Parthenophilie

Delinquent Daughters


Aber kehren wir noch einmal zu dem ,Kampf um das Age of consent’ zurück. Die Wirklichkeit sah sehr anders aus, als es die in großer Auflage verbreiteten rührenden Geschichten der Arbeitermädchen und der ,Maiden Tribute’ nahelegten: Das arme, wehrlose Arbeitermädchen und ihr älterer Verführer entsprachen nicht der Realität. Die Regel war, dass die Mädchen Beziehungen mit unverheirateten jungen Männern ihrer eigenen Klasse eingingen.[20]

Noch 1870 waren nur 15 % aller Frauen erwerbstätig, davon rund zwei Drittel als Hausangestellte, Dienstmädchen oder ähnliches. 1910 waren 20 % der Frauen erwerbstätig, wegen der ungeheuren Einwanderungswelle stieg ihre absolute Zahl sogar von unter zwei auf über sieben Millionen.[21f][1]

Die Historikerin Mary Odem schildert in ihrem preisgekrönten Buch ,Delinquent Daugthers’,[2] dessen Ergebnisse wir im Folgenden ausführlich darstellen wollen, den tiefgreifenden Wandel:[24]

Arbeitermädchen verwendeten ihren Lohn für hübsche Kleidung, Hüte und Make-up, sie besuchten Tanzhallen und Cafés ohne Anstandsbegleitung, und sie machten Bekanntschaften mit Männern, die ihre Eltern nicht kannten. Viele Töchter der Arbeiterklasse zeigten auch eine offenere Sexualmoral, die unter bestimmten sozialen Umständen vorehelichen Geschlechtsverkehr tolerierte.

So kam es im Laufe dieser Jahrzehnte zu einer radikalen Veränderung auch der Anschauung in Bezug auf das Mädchen und die Frau: Immer deutlicher wurde, dass sie nicht einfach das wehrlose ,Opfer’ waren, sondern selbst auch sexuelle Interessen hatten – etwas, was über ein halbes Jahrhundert lang kaum denkbar gewesen war.

Indem sich Mädchen und junge Frauen in die Öffentlichkeit wagten, die bisher eine reine Männerdomäne war – die Frau war allenfalls Begleitung –, und sich auch die Sexualmoral langsam zu wandeln begann, stieg die Rate vorehelicher Schwangerschaften von etwa 10 % um 1850 auf 23 % in der Zeit zwischen 1880 und 1910.[24][3]

Odem untersuchte die Gerichtsakten zweier Gerichte der Landkreise Alameda (Hauptort Oakland) und Los Angeles zwischen 1910 und 1920[4] und fand, dass in beiden Fällen etwa drei Viertel der jungen Frauen freiwillig sexuelle Beziehungen mit jungen Männern[5] ihrer Klasse eingegangen waren.[39] Mehr noch: gewaltsame Fälle waren ganz überwiegend solche durch Verwandte, Nachbarn oder Arbeitgeber von Dienstmädchen.[58] Beides widersprach dem gängigen Bild, das überhaupt zur Erhöhung der ,Altersgrenze’ geführt hatte, vollkommen!

In dieser Situation dienten die Gerichte nicht so sehr einem Schutz der Mädchen vor sexueller Gewalt, schon gar nicht in der Öffentlichkeit, sondern einer sittlich-moralischen Disziplinierung der Mädchen selbst! Odem formuliert dies mit den Worten:[5][6]

[...] dass die soziale und sexuelle Autonomie der Töchter eine größere Quelle des Konflikts in Familien der Arbeiterklasse war und viele vor Gericht führte. Reformer hatten zwar die neue Politik der sexuellen Kontrolle geschaffen, aber Eltern der Arbeiterklasse nutzten sie aktiv für ihre eigenen Bedürfnisse und Zwecke. Die Sexualkultur der städtischen Jugend kollidierte nicht nur mit der Moralität der Mittelklasse, sondern auch mit dem Moralkodex vieler Eltern der Arbeiterklasse. Als ihre traditionellen Formen sexueller Regulierung erodierten, suchten zahlreiche Eltern [...] die Intervention des Gerichts, um ihre rebellischen Töchter zu bändigen.

Der Staat übernahm infolgedessen immer mehr eine aktive Rolle in der Überwachung des sexuellen Verhaltens der ,working girls’ und ihrer Partner. Odem beschreibt, wie die Entwicklung, die die Mädchen hatte ,schützen’ sollen, oftmals die Wirkung hatte, sie in ihrer Sexualität zu entmündigen und zu demütigen.[7] ►8

Generell galten Mädchen, die sich sexuell betätigten, noch immer als ,ruiniert’ und nun selbst als moralische Gefahr für die Gesellschaft.[71] ,Verkommene’ Mädchen konnten auch, da Moralisches als vererbbar galt, von eugenischen Strömungen schnell als ,schwachsinnig’ (feeble-minded) abgestempelt werden. Bis 1923 hatten 43 US-Bundesstaaten entsprechende Einrichtungen geschaffen – und 1931 hatten 31 Bundesstaaten Gesetze, die die Sterilisation solcher Personen erlaubten.[98][8]

Zugleich gab es immer noch den Kampf gegen die ,white slavery’,[9] die Verschleppung unschuldiger Mädchen in die Prostitution – was 1910 schließlich zum ,Mann Act’ führte, der die grenzüberschreitende Verbringung von Frauen für unmoralische Zwecke verbot,[97] während die Prostitution selbst bis zum Ersten Weltkrieg weitgehend unangetastet blieb.[10]

In diesen Jahrzehnten schlossen aber auch immer mehr progressive Frauen ihre Ausbildungen ab – sei es in Jura, Medizin oder Sozialwissenschaften. Es erschienen die ersten wirklichen Studien über die Arbeitermädchen.[100f][11] Auch hatte der Experimentalpsychologe G. Stanley Hall schon 1904 eine zweibändige Studie veröffentlicht,[12] die zeigte, dass die Pubertät ein ganz eigener Lebensabschnitt turbulenter innerer und äußerer Entwicklung ist, in der die Jugend vor den erwachsenen Erwartungen geschützt werden müsse. Zugleich aber legte er nahe, das Sexuelle in andere Bereiche zu sublimieren, und verband es insbesondere für Mädchen mit Mutterschaft. Ja, er sprach sich gegen das Studium von Mädchen und jungen Frauen aus, weil er fürchtete, die mentale Belastung würde die reproduktive Sphäre des weiblichen Leibes belasten.[101f][13]

