicht. Aber man war überall auf dem Wege, solche Instinkte als unberechtigt anzusehen und zu überwinden. Man war sich klar darüber, daß solche Dinge Überbleibsel aus einer weniger vorgeschrittenen Zeit seien, denen man nicht nachgeben dürfe. Jedenfalls war man sich klar darüber, daß alles, was man mit dem Anspruch auf öffentliche Geltung sagte, nicht auf solchem Gesinnungsboden erwachsen sein dürfe wie der Antisemitismus, dessen sich damals ein wahrhaft auf Bildung Anspruchmachender wirklich geschämt hätte.
Auf die studentische Jugend und im übrigen zunächst auf geistig nicht sehr hochstehende Bevölkerungsklassen wirkte Schönerer. Die Leute, die von freieren Lebensauffassungen zu seiner unklaren Weise übergingen, fingen plötzlich an, in einer ganz anderen Tonart zu reden. Leute, die man vorher von „wahrer Menschenwürde“, „Humanität“ und den „freiheitlichen Errungenschaften des Zeitalters“ hatte deklamieren hören, fingen nun an, rückhaltlos von Empfindungen, von Antipathien zu reden, die zu ihren früheren Deklamationen sich wie Schwarz zu Weiß verhielten und zu denen sie sich kurz vorher, ohne von Schamröte überströmt zu werden, nicht bekannt haben würden. Es war der Punkt im Geistesleben solcher Menschen erreicht, den ich am liebsten damit charakterisieren möchte, daß ich sage: die strenge Logik ist aus der Reihe der Mächte gestrichen, die den Menschen im Innern beherrschen. Man kann sich davon jeden Augenblick überzeugen. Keiner der eben ins antisemitische Lager Übergegangenen wagte es, gegen seine ehemaligen liberalen Grundsätze im Ernste etwas vorzubringen. Jeder behauptete vielmehr: im Wesen bekenne er sich nachher wie vorher zu diesen Grundsätzen, was aber die Anwendung dieser Grundsätze auf die Juden betreffe, ja . . . Und nun folgte eben irgendeine Phrase, die jedem gesunden Denken ins Gesicht schlug. Durch den Antisemitismus ist die Logik entthront worden.
20.11.1901, GA 31, S. 403f.


Es war klar, dass nationalsozialistische Gutachter, die im Auftrag des Reichssicherheitshauptamtes die Anthroposophie untersuchten, diese als extrem rassefeindlich einstufen mussten. Jakob Wilhelm Hauer, schrieb am 7.2.1935 an den Sicherheitsdienst RFSS:

Ich halte die anthroposophische Weltanschauung, die in jeder Beziehung international und pazifistisch eingestellt ist, für schlechthin unvereinbar mit der nationalsozialistischen. Die nationalsozialistische Weltanschauung baut sich auf auf dem Gedanken von Blut, Rasse, Volk und dann auf der Idee vom totalen Staat. Gerade diese zwei Grundpfeiler der nationalsozialistischen Weltanschauung und des Dritten Reiches werden von der Weltanschauung der Anthroposophie verneint. ...


Als Schreiber einer Berliner antisemitischen Zeitschrift (der politisch anthropologischen Monatsschrift, Berlin-Steglitz) Rudolf Steiner als „Jude reinsten Wassers, der mit den Zionisten eng verbunden ist“, verleumdeten, sah Steiner es als zwecklos an, auf solche dumpfe Gegnerschaft zu reagieren und sagte in Bezug darauf in einem Vortrag:

