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Erinnerungen einer Volljährigen (2018)
In der Weihnachtszeit beginnt die achtzehnjährige Naemi ein Tagebuch und blickt darin zurück auf die letzten zweieinhalb Jahre ihrer Liebesbeziehung mit einem viel älteren Mann. Auf diese Weise wird das Tagebuch zu einem berührenden Zeugnis einer einzigartigen Begegnung und einer unvorstellbar reinen Liebe voller Romantik und Magie – mit tiefen Antworten auf die Frage, wie dies überhaupt möglich ist.
So wieder der Buchrücken. Wir aber kennen Naemi schon und tauchen ein in ihr Erleben, mit dem auch dieser Roman beginnt und das uns nun schon so vertraut ist:[7]
Nun bin ich also achtzehn. Achtzehn Jahre alt geworden... Und plötzlich also erwachsen. Das fühlt sich merkwürdig an – denn man merkt keinen Unterschied. Und doch ist da ein Unterschied. Der Unterschied besteht darin, dass einen plötzlich alle akzeptieren. Als erwachsen. Als ob es von diesem Tag, dieser Minute, dieser Sekunde abhinge. Aber es ist so. Die Menschen brauchen diese Grenzen. ,Jetzt ist die kleine Naemi erwachsen. Eben war sie noch klein und unerwachsen, jetzt ist sie es, und wir dürfen nicht mehr ,klein’ sagen. Wir entschuldigen uns bei ihr, sie ist nicht mehr klein.’
Das ist so seltsam. Die Menschen haben keine Ahnung, dass die Grenzen ganz woanders liegen – oder sie wollen trotzdem ihre festen Grenzen.
Sie hat wenige Tage nach Weihnachten Geburtstag, und der Mann, den sie liebt und den sie mit all dieser Liebe in Kurzform ,Wolf’ nennt, hat ihr zu diesem Geburtstag ein edles Tagebuch geschenkt. Sie aber hat sich vorgenommen, es als Erinnerungsbuch zu führen, um wenigstens etwas von dem vielen nachzuholen, was sie nicht mehr aufgeschrieben hat, was sehr wohl aber alles in ihrer Seele geschrieben ist...
Und sie beginnt nach den einleitenden Gedanken ihr Buch mit all den Vorurteilen, die sie nun schon über zweieinhalb Jahre erleben musste:[8f]
Ja, ich lebe, seit ich fünfzehn bin, genauer gesagt fünfzehn Jahre und fünfeinhalb Monate, mit einem Mann zusammen, der dreißig Jahre älter ist als ich. Und ich kann nicht die Leute zählen, die mich deswegen schon gefragt haben, die uns angeguckt haben, böse, empört, spöttisch, irritiert und was weiß ich noch alles. Immer verstehen es die Leute nicht – was ich verstehen kann –, und immer – was ich nicht verstehen kann – denken sie dann, sie wüssten, was man darüber denken muss oder kann oder sollte. Als wenn es nicht nur meine Sache wäre! Oder unsere. Aber es geht ja immer darum, dass ich viel zu jung wäre, ein Opfer, ein naives Ding, ein was-weiß-ich. Es geht also nie darum, ob es meine Sache ist – was es aber definitiv ist. Wessen denn sonst?
Ich kann also nicht verstehen, dass Leute denken, es wäre ihre Sache – es wäre auch nur ihre Sache, etwas darüber zu denken. Natürlich können sie darüber denken, was sie wollen. Nur wissen sie nicht, wie hässlich sie dann sind. Wenn sie über etwas irgendetwas denken, was gar nicht ihre Sache ist. Absolut nicht. Wie könnte es ihre Sache sein, ob ich mit Wolf zusammen bin?
Ich meine – auch da ist wieder diese unsichtbare Grenze. Die sagt: ‚Du bist ein Mädchen, und das ist ein Mann. Wäre es ein junger Mann, ja, dann könnten wir darüber reden. Ich meine, jetzt bist du ... wie alt? Achtzehn? Gratuliere. Ja, dann, warte mal, wir holen mal eben die Tabelle. Also warte, dann noch die Brille. Und, ja, also hier steht es – siehst du? Hier. Hier steht, dass, wenn du achtzehn bist, dass es dann gerade noch normal ist, wenn du einen Mann von dreiundzwanzigeinhalb Jahren kennenlernst und dich entscheidest, mit ihm zusammenzusein. Alles andere ist nicht normal. Nicht mehr normal. Also unnormal. Also müssen wir darüber denken. Wir müssen denken: Ach, wie unnormal ist das denn! Das arme Mädchen, das arme naive Ding. Und dieser Mann erst! Wie pervers ist der denn? Und, liebe Naemi, das müssen wir leider denken – wir müssen! Wenn du das nicht verstehst, bist du immer noch klein, obwohl du erwachsen bist. Sieh hier – diese Tabelle, da steht es drin. Soll ich dir eine Kopie machen?’
Schon in diesen Empfindungen erkennen wir das Mädchen aus dem ersten Band wieder. Doch zugleich ist sie viel, viel reifer geworden, auch das spürt man. Sie versteht dasjenige, was in den Seelen der anderen Menschen geschieht, so tief wie kaum ein anderer. Was sie nicht versteht, ist, wie die Menschen sich dem so überlassen können – so lieblos und verurteilend:[9ff]
Das ist es, was ich mein Leben lang gehasst habe. Das und nichts anderes. Dass andere Leute über einen bestimmen können – und sei es nur, indem sie denken, sie wüssten, was richtig ist, und andere nicht. Sie können es nicht! Jeder kann mit jedem zusammen sein – warum sollten je Andere darüber bestimmen können? Das wäre genauso wie in diesen schlimmen Science-fiction-Filmen, wo auch irgendwelche Menschen über alle anderen bestimmen – was sie tun dürfen, was sie essen dürfen, was sie denken dürfen, mit wem sie zusammen sein dürfen. Genauso verhalten sich alle, die uns entgegenkommen und denen die Augen herausfallen, weil sie den Altersunterschied sehen. Und ich denke, manchen Männern fallen die Augen heraus, weil Wolf etwas hat, was sie auch gerne hätten – nämlich mich.
Das Problem ist nur, dass niemand von denen versteht, was Wolf noch hat – wodurch er mich überhaupt nur haben konnte, weil ich mich nämlich für ihn entschieden habe. Aber wie gesagt, das alles geht niemanden etwas an. Und deswegen ist es so krass, so unglaublich, dass jeder trotzdem immer wieder etwas dabei denkt. Können die Leute nicht mal aufhören zu denken? Oder ein einziges Mal denken: Es ist in Ordnung. Da ist ein Mädchen, und das ist freiwillig bei diesem Mann, und es wird seine Gründe haben, und es ist in Ordnung. Und mit in Ordnung meine ich in Ordnung. Völlig in Ordnung. Ohne jede Ausnahme. Genauso in Ordnung wie achtzehn plus dreiundzwanzigeinhalb.
Aber wahrscheinlich wird man auf diese Welt noch lange warten müssen. Vielleicht werde ich schon lange tot sein, bis es diese Welt gibt. Wo die Menschen sich so in Ruhe lassen und akzeptieren, dass ein Mädchen mit einem Mann zusammen sein kann, ,der ihr Vater sein könnte’. Wo diese Art von Einwänden völlig aufhört. Ich meine, was hat man nicht schon alles akzeptiert, mehr oder weniger? Dass Männer mit Männern zusammen sind, Frauen mit Frauen, Mädchen mit Mädchen. Aber nicht Männer mit Mädchen, Mädchen mit Männern. Das ist nicht akzeptabel. Wer sagt das? Ich meine wirklich: Wer sagt das? Wo steht das? Wer legt das fest? Wer? Die Männer? Die Frauen? Die Mädchen? Das will ich mal wissen. Es gibt niemanden, der das festlegt – und doch denken alle das Gleiche. Ist das nicht merkwürdig?