Doch die sozialen Bedingungen der Arbeiterschicht zwangen die Familien, Mädchen und Jungen schon im Wachstumsalter der Pubertät mit verdienen zu lassen. Die Fabrik war gewiss nicht der ideale Platz für ein fünfzehnjähriges Mädchen! Doch nur wenige Studien gingen so weit, die mögliche ,Delinquenz’ dieser Mädchen mit diesen schlimmen und ungerechten sozial-ökonomischen Verhältnissen zu verknüpfen und anstelle der Mädchen letztere zu kritisieren.[103][14]

Dabei erkannte man durchaus den Widerspruch, dass Mädchen in Kaufhäusern arbeiteten, ohne sich selbst diese Waren je leisten zu können – was sie dazu verführen könnte, sich mit älteren Männern einzulassen. Diese Befürchtung war so groß, dass etwa in New York und Chicago um 1910 spezielle Studien zum ,department store girl’ durchgeführt wurden.[104] Natürlich waren damit die ökonomischen Fragen wiederum auf eine subjektiv-persönliche Ebene abgelenkt.

Aber auch andere soziale Faktoren traten in den Blick – etwa der Zusammenhang zwischen alleinerziehenden, oft dann natürlich sogar arbeitenden Müttern und ,delinquenten’ Töchtern.[15] Doch auch hier wurden allzuoft wiederum die Mütter moralisch verurteilt – von den Vätern, die ihre Frauen und Töchter sitzengelassen hatten, war selten die Rede. Selbst progressive Reformerinnen hielten Mutterschaft und Arbeit für unvereinbar. Zwar hatten sie erkannt, dass nicht der ,männliche Verführer’, sondern die sozialen Umstände die entscheidende Frage waren, und traten für höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen, regulierte Tanzlokale, betreute Internate und so weiter ein – aber oftmals war ihre Sicht auf das Problem noch immer konversativ.[108]

Und dieselben Reformerinnen unterstützen – aus bestem Willen heraus – auch die Ausdehnung des Justizsystems, mit Jugendgerichten, Vollzugs- und Besserungsanstalten, um die jungen weiblichen ,Delinquentinnen’ zu überwachen und zu kontrollieren.[108]

Aber Frauen wurden immer mehr Teil dieses Systems. 1910 beantragte die Sozialreformerin Alice Stebbins Wells in Los Angeles erfolgreich, zur Polizistin ernannt zu werden – bis dahin eine reine Männerdomäne. Zehn Jahre später hatten schon 146 Städte zumindest einzelne Polizistinnen, die vor allem wie Sozialarbeiterinnen tätig waren, und es entstanden universitäre Trainingsprogramme.[111] Am Jugendgericht Los Angeles gab es dann 1915 auch die landesweit erste weibliche Gutachterin, Orfa Jean Shontz, eine Juristin, die zuvor schon als Bewährungshelferin gearbeitet hatte. Ihre Nachfolgerin wurde 1920 Miriam Van Waters.[113] Diese war ihre Freundin und Mitstreiterin, hatte einen Doktor in Anthropologie gemacht, ab 1914 eine Strafanstalt in Portland reformiert und 1919 die Mädchen-Reformschule El Retiro gegründet.[130]
Diese Frauen meinten es mit der Reform ernst. So gab es in dem Gerichtsraum von Shontz Bilder und Vorhänge statt vergitterte Fenster. Bei den Befragungen waren Männer ausgeschlossen und auf dem Tisch standen frische Blumen.[113]
Die New Yorker Bewährungshelferin Maude Miner gründete als Alternative zum Gefängnis 1908 die erste private ,Jugendvollzugsanstalt’ (detention home). Zwei Jahre später hatten schon 15 Bundesstaaten Gesetze zu deren Einrichtung.[113f] Allerdings wurden auch hier die Mädchen ausführlichen körperlichen und geistigen Untersuchungen unterzogen, wurden ihre Verwandten, Lehrer und Nachbarn nach ihrem Verhalten befragt – und dies alles an das Gericht weitergeleitet.[114]

Auch hier wieder wurde Delinquenz bei Jungen oft nur als ,dumme Phase’ gewertet, die etwas Beobachtung bräuchte, während sie bei Mädchen als unmittelbare Gefahr für ihr ganzes Leben galt – wogegen nur helfe, sie den ,schädlichen Einflüssen’ ganz zu entziehen, bis die ,kritischen Jahre’ vorbei seien.[16]

Bisher gab es solche Einrichtungen seitens der Heilsarmee oder kirchlicher Kreise – und trotz manch ,guter Absicht’ herrschten hier vielfach repressive Mittel vor: Strafen, Beten, harte Arbeit. Auch hier gingen Sozialarbeiterinnen neue Wege. Martha Falconer leistete dabei als Vorsteherin der ,Sleighton Farm’ in Pennsylvania ab 1906 Pionierarbeit. Sie schaffte Auspeitschen, Einzelhaft, Nahrungseinschränkung etc. ab, die Mädchen wurden in ,Familien’ aufgeteilt, konnten ihre Kleidung behalten, Bestrafung bestand vor allem im Entzug von Privilegien, und eine Art Selbstverwaltung wurde eingeführt. Der halbe Tag galt dem Unterricht, danach gab es Arbeit in hauswirtschaftlichen Bereichen, aber auch betreute Erholungs- und Spielzeiten. Nach ihrer Strafe kamen die Mädchen in private Familien, wo sie die Mütter in Hauswirtschaft und Kinderpflege unterstützten.[116f] Viele andere Einrichtungen folgten bald diesem Beispiel.