Man wählt in solchen Zusammenhängen Schlagworte, mit denen man möglichst viel ausrichten kann bei denjenigen, die auf Schlagworte irgendwie hören. [...] Es ist heute durchaus viel ernster, als Sie denken wollen eigentlich, und es handelt sich darum, daß man diesen Ernst der Zeit nicht verkennt, sondern daß man sich klar darüber ist, daß wir uns in bezug auf solche Dinge, die ja entgegenwirken allem, was im Sinne des Menschheitsfortschrittes gewollt wird, erst im Anfange befinden und daß man eigentlich niemals, ohne seine Verantwortlichkeit zu verletzen, das Augenmerk ablenken sollte von all dem, was sich geradezu auftut von der jetzigen Zeit ab als ein radikal Böses innerhalb der Menschheit, was sich verwirklicht als ein radikal Böses innerhalb der Menschheit. Das Schlimmste, das heute passieren kann, ist, auf bloße Schlagworte und Phrasen irgendwie hinzuhören, zu glauben, daß dasjenige, was der Wortklang alter Begriffe gibt, daß das heute noch irgendwie wurzelt in menschlichen Realitäten, wenn man nicht eine neue Realität aus den Quellen des Geistigen selbst hervorholt.
22.2.1920, GA 196, S. 292f.


Adolf Hitler bezeichnete die Anthroposophie 1921 als „jüdische Methode zur Zerstörung der normalen Geistesverfassung der Völker“ (Völkischer Beobachter, 15.3.1921, S. 1, zit. nach Bader et al., S. 36).

Und nach dem Münchner Putschversuch von Hitler und Ludendorff (8./9.11.1923) äußerte Steiner gegenüber Anna Samweber:

Wenn diese Herren an die Regierung kommen, kann mein Fuß deutschen Boden nicht mehr betreten.
GA 260a, S. 9.

„Das Judentum hat sich ausgelebt“

Die bisherigen Zitate zeigen mit absoluter Klarheit, dass Steiner nicht nur kein Antisemit war, sondern dass er mit aller Schärfe das Wesen des Antisemitismus zu kennzeichnen und zu verurteilen wusste.

Im Folgenden sollen nun die Zitate behandelt werden, aufgrund derer man dennoch immer wieder versucht, Steiner einen Antisemitismus vorzuwerfen. Diese Stellen beinhalten einige Aussagen über das Judentum, die leicht missverstanden werden können – wodurch man aber an dem, was Rudolf Steiner in Wirklichkeit dachte und meinte, völlig vorbeigehen würde.

1888 veröffentlichte Steiner einen Aufsatz über Robert Hamerlings Epos „Homunkulus“, der immer wieder als „Beweis“ eines Antisemitimus zitiert wird. Darin heißt es:

Es ist gewiß nicht zu leugnen, daß heute das Judentum noch immer als geschlossenes Ganzes auftritt und als solches in die Entwickelung unserer gegenwärtigen Zustände vielfach eingegriffen hat, und das in einer Weise, die den abendländischen Kulturideen nichts weniger als günstig war. Das Judentum als solches hat sich aber längst ausgelebt, hat keine Berechtigung innerhalb des modernen Völkerlebens, und daß es sich dennoch erhalten hat, ist ein Fehler der Weltgeschichte, dessen Folgen nicht ausbleiben konnten.
April 1888, GA 32, S. 152.


Was meint Rudolf Steiner hier? Es geht ihm unter anderem um die „Gesetzes-Religion“, die dem widerspricht, was Rudolf Steiner später als „Philosophie der Freiheit“ vertreten wird: Eine ganz aus dem unmittelbaren, individuellen Erleben moralischer Intuitionen heraus quellende freie Sittlichkeit. Steiner schreibt weiter:

Wir meinen hier nicht die Formen der jüdischen Religion allein, wir meinen vorzüglich den Geist des Judentums, die jüdische Denkweise. Der Unbefangene hätte nun glauben sollen, daß die besten Beurteiler jener dichterischen Gestalt, die Hamerling der eben berührten Tatsache gegeben hat, Juden seien. Juden, die sich in den abendländischen Kulturprozeß eingelebt haben, sollten doch am besten die Fehler einsehen, die ein aus dem grauen Altertum in die Neuzeit hereinverpflanztes und hier ganz unbrauchbares sittliches Ideal hat. Den Juden selbst muß ja zuallererst die Erkenntnis aufleuchten, daß alle ihre Sonderbestrebungen aufgesogen werden müssen durch den Geist der modernen Zeit.
Ebd.


