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Mädchenaufstand
Der Fünfziger Manuel Buchwald liebt schon sein Leben lang Mädchen. Als zahlreiche Mädchen angesichts der Klimakatastrophe die Schule verweigern, ist er tief berührt und unterstützt sie aus der Ferne nach Kräften. Die Reaktionen der Erwachsenen zwingen die Mädchen zum Aufgeben, doch die vierzehnjährige Mira, die ihn verzweifelt besucht und in die er sich zutiefst verliebt, entschließt sich, weiterzumachen – um die Menschen für die Dämonie des Kapitalismus insgesamt aufzuwecken... Ein erschütternder Roman, der das tiefste und reinste Empfinden der Seele berührt.
Dieser beginnt mit den Seelenerlebnissen des Protagonisten nach Überschreiten der Lebensmitte – die empfunden wird, ohne zu wissen, wann es eigentlich genau angefangen hatte...[8f]
Und so war es im Grunde sogar etwas Beruhigendes, etwas ganz real Friedenstiftendes, nicht zu wissen, wann etwas ,angefangen’ hatte. Wusste man denn, wann der Frühling angefangen hatte? Man sah immer nur die ersten Anzeichen, die man selbst wahrnehmen konnte – aber angefangen hatte es längst viel früher. Bevor der zarte Keim die Erde durchstieß, um in die Luft und ans Licht zu treten, hatte er längst heimlich und unter der Erde angefangen ... dorthin zu streben, wo man ihn dann letztendlich wahrnahm, ohne dass es ein Anfang war, denn dieser war längst geschehen, er lag ganz woanders...
Das Wunderschöne war also, dass Anfänge immer unsichtbar waren. Unsichtbar, unbemerkt, unbeachtet, gar nicht erfassbar – sondern enthoben. Sie waren dem Verstand enthoben, der Verstand konnte sie nicht fassen, buchstäblich und in mehrerer Bedeutung, er konnte sie nicht fassen, sie waren enthoben in ein eigenes Reich. Das Reich der Anfänge... Still und heimlich. Zart und unsichtbar. Unschuldig und verletzlich... Und eben doch siegreich und unerschütterlich. Niemand konnte einen Keim vom Wachsen abhalten. Und niemand konnte die zweite Lebenshälfte, ihren Beginn, aufhalten. Sie kam leise und unerkannt, ohne dass je jemand hätte sagen können: Siehe, hier! Oder siehe dort! Nicht nur der Geist wehte, wo er wollte. Alle wahren Geheimnisse waren un-fassbar.
Angesichts einer Welt, die trotz aller schlimmen Dinge immer weiterrollte, nimmt er das Äußere teilweise zunehmend als Kulisse wahr:[10f]
Schleichend war es dahin gekommen, dass er sich der perfekt funktionierenden Straßenbeleuchtung bewusst wurde. Aber dies war nur ein Symptom. Er wurde sich tausenderlei Dinge bewusst – weil alles leise, unaufhaltsam, längst schon geschehen, Kulisse wurde. Und damit Wirklichkeit. Neue Wirklichkeit. Er fragte sich nach dem Sinn – weil er die Sinnlosigkeit erkannte.
Es war eigentlich eine uralte Erkenntnis. Jeder sprichwörtliche Marsbewohner hätte sie haben können. Die Menschen irrten umher, taten unendlich sinnlose Dinge – und schliefen tief und fest. Und die Straßenbeleuchtung funktionierte... Es war alles so tadellos auf Kulisse getrimmt...
Er war nie in seinem Leben Sarkastiker gewesen, war es auch jetzt nicht. Er hatte Sarkasmus immer gehasst – als etwas Untermenschliches. Und so war es gerade diese Liebe zum wahrhaft Menschlichen, die ihn erkennen ließ, wie fern die Welt, die Verhältnisse diesem Menschlichen waren. Es war einfach nicht einmal in einem Hauch erreicht, wenn man es ernst nahm. Und er hatte dies natürlich all die Jahre gewusst und lebendig empfunden. Was jetzt hinzukam, war keine spezielle Erkenntnis, es war ... eine Resignation.