Im weiteren Verlauf denkt sie voller Liebe an ihren Vater, der ihr durch Wolf wieder geschenkt wurde, indem sie daraufhin mit einer einzigen Frage das Herz ihres Vaters so rühren konnte, dass sie wieder zueinander fanden – und der zwar noch lange gebraucht hat, ihre Liebe zu begreifen, der Wolf bis heute nicht akzeptiert, der aber immerhin dennoch aus Liebe zu seiner Tochter erlaubt hat, dass sie schon mit siebzehn zu ihm ziehen durfte.
Ihre ganze Reife erlebt man auch, als sie am nächsten Tag ihre Gedanken weiterführt:[19-22]
An der Schule zog es auch große Kreise. Ich weiß nicht, wie viele mich auch dort gefragt haben, manche immer wieder. Und manche haben mich eben wirklich auch verspottet. Das ging so eine Zeitlang, bis es sich verlief. Er hätte auch anders kommen können. Wahrscheinlich war es nur deshalb nicht der Fall, weil die Jungen mich selbst hübsch fanden. In der Tat hat mich das glaube ich gerettet. So lebte an unserer Schule doch ziemlich viel Toleranz – viel mehr als in der äußeren, übrigen Welt. Da machte mein Aussehen die Blicke eher noch böser...
Und ich meine, gerade das werfen sie Wolf ja vor – dass er sich ein schönes Mädchen geschnappt hat. Sogar der Name stimmt dann auf einmal: Der Wolf und das Rotkäppchen. Nur dass das Rotkäppchen vom Wolf geschnappt werden wollte! Aber sie wissen gar nicht, wie Wolf eigentlich ist – und auch der Wolf, der nämlich ein friedliches, sehr soziales Tier ist.
Es ist völlig klar, dass Wolf sich auch in mein Aussehen verliebt hat. Das hat er nie abgestritten. Aber alle denken immer, das wäre alles gewesen. Sie übersehen, dass Rotkäppchen mehr war als nur ein schönes Mädchen. Ich habe ja selbst lange gebraucht, um es zu verstehen. Immer wieder sprach er davon – und es war mir immer zuviel, ich glaubte jedes Mal, dass er maßlos übertreibe; aber ich sah, dass er es so meinte! Und irgendwann musste ich einfach akzeptieren, dass es so war. Dass er das sah – und dass er etwas sah, was da war. Ich habe es mir damit wirklich nicht einfach gemacht. Ich habe immer wieder gestaunt, was er da sah...
Also die Leute gehen nur nach dem Äußeren. Sie sehen ein hübsches Mädchen – und sie sind neidisch. Das ist alles. Neidisch auf Wolf. Der, der das Rotkäppchen gefressen hat. Sie durften es nicht, aber er durfte.
Aber was sie nicht sehen, ist, wie sehr der Wolf das Rotkäppchen leben ließ – ja, sogar weglaufen. Wie sehr er gar nichts anderes getan hatte, als zu sagen: Ich liebe dich... Ja, genau so war es. Er hat im Prinzip nichts anderes getan, als dies zu sagen: Ich liebe dich. Was kann ich tun, um deine Liebe zu gewinnen? Nicht mit diesen Worten, aber genau so. Und das – das und nichts anderes hat dem Wolf die Liebe des Rotkäppchens gewonnen. Dass er nichts tat – wirklich und buchstäblich nichts. Er tat nichts, als zu zeigen, was für ein wunderschönes Tier ein Wolf eigentlich ist. Äußerlich hässlich, bedrohlich, aber nur für die äußeren Augen. Innerlich aber das schönste Tier überhaupt. Man könnte darüber ein völlig neues Märchen schreiben.
Wolf ist wirklich das Schaf im Wolfspelz – äußerlich Wolf, weil er scheinbar schon viel zu alt ist, aber innerlich ein Mensch, den ich so nie wieder gefunden habe. Ich bin so froh, dass die kleine Naemi nur ein- oder zweimal weggelaufen ist – aber dass sie immer wiedergekommen ist und dass sie am Ende geblieben ist. Geblieben, weil sie gemerkt hat, was los ist. Nämlich, dass sie gar nicht anders konnte, als sich schließlich auch in ihn zu verlieben. Arme, kleine Naemi – bis sie das begriffen hatte! Aber das gehört nach wie vor zu den schönsten Tagen und Wochen meines Lebens. Diese unglaublichen Augenblicke, dieses absolute Märchenreich.
Der Moment, wo er mich das erste Mal in den Arm genommen hat – wohlgemerkt: weil ich es wollte. Wo er so zaghaft und ängstlich war, wieder etwas falsch zu machen, und wo ich ihm sagen musste: Nein, richtig, nimm mich bitte richtig in den Arm... Ich weiß nicht, wie viele Menschen das haben, mit ihren gleichaltrigen Partnern, ich wünsche es jedem, ich hoffe, dass es viele haben – so wie ich.
Dieses absolute Glück. Immer wieder. Jeden Tag. Und immer anders.
Ich glaube, ich bin schon lange erwachsen. Wahrscheinlich hat Wolf das Ganze absolut beschleunigt. Ich meine, nicht nur dadurch, dass wir dann miteinander geschlafen haben. Einfach auch durch sein Alter. Durch das, worüber wir sprachen und sprechen, durch das, war er tat und tut, was er eben einfach ist. Er ist ein Mann, ein sehr reifer und eigentlich auch sehr weiser Mann. Ich kenne auch niemanden, der sich mehr Fragen stellt als er. Oder gestellt hat. Weiser als er ist vielleicht höchstens die alte Frau, die hier bei ihm im ersten Stock wohnt.
Ich meine, wie soll es anders sein? Als dass das irgendwie auf mich abfärbt? Wenn ich mich in meiner Klasse umschaue, wenn ich in die Gesichter sehe, wenn ich die Pausengespräche mitkriege, dann fühle ich mich mindestens fünf Jahre älter. Ich meine, einige werden jetzt auch langsam reif, was man eben so reif nennt, und schließlich machen wir jetzt im kommenden Frühling alle Abitur. Da sollte man das langsam erwarten. Aber trotzdem fühle ich diesen enormen Abstand. Ich meine, ich bilde mir darauf gar nichts ein. Ich stelle ihn einfach nur fest. Ich stelle fest, dass es diesen Abstand anscheinend immer gab, weil ich Einzelgängerin war und blieb – spätestens in dem Moment, in dem mein Vater mir meine erste Party verbot und ich dadurch (!) Wolf kennenlernte, und dass sich dieser Abstand dann nur immer weiter vergrößerte, weil ich Wolf kennengelernt hatte.
Ich interessierte mich einfach nicht mehr für den ,Kinderkram’, den die anderen in der zehnten, elften Klasse einfach alle noch machen zu müssen glaubten. Nicht für die Drogen, nicht für die Musik, nicht für die Gespräche und ,Themen’, ich empfand das alles als so kindisch. Ich meine, obwohl es Jugendthemen und so waren. Aber so belanglos, so oberflächlich – und spätestens durch Wolf kannte ich diesen Unterschied und verstand ihn. Aber ich kannte ihn schon vorher, denn gerade das war es, worin er sich verliebt hatte. Er hatte es bei mir gesehen.
Und dann beschreibt sie, wie sie sich kennenlernten – und wie die Art, wie dieser Mann sie kennenlernen wollte, sie unendlich berührte, immer wieder. Jetzt, aus diesem Abstand einiger Jahre und mit der viel größeren Reife, gibt sie diesem Geschehen in ihrer Seele eine geradezu leuchtende Auferstehung, die noch im Anteilnehmen daran zutiefst berühren kann. Immer wieder neu unfassbar und das größte Glück für sie ist die Zärtlichkeit, die sie bei ihm erlebt – und immer erlebt hat:[25f]
Sie lebte ganz und gar darin, wie er meinen Namen aussprach. Wie er mit mir über Dinge sprach. Wie er mir das Wesen der Spatzen beschrieb! O, mein Gott, je mehr ich an all das denke, desto mehr fällt mir ein. In allem lebte und lebt das, was er die Zärtlichkeit der Seele nennt. Also nicht körperliche Zärtlichkeit, sondern schon vorher. Diese unglaubliche Vorsicht, diese Sanftheit, die Dinge zu betrachten, dieser wirkliche Ernst. Ich meine, wer nimmt sich diesen Ernst, so über die Spatzen zu sprechen? Er beschrieb, wie man es machen musste, damit sie, damit ihr Wesen die ganze Seele erschütterte. Und das tat es dann! Er beschrieb die absolute Hingabe der Seele – und wusste, wovon er sprach!