In gleicher Weise schrieb Steiner auch gegen die unberechtigten Impulse innerhalb der Konfessionen christlichen Glaubens. Über Papst Pius IX., unter dem während des Ersten Vatikanischen Konzils 1870 das Unfehlbarkeits-Dogma verkündet worden war, das eine freie Sittlichkeit des einzelnen Christen ebenfalls ausschloss, schreibt Steiner:

[...] das Oberhaupt der Kirche hielt es für möglich, der modernen Menschheit die Glaubensformen des finstersten Mittelalters aufzuzwingen.
1888, GA 31, S. 134ff.


Was Steiner im Hamerling-Aufsatz über das Judentum schrieb, entsprach genau dem eigenen Standpunkt des aufgeklärten Judentums, wie wir weiter unten sehen werden. Doch so wie heute Steiner, wurde auch Hamerling damals von Teilen der Presse in die Ecke des Antisemitismus gestellt. Steiner jedoch verteidigt ihn:

Statt dessen hat man Hamerlings Werk einfach so hingestellt, als wenn es das Glaubensbekenntnis eines Parteigängers des Antisemitismus wäre.
Man hat dem Dichter einen Standpunkt unterschoben, den er vermöge der geistigen Höhe, auf der er steht, nicht einnehmen kann. [...] Muß denn da nicht einfach die Absicht bestehen, in der objektiven Darlegung des Geistes des Judentums schon Antisemitismus zu wittern? Für die Form des Antisemitismus, die, wenn man das entbehrliche Wort schon gebrauchen will, Hamerling eignet, gibt es eine ganz bestimmte Formel: Er nimmt – wie jeder unbefangene, von Parteifanatismus freie Mensch – dem Judentum gegenüber den Standpunkt ein, den jeder von den Vorurteilen seines Stammes und einer Konfession unabhängige Jude teilen kann. Man verlange nur nicht mehr von einem Geiste, der so ganz mit den abendländischen Idealen verwachsen ist wie Hamerling. Ist das Gebaren der „Neuen Freien Presse“ und ähnlicher Blätter dem „Homunkulus“ gegenüber im höchsten Grade verwerflich, so ist es nicht minder unverzeihlich, wenn antisemitische Zeitungen Hamerling als einen Gesinnungsgenossen jener Partei hinstellen, die neben der Eignung zum Toben und Lärmen nichts Charakteristisches hat als den gänzlichen Mangel jedes Gedankens. Die Anhänger dieser Partei haben in ihren Blättern einfach Abschnitte aus dem Zusammenhange gerissen, um sie in ihrem Sinne umzudeuten, was ja bekanntlich das Hauptkunststück des Journalismus ist. Hamerling hat sich gegen solche Entstellungen seines neuesten Werkes entschieden verwahrt [...].
April 1888, GA 32, S. 152ff.


Im übrigen betont Steiner, wie der Homunkulus im Grunde ein Bild für die moderne (Un-)Kultur ist:

Es stellt jene Karikatur dar, zu der unsere moderne Kultur wird, wenn man sich vorstellt, daß sie auf den von ihr eingeschlagenen Pfaden bis zu den letzten Konsequenzen kommt. Homunkulus ist der Repräsentant des modernen Menschen. Nichts anderes ist ja für diesen so bezeichnend als der gänzliche Mangel dessen, was man Individualität nennt. Jener Quell immer frischen Lebens, der uns stets Neues aus unserem Inneren schöpfen läßt, so daß unser Gemüt und unser Geist mit einer gewissen in sich selbst gegründeten Tiefe ausgestattet erscheint, die sich nie ganz ausgibt, der kommt dem modernen Menschen ganz abhanden. [...] Die Erziehung, die Gesellschaftsformen, das Berufsleben, alles wirkt dahin, das aus dem Menschen zu treiben, was man individuelles Leben, Seele nennen möchte. Er wird immer mehr ein Produkt der Verhältnisse, die auf ihn einwirken. Dieser seelenlose, unindividuelle Mensch bis zur Karikatur gesteigert, ist Hamerlings Homunkulus.
April 1888, GA 32, S. 145f.