Dies gerade war das Neue, das der Trauer so Verwandte, das geradezu Weiche, erstaunlicherweise regelrecht Friedvolle. Resignation... War sie nicht sogar der Weisheit innig verwandt? ,Alles ist eitel...’? Zu erkennen, dass sich der Mensch niemals änderte...? Dass er immer weiter schlafen würde? Nicht als unabweisliches Schicksal, aber als eben doch hinzunehmende Realität? Ein Ende der Illusionen, des Träumens, der idealischen Hoffnungen? Ein Ende war es nicht, aber eben doch eine Resignation. Genau dies: Ein ,Ich werde es wahrscheinlich nicht mehr erleben...’
Und so wurde die Straßenlaterne, jede von ihnen, mehr und mehr zu einer Kulisse. Warum funktionierst du so gut? So perfekt... Ist es dir nie eingefallen, zu streiken? Auszufallen. Deinen Dienst zu versagen? Eigenleben zu gewinnen? Nicht mehr zur Verfügung zu stehen, verfügbar zu sein wie eine Sklavin...? Welchen Weg leuchtest du den Menschen eigentlich? Den Weg nach Hause? Wo ist das? Den Weg in den nächsten Supermarkt? Zu dem nächsten Weihnachtsmarkt – die in wenigen Tagen beginnen würden? Womit täuschst du die Menschen diesmal?
Diese Erlebnisse und Empfindungen hat er während eines abendlichen Spaziergangs an einem kalten Novembertag. Hinzu kommen Gedanken an das nie gelebte Leben von Menschen:[11f]
Und was war nun Realität? Das Leben, das man lebte? Aber vielleicht war die höhere Realität ja dasjenige Leben, das man nie gelebt hatte... Was war mit all den gestorbenen oder meist ja lebenslang sterbenden Träumen, den enttäuschten und langsam begrabenen oder fortwährend begraben werdenden Hoffnungen? Wer zählte diese, wer erinnerte sich ihrer, wer baute ihnen Denkmäler, lebendige, aufrichtige, trauernde Denkmäler? Weinende Engel, die aber Realität waren...? Wer verzeichnete, bezeugte jene Wirklichkeit der Seelen, wer hielt sie fest, wer beachtete sie überhaupt?
Dann wendet sich diese innere Besinnung den konkreteren Umständen zu, etwa den ,Wutbürgern’, dem Verfall der Seele ins Äußerliche, Objekthafte, ins Digitale, dann der Politik:[16]
Ja... Vielleicht hatte es damals angefangen. Damals endgültig. Als Corona keinerlei echte Aufarbeitung erfuhr, als der Krieg ohne jede Friedensvision beantwortet wurde. Als die Energiepreise explodierten, und man nichts Besseres zu tun hatte, als unendlich teures Flüssiggas aus dem fernen Amerika nach Europa schiffen zu lassen und dafür zu gigantischen Preisen neue Terminals zu bauen. Als Katar die WM ausrichtete. Als man Arbeitslose in Deutschland weiter stigmatisierte, obwohl man versprochen hatte, genau dies zu beenden – und als sie fast in derselben Weise zu Sklaven wurden, wie man es Katar vorwarf. Als der Sommer heißer war als jemals zuvor – und die große internationale Klimakonferenz dem Ernst der Lage erneut kaum gerecht wurde. Und als junge Menschen, die sich angesichts der Katastrophe an Kunstwerken und auf Straßen festklebten, zu kriminellen Verbrechern gestempelt wurden.
In diesen langen inneren Erlebnissen erweist sich der Protagonist als eine Seele mit tiefsten Gedanken und Idealen, mit Wahrhaftigkeit und einer Menschenliebe, die aber immer wieder an der Realität scheitern musste...
Dann stößt er im Laufe des nächsten Tages auf einen Blog-Artikel, der ihn bis ins Innerste trifft:[26]
Die Überschrift war typisch ,modern’: ,FFF war gestern – Greta Thunberg 2.0’. Er spürte noch, wie sich in ihm akute Abneigung regte, gegen diese Computersprache, die alles entseelte; die es modern erscheinen ließ, aber absolut tot war, die nur den intellektuellen Hochmut jedes Einzelnen nährte und doch nur die Armseligkeit der Seelen bezeugte ... und wie er noch dunkel erinnerte, dass ,FFF’ natürlich für ,Fridays for Future’ stand ... aber dann hatte ihn der Artikel bereits in seinen Bann geschlagen...