Die Tendenz, nur Teil eines staatlich-repressiven Systems zu sein, blieb jedoch erhalten. Besonders stark zeigte sich dies im Ersten Weltkrieg, in den die USA 1917 eintraten. Zur Vermeidung ansteckender Geschlechtskrankheiten wurden Soldaten geschult und gewarnt, aber auch zahlreiche Rotlichtbezirke geschlossen.[17] Dann entdeckte man, dass auch andere Mädchen sich den Soldaten hingaben, unter anderem, weil der Dienst für das Land und die Uniform eine besondere Attraktivität ausstrahlten.[122][18]
Um des ,girl problem’ Herr zu werden, wurde das ,Committee on Protective Work for Girls’ (GPWG) gegründet, Miner wurde zu dessen Leiterin ernannt, Falconer beratend hinzugezogen. Weibliche ,protective officers’ patrouillierten in den Tanzlokalen, besuchten Mädchen aber auch zu Hause, sprachen mit den Müttern und so weiter.[122f]

Die CTCA (Commission on Training Camp Activities) unter Raymond Fosdick, der von Kriegsminister Newton Baker ernannt worden war, war jedoch nicht an Sozialarbeit, sondern nur an der Hygiene der Streitkräfte interessiert. So wurden etwa Schriften veröffentlicht, die Mädchen vor den schrecklichen körperlichen und sozialen Folgen von Geschlechtskrankheiten warnten, und Einrichtungen zur Untersuchung und Quarantäne finanziert, aber alle weitergehenden Programme und deren Finanzierung verweigert. Als 1918 die CTCA Gesetze anregte, aufgrund derer Mädchen und Frauen bei ,begründetem Verdacht’ festgehalten und untersucht werden konnten, während von Männern nicht die Rede war und Besserungsanstalten nur zu diesem Zweck ,missbraucht’ werden sollten, kündigten Miner und einige andere Reformerinnen ihre Zusammenarbeit – während Falconer als Leiterin einer Abteilung gewonnen wurde, die die Errichtung weiterer Vollzugs- und Besserungsanstalten überwachte – die nun oft auch wieder Stacheldraht bekamen.[124ff]

Ethel Sturges Dummers, eine wichtige Reformerin aus Chicago, die das von Van Waters gegründete ,El Retiro’ besucht hatte, war davon so begeistert, dass sie diese mit einer landesweiten Untersuchung von Mädchen-Besserungsanstalten beauftragte, um die neuen Methoden zu verbreiten. Van Waters diskutierte ihre Ergebnisse in einem Artikel ,Where Girls Go Right’ (1922), woraufhin jedoch viele männliche Beamte die ,milden’ Disziplinarmethoden und die ,freien Manieren’ (free and easy manners) der El-Retiro-Mädchen ablehnten. Überhaupt waren diese Reformerinnen an allen Ecken und Enden den Gegenschlägen des alten, repressiven Systems ausgesetzt, dem es nicht um die Mädchen ging, sondern um Dogmen und die Vorherrschaft einer doppelten Moral.[133][19] Während männliche Jugendliche fast nie aus (sexual-)moralischen Gründen verhaftet wurden, galt dies für Mädchen fast immer.[136][20]

Viele dieser Arbeitermädchen verdienten einen durchaus wesentlichen Anteil am Familieneinkommen – und sie forderten für sich nichts weiter als einen abendlichen Freiraum, um auch einmal leben zu können.[138] Die Mädchen, die ohnehin schon von der Ungerechtigkeit einer ganzen Gesellschaft und vom Schicksal an die unterste Stufe gestellt worden waren, wurden nun ein zweites Mal sogar dafür noch bestraft. Es ist, wie wenn die beanspruchte ,Besserung’ (correction!) der ,delinquent working girls’ das kollektive Gewissen sehr erfolgreich von der beschämenden Tatsache ablenkte, dass es diese ,working girls’ überhaupt gab. Man hinterfragte nicht, dass schon junge Mädchen Geld verdienen mussten[21] – aber sobald sie sexuell aktiv wurden, um das Leben auch einmal zu genießen und um die Liebe zu erleben, sprang die ganze staatliche Maschinerie an...

In ihrer Zusammenfassung stellt Odem fest, dass in den 20er Jahren Psychologen, Ärzte und andere Experten Sexualität immer mehr als etwas Positives erkannten und betonten, aber:[189]

Das extensive System aus Gerichten, Spezialpolizei, Vollzugs- und Besserungsanstalten, das von Sittlichkeitsreformern etabliert worden war, fuhr den größten Teil des zwanzigsten Jahrhunderts fort, die Sexualität junger Frauen und Mädchen zu überwachen und zu regulieren.

                                                                                                                                       *

Während die Sexualität der Mädchen ,eingehegt’ wurde, ging auch der Kampf gegen die Frauenemanzipation weiter. So hatte ein Arzt in einer New Yorker Fachzeitschrift 1900 in beißendem Hass geschrieben:[DC-280][22]

The female possessed of masculine ideas of independence, the virago who would sit in the public highways and lift up her pseudo-virile voice, proclaiming her sole right to decide questions of war or religion, or the value of celibacy and the curse of woman’s impurity, and that disgusting antisocial being, the female sexual pervert, are simply different degrees of the same class – degenerates.

Fortwährend ist nun die Rede von ,lesbischen’ Frauen, und was vorher jahrhundertelang natürlich war, wird nun politisiert, sexualisiert und bekämpft.[DC-280][23] Und die männliche Reaktion hatte Erfolg: Der Anteil der Collegeabsolventinnen, die heirateten, stieg in den 1910er und 20er Jahren deutlich, der Anteil jener Frauen, die weiter studierten, sank entsprechend.[DC-281][24] Unermüdlich wurde an das traditionelle Rollenbild erinnert, auch in sexueller Hinsicht.[25]

Aber nicht alle Mädchen wollten sich mehr fügen – und damit kehren wir zurück zu ,Intimate Matters’.[26] In den 20er Jahren wurde endgültig deutlich, dass sich im Bewusstsein der Menschen ein Wandel abgezeichnet hatte, der der Erotik und der Sexualität einen neuen Stellenwert gab.[171]

Dies zeigte sich unter anderem in der monumentalen Studie einer Sozialarbeiterin, Katharine Bement Davis: ,Factors in the Sex Lives of Twenty-Two Hundred Women’ (1929).[171] So hatten zu Beginn des Jahrhunderts fast zwei Drittel der Familien nur noch höchstens zwei Kinder und viele Paare auch gar keine – eine eindeutige Trennung zwischen Sexualität und Fortpflanzung.[175] Bereits in der um 1890 geborenen Vorkriegsgeneration praktizierten nun drei Viertel der Paare Empfängnisverhütung, 80 % der Frauen gaben an, mindestens einmal wöchentlich Sex zu haben, 40 % gaben an, in der Kindheit oder Jugend sich selbst befriedigt zu haben, und 30 % bezeichneten ihr sexuelles Begehren als ebenso stark wie das ihrer Ehemänner.[175] Aber zugleich beschrieb die Hälfte derer, die onaniert hatten, die Effekte noch als ,schädlich’, nur 7 % hatten vorehelichen Geschlechtsverkehr gehabt, und weniger als die Hälfte hielt Sex für die geistige oder körperliche Gesundheit für notwendig.[176] Davis fand einen engen Zusammenhang zwischen fehlender Sexualerziehung und späterer Abneigung gegen Sex und unglücklichen Ehen.[177] Sehr viele Frauen, die den Sex genossen, berichteten von liebe- und rücksichtsvollen Ehemännern.[178]

Doch noch immer saß die Doppelmoral tief, die die Verfasserin eines Frauen-Handbuches bereits 1887 scharf so formlierte:[179][27]

We teach the girl repression, the boy expression, not simply by word and book, but the lessons are graven into their very being by all the traditions, prejudices, and customs of society.