Gerade der Antisemitismus war ein krasses Beispiel für die auch sonst überall gegen die Individualisierung wirkenden Tendenzen. Unfähig, das Individuelle zu sehen – und als das Wichtigste anzusehen –, reduzierte er den Menschen auf etwas Gattungsmäßiges.

In Europa aber hatte sich die Assimilation der jüdischen Mitbürger im Grunde sehr positiv entwickelt. So schreibt Walter Laqueur, der Historiker des Zionismus:

Die Reaktion gegen die Aufklärung und den Liberalismus, der neue Kult der Gewalt und des Antihumanismus wurden als vorübergehende Kulturkrankheiten angesehen. [...] Die in mehrere Fraktionen zerfallenen Antisemiten verloren nach 1895 viel von ihrem politischen Einfluß, wenngleich sie auch weiterhin in Form kleiner Gruppen weiterbestanden, die einander bitter bekämpften.
Es bestand auch kein Grund, warum die deutschen und österreichischen Juden ihre Lage mit besonderer Besorgnis betrachten sollten. In Rußland und Rumänien war die Lage der Juden unvergleichlich schlimmer: Seit 1881 wurde Osteuropa von einer Welle von Pogromen heimgesucht. Sogar in Frankreich, wo die Zahl der Juden kleiner war als in Deutschland, war ihre Lage bei weitem unsicherer. Die französische antisemitische Bewegung war noch vor Marr, Stöcker und Dühring entstanden; sie war stärker ausgeprägt und besaß größeren Einfluß. Sie war in der Tat die Bahnbrecherin der modernen antijüdischen Ideologie; die deutschen und die russischen Antisemiten importierten ihre Ideen zum größten Teil aus Paris.
Walter Laqueur: Der Weg zum Staat Israel, Geschichte des Zionismus, Wien 1972, S. 49, zitiert nach Bader et al., S. 74.


Der Antisemitismus widersprach im Grunde vollkommen der Entwicklung, die sich seit dem Toleranzedikt Kaiser Josephs (1771) vollzogen hatte. Viele Juden hatten sich stark assimiliert. Der schwedische Journalist Göran Rosenberg, dessen Eltern das Konzentrationslager überlebten, schreibt darüber 1998:

Im Laufe einiger Jahrzehnte hatten Juden in Ländern wie Deutschland und Frankreich nicht nur das Ghetto verlassen, sondern weitgehend auch das Judentum. Aus den gerade noch so armen jüdischen Massen befreite sich sehr schnell eine bürgerliche, intellektuelle Mittelklasse, die bald keinen Unterschied mehr sah zwischen dem Judentum in der Auslegung Mendelssohns und dem Christentum in den aufgeklärten, toleranten Manifesten.
Das verlorene Land. Israel – eine persönliche Geschichte. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 1998. Zitiert nach Bader et al., S. 64.


Inmitten dieser Zeit, als der Antisemitismus zwar viel „Lärm und Getöse“ machte, aber vor allem aus Splittergruppen bestand, veröffentlichte dann der Wiener Journalist Theodor Herzl – auch unter dem Eindruck der Dreyfuss-Affäre – 1896 sein Buch „Der Judenstaat“ und wurde zum Begründer des Zionismus, der einen eigenen jüdischen Staat forderte.