Und nur deshalb konnte er auch körperlich so zärtlich sein. Wenn ich nur daran denke, möchte ich mit ihm ins Bett – oder zumindest in seinen Armen liegen. Manchmal frage ich mich, wie zärtlich ein Junge sein kann oder wirklich ist. Das habe ich ja nie kennengelernt. Aber es würde auf jeden Fall anders sein. Denn, was in Wolfs Zärtlichkeit auch noch lebt, ist diese unendliche Dankbarkeit, diese Verwunderung, mich zu haben, mich streicheln und lieben zu dürfen, von mir geliebt zu werden.
Ich schäme mich manchmal, wenn ich das sehe. Ich denke immer, ich habe das doch gar nicht verdient. Ich muss es dann einfach vergessen, darf einfach nicht daran denken. Aber es ist so unbeschreiblich schön, seine Zärtlichkeit wird dadurch wirklich überirdisch schön, nicht zu beschreiben, von Anfang an nicht... Ich brauche nur zu sehen, wie er mich liebt. Er braucht mich nur einmal zu küssen – und ich schmelze dahin und küsse ihn...
Nun gut, das kann man immer noch niemanden erklären, der es nicht versteht, wie man einen ,alten Mann’ lieben kann. Aber für mich ist er nicht alt. Für mich ist er Wolf, er ist dieser Mann, und ich sehe, dass er alt ist, aber er ist nicht zu alt, und er ist dieser Eine, der mich unbeschreiblich mehr liebt, als jeder andere es je könnte.
Ich glaube, ich sehe in jedem Augenblick zugleich den, der so liebend um meine Gegenwart bat; der so verzweifelt um mich weinte, sogar vor meinen Augen; der so unbeschreiblich von meinem Vater redete und ihn mir wiederschenkte; der tausend Dinge tat, die alle mein Herz unsagbar rührten – all das sehe ich in jedem Moment. Und dann kommt er und berührt mich zärtlich, streichelt mein Haar, küsst mich sanft – und ich sehe und erlebe alle zärtlichen Augenblicke, die wir schon hatten, alle Nächte, all das, und seine Zärtlichkeit lässt mich dies erinnern, und ich will es wieder haben, mein Körper will es wieder haben, ich sehne mich nach seiner Zärtlichkeit, sobald sie mich auch nur berührt...
Glaube es, wer will – sein Alter ist wirklich das Letzte, was mich in dem Moment interessiert. Selbst sein Alter ist in dem Moment unglaublich anziehend. Ich meine, er ist viel jünger als George Clooney, oder wie sie alle heißen. Er hat noch kein einziges graues Haar. Hallo? Gibt es vielleicht ein Mädchen, was einmal heimlich mit George Clooney schlafen möchte, weil es sich geliebt fühlt? Ich möchte nicht mit George Clooney schlafen – aber mit Wolf schon.
Und dann spricht sie auch über das Wunder einer zutiefst zärtlichen Erotik:[27]
Für mich gab es von Anfang an zwei Reiche – und er hat mir von Anfang an beigebracht, das eine zu verlassen, wenn es notwendig wurde. Es gibt die bloß äußere Welt – da hat man Körper, die können mehr oder weniger alt sein, und da hat Wolf einen schon älteren Körper, er ist eben schon ein etwas älterer Wolf. Aber wen interessiert das? Die andere Welt dagegen ist die eigentlich wahre Welt. Da beginnt die Zärtlichkeit, da beginnt die Liebe, da beginnt auch die eigentliche Erotik.
Und es kann sein, dass man vor der Dusche steht und man kurze Zeit die erste Welt hat, die Bloße-Körper-Welt, die einem eine Illusion vorgaukelt, die einen vielleicht abschreckt, weil es so merkwürdig ist, da ein alter Körper, hier ein junger Körper. Aber dann zieht der Mensch, der den älteren Körper hat, einen zärtlich aus, man spürt seine Liebe, seine Sehnsucht, aber wirklich vor allem seine Liebe, sein zärtliches Begehren, von dem man selbst erregt wird, und dann geht man zusammen in die Dusche, und er hat sie bereits angemacht, damit es für einen schön warm ist, und dann flüstert er, dass ich mich auf den Rand stellen soll, weil wir dann gleich groß sind, und wenn wir dann beginnen, uns zärtlich zu küssen, und das warme Wasser regnet auf uns herab, und wenn er dann beginnt, mich zu streicheln... Ich meine, es geht dann nicht mehr um das Alter. Es geht dann nur noch darum, dass seine Zärtlichkeit einen völlig entführt, weil man nicht fassen kann, dass irgendjemandes Liebe so schön sein kann.
Und das Erotische! In den Filmen wird das immer nur angedeutet – und es geht auch gar nicht anders. Ich hätte als Mädchen nie gedacht, dass Erotik so schön sein kann. Ich meine: Ich glaube nicht, dass das mit einem Jungen meines Alters möglich wäre, dass es das geben würde, nicht so. Ich will damit nur sagen: Es gibt mit einem Jungen keine Erotik. Es gibt entweder Zärtlichkeit oder Sex oder zärtlichen Sex, aber keine Erotik.
Na gut, vielleicht. Auch ein Junge könnte ja mit einem duschen... Aber es wäre nicht dasselbe. Es wäre vielleicht sogar ,erotischer’ im Sinne von erregter. Bei Wolf aber ist es gerade dadurch erotisch, dass er – also dass ich von seiner ,Erregung’ nichts merke, ich merke nur seine Liebe, und zwar als Zärtlichkeit. Als sehr erotische Zärtlichkeit dann. Aber erotisch nur deshalb, weil es so derart zärtlich ist... So zärtlich, dass es erotisch wird. Aber nicht etwa pervers oder so. Sondern gerade zutiefst zärtlich.
Sie schildert ihre Liebe, wie sie sich am Sylvesternachmittag offenbart:[31]
Es ist der einunddreißigste Dezember, und wir sitzen auf dem Sofa, und ich schreibe in mein Tagebuch, und er sitzt am anderen Ende, um mich ganz freizulassen, und liest ein Buch und schaut mich manchmal an, minutenlang, und ich weiß es und finde es wunderschön und weiß, dass er es erst recht wunderschön findet...
Was ist das Geheimnis der Liebe? Ist es dies? Sich anzuschauen oder sich angeschaut fühlen und zu wissen, dass man glücklich ist? Die bloße Gegenwart des Anderen – dieses ungeheure Glück, schon dadurch glücklich zu sein? Das muss es wohl sein... Und vorhin lag ich in seinem Schoß, ganz lange, eine halbe Stunde mindestens, und er streichelte nur mein Haar, und wir sagten weiter gar nichts, aber wir wussten, es ist Sylvester, und das dritte Jahr, in dem wir uns kennen, geht zu Ende.
Vielleicht gehen wir nachher noch spazieren. Es hat gestern ein wenig geschneit, und der Schnee ist liegengelieben. Nicht viel, aber immerhin so viel, dass die Bürgersteige fast weiß geblieben sind, wenn er nicht wieder erbarmungslos weggefegt und weggeschoben wurde. Aber es gibt genügend Seitenstraßen, wo man nur etwas Granulat gestreut hat, und wir waren auch bereits im Wald, gestern schon, und das war wunderschön. Wir werden keine Raketen in die Luft schießen. Vielleicht werden wir ein wenig am Fenster stehen oder auch nach draußen gehen, aber ich glaube eher nicht nach draußen. Und dann werden wir uns ansehen, und wir werden anfangen, uns zu küssen, und dann werden wir ins Bett gehen und, während es draußen weiter knallt, uns weiter zärtlich küssen, immer inniger... Wenn ich daran denke, will ich es fast schon jetzt. Und dann schaue ich zu ihm, und er lächelt, und ich hoffe, dass ich nicht rot geworden bin...