Und wie ging es Jungen um die Jahrhundertwende? Eine Befragung von in den 1890ern geborenen Collegestudenten ergab, dass diese ihre erste sexuelle Erfahrung im Mittel schon hatten, bevor sie zehn Jahre alt waren, wobei die allermeisten diese als ,ungesund’ bezeichneten. Viele sahen das, was sie gelernt und als Gewohnheit entwickelt hatten, als böse, lasterhaft, vulgär und erniedrigend an. Teilweise bezog sich dies auf Sexualität überhaupt, teilweise auf die Entwicklung eines sexualisierten Blickes, der Mädchen und Frauen zu Objekten degradierte.[180][28]

Zur Jahrhundertwende war in der Mittelklasse die Kluft zwischen den Geschlechtern so tief geworden, dass die überwältigende Mehrzahl der Frauen tatsächlich ohne Erfahrung mit Geschlechtsverkehr in die Ehe ging,[29] während viele männliche Partner bereits sexuelle Erfahrung (mit Prostituierten, Arbeitermädchen usw.) hatten.[181] Indem das Reinheitsideal der Frau also Erfolge feierte, heizte es gleichzeitig die männliche Nachfrage nach der zunehmenden Prostitution an.[30] Im Süden begannen die meisten jungen Männer mit etwa fünfzehn, sechzehn Jahren ihre sexuellen Erfahrungen nach wie vor mit schwarzen Mädchen.[186] Hier protestierten die weißen Frauen gegen den doppelten Standard erst in den 20er und 30er Jahren stärker.[187]

Unterstützung bekamen die Frauen endlich einmal durch die Ärzte, als 1904 der New Yorker Arzt Prince Morrow seine Abhandlung ,Social Diseases and Marriage’ veröffentlichte und feststellte, dass es ,mehr Geschlechtsinfektionen unter tugendhaften Frauen als unter professionellen Prostituierten’ gebe – und schätzte, dass sich 60 % der männlichen Bevölkerung irgendwann einmal bei Prostituierten mit Gonorrhoe oder Syphilis angesteckt hatte. Dabei machte Morrow nicht diese, sondern in einem treffenden Sprachspiel die Männer verantwortlich: ,The male factor is the chief malefactor’.[204][31] Er sprach von einer Krankheit des sozialen Organismus und versuchte, Zensur und Scham mit der Gründung der ,Society of Sanitary and Moral Prophylaxis’ zu durchbrechen. 1913 entstand dann die landesweite ,American Social Hygiene Association’.[205]

Ab 1912 wurde Margaret Sanger in New York die große Vorkämpferin der Geburtenkontrolle. Sie war überzeugte Sozialistin und wurde mit dem Thema während eines großen Streiks von Textilarbeiterinnen konfrontiert, als sie sich um deren Kinder kümmerte – und sah, dass die armen Arbeiterinnen keinerlei Kontrolle über ihre Fruchtbarkeit hatten.[232]
Als sie mit ersten Artikeln das ,Comstock Law’ verletzte, ging sie nach Europa, sammelte dort Informationen und Materialien, gründete dann das Magazin ,The Woman Rebel’ und schrieb: ,It is none of Society’s business what a woman shall do with her body.’ Als ihr aufgrund der Schrift ,Family Limitation’,[222] in der sie das Recht der Frau auf Geburtenkontrolle forderte, 45 Jahre Gefängnis drohten, floh sie 1914 nach Europa, wo sie die Ideen von Havelock Ellis und anderen freien Denkern aufnahm.[232]
Die Zeit war reif, und mit Hilfe von Unterstützerinnen zog ihr Fall eine so große Öffentlichkeit an, wobei sogar britische Intellektuelle an Präsident Wilson schrieben, dass das Gericht die Anklage fallen ließ. Comstock erlebte dies und Sangers Rückkehr im Herbst 1915 nicht mehr – einen Monat zuvor starb er an einer Lungenentzündung.[223] Sanger begann eine Vortragsreise in 119 Städte, und 1916 eröffnete sie in Brooklyn eine eigene Geburtskontrollklinik mit Beratung. Als sie dafür in Haft kam, erhielt die Kontroverse erst recht mehr Aufmerksamkeit als jemals zuvor.[233]

Im Jahr nach Comstocks Tod schrieb auch Maurice Bigelow, ein Biologieprofessor am Lehrer-College der Columbia-Universität, in seinem Buch ,Sex-Education’ (1916): ,Wir müssen aufhören, die Heimlichkeit zu unterstützen, die von einer Atmosphäre der Obszönität geschaffen wurde, und das Studium der Sexualität muss ins Licht des Tages gerückt werden.’ Auch kritisierte er den synonymen Gebrauch der Worte ,Sex’ und ,Reproduktion’: ,Das ist im menschlichen Leben nicht länger so.’[206]

In Amerika wurde das sechsbändige Werk ,Studies in the Psychology of Sex’ (1897-1910) von Havelock Ellis, das in England zensiert wurde, bald viel gelesen. Ellis beschrieb die Sexualität als ,die Haupt- und Zentralfunktion des Lebens’, die wundervoll, natürlich, rein und gut sei. Er stellte die Ehe in Frage, befürwortete Probeehen, hielt Partnerwechsel nicht für ausgeschlossen und erkannte, dass Homosexualität keine Perversion, sondern eine angeborene, natürliche Veranlagung ist.[224][32]

Auch wenn diese Überzeugungen weit in die Zukunft wiesen und noch vielfach scharf bekämpft wurden, hörte die Zeit der Trennung der Sphären von Mann und Frau ab der Jahrhundertwende bis in die 20er Jahre hinein endgültig auf. Was zunächst für die Arbeitermädchen normal wurde, übertrug sich auch auf die Mittelklasse. In den 1910er Jahren wurden die Cabarets ein Ort der Begegnung von Mann und Frau. Dann zogen auch die Kinos in die Mittelklasse-Gegenden – und Filme zeichneten romantische Ideale (und auch die Liebe des Mädchens und zum Mädchen, siehe auch das Kapitel ,Hollywood’ im sechsten Band).[231] Sexuelle Anziehung wurde endgültig das Band, das die Geschlechter zueinander zog – und auch in eine Ehe.[234]

1920 erhielten in den USA die Frauen das Wahlrecht, und mit dem Erfolg der Suffragetten war ein wesentlicher Kampf der Frauenbewegung gewonnen.