Nach allem bisher Gesagten ist klar, dass Rudolf Steiner sich nur gegen solche Impulse stellen konnte. Immer und überall vertrat er das Individuelle. Es konnte nicht darum gehen, sich zu separieren – sondern nur darum, immer mehr den einzelnen Menschen zu sehen, wodurch erst wahrhaft ein Zusammenleben möglich ist. Und so warnte Steiner vor dem Zionismus, der einer weiteren Separierung und Polarisierung Tür und Tor öffnete und den Judenhass viel stärker ausmalte, als er damals war:

Wer mit Juden zu tun hat, der weiß, wie tief bei den Besten dieses Volkes die Neigung sitzt, sich ein solch falsches Bild zu machen. Das Mißtrauen gegen die Nichtjuden hat sich gründlich ihrer Seele bemächtigt. Sie vermuten auch bei Menschen, hei denen sie keine Spur von bewußtem Antisemitismus wahrnehmen können, auf dem Grunde der Seele einen unbewußten, instinktiven, geheimen Judenhaß. Ich rechne es zu den schönsten Früchten, welche menschliche Neigung treiben kann, wenn sie zwischen einem Juden und einem Nichtjuden jede Spur von Argwohn in der oben angedeuteten Richtung auslöscht. Einen Sieg über die menschliche Natur möchte ich fast eine solche Neigung nennen.
Es ist nicht ausgeschlossen, daß in kurzer Zeit solche Neigungen überhaupt unmöglich sein werden. Es kann eine Zeit kommen, in der bei jüdischen Persönlichkeiten die Empfindungssphäre so gereizt ist, daß jedes Verstehen mit Nichtjuden zur Unmöglichkeit wird. Und auf das Ziehen intimer Fäden von Jude zu Nichtjude, auf das Entstehen gefühlsmäßiger Neigungen, auf tausend unaussprechliche Dinge, nur nicht auf vernünftige Auseinandersetzungen und Programme kommt es bei der sogenannten Judenfrage an. Es wäre das Beste, wenn in dieser Sache so wenig wie möglich geredet würde. Nur auf die gegenseitigen Wirkungen der Individuen sollte der Wert gelegt werden. Es ist doch einerlei, ob jemand Jude oder Germane ist: finde ich ihn nett, so mag ich ihn; ist er ekelhaft, so meide ich ihn. Das ist so einfach, daß man fast dumm ist, wenn man es sagt. Wie dumm muß man aber erst sein, wenn man das Gegenteil sagt!
25.9.1897, GA 31, S. 198f.


Der Zionismus war auch sehr vielen Juden ganz fremd – denn die meisten von ihnen wollten ja in dem jeweiligen Land leben, in dem sie lebten! Der Wiener Oberrabbiner Moritz Güdemann betonte, die Juden seien keine Nation und nur durch ihren Glauben verbunden, Herzls Schrift und Idee bezeichnete er als „Kuckucksei der Nationaljudentums“ (zit. nach Bader et al., S. 77).

Ein anderes Beispiel für die Denkweise des aufgeklärten Judentums ist der in den 20er Jahren sehr bekannte Schriftsteller Jakob Wassermann. Er berichtet in seinem Werk „Lebensdienst“ von der Bitte eines namentlich nicht genannten Philosophen, sich in Deutschland für die Auswanderung der Juden nach Palästina einzusetzen. Wassermann wies dies – auch im Namen seines ein Jahr zuvor (1922) von antisemitischen Fanatikern ermordeten Freundes Walther Rathenau – zurück und schrieb:

[...] dass ich mit dem Zionismus nichts, aber auch nichts zu schaffen habe [...]. Hierin [...] hätte Sie auch Walther Rathenau enttäuschen müssen [...] denn er hatte für Ideen und Ziele des Zionismus, soweit sie nicht rein praktisch-humanitärer Art sind, genauso wenig übrig wie ich. [...]
[...] so will ich Ihnen zuvörderst einmal sagen, dass meine Vorfahren nachweisbar seit mindestens 500 Jahren im fränkischen Land saßen und daß ich gern die Probe machen möchte, wieviel autochthon sich brüstende Deutsche, Sachsen, Pommern, Rheinländer, brandenburgisch-französische Emigranten das Gleiche von ihrer Familie behaupten dürfen. Daß es den Juden nicht gelungen ist, sich dem Körper der Nation tiefer zu vermischen, ist nicht die Schuld der Juden [...].
Jakob Wassermann, Lebensdienst. Gesammelte Studien, Erfahrungen und Reden aus drei Jahrzehnten. Leipzig 1928, S. 161f, zitiert nach Bader et al., S. 57f.