Sie will dann über die Unschuld schreiben – und muss doch zunächst den Zusammenhang zu dem zuvor berührten Gebiet deutlich machen:[33f]
Wolfs großes Thema ist die Unschuld... Das glaubt man nicht, wenn ich die ganze Zeit über die Liebe spreche, ich meine, das Miteinanderschlafen, dieses Zärtlichste überhaupt. Und doch – warum sollte sich das widersprechen? Ich erwähnte bereits, dass Wolf meine Hingabe liebt, und dass er sagt, dass das bei Männern generell so ist, wenn sie nicht bereits vom Dämon der groben Sexualität besessen sind. Und er sagt, Hingabe ist dasselbe wie Unschuld. Weil die Schuld gerade darin besteht, sich nicht mehr hingeben zu können, sondern selbstbezogen zu werden. Er sagt, die Mädchen sind die Lehrerinnen der Unschuld, weil sie die Hingabe lehren...
Er sagt manchmal die Dinge so unglaublich einfach und so unglaublich schön. Man kriegt auch da wieder eine Gänsehaut, wenn man merkt, dass er von einem selbst spricht, also von mir, ich bin ja ein Mädchen...
Also er hat es mir ausführlich erklärt, ich meine, zweieinhalb Jahre sind ja lang, wir haben schon so unendlich viel miteinander besprochen, und eben auch darüber. Die Kirche hat die Sexualität verdammt, aber überhaupt die Körperlichkeit, also bis hin zu der heiligsten Zärtlichkeit. Zwischen Mann und Frau – oder Mädchen – durfte nichts sein. Alles, was da war, war nicht heilig. Und so entstand der Gegensatz. Aber es ist gar kein Gegensatz, denn die Zärtlichkeit ist heilig. So einfach ist das. Zärtlichkeit ist Liebe, und zwar selbstlose Liebe. Zärtlichkeit ist Liebe! Kann die Kirche gegen die Liebe sein? Nein, sie kann es nicht. Denn es geht um die Liebe!
Und durch Wolf habe ich das alles verstanden – etwas, was einem das Herz ja auch selbst sagt. Und die alte Frau aus dem ersten Stock hat es ja auch verstanden – weil es ja eigentlich so klar ist, so unglaublich klar. Sex und Unschuld sind kein Gegensatz, absolut nicht. Es kommt nur auf eines an: Dass der Sex unschuldig bleibt. Und das bleibt er, wenn er durchdrungen ist von Zärtlichkeit, von tiefer, zärtlicher Liebe...
So gesehen ist Sex nur Körperkontakt, Geschlechtsverkehr. Er ist weder gut noch schlecht. Er wird erst eines von beidem, je nachdem, was in ihm lebt. Entweder bloße Lust – oder heilige Zärtlichkeit. Denn die Zärtlichkeit ist bei dem Anderen. Und die Lust nur bei sich.
Und dann schreibt sie sehr, sehr ausführlich über die Unschuld, das große Thema von Wolf – und auch von ihr. Und sie beschreibt, wie sie lange gebraucht hat, damit zurechtzukommen, dass er es zugleich immer wieder auf sie bezog, sie selbst so unschuldig fand:[41f]
Und er erklärte es mir ja: Eben einfach, dass ich an einem Sonnenuntergang mehr empfand als andere. Dass ich Spatzen mehr liebte als andere, dass ich mit ,süß’ wesentlich mehr verband als andere; dass ich ihm zuhörte und sitzenblieb, wo andere Mädchen längst weggelaufen wären. Dass ich ihm verzieh. Dass ich dies, dass ich jenes – und es war alles wahr! Und allmählich verstand ich, was Unschuld war – und allmählich verstand ich es, es auszuhalten, dass ich unschuldiger war als andere... Und warum Wolf mich so liebte, was für mich ja das Schönste war, was ich überhaupt je erlebt hatte, als ich gelernt hatte, damit zurechtzukommen...
Und warum liebte er mich so – weil er seit zwanzig Jahren danach suchte und es nirgendwo fand, bei niemandem sonst, nicht so, nicht so berührend... Wenn man das gesagt bekommt, muss man das erst einmal verdauen, nicht wahr? Es klingt wie eine unglaubliche Schmeichelei – und doch sieht man ja in jedem Augenblick, wie verzweifelt ernst er es meinte...
Ich musste also schmerzlich begreifen, worin meine Einsamkeit bestand. Und doch war ich im selben Moment ja nicht mehr einsam, weil ich ihn hatte – ihn, der zwanzig Jahre nach jemandem wie mir gesucht hatte, während ich in demselben Moment, wo ich verstand, was mich einsam machte, ihn gefunden hatte.
Die folgenden Seiten lassen erleben, wie unschuldig dieses Mädchen ist, wie sehr es sich nach dem Guten in der Welt sehnt. Danach schreibt sie über Weihnachten, das sie ebenfalls erst durch Wolf wirklich kennengelernt hat – und man erlebt, wie auch hier, in dem tiefen Empfinden der religiösen Tatsachen und Zeiten im Jahr, ein Schlüssel zu einer neuen Unschuld läge. Sie beschreibt, was für eine Offenbarung es für sie war, auf einmal heilige Welten kennenzulernen, von deren Existenz sie zuvor nicht einmal eine Ahnung gehabt hatte. Auch für sie war es nicht ganz einfach – aber auch hier kann man wieder das Wesen des Mädchens erleben:[53f]
Ich kämpfte mit mir. Ich kämpfte damit, das einfach nur zur Kenntnis zu nehmen und entweder zu glauben oder nicht zu glauben. Ich wusste ja, dass es so war. In Bezug auf unsere Begegnung wusste ich es. Aber nun ging es viel weiter. Und nun kamen die Engel hinzu. Und ich kämpfte darum, das zu glauben und mehr als das zu tun. Es war wie die zwei Welten mit Wolf. Sieht man einen alten Mann – oder sieht man mehr, und nicht nur mehr, sondern etwas ganz anderes? Und er hatte mir doch schon so oft mit Novalis geholfen, aber dazu später. Jedenfalls – ich gewann. Ich gewann meinen eigenen Kampf gegen mich selbst. Oder vielleicht: Kopf gegen Herz. Als ich mich entschied, es wirklich zu glauben, da gab es einen Moment, wo ich vor Rührung weinen musste – weil ich es nicht fassen konnte, dass die Engel so viel für einen taten, so unsäglich viel, ohne dass man sie überhaupt noch zur Kenntnis nahm! Von da an ging es für mich nie wieder nur um bloßes Glauben.
Die weiteren Beschreibungen, wie sie dieses erste Weihnachtsfest erlebt hat, das all ihre Anschauungen so unendlich vertiefte, sind hier nicht wiederzugeben. Es kann nur selbst in seinem ganzen Zusammenhang gelesen und nacherlebt werden – wie eigentlich all diese Bücher. Jede Wiedergabe, jede Zusammenfassung ist ja auch bereits wie eine Art Vergewaltigung...
Im weiteren Verlauf entfaltet das lebendige Tagebuch des Mädchens sich zu einer Art heiligen Lehre der Unschuld. Denn:[73]
Mein großes Thema ist ,Gewöhnung’. Gewöhnung hat mit Unschuld zu tun, denn es ist ihr Gegensatz. Gewöhnung ist verlorene Unschuld.