Die 20er Jahre brachten einen völlig neuen Blick auf die Sexualität. Arbeit war nicht mehr puritanischer Selbstzweck, und die Freizeit nach der sich auch verkürzenden Arbeitszeit wurde immer wichtiger. Dem völlig entsprechend löste auch der Warenabsatz den Aufbau von Infrastruktur und Produktionsmitteln in seiner Wichtigkeit ab. Es begann die Zeit des Konsums, und Sexualität wurde in der nun entstehenden Werbeindustrie intensiv damit verbunden. Großes neues Leitbild war nun das der ,attraktiven Frau’.[278][33]

Ratgeberkolumnen in Zeitungen thematisierten die Liebe und berieten auch Frauen, ,how to catch a man’. Songs besangen die Liebe.[240] Cafés, Tanzlokale und andere Orte schwirrten von Leben. Später wurden ,die wilden Zwanziger’ (The Roaring Twenties) sprichwörtlich – als Durchbruch der Lebenslust, die nun auch viel mit Sexualität zu tun hatte. In den 20er Jahren hatte etwa jede zweite junge Frau vorehelichen Geschlechtsverkehr, und dies blieb so bis in die 60er.[256] Speziell in Amerika spielte auch das Auto eine besondere Rolle – so dass es sogar als ,Bordell auf Rädern’ bezeichnet wurde.[257] In dem Maße, in dem man nun einem Mädchen der eigenen Klasse auch sexuell begegnen konnte, nahm der Rückgriff auf die Prostitution ab.[258][34]

Die meisten Jugendlichen besuchten die Highschool und hatten eine ganze Welt für sich. Fast die Hälfte der männlichen und ein Drittel der weiblichen Schüler nahm an ,Petting-Partys’ teil.[240][35] Es entwickelte sich eine Jugendsprache, die verschiedene Phasen unterschied: ausgehen (go out), mit jemandem gehen (go steady), umwerben (courting), befreundet sein (keeping company) und anderes.[258][36] Zu den Verteidigern und Vorkämpfern der Jugend gehörte der Jugendrichter und Sozialreformer Ben B. Lindsey (1869-1943), der in den 20er Jahren nicht nur die Idee der ,Kameradschaftsehe’ propagierte, sondern sich generell auf die Seite der Jugend stellte.[37]

Der ,Comstock Act’ verbot noch bis in die 30er Jahre hinein alle ,Obszönität’, also alles allzu deutlich Sexuelle. Die Gerichte übernahmen dabei den Standard eines englischen Falls aus dem 19. Jahrhundert, wonach alles obszön ist, was die Tendenz habe, ,to deprave and corrupt those whose minds are open to such immoral influences’ – also die ,unschuldige Jugend’ verderben könne (Hicklin-Test).[277]

Die Kinos, landesweit über 3.000 ,Nickelodeons’, wurden schon 1907 täglich von über zwei Millionen Amerikanern besucht. In diesem Jahr übertrug Chicago auf öffentlichen Druck hin der Polizei die Aufgabe, für Filme Lizenzen zu vergeben. Beurteilungsmaßstab für ein eventuelles Verbot war die ,gesunde und erbauliche Geisteshaltung des Durchschnittsbürgers’. Bald darauf entstand als freiwillige Selbstkontrolle das ,National Board of Review’. 1933 drehte dann Mae West zwei Filme,[38] die verbal sehr offen die Sexualität thematisierten, und Paramount einen Film über eine junge Frau, die nach einer Vergewaltigung mit dem Täter zusammenlebt,[39] worauf aus der katholischen Kirche heraus die ,National Legion of Decency’ entstand und massiv eine effektivere Zensur gefordert wurde. 1934 wurde die ,Production Code Administration’ (PCA) gegründet, der nun alle Filme vorgelegt werden mussten. Bei Verstößen wurden 25.000 Dollar Strafe fällig, und der Film durfte nicht in den Premiere-Kinos anlaufen. Die neuen ,Don’ts’ (Hays Code) schlossen nun auch Ehebruch, lustvolle Umarmungen und Entkleidungsszenen aus.[282] ►8

Das Ehe-Handbuch ,Ideal Marriage’ (1930)[40] behandelte ausführlich das ,Vorspiel’ und auch Stellungen beim Geschlechtsverkehr. Andere Ratgeber folgten bald.[267] Die Mehrheit der jungen Mittelklasse fühlte sich Anfang der 40er Jahre gut informiert und sexuell erfüllt.[268][41]

Margaret Sanger setzte sich auch in den 20ern und 30ern für die Geburtenkontrolle ein, aber die Ärzteschaft blieb lange negativ eingestellt. Anfang der 30er erreichte Sanger mehrere Kongressanhörungen, und 1936 beendete ein Bundesberufungsgericht die Comstock-Ära, indem es Ärzten erlaubte, Kontrazeptiva zu verschreiben. 1937 änderte auch die ,American Medical Association’ (AMA) ihre Haltung, nachdem Sanger und ihre Unterstützerinnen unermüdlich individuelle Lobbyarbeit geleistet hatten.[244f][42] 1942 war Verhütung mit der Gründung der ,Planned Parenthood Federation of America’ endgültig etabliert, und der einstige Inbegriff der Autonomie der Frau war zum Zentrum familiärer Stabilität geworden.[248][43]
 

Fußnoten


[1] Der Anteil der Dienstmädchen u.ä. sank dabei von 61 % auf 18 %.[23]

[2]● Mary Odem: Delinquent Daughters: Protecting and Policing Adolescent Female Sexuality in the United States, 1885-1920. Chapel Hill 1995. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern. Übersetzt H.N.