Dasselbe Empfinden kommt auch in den Lebenserinnerungen Stefan Zweigs zum Ausdruck (der übrigens ebenfalls ein Gast bei den „Kommenden“ war und im Rückblick ein sehr positives Urteil über Steiner hatte). 1938 führte er nach seiner Auswanderung in England Gespräche mit Sigmund Freud und schreibt:

Aber das Tragischste in dieser jüdischen Tragödie des zwanzigsten Jahrhunderts war, daß, die sie erlitten, keinen Sinn mehr in ihr finden konnten und keine Schuld. All die Ausgetriebenen der mittelalterlichen Zeiten, ihre Urväter und Ahnen, sie hatten zumindest gewußt, wofür sie litten: für ihren Glauben, für ihr Gesetz. [...] Sie lebten und litten in dem stolzen Wahn, als auserlesenes Volk vom Schöpfer der Welt und der Menschen bestimmt zu sein für besonderes Schicksal und besondere Sendung, und das verheißende Wort der Bibel war ihnen Gebot und Gesetz. [...] Solange die Religion sie zusammenschloß, waren sie noch eine Gemeinschaft und darum eine Kraft; wenn man sie ausstieß und verjagte, so büßten sie für die Schuld, sich bewußt selbst abgesondert zu haben durch ihre Religion, durch ihre Gebräuche von den anderen Völkern der Erde. Die Juden des zwanzigsten Jahrhunderts aber waren längst keine Gemeinschaft mehr. Sie hatten keinen gemeinsamen Glauben, sie empfanden ihr Judesein eher als Last denn als Stolz und waren sich keiner Sendung bewußt. [...] Sich einzuleben, sich einzugliedern in die Völker um sie, sich aufzulösen ins Allgemeine, war ihr immer ungeduldigeres Streben, um nur Frieden zu haben vor aller Verfolgung, Rast auf der ewigen Flucht. So verstanden die einen die andern nicht mehr, eingeschmolzen wie sie waren in die andern Völker, Franzosen, Deutsche, Engländer, Russen längst mehr als Juden. Jetzt erst [...] zwang man den Juden zum erstenmal seit Hunderten Jahren wieder eine Gemeinsamkeit auf, die sie längst nicht mehr empfunden, die seit Ägypten immer wiederkehrende Gemeinsamkeit der Austreibung.
Stefan Zweig, Die Welt von gestern, Stockholm 1944, S. 494ff. Zit. nach Bader et al., S. 52 und Projekt Gutenberg.


Gerade die fortschrittlichsten Juden empfanden, dass es darum ging, alle Sonderbestrebungen aufzulösen und aufzugehen in dem jeweiligen Volk – ja, eigentlich in der allgemeinen Menschheitsentwicklung, die ja selbst darauf hinstrebte, alles Rassen- und Gattungsmäßige immer mehr zu überwinden.

Letztlich schrieb sogar Herzl selbst nichts anderes:

Wir haben überall ehrlich versucht, in der uns umgebenden Volksgemeinschaft unterzugehen und nur den Glauben unserer Väter zu bewahren.
Theodor Herzl, Der Judenstaat, Wien 1896, S. 11, zit. nach Bader et al., S. 79. 


Indem er jedoch hinzufügt: „Man läßt es nicht zu“, hatte er eine andere Deutung als die große Mehrheit der Juden – und zog vor allem eine andere Konsequenz. Er wollte den Antisemitismus mit einem ebenfalls rückwärtsgewandten Impuls bekämpfen.