Ich habe Wolf einmal gesagt: ,Siehst du, auch ich bin nicht unschuldig. Ich habe solche Angst vor der Gewöhnung!’ Da sagte er: ,Siehst du? Jemand anderes würde sich darüber gar keine Gedanken machen...’ Ich fragte ihn, was das bedeutete. Und er sagte: ,Du hast die größte Sehnsucht nach der Unschuld von allen. Wenn man aber nicht unschuldig wäre, könnte man diese Sehnsucht gar nicht haben...’ – Er schlägt mich immer mit den eigenen Waffen! Und ich bin nicht gut genug darin, ihn zu widerlegen...
In aller Ausführlichkeit beschreibt sie nun, wie der Zauber zu einer Realität wird – immer wieder. Sie hat all dies von Wolf gelernt – und er lehrt sie nichts anderes als Novalis’ magischen Idealismus. Der heilige Schlüssel zu dieser Magie sind heilige Gedanken – Gedanken, die so sehr von Liebe durchdrungen sind, wie die Liebe von ihnen durchdrungen ist... Und das Mädchen gibt immer wieder neu aufrichtige Beispiele:[79]
Nie zu vergessen, dass er, mein geliebter Wolf, mich zwanzig Jahre lang gesucht hat. Zwanzig Jahre! Wenn ich mir das wirklich klarmache, kann ich mich doch nie daran stören, dass er schon so alt ist – er ist ja um meinetwillen und in der Suche nach mir so alt geworden! Wenn ich daran denke, dann muss ich fast weinen. So alt musste er werden, und dann sah er mich und musste, weil er schon so alt war, um meine Liebe geradezu betteln! Er hat das wirklich getan – aber auf eine so wunderschöne Weise, dass es mich erschüttert, wenn ich nur daran denke. Nein – ich kann meine Liebe zu ihm wirklich nie, niemals verlieren!
Gebettelt hat er nie – aber er hat mich gebeten in einer Weise, die noch viel tiefer ging als alles nur Vorstellbare. Absolute Schönheit in ihrer hilflosen, grenzenlosen Liebe zu mir, und irgendwo auch mit einem so grenzenlosen Vertrauen...
Wenn man dann noch mitdenkt, dass sogar die Engel wollten, dass wir uns begegnen... Man kann sogar denken, dass die Engel täglich ihre Hand über uns halten! Wenn man das denkt, o Gott, man kann so viel denken! Und das alles wäre hoher, heiliger Sinn. Heiliger Schutz...
Und etwas später:[80f]
Ich kann mir sogar einen einsamen Wolf vorstellen. Einen, der wirklich zwanzig Jahre einsam durch die Wildnis zog, die Wildnis der Menschen – niemanden findend, den er lieben konnte, einsam bis zuletzt. Schon dieser Gedanke rührt mich unglaublich. Und dieser Wolf könnte wütend werden, hassend, mörderisch. Er könnte ... ja, er könnte sich nehmen, was er wollte. Er könnte Mädchen reißen, er könnte Rotkäppchen fressen, schöne, zarte, verführerische Rotkäppchen. Aber stattdessen? Stattdessen bleibt der schöne, große, alte Wolf einsam, ganz und gar einsam, wird wirklich einsam, verzweifelt, alt, schwach, aber noch immer stark, von niemandem angegriffen, aber völlig einsam. Und dann – dann steht er nach zwanzig Jahren vor einem Mädchen. Vor dem einzigen Mädchen, was er je gesucht hat, auch wenn er sich für Momente in unzählige andere Mädchen verliebt hatte, weil sie ihm einfach über den Weg liefen, aber mehr auch nicht, aber an diesem einen Mädchen kann er nicht vorbeigehen – sein ganzer, einsamer Körper wehrt sich, seine einsame Wolf-Seele wehrt sich, und er sagt sich: Wenn mich dieses Mädchen abwehrt, dann werde ich mich in eine einsame Schlucht zurückziehen und meinen müden Kopf zum Sterben niederlegen. Aber jetzt werde ich alles tun, was ich kann, damit dieses Mädchen, obwohl ich hässlich bin (Wolf ist nicht hässlich!) bei mir bleibt, trotz seiner Angst, und langsam Vertrauen zu mir fasst, selbst wenn es mich nie lieben würde. Ich will nur, dass es Vertrauen zu mir fasst, ich will nur in seiner Nähe sein...
Wenn ich daran denke, kann ich es fast schon wieder nicht fassen, wie mich so etwas rührt. Und es ist wahr! Es ist alles wahr...
Ich kann es nicht fassen, wie unendlich viel man tun kann, um die Dämonen zu vertreiben – die Dämonen der Gewöhnung. Es liegt alles an einem selbst.
Und nach weiteren Seiten beschließt sie dieses längere Kapitel:[84]
Das also ist Novalis. Ein kurzer Kurs in seiner Magie – gegeben von Naemi, seiner ganz unwürdigen Dienerin...
Dann schildert sie einen Punkt, an dem ihre Liebe tatsächlich in Gefahr war, weil die Interessen scheinbar auseinandergingen:[85f]
Es gab einen Moment, als ich siebzehn war, wo diese Gefahr drohte – und mit ihr wieder andere Dämonen, die unsere Liebe liebend gern zerrissen hätten. [...]
Und doch merkte ich eines Tages, dass Wolf die Natur mehr liebt als ich – oder ausschließlicher. Anders gesagt: Ich merkte, dass ich eine Sehnsucht nach auch noch etwas anderem hatte. Ich wusste nicht einmal, was. Ich merkte, dass ich die Natur nur dann dauerhaft und aufrichtig weiter lieben könnte, wenn noch etwas dazukäme.
Diese Entdeckung schockierte mich so, dass ich Wolf, nachdem mir dies endlich klar wurde, tagelang nichts sagte. Natürlich wurde es immer schlimmer – auch weil es das erste Geheimnis war, das ich vor ihm hatte. Alles aus Angst, ihn nicht zu verletzen, unsere Liebe nicht zu gefährden. Aber er sah es natürlich, und in seiner unglaublich zärtlichen Art drängte und bat er mich, doch zu sagen, was mir auf der Seele lag. Und er brauchte nicht lange zu drängen, denn als er so mit mir sprach, hatte ich wieder tiefstes Vertrauen, was auch kommen mochte...
Und ich wurde nicht enttäuscht! Als ich alles ausgesprochen hatte, sah ich ihn wieder furchtsam und mit Herzklopfen an, trotz Vertrauen, und er nahm mich in die Arme und flüsterte: ,Es wird alles gut werden, Naemi...’ – Und von da an war schon alles gut.
Und obwohl sie nicht einmal weiß, was genau ihr fehlt, bemüht sich jetzt er, der Mann, mit ihr verschiedenste andere Dinge kennenzulernen – zuerst lässt er sie die Kunst entdecken. Und sie liebt es, ihm zuzuhören. Tiefe Erlebnisse hat sie an Beuys und überhaupt bei einem Besuch im Museum Hamburger Bahnhof in Berlin, hier auch an dem Werk ,Schechina’ von Anselm Kiefer. Sie ist ergriffen von der realen Spiritualität einiger dieser Werke, die von offenbar niemandem wirklich tiefer verstanden wird.
Allmählich kommt sie mit dem Schreiben in der Gegenwart an. Sie sucht nach einem Beruf für die soziale Kunst, von der Beuys sprach. Sie macht sich Gedanken über die Zukunft – und erkennt, wie auch hier wieder die Dämonen lauern ... die von ihrer Liebe einmal mehr völlig besiegt werden:[100f]
Wo ist der Beruf für die soziale Kunst? Muss man dafür einfach nur Mensch sein? Aber ich möchte es als Beruf!
Und dann? Wie geht es dann weiter? Dann studiere ich, dann arbeite ich – dann arbeiten wir beide und sehen uns nach wie vor erst nachmittags oder abends. Und dann? Was ist dann mit der Gewöhnung? Und möchte ich etwa irgendwann Kinder? Oder nie? Und wie alt ist Wolf, wenn ich Kinder möchte? Und wenn die Kinder groß werden? Über sechzig, wenn sie zehn sind? Und was sollen sie dann von ihm denken? Und von mir? Diese Gedanken machen mir Angst. Es macht mir Angst, wenn ich daran denke, dass Wolf schon so alt ist. Es macht mir Angst, wenn ich daran denke, dass die Dämonen der Gewöhnung nur darauf lauern, dass ich studiere, dass ich einen Beruf haben werde, dass die Jahre vergehen werden, einfach vergehen – und sie haben ja Zeit...