[3] Diese Entwicklung war auch in Deutschland zu beobachten, wobei hier politische Heiratsbeschränkungen bis in die 1870er Jahre hinein verhinderten, dass Personen ohne genügend Verdienst (und dazu gehörte in manchen Regionen Fabrikarbeit) eine Heiratserlaubnis (!) erhielten. Auch in der Arbeiterschicht gab es jedoch strenge Ehrbarkeitsvorstellungen und war der Ruf einer Frau schnell gefährdet. Auch männliche Arbeiter achteten nicht nur auf körperliche Anziehung, sondern auch auf Gesundheit, Fleiß, Treue und Sittsamkeit einer künftigen Ehegenossin. Oftmals mussten sich die Arbeiterinnen vor allem der Zudringlichkeiten von Vorgesetzten, Vorarbeitern und Angestellten erwehren. Franz X. Eder: Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität. München 2002, S. 179-181. • Nach der Eheschließung konnte der Arbeiter natürlich auch sehr patriarchalisch oder gar gewalttätig sein. Ebd., S. 182f. • Generell war die Arbeiterfamilie des Kaiserreichs jedoch ,strukturell vielgestaltiger’ als die bürgerliche. Tenfelde K (1992): Arbeiterfamilie und Geschlechterbeziehungen im Deutschen Kaiserreich. Geschichte und Gesellschaft 18(2), 179-203, hier 203.

[4] Alameda County Superior Court 1910 und 1920 (112 Fälle) und Los Angeles County Juvenile Court 1910 bis 1920 (31 Fälle). Während dies die Fälle von ,statutory rape’ (sexueller Kontakt trotz Schutzalter) waren, gab es in Los Angeles insgesamt 316 Fälle von ,delinquent girls’.[191]

[5] Interessanterweise waren die Männer in Alameda überwiegend 18 bis 24, in Los Angeles dagegen 15 bis 17 Jahre alt.[53]

[6] Und auch D’Emilio/Freedman stellen fest: ,Thus the social purity movement [...] effectively limited the sexual choices of working-class women as much as it protected them.’ Intimate Matters, a.a.O., p. 153.

[7] Zu den Geschlechtsuntersuchungen, gerichtlichen Verhören etc. siehe ausführlich den achten Band.

[8] In den folgenden acht Jahren wurden hier fast 2.200 Verurteilungen erreicht. D’Emilio/Freedman, Intimate Matters, a.a.O., p. 210.

[9] Was sich in Titeln wie ,The Great War on White Slavery’, ,Fighting the Traffic in Young Girls’, ,The Girl That Disappears’, ,House of Bondage’ (alle 1911) oder gar ,Modern Herodians, or Slaughterers of Innocents’ (1909) widerspiegelte.[97]

[10] D’Emilio/Freedman, Intimate Matters, a.a.O., p. 210.

[11] Etwa Robert A. Woods & Albert J. Kennedy: Young Working Girls. A Summary of Evidence from Two Thousand Social Workers. Boston 1913. | Ruth S. True: Boyhood and Lawlessness. The Neglected Girl. New York 1914.

[12] G. Stanley Hall: Adolescence: Its Psychology and Its Relations to Physiology, Anthropology, Sociology, Sex, Crime, Religion, and Education. New York 1904.

[13] Dass dies nicht gänzlich aus der Luft gegriffen ist, zeigt die Tatsache, dass intellektuelle Belastung jüngerer Kinder bis zur Pubertät durchaus die Lebenskräfte schwächt, da das Intellektuelle tatsächlich ein lebensabbauender Prozess ist. Vergleiche Rudolf Steiner: Allgemeine Menschenkunde (1919) und andere Bücher über die Waldorfpädagogik. – Die ,reproduktive Sphäre’ wurde jedoch in ganz anderer Weise beeinträchtigt. In den Jahrzehnten der Jahrhundertwende blieb etwa die Hälfte der Frauen, die damals bereits eine Universität besuchten, unverheiratet, bei Frauen mit Ph.D. (Doktorgrad) sogar drei Viertel.[190]

[14] Sophonisba Breckinridge & Edith Abbott: The Delinquent Child and the Home. A Study of The Delinquent Wards Of The Juvenile Court of Chicago. New York 1912. Archive.org. • Breckinridge (1866-1934) wirkte auch entscheidend darauf hin, dass Sozialarbeit eine akademisch-professionelle Disziplin wurde. Wikipedia englisch: Sophonisba Breckinridge.

[15] So war 1920 nur jede neunte verheiratete Frau erwerbstätig, aber mindestens jede dritte Mutter ,delinquenter’ Mädchen aus Los Angeles.[134] • Zwei Drittel der letzteren hatten mindestens einen Elternteil durch Tod (41 %) oder Scheidung bzw. Trennung (26 %) verloren.[135]

[16] So selbst Breckinridge/Abbott, The Delinquent Child, a.a.O., p. 27, 41. Entsprechend blieben vom Jugendgericht Los Angeles verurteilte Mädchen im Schnitt 2,6 Jahre in einer Besserungsanstalt, anfangs vierzehnjährige Mädchen sogar 3,7 Jahre.[118] • Am Jugendgericht Chicago wurden im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts 59 % der Jungen auf Bewährung freigelassen und 21 % an Institutionen überwiesen, aber nur 38 % der Mädchen bekamen eine Bewährung und 51 % kamen in Institutionen. Ebd., p. 40.[115]

[17] Letztlich wandelte die Prostitution daraufhin nur ihre Gestalt: von den meist von einer Frau geleiteten Bordellen hin zu Straßenmädchen und Callgirls, die der Polizei gegenüber noch schutzloser waren. Vor allem aber begann damit die große Zeit der Zuhälter. D’Emilio/Freedman, Intimate Matters, a.a.O., p. 213. • Vor dem Krieg waren die meisten Mädchen und Frauen freiwillig Prostituierte, gaben jedenfalls Gründe an, die sich die ,Moralisten’ nicht vorstellen konnten, so ein früheres Dienstmädchen, das sagte, sie sei diese Schufterei leid, und: ,Lieber tue ich dies, als wie ein Hund in der Küche von irgendeiner Frau, die sich selbst ,Lady’ nennt, herumgestoßen zu werden.’ Ebd., p. 214.