Vielleicht wird dies nirgendwo deutlicher als in den Worten des jüdischen Gelehrten Victor Klemperer. Obwohl er selbst bereits als Jude verfolgt wurde, schrieb er noch 1933/34:

Mir sind die Zionisten [...] genauso ekelhaft wie die Nazis. In ihrer Blutschnüffelei, ihrem ‚alten Kulturkeis’, ihrem teils geheuchelten, teils bornierten Zurückschrauben der Welt gleichen sie durchaus den Nationalsozialisten.
Victor Klemperer: Tagebücher 1933-1934, zit. nach Bader et al, S. 83.


1924 bringt Rudolf Steiner dieses ganze Problem in einem Arbeitervortrag zum Ausdruck, als einer der Arbeiter gefragt hatte, ob das jüdische Volk seine Mission in der Menschheit erfüllt habe. In seiner sehr langen Antwort sagt Steiner unter anderem:

Sehen Sie, ein sehr angesehener Zionist, mit dem ich befreundet war, der legte mir einmal seine Ideale auseinander, nach Palästina zu gehen und dort ein Judenreich zu gründen. Er tat selber sehr stark mit an der Begründung dieses jüdischen Reiches, tut heute noch mit und hat sogar in Palästina eine sehr angesehene Stellung. Dem sagte ich: Solch eine Sache ist heute gar nicht zeitgemäß; denn heute ist dasjenige zeitgemäß, dem jeder Mensch, ohne Unterschied von Rasse und Volk und Klasse und so weiter sich anschließen kann. [...] Aber jemand kann doch nicht von mir verlangen, daß ich mich der zionistischen Bewegung anschließe. Da sondert ihr ja wiederum einen Teil aus von der ganzen Menschheit! – Aus diesem einfachen, naheliegenden Grunde kann eigentlich eine solche Bewegung heute nicht gehen. Sie ist im Grunde genommen die wüsteste Reaktion. [...]
Dieses Gespräch, das ich Ihnen jetzt erzählt habe, hat stattgefunden vor dem großen Kriege 1914 bis 1918. Ja, sehen Sie, meine Herren, daß die Menschen die großen allgemeinmenschlichen Prinzipe nicht mehr wollen, sondern sich absondern, Volkskräfte entwickeln wollen, das hat eben gerade zu dem großen Krieg geführt! [...]
Und so kann man sagen: Da alles dasjenige, was die Juden getan haben, jetzt in bewußter Weise von allen Menschen zum Beispiel getan werden könnte, so könnten die Juden eigentlich nichts Besseres vollbringen, als aufgehen in der übrigen Menschheit, sich vermischen mit der übrigen Menschheit, so daß das Judentum als Volk einfach aufhören würde. Das ist dasjenige, was ein Ideal wäre. Dem widerstreben heute noch viele jüdische Gewohnheiten – und vor allen Dingen der Haß der anderen Menschen. Und das ist gerade dasjenige, was überwunden werden müßte.
8.5.1924, GA 353, S. 201f.


Dann weist er auf das hin, worin die Juden eine Mission hatten, Vorreiter waren: im Erringen eines bildlosen Monotheismus, der den Menschen zugleich in das Persönliche führte. Heute jedoch, fügt Steiner hinzu, muss die geistige Erkenntnis, das geistige Erleben selbst verwirklicht werden. Dies ist nicht möglich, wenn man wieder in das Gattungs- und Rassenmäßige zurückfällt, was die Juden aber tun, indem sie z.B. vor allem unter sich heiraten.

Das, was das Judentum als Impuls in die Menschheit brachte, kann (könnte) „jetzt in bewußter Weise von allen Menschen getan werden“. Nun ist aber ein neuer Bewusstseinsschritt notwendig – der zugleich die Überwindung alles Rassemäßigen bringen würde. Dies ist Steiners Antwort.