Und dann sage ich mir wieder: Aber das wollen sie doch nur. Dass du dir diese Gedanken machst. Dass sie über diese Gedanken die Einfallstore in deine Seele finden. Diese Gedanken – als Schneisen, auf denen sie entlanggaloppiert kommen. Du kannst ihren Geifer schon riechen, du siehst ihre Gebisse schon gefletscht, trüb leuchtend im Dämmer ihres Angriffs. – Und dann schaue ich zu Wolf hinüber, und mir kommen die Tränen, Tränen der Scham, der heißen Reue, dass ich mir überhaupt solche Gedanken mache. Und er fragt mich wieder zärtlich, und ich lächle wieder und schüttle sanft den Kopf, aber diesmal nicht vor Glück, sondern vor Scham, und er lächelt voller Verständnis und lässt mich auch diesmal wieder so unsäglich zärtlich frei, dass es mich schüttelt vor Liebe... O, ich liebe ihn so unsagbar!!!
Ich musste das Buch kurz zur Seite legen. Wolf hat mir das Haar gestreichelt und nichts gesagt. Er versteht mich ohne Worte. Es ist alles so unfassbar – so unfassbar schön...
Worte versagen hier völlig. Sie kommen einfach an eine Grenze. Jenseits dessen ist nichts mehr. Nur noch reine Rührung – wirklich reine Rührung. Ich kann es nicht fassen, dass ich dies alles verdiene, verdient habe. Womit? Womit nur?
Ich mache mir keine Gedanken! Ich mache mir einfach keine Gedanken. Unsere Liebe ist sowieso ewig. Egal, was passiert. Wolf und ich – das ist, wie es ist. Ich verstehe nicht, warum die Engel ihn so lange haben warten lassen. Aber ich verstehe es doch, denn nur deshalb konnte er so sein, wie er jetzt ist. Und ich liebe ihn ja gerade deshalb! Ich könnte nie einen anderen so abgrundtief lieben – jedenfalls wäre es alles nicht das Gleiche. Es konnte nur so gehen, so schrecklich es vielleicht auch irgendwann noch werden wird, ich meine, wenn Wolf so alt wird. So alt, dass sein Fell grau wird, dass seine Beine langsam versagen, dass sein Kiefer müde wird, dass man ihn füttern muss, das Fleisch für ihn jagen, es ihm kleinkauen, ihn zärtlich damit füttern... Aber daran denke ich jetzt noch nicht! Die Liebe wird noch früh genug wehtun. Jetzt aber tut sie weh vor Glück...
Hier könnte der Roman enden. Aber er vertieft sich noch immer weiter.
Ihre Gedanken an das, was sie tun möchte, werden immer tiefer, erglühen vor Liebe zur Menschheit. Die Schechina geht ihr nicht aus dem Kopf, nicht aus dem Herzen. – Sie schildert weitere Momente aus ihrem Leben mit Wolf, die immer berührender zeigen, wie sehr diese beiden Menschen füreinander bestimmt sind. Und ein weiteres Mal beschreibt sie, wie sehr er sie vollkommen freigelassen hat, offenbart noch einmal das heilige Geheimnis der Liebe eines Mannes zu einem Mädchen:[109ff]
Ich kenne an Wolf nur dies – seine bedingungslose Liebe. Grenzenlos. Als er mich kennenlernte, hat er mir so deutlich wie nur möglich gesagt, mit Worten ausgedrückt, dass er mich grenzenlos liebt. Mit Worten – und ich habe es gesehen. Er konnte es nicht verbergen. Es war so. Er hat nie gesagt, dass er ohne mich nicht leben könnte – aber ich weiß es. Eigentlich hat er es gesagt. Er hat gesagt: Dann kann er eigentlich nur noch weiterleben und irgendwann sterben. Das bedeutet das Gleiche. Ein Leben ohne mich wäre für ihn sinnlos. Und ich wusste genau, was er meinte.
Aber das nicht zu Fassende ist, dass er mich gleichzeitig immer frei gelassen hat. Immer. Er hat nicht gesagt: Du musst mich lieben, ich sterbe sonst. Er hat auch nicht gesagt: Wenn ich sterbe, musst du damit leben. Er hat nur gesagt: Ich brauche dich. Ich kann ohne dich nicht leben. Aber ich will nur, dass du es weißt... Bitte entscheide frei...
Es wird mir keiner glauben, dass das ein Unterschied ist. Aber es ist nicht nur ein Unterschied, es ist der volle Gegensatz. Man spürt, ob jemand irgendeinen ,Druck’ macht, ein schlechtes Gewissen, oder ob er nur abgrundtief aufrichtig sagt, was er empfindet – was er empfindet!
Und das war Wolf – und ist es jedes Mal wieder. Er sagt abgrundtief, was er empfindet und wie sehr er einen liebt. Aber er lässt einen auch abgrundtief frei. Und wer nicht versteht, wie beides möglich ist und sich sogar gegenseitig bedingt, der tut mir leid... Dies beides ist das Wunder seiner Liebe, die ich immer wieder nicht fassen kann. Der Abgrund seiner Liebe. Und der Abgrund seiner Freiheit – und beides schenkt er mir... Und ich könnte ohne beides auch nicht leben...
Wer je verstehen will, wie ein Mädchen einen älteren Mann lieben kann, der muss sich nur dies einmal fragen: Wie ist dies möglich? Und ich meine, ich darf gar nicht daran denken, wie oft wir uns schon geliebt haben – so unendlich zärtlich, so leidenschaftlich, beides! Wie ist das möglich?
Wir kennen uns jetzt zwei Jahre und acht Monate. Bestimmt haben wir uns weit mehr als jeden zweiten Tag geliebt. Weit mehr! Mehr als fünfhundert Mal... Das kann man sich nicht vorstellen, weil es jedes Mal wieder einzigartig ist, das einzige Mal, das erste Mal... Aber wie, frage ich? Wie ist es möglich, dass ein Mädchen viele hundert Male mit einem Mann ins Bett geht, von dem die anderen es nicht einmal verstehen, dass es das einmal tut? Ich sage es euch: Weil es sich von ihm abgrundtief geliebt fühlt – und weil es weiß, dass es von ihm nicht einmal berührt werden würde, wenn es dies nicht selbst will. Gerade dies berührt sie – und gerade um dieses Wunders willen liebt sie ihn.
Er hat sozusagen immer gesagt: Ich liebe dich, aber du bist frei. Nicht ich bin frei, denn ich liebe dich – und meine Liebe bindet mich an dich. Ich kann mich nur hilflos in deine Hände geben – und wenn du gnädig bist, gehst du mit meinem Gefühlen für dich gnädig um. Du brauchst sie nicht zu erwidern. Bitte quäle sie nur nicht...
Dieses Gefühl hatte ich! Das war es, was mich immer unsäglich gerührt hat. Es war die Umkehrung des Märchens. Der Wolf sagte zum Rotkäppchen: Bitte quäle mich nicht...
Und dann beschreibt sie es noch weiter:[111f]
Als wir uns kennenlernten, als ich noch nicht wusste, dass ich ihn liebe, da sagte sein Blick, alles an ihm sagte immer wieder: Bitte bleib... Aber das war abgrundtief. Und doch so zurückgehalten. Aber abgrundtief als Bitte. Bitte bleib... Man kann dies nicht erklären. Das eigene Herz muss zum Abgrund werden, es abgrundtief fühlen. Dieses: Bitte bleib... Es geht wirklich bis in den Abgrund, bis ins Innerste des eigenen Herzens... Bitte bleib... Nicht umsonst ist dies mein Lieblingswort. Ich habe es geliebt, zu bleiben, bevor ich es verstand, dass ich es liebte, und lange, bevor ich verstand, dass ich begann, ihn zu lieben...