Denn der kleine Bericht handelt von einigen Mädchen, die sich laut Kurzmeldung des ,Mannheimer Morgen’ zu einem generellen Schulstreik entschlossen hätten, wobei aber bereits Gespräche mit Schulleitung und Eltern liefen und auch die Schulbehörde schon informiert sei. Der Blog-Artikel ist jedoch ganz auf der Seite der Mädchen. Während der Stil des Berichts den Protagonisten trotz allem abstößt, ist er vom Inhalt tief berührt – und nun wird auch deutlich, warum:[28f]
Er wusste nicht, wie lange er schon Mädchen liebte. Irgendwann hatte er es einfach bemerkt, dann lange damit gerungen, aber er konnte es nicht leugnen. Und dann hatte er es einfach akzeptiert. Mädchen waren für ihn die schönsten Wesen auf der Welt. Dies hatte sich einfach nicht geändert, als er erwachsen wurde. Es war eine gleichsam organische Entwicklung gewesen.
Oh ja, sicher hatte er sich auch als Junge für diese oder jene erwachsene Frau interessiert, die zumindest in der Fantasie versprach, alle noch bestehenden Geheimnisse zu enthüllen – solche Fantasien hatte wohl jeder Junge. Die erfahrene Frau, von der man lernen konnte, was das innerste Geheimnis war ... das selbst auf Fotos nicht zu enträtseln war...
Aber dies war nur eine Phase gewesen. Er wusste selbst nicht mehr, wie lange sie eigentlich gedauert hatte. Als er selbst erwachsen geworden war, achtzehn oder neunzehn, vielleicht auch zwanzig, war sie im Grunde wieder vorbei gewesen. Attraktive Frauen zogen ihn auch danach noch ab und zu an. Vor allem aber waren es Mädchen – und immer mehr wurden sie es ausschließlich. Mädchen mit ihrem lebendigen Lachen. Mädchen mit ihren verführerischen Haaren, mit ihrer zarten Gestalt, mit ihrer noch zart wachsenden Brust. Mädchen mit ihrer ganzen Verletzlichkeit. Mädchen mit ihrer Ausstrahlung von Unschuld und Anmut... Solche Mädchen. Solche Mädchen wurden sein tiefes, letztlich unerreichbares Ideal. Er verehrte sie grenzenlos – und sprach sie nie an...
Denn das Problem entstand schon sehr früh: Wie sollte man als Neunzehnjähriger ein vierzehnjähriges Mädchen ansprechen? Oder als Zwanzigjähriger ein fünfzehnjähriges? Die siebzehnjährigen Mädchen waren ihm bereits zu selbstständig gewesen – im Grunde gar keine Mädchen mehr. Es war ihm nie darum gegangen, sich ,stark’ zu fühlen, das vielleicht auch, aber allenfalls als völliger Nebenaspekt, denn auch er war still, empfindsam, fast scheu gewesen, und neben einem ,starken’, ,selbstbewussten’ Mädchen wäre er regelrecht untergegangen, ganz zu schweigen davon, dass ein solches sich für ihn niemals interessiert hätte und hatte.
Nein – es war ihm ganz direkt um die Unschuld der Mädchen selbst gegangen. Nicht, um sie zu beherrschen. Er bewunderte diese Unschuld einfach grenzenlos. Wo sie noch vorhanden war. Und sei es nur ansatzweise. Jedes Mal bewunderte er sie, verliebte sich hilflos – und tat doch nichts... Scheue, sehnsuchtsvolle Bewunderung. Das war immer alles gewesen. Und schon mit einundzwanzig war es dann endgültig chancenlos gewesen, auch nur daran zu denken, ein vierzehnjähriges Mädchen vielleicht einmal ansprechen zu können...
Deutlich wird auch unmittelbar, dass eine solche Mädchenliebe fast der einzige Weg war, das Eigene der Mädchen wirklich zu empfinden und sie nicht fortwährend abzuwerten:[29f]
Denn das war es, was er immer wieder beobachtete. Der Artikel war ein hervorragend typisches Beispiel. Die meisten würden die Abwertung überhaupt nicht bemerken – denn sie waren ja genauso. Am Ende ging es dann nur noch ganz locker-lässig um die ,Mannheimer Mädels’, und die Sache war abgehakt – und der Autor klopfte sich wahrscheinlich sogar selbst auf die Schultern, dass er diesen ,Mädels’ doch sogar noch eine Bühne geboten hatte.