[18] D’Emilio/Freedman zitieren eine Collegestudentin, die sich mit sechzehn einem Matrosen hingegeben hatte: ,I let a sailor pick me up and go all the way with me. I had intercourse with him partly because he had a strong personal appeal for me, but mainly because I had a feeling of high adventure and because I wanted to please a member of the armed forces.’ Intimate Matters, p. 260. • Vergleiche die Schilderung eines Beobachters: ,By 1943, Victory Girls sold themselves for small change to any uniform. In Portland, the Union Depot swarmed with twelve year old girls offering themselves to sailors; in Indianapolis and Cleveland the bus and railroad stations blossomed with fifteen and sixteen year old girls ... anxious to accommodate soldiers.’ Philip Jenkins: Moral Panic. New Haven 1998, p. 226, hier offenbar zitiert: Bernard Williams: Jailbait. New York 1951, p. 5.

[19] Und sie wehrten sich mutig. Als Van Waters im von ihr gegründeten ,El Retiro’, wo sie aber keine offizielle Funktion hatte, 1923 einen Mitarbeiter entließ, der Mädchen geschlagen hatte, wurde sie vor weiteren Eingriffen gewarnt, doch sie behauptete kämpferisch ihr Recht, die besondere Tradition der Einrichtung zu wahren und sicherzustellen, dass die Mädchen gut behandelt würden: ,If they deny that right they must prove that I do not possess it. They must challenge it!’ • Schon 1920 hatte sie den Mädchen erlaubt, sich an der lokalen Oberschule anzumelden. Einige Männer des öffentlichen Lebens stellten dies als moralische Gefahr für andere Schüler hin – aber Van Waters sprach mit Müttern, Eltern-Lehrer-Organisationen und Beamten und überzeugte diese mit ihren Argumenten.[133f]

[20] Männliche Jugendliche wurden nur zu kaum 5 % aus moralischen Gründen verhaftet, überwiegend dagegen wegen Diebstahl und Überfall.[155] • Bei den 1910 bis 1920 in Los Angeles vor Gericht stehenden Mädchen hatten in fast der Hälfte der Fälle Eltern und Verwandte das Verfahren eingeleitet, in je einem Viertel der Fälle Polizistinnen u.ä. bzw. Schulangestellte, Jugendämter oder Privatpersonen. Die Gründe reichten dabei von Ungehorsam, Schulschwänzen, Weglaufen von zuhause bis hin zu ,moralisch gefährlichem Benehmen’. In 63 % der Fälle ging es um sexuelle ,Delinquenz’, in 18 % der Fälle um Verhalten ,auf dem Weg dorthin’, etwa durch den Besuch von Tanzlokalen und Cafés ohne Begleitung, Trinken von Alkohol, spätes Nachhausekommen oder provokante Kleidung.[136] • Allerdings hatten sich auch 35 % der Mädchen in den Fällen aus Los Angeles mit Geschlechtskrankheiten infiziert, und etwa 9 % waren außerehelich schwanger geworden. In solchen Fällen war das Mädchen wiederum oft ganz allein. In einem von Odem berichteten Fall trank ein solches Mädchen zunächst Terpentin, um eine Abtreibung auszulösen, dann wollte sie das Kind behalten, aber die eigenen Eltern verweigerten, sie wieder aufzunehmen, bevor sie es zur Adoption geben würde.[140]

[21] Auch dies versuchte man durch Gesetz einfach zu ,verbieten’: Ab 1913 war in Kalifornien die Beschäftigung von Minderjährigen unter sechzehn verboten, bei großer familiärer Notwendigkeit konnten Beamte Arbeitserlaubnisse für Kinder ab zwölf erteilen.[171f]

[22] William Lee Howard (1900): Effeminate men and masculine women. New York Medical Journal 71, 686-687, hier 687. • Er berief sich auf den Sexualfoscher Havelock Ellis, der jedoch insgesamt sehr fortschrittliche Ideen vertrat, der Emanzipation aber doch ambivalent gegenüberstand.[DC-280] • Zur bis dahin völlig normalen, unschuldigen weiblichen Homoerotik siehe den dritten Band.

[23],As Progressive women reformers increased their political power [...] and as the suffrage movement reached its crescendo, articles complaining of lesbianism in women’s colleges, clubs, prisons, and reformatories – wherever women gathered – became common. [...] College administrators, for example, wary of changing professional and public attitudes, adopted restrictive dormitory policies. Warning young women of the dangers inherent in intense female friendships, they prohibited women from spending the night in one another’s rooms.’[DC-280] • Siehe auch Jonathan Katz: Gay American History. New York 1976, p. 65-74.

[24] So hatten 1889 bis 1908 nur 45 % der Absolventinnen von Bryn Mawr geheiratet, und selbst von diesen setzte über die Hälfte eine Karriere fort und blieb finanziell unabhängig. 62 % der Absolventinnen besuchten eine Hochschule, nur 10 % arbeiteten später überhaupt nicht. Zwischen 1910 und 1918 heirateten 65 % der Absolventinnen, und weniger als die Hälfte besuchte eine Hochschule.[DC-281]

[25] Siehe etwa George K. Pratt: Accepting One’s Sexual Role, in Maurice Bigelow (Ed.): Sex-Education: A Series of Lectures Concerning Knowledge of Sex in its Relation to Human Life. New York 1916.

[26]● John D’Emilio & Estelle B. Freedman: Intimate Matters. A History of Sexuality in America. New York 1989. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern, Übersetzungen H.N.

[27] Alice Stockham: Tokology. A Book for Every Woman. Chicago 1887. Dies ging so weit, dass rücksichtsvolle Männer teilweise Schuldgefühle hatten, wenn sie die geliebte Frau begehrten. D’Emilio/Freedman zitieren die Worte eines Mannes an seine Verlobte: ,When I tried to tell you how I love you, I thought I was a kind of criminal and felt just a little as though I were confessing some wrong I had done you.’[179] • Was also früher das kirchliche Sündenbewusstsein war, wurde nun durch die Begegnung mit der Frau erweckt, die im kollektiven Bewusstsein so rein zu sein hatte und so rein schien, wie es früher von jedem Gläubigen gefordert wurde.

[28] Max J. Exner: Problems and Principles of Sex Education. A Study of 948 College Men. New York 1915.

[29] D’Emilio/Freedman zitieren sogar die rührende Aussage eines Arbeitermädchens, das von seiner Mutter immer wieder gesagt bekommen hatte, sich nie von einem Jungen berühren zu lassen, und dass, als es doch einmal ungefragt geküsst worden war, unvorstellbare Angst hatte: ,For two weeks I couldn’t eat, I couldn’t sleep – I thought I was pregnant.’[200]

[30] So gab es sogar ,crib-houses’ (crib = Krippe, aber auch Schenkel), in denen sich selbst die ärmsten Männer, auf Holzbänken wartend, ein kurzes Minutenvergnügen für nur fünfzig Cent leisten konnten.[181] • Amerika ist nicht nur die Heimat des Fast Food, sondern auch des Fast Sex – und der Ort, wo alles zu Geld gemacht wird. Oder wie es damals US-Präsident Calvin Coolidge (1923-1929) ausdrückte: ,America’s business is business’ – Amerikas Geschäft ist das Geschäft.