Man kann den Zauber dieses Wortes niemandem erklären. Es geht darum, dass alle Welt einem einredet, dass man nicht bleiben darf. Sogar die eigenen Gefühle, zunächst. Ein Mann spricht ein Mädchen an. Was soll man da denken? Er ist viel zu alt. Ich will nichts von ihm. Was will er von mir? Ich weiß, was er will. Alles will fliehen... Aber dann ist da dieses Andere. Dieses abgrundtief Andere. Das Herz sagt einem: Dieser Mann ist gar nicht so – nicht, wie die Welt denkt, nicht, wie du denkst. Er ist merkwürdig anders. Etwas in dir fühlt sich bei ihm wohl. Und obwohl du doch fliehen willst, obwohl du noch gar nicht weißt, dass du dich bei ihm wohl fühlst, und fliehen willst, sagt er aus seinem Herzen heraus, vielleicht nicht einmal mit Worten, aber mit seinem Blick: Bitte bleib...
Es ist reine Magie... Magie der Herzen. Bitte bleib...
Vielleicht ist das das Allerrührendste überhaupt – oder auch das einzig Rührende: Die eigentlich chancenlose Bitte. Denn er hatte keine Chance – und das wusste er auch. Aber er nutzte sie. Mit dieser hilflosen Geste, dieser hilflosen Bitte, diesem hilflosen Blick, dieser hilflosen Liebe. Er sagte: Ich sterbe ohne dich, nicht jetzt, aber irgendwann, und dann ohne Sinn, denn dich habe ich gesucht – niemand anderen.
Nun, wenn ein anderes Mädchen das gehört und gesehen hätte, es wäre weggelaufen und nie wiedergekommen. Es hätte mit seinen Freundinnen getuschelt und gekichert und diesen alten Mann verspottet. Nicht so ich. Ich dachte nicht einmal daran. Ich weiß nicht mal, wie das geht. Für mich gab es nur zwei Impulse: weglaufen und bleiben. Zuerst bin ich weggelaufen, danach bin ich geblieben. Dazwischen bin ich wiedergekommen. Und das alles spielte sich in meinem Herzen ab. Das Weglaufen hatte mehr mit dem Kopf zu tun. Das Bleiben einzig und ausschließlich nur noch mit dem Herzen. Und dann kam die Liebe...
Und am Ende beschreibt sie noch einmal in erschütternder Weise den abgrundtiefen Unterschied zwischen der wahren Liebe zwischen Mann und Mädchen und allem anderen, das nicht so heilig ist, sondern andere Quellen hat:[115f]
Wenn ein Mann also mit einem Mädchen nur Sex haben will, wenn es nur darum geht, weil das Mädchen eben schön jung und wegen seines Jungseins auch besonders schön ist, dann geht es nur um die Lust des Mannes, er denkt nur an sich. Das Mädchen ist Objekt – Objekt seiner Lust.
Aber wenn der Mann das Mädchen liebt, von Herzen, aufrichtig, mit seiner Seele, dann ist das Mädchen Subjekt – und der Mann Objekt, nämlich Opfer seiner eigenen Liebe. Er kann nicht mehr anders, als dem Mädchen sein Herz zu schenken, das Mädchen hat es ihm schon gestohlen. Wenn der Mann das Mädchen liebt, kann er ihm nie etwas tun. Er kann an seiner Sehnsucht leiden – aber er könnte das Mädchen nie anrühren. Das ist Liebe!
Dann kann er sich trotzdem nach dem Körper des Mädchens sehnen, es ist trotzdem Liebe. Er verzichtet ja auf jede Lust, er quält sich ja sogar selbst, weil er Sehnsucht hat. Aber Sehnsucht ist das Gegenteil von Lust. Er tastet das Mädchen nicht an, und das ist Liebe – weil er nur an sie denkt, nicht an sich. Und dann kommt dieses Unvorstellbare, dieses Unbeschreibliche, diese Magie: Bitte bleib...
Und das Mädchen spürt, dass es Liebe ist, und nicht nur Liebe, sondern unvorstellbare Liebe, grenzenlose Liebe – und grenzenlose Freiheit. Bitte bleib... Und eigentlich entscheidet sich in einem einzigen Moment alles. Das Mädchen kann noch wochenlang glauben, dass es einfach nur bleibt – aber der Keim der Liebe ist längst gepflanzt, und kein Orkan kann ihn mehr herausreißen. Nur noch die Dämonen. Aber wenn das Herz des Mädchens rein genug ist, dann können selbst sie es nicht mehr...
Was für ein Wunder!
Liebe ist beim Mann das völlige Sich-Neigen in absoluter Hilflosigkeit – und diese Hilflosigkeit durchschlägt im Herzen des Mädchens sämtliche Mauern, die es sowieso nicht hat...
Sie beschreibt dann, wie ein Junge einmal etwas von ihr wollte und dabei sehr ,cool’ tat. Und tief macht sie den völligen Gegensatz zu Wolf erlebbar – auch darin, dass der Junge, als er keinen Erfolg hatte, gemein zu ihr wurde, verächtlich auch von ,Vaterersatz’ sprach, was sie in den folgenden Gedanken vollkommen widerlegt.
Noch einmal schreibt sie sehr ausführlich über die Magie... Und dann erinnert sie sich noch einmal an ihre Seite – an das Wunder der Hingabe eines Mädchens:[130ff]
Ich möchte an dieser Stelle mal ganz klar sagen, dass es auch zwischen einem Mann und einem Mädchen eine unglaubliche Erotik geben kann. Und das ist nicht die Erotik, von der alle sprechen. Es ist die Erotik, die Wolf mich verstehen half – die Erotik, die Anziehung bedeutet. Nicht Lust, sondern Anziehung.
Als ich erst einmal aufhörte, vor ihm wegzulaufen, weil alle Welt mich nur gelehrt hatte, an das Andere zu denken, wenn ein Mann ein Mädchen anspricht – als ich wirklich tief berührt war von dem Vertrauen, was ich ihm gegenüber haben konnte, und als ich dann ohne all diese Lügen seine Liebe spüren konnte, seine verzweifelte, zarte, grenzenlose Liebe, verbunden mit tiefster Achtung und, wie ich sagte, Hilflosigkeit, zugleich diese Ruhe, Weisheit, Stärke, da verliebte auch ich mich grenzenlos...
Vielleicht kann das überhaupt nur ein Mädchen. Ich meine, ich kenne die anderen Verliebten ja nicht, aber ich frage sie alle: wer kennt die Magie? Manchmal glaube ich sogar, es gehören überhaupt Männer und Mädchen zusammen – aber jetzt schließe ich natürlich von mir auf andere, das geht also vielleicht zu weit. Dennoch – es ist unbeschreiblich.
Ein Mädchen ist so vertrauensvoll! Ein Mädchen ist reine Hingabe – ich habe es an mir erlebt. Aber gerade das macht die Magie aus! Und noch etwas. Nämlich gerade das Vorher-weggelaufen-sein. Oder doch das Verbotene, Verurteilte. Oder beides. Aber wenn das Herz das alles nicht berücksichtigt, wenn es radikal, wie mit fliegenden Fahnen, sich entscheidet... Liebe!
Dabei ist es viel zarter. Unendlich war am Anfang nur das verletzliche Vertrauen. Man weiß ja nicht, was passiert, wenn man beginnt, seine Liebe zu schenken. Ein Mädchen weiß das nicht. Es kann nur eines: sein Vertrauen gleich mitschenken... Vertrauen, dass sein Geschenk nicht verletzt wird... Aber was schenkt es denn? Es schenkt sich selbst...
[...] Es hat Angst, weil seine Liebe das Kostbarste ist, was es hat – und also unendlich verletzlich. Und trotzdem gibt es sie, trotzdem schenkt es sie – ich kann es nicht fassen, wie verletzlich dieser Moment ist!