Auch in vielen anderen Vorträgen hat Steiner ausführlich über die ungeheure geistesgeschichtliche Bedeutung gesprochen, die das Judentum in Bezug auf die menschliche Bewusstseinsentwicklung hatte, etwa im März 1911 in einem Vortrag über Moses:

Ich-Bewußtsein, Intellektualität, Rationalismus, Vernunft und Verstand, die auf die äußere Sinneswelt gerichtet sind, sollten an Stelle des alten Hellsehens hineingesetzt werden in die Menschheit. [...]
Was wir also heute als das wichtigste Element für das Kulturleben betrachten, hat seinen ersten Impuls durch Moses erhalten, daher das Fortwirken-Fühlen des Impulses des Moses noch in unserer eigenen Seelenkraft. [...] Was die spätere Menschheit dem Moses verdankt, ist die Kraft, Vernunft und Intellekt zu entfalten, aus dem Ich-Bewußtsein heraus im vollen Wachzustande intellektuell über die Welt zu denken, über die Welt sich intellektuell aufzuklären.
9.3.1911, GA 60, S. 426.


Immer wieder sprach Steiner aber auch davon, wie ein menschheitlicher Impuls nicht einfach etwas Erreichtes ist, sondern wie er fortwährend umkämpft ist – und wie die Entwicklung auch immer weiter geht. Der Kampf um die wirkliche Individualität des Menschen und um das Erkennen des Geistigen ist doch seit langem voll entbrannt.

Das Judentum war mit seiner Mission gerade der Wegbereiter für den Christus-Impuls gewesen. Christus aber ist eigentlich die Erfüllung dieser Mission, mit Christus tritt zugleich der wahre Ich-Impuls in das Weltgeschehen ein. Wird dieser Impuls nicht in rechter Weise aufgenommen, kann die Menschheit sich nicht weiterentwickeln – sondern fällt wieder zurück, verfällt wieder den Impulsen, die nicht das Individuelle wollen...

Heute muss der Intellekt wiederum verwandelt werden. Der Mensch muss das Denken von seiner starken Abhängigkeit von der Sinneswelt losreißen und zu einer wirklichen Kraft machen. Der Intellekt muss spiritualisiert werden.

Nur wenn der Mensch seine eigene Geisteskraft als eine Realität ergreift, zu einer Realität macht, kann auch das Geheimnis des Individuellen in seiner ganzen Fülle begriffen werden. Es ist ein Christus-Geheimnis. Die Menschheit steht erst am Anfang seines Verständnisses.

Wenn die europäische Menschheit den Antisemitismus mit der Entschiedenheit bekämpft hätte, mit der Rudolf Steiner dies sein ganzes Leben lang getan hatte, und wenn genügend viele Menschen erkannt hätten, was mit der Anthroposophie gegeben ist, hätte sich nicht nur der Nationalsozialismus niemals ereignen können – die ganze Menschheit stünde heute an einem vollkommen anderen Punkt.

Der Christus stellt dar das Herabkommen der geistigen Liebeskraft in unsere Erde, die heute erst im Anfange ihres Wirkens steht. Wenn wir diesen Gedanken weiter verfolgen werden an der Hand des Johannes- und des Lukas-Evangeliums, dann werden wir sehen, wie gerade der Nerv des Christus-Impulses die geistige Liebe ist, wie dadurch die Iche, die getrennt worden sind, immer mehr und mehr zusammengeführt werden, aber in bezug auf das Innerste ihrer Seelen. Die Menschen haben von Anfang an nur ahnen können, was der Christus für die Welt geworden ist. Und heute ist noch wenig, wenig davon verwirklicht, denn das Sondernde [...] ist noch immer da, und das Christus-Prinzip hat erst kurze Zeit gewirkt. Und wenn man auch heute auf gewissen äußeren Gebieten des Lebens ein Zusammengehen sucht, für die intimsten, für die wichtigsten Dinge ahnen die Menschen noch gar nicht einmal – höchstens mit dem Gedanken, mit dem Intellekt, und das ist das wenigste –, was Harmonie und Zusammenklingen der Seelen ist. Es ist wirklich so, daß das Christentum erst im Anfange des Wirkens ist. Es wird immer weiter in die Seelen hineindringen und das Ich immer mehr und mehr veredeln.
29.6.1909, GA 112, S. 117.