[31],Der männliche Faktor ist der Hauptübeltäter’ (male = männlich, aber lat. malus = Übel).

[32] Allerdings stand selbst Ellis der Emanzipation ambivalent gegenüber: ,The modern movement of emancipation – the movement to obtain the same rights and duties, the same freedom and responsibility, the same education and the same work – must be regarded as, on the whole, a wholesome and inevitable movement. But it carries with it certain disadvantages. It has involved an increase in feminine criminality and in feminine insanity, which are being elevated toward the masculine standard. In connection with these we can scarcely be surprised to find an increase in homosexuality [...]. [...] [...] having been taught independence of men and disdain for the old theory which placed women in the moated grange of the home to sigh for a man who never comes, a tendency develops for women to carry this independence still further and to find love where they find work. I do not say that these unquestionable influences of modern movements can directly cause sexual inversion, though they may indirectly, in so far as they promote hereditary neurosis; but they develop the germs of it, and they probably cause a spurious imitation. This spurious imitation is due to the fact that the congenital anomaly occurs with special frequency in women of high intelligence who, voluntarily or involuntarily, influence others.’ Havelock Ellis: Studies in the Psychology of Sex, Band 1: Sexual Inversion. London 1897, hier Philadelphia 1901, p. 147f. Archive.org.

[33] D’Emilio/Freedman zitieren eine Werbung, in der es heißt: ,The first duty of woman is to attract’,[278] und kommentieren: ,More and more of life, it seemed, was intent on keeping Americans in a state of constant sexual encitement.’ Die Kosmetikindustrie etwa wuchs 1914 bis 1925 von 17 auf 141 Millionen USD.[279]

[34] Dass Mädchen nicht mehr von ,Anstandsdamen’ beaufsichtigt wurden, zeigt sich in Emily Posts Ratgeber ,Etiquette’, dessen Kapitel ,Chaperons and Other Conventions’ (1923) sich wandelte in ,The Vanishing Chaperon and Other New Conventions’ (1927) und ein Jahrzehnt später in ,The Vanished Chaperon and Other Lost Conventions’.[258]

[35] Robert S. Lynd & Helen Merrell Lynd: Middletown. New York 1929. Was auch ein sozialer Druck wurde: wer nicht mitmachte, war weniger angesehen.[240] • Unter College-Studenten, damals erst 13 % der jungen Bevölkerung, hatten weniger als 10 % noch nie Petting praktiziert.[256f] • Ähnlich zitieren D’Emilio/Freedman schon früher ein New Yorker Arbeitermädchen zu dem Druck, mit dem verdienten Geld Kleidung zu kaufen: ,A girl who does not dress well is stuck in a corner’.[197]

[36] Schließlich auch ,Going all the way’ – alles bis zum Koitus.

[37] In seinem erfolgreichen Buch ,The Revolt of Modern Youth’ (1925) kritisierte er die herrschende Anschauung ,und beschrieb den Kampf gegen sexuelle Unterdrückung als einen Kampf der Generationen. Die moderne Jugend rebelliere instinktiv gegen Tabus, Aberglauben, Intoleranz und Heuchelei. Anhand von Fällen, die er als Richter erlebt hatte, hielt Lindsey den Erwachsenen Einfältigkeit vor, wenn sie glaubten, die jungen Leute in sexueller Unwissenheit halten und deren Reinheit durch harte Strafen verteidigen zu können. Insbesondere hielt er es für schädlich, junge Mädchen zu verdammen, die den Weg der Tugend verlassen hatten. Mit der einfachen Wahrheit ihrer vitalen Sexualität, so glaubte Lindsey, würde die Jugend die Welt retten.’ Wikipedia: Ben B. Lindsey.

[38],Sie tat ihm unrecht’ und ,Ich bin kein Engel’, beide mit Cary Grant. Wikipedia: Mae West, hier auch zur Zensur allgemein. • Weitere Details darüber, dass die ,Legion’ gezielt vor allem gegen Mae West vorgehen wollte, siehe Ramona Curry: Too Much of a Good Thing: Mae West as Cultural Icon. Minneapolis 1996, p. 25f. • In den 50er Jahren folgte die ganz andere Marilyn Monroe: ,Um massentauglich zu werden, musste Marilyn Monroe sich unschuldig geben – und schwach.’ Arno Widman: Die Zerstörte. www.fr.de, 1.8.2012.

[39],The Story of Temple Drake’ nach William Faulkners ,Die Freistatt’. Siehe auch Wikipedia jeweils dort.

[40] Theodore Van der Velde: Ideal Marriage: Its Physiology and Technique. New York 1930.

[41] In einer Studie von Anfang der 40er verheirateten Paaren der Region Chicago mit Collegebildung fanden 75-80 %, dass sie vor der Hochzeitsnacht adäquates Wissen hatten. 73 % der Frauen erlebten immer oder meistens einen Orgasmus und nur 5 % nie. Burgess and Wallin: Engagement and Marriage. Chicago 1953, p. 498.[268] • Die Kinsey-Daten zeigen, dass noch die Mehrheit der Ende des Jahrhunderts geborenen Frauen in den 1910er Jahren nie einen Orgasmus erlebten.[268] • In der Arbeiterklasse gingen viele Frauen aber noch in den 50er Jahren fast ohne sexuelle Erfahrung oder Verhütungswissen in die Ehe.[271]

[42] Sangers Wirken ist aber auch zwiespältig, da sie im Sinne der Eugenik Geburtenkontrolle oft auch als Mittel für ,more children from the fit, less from the unfit’ ansah.[245] Sie befürwortete die Sterilisierung etwa von Bettlern, Kriminellen, Prosituierten und Drogenabhängigen. Die Greueltaten der Nazis verurteilte sie scharf. Wikipedia: Margaret Sanger.

[43] Unterschiede blieben: Noch 1960 nutzten 80 % der Weißen Kontrazeptiva (93 % der Frauen mit Collegebildung), jedoch nur 35 % der übrigen Bevölkerung.[249]