Dieser eine Moment, wo dann so unglaublich verletzlich ich ihn bat, mich in den Arm zu nehmen... Aber da hatte ich schon diese Sehnsucht. Und – es war unbeschreiblich. Wie wenn ein unendlich zärtlicher Damm brach... Zwischen uns. O, mein Gott! Wenn ich daran denke, bekomme ich noch immer eine Gänsehaut. Das ist Liebe! Das ist Hingabe. Das ist die Liebe eines Mädchens – wenn sie sich ganz schenkt, einem Mann...
Was will ich also sagen? Es gibt nichts Vergleichliches, will ich sagen. Mit der Liebe zwischen einem Mädchen und einem Mann ist nichts zu vergleichen. Ich sehe nichts, weit und breit nicht.
Und sie sagt auch, warum dies so ist:[133]
Die Erwachsenen sind hartherzig, Männer wie Frauen. Und dann kennen sie das Geheimnis der Zärtlichkeit nicht mehr. Nicht mehr die Hingabe. Nicht mehr die wirkliche Liebe. Nicht mehr die Magie – die schon gar nicht!
Warum kennt Wolf dies alles? Warum kennt er die Zärtlichkeit? Weil er an sich gearbeitet hat. Weil er sein ganzes Leben lang die Dämonen vertrieben hat. Und weil er als einsamer Wolf sein Leben lang ein Mädchen gesucht hat. Und die Unschuld geliebt. Und das Mädchen dann selbst auch unschuldig geliebt... Dass er sie so sehr liebte, dass er sie streicheln wollte, mit ihr schlafen wollte, das ändert nicht das Geringste an seiner Unschuld. Er wäre lieber gestorben, als sie zu berühren, wenn sie es nicht gewollt hätte...
Warum kennt Wolf die Zärtlichkeit? Durch seine Liebe zu dem Mädchen... Dem Mädchen, das er zwanzig Jahre lang erst suchen musste und doch schon da geliebt hat.
Wie können Erwachsene untereinander zärtlich sein? Sie müssen es wirklich wollen! Ein Mädchen will automatisch zärtlich sein. Es will nichts anderes! Und ein Mann will mit einem Mädchen auch nur zärtlich sein, nichts anderes – ich meine, niemals grob. Jedenfalls ein Mann wie Wolf. Es gibt auch andere Männer...
Und dann beschreibt dieses Mädchen mit einer ungeheuren Weisheit seines jungen Herzens, woran all die übrigen Beziehungen scheitern: an der Selbstbezogenheit der jeweiligen Partner. Berührend schildert sie den Dämon, der hier wirkt, und wiederum das heilige Heilmittel: wirkliche Unschuld... Unschuldige Hingabe an den geliebten Anderen:[139f]
Ihr könnt mich steinigen, weil ich die Emanzipation ,verrate’. Aber ihr steinigt mich ja sowieso schon mit euren Blicken. Jetzt, wo ich erwachsen bin, ist es auf einmal wieder etwas normaler, aber trotzdem steinigt ihr mich noch immer mit eurem unsichtbaren Kopfschütteln. Dabei verratet ihr die Seele, und ich kann nicht einmal den Kopf schütteln, weil ich das nicht kann, ich verstehe das nicht. Ich kann nur traurig zusehen. Wie es normal sein kann, die Seele zu verraten. Nicht einmal mehr zu verstehen, was ihr Heiligtum ist. Es nicht einmal mehr zu verstehen – geschweige denn, es zu lieben. Die Unschuld zu lieben...
Vorhin habe ich geschrieben: Was bleibt von der Liebe auf eigenen Beinen? Nichts – denn der Liebe dienen die Beine nur dazu, zum Anderen zu laufen, weil man nirgendwo anders hin will! Wenn man auf eigenen Beinen stehen will, sind einem die eigenen Vorlieben lieber als der Andere – das muss man sich mal eingestehen! Es muss völlig anders sein. Niemand steht so sehr auf eigenen Beinen wie Wolf. Aber dieser Wolf ist zwanzig Jahre lang auf seinen Beinen herumgelaufen, wirklich selbstständiger als jeder, jeder andere, und dann kam er zu dem Mädchen, das er all diese Zeit gesucht hat, und was taten seine Beine? Sie hörten auf zu laufen! Sie konnten nicht mehr laufen, sie wollten nicht mehr laufen! Und der liebe, alte, starke, weise Wolf – was tat er dann, als seine Beine nicht mehr laufen wollten, weil sie gefunden hatten? Er bat das Mädchen, auch nicht wegzulaufen. Er bat es, zu bleiben.
Für die Liebe muss man nicht auf eigenen Beinen stehen. Die eigenen Beine braucht man nur, um zueinander zu finden und zu kommen. Und dann braucht man sie nur noch, um beieinander zu bleiben. Von da an gehen die Wege ganz gemeinsam. Keine persönlichen Vorlieben mit Bruchstellen für die Liebe. Sondern ein Weg – ein gemeinsamer Weg. Der Wolf und das Mädchen...
In einem der letzten Kapitel gibt sie noch einmal eine sehr, sehr tiefe Lehre der Magie, die sie Wolf verdankt. Hier kann wirklich nicht alles wiedergegeben werden. Tief jedenfalls erlebt das Mädchen, dass es niemandem damit so ernst ist wie ihr und jenem Mann, den sie so sehr liebt.
Sie schließt ihr Tagebuch mit dem Versuch, zu beschreiben, wie sehr Wolf die Natur liebt, ihre abgrundtiefe Schönheit, und wie sehr auch sie ihm dies verdankt – dies ebenfalls erleben zu können:[160f]
Der Hauptpunkt ist, dass Wolf dies alles wirklich liebt. Und dass er zugleich nicht wie ein Lehrer durch die Natur geht. Er unterrichtet mich nicht. Er liebt alles so sehr – und wenn er sich neben eine Pflanze hinhockt, um sie genau zu betrachten und ihre Blüte sanft zwischen die Finger zu nehmen, dann bin ich schon neben ihm, weil mich seine Liebe so berührt und mich die Pflanze auf einmal genauso interessiert, und dann braucht er mir nur zärtlich und leise, weil ich direkt neben ihm hocke, meine Hand vielleicht auf seiner Schulter, meine Wange fast an seiner ... nur leise zu sagen: ,Siehst du, Naemi, und das ist eine Taubenskabiose.’ Und während ich noch die schönen rosavioletten Blüten bewundere, flüstert er aufgeregt, auf eine Nachbarblüte weisend: ,Und das, das ist ein Blutströpfchen!’ Und das ist dann ein wunderschöner rot-schwarzer Nachtfalter, auch Widderchen genannt. Ich liebe diese ganzen Namen! Ich liebe diese unendliche Schönheit und Vielfalt dieser unzähligen Arten! Und irgendwie hat alles, was ich durch Wolf kennenlerne, eine so besondere Bedeutung für mich. Ich kann nie wieder ein Widderchen sehen, ohne in so unglaublicher Liebe an Wolf zu denken – und dann liebe ich beide, auch das Widderchen...
Das Buch endet mit der Schilderung ihres allerglücklichsten Moments in der Natur, einem weiteren Moment der tiefsten Magie – und auch dieser kann hier nicht mehr wiedergegeben werden.
Magie ist aber das ganze Buch dieses Mädchens – es ist ein heiliges Lehrbuch wahrer Liebe in solcher Tiefe, dass sie den Kampf sogar mit Dämonen aufnehmen kann ... um als heilige Magierin der Unschuld sogar ihnen gegenüber siegreich zu bleiben...
An diesem Buch wird erlebbar, wieviel und was für ein Essenzielles die Welt verliert. Die Liebe zwischen diesem Mädchen und diesem Mann scheint ein belangloser Einzelfall zu sein – und doch offenbart sie, was in jeder Seele niemals verlorengehen dürfte. Niemals...