Und selbst, wo die Abwertung nicht subtil-verbal erfolgte, waren Mädchen oder Mädels doch einfach noch nicht ernst zu nehmen. Ein vierzehnjähriges Mädchen! Was war das schon?! Ein Nichts – noch ein völliges Nichts. Sollte erstmal erwachsen werden. Lernen, nicht so blöd zu kichern, jedenfalls nicht mit Zahnspange, sich ernsthaft aufs Abi vorbereiten, und wenn sie dann nach einem Tanzkurs den Abiball bestanden hatte, konnte man langsam anfangen, sie ernst zu nehmen. So dachten doch insgeheim die Leute!
Er mochte übertrieben haben, absichtlich, aber doch nur, um die eigentliche Denkweise einmal plastisch zu machen. Selbst wenn Menschen gar nichts dachten, nahmen sie ein Mädchen nicht ernst – es war einfach noch nicht wirklich existent. Existent waren erst die Erwachsenen. Man kannte diese Haltung doch: ,Stoß dir erstmal die Hörner ab.’ Oder: ,Ja, so war ich früher auch, das gibt sich dann irgendwann...’ Oder die Standardfrage: ,Weißt du schon, was du werden willst?’
Die Menschen waren so unglaublich blind... Sie erkannten nicht mal, wenn sie jemanden kleinmachten, herabsetzten, nicht ernst nahmen. Sie dachten sogar, sie nähmen das Mädchen in genau diesem Moment ernst, weil sie so ,erwachsen’ mit ihm sprachen! Aber das Gegenteil war der Fall. Sie nahmen es nicht ernst. Sie begriffen nicht, wie idiotisch und albern sie sich verhielten – sie, die Erwachsenen!
Er denkt an die sechs streikenden Mädchen und kann sich genau vorstellen, was bereits geschieht – wie sie von den Erwachsenen traktiert werden, um wieder ,zur Vernunft zurückzukehren’. Man würde sich um die Mädchen ,bemühen’, viele Gespräche führen, eigene Lebenszeit opfern – bis der Exorzismus Erfolg haben würde. Denn streikende Mädchen waren ja gleichsam von Dämonen besessen, schlimmer als die ,Klima-Kriminellen’, die sich irgendwo festklebten. ,Diese Mädchen aber sabotierten in ihrer Unvernunft das Kernstück jeglicher Sozialisation schlechthin!’
Immer tiefer zeigen seine Gedanken, wie kein Einziger diese Mädchen wirklich ernst nimmt. Der Protagonist weiß selbst, dass man ihn umgekehrt abfällig für einen ,Mädchenversteher’ halten würde – womit sich der Kreis schloss:[33f]
Und wer Mädchen ,verstand’, zu verstehen meinte, der bewies damit eben auch nur, dass er noch nicht erwachsen war – nicht wirklich, irgendwo stehengeblieben. | Hier wurde dann praktischerweise gleich noch das Tabu mitzementiert. Denn wer ein Mädchen liebte, war per Definition auch selbst noch nicht ganz erwachsen. Überhaupt würde er ja sonst Frauen lieben. Wer also Mädchen liebte, war irgendwo innerlich zurückgeblieben, wahrscheinlich auch seelisch-geistig, jedenfalls war so etwas wie Mädchenliebe, auch wenn man es nicht direkt so sagte, doch eigentlich eine Geisteskrankheit, ein Schaden, ein echter Schaden, umgangssprachlich.
Die weiteren inneren Gedanken und Empfindungen machen jedoch sehr deutlich, dass es um die Frage geht, ob die Seele noch echte, tiefe und aufrichtige Ideale haben kann oder deren Realität gar nicht mehr kennt... Und nur mit diesem lebendigen Idealismus konnte man auch empfinden, dass das scheinbar ,Kleinere’ gerade das Höhere sein konnte:[37]
Für ihn war es gerade ein Gütezeichen, dass ein Mädchen noch ,klein’ war – kleiner eben als ein Erwachsener, aber nur von der Größe her. Liebte man nicht auch Diamanten dann am meisten, wenn sie noch klein waren? Wer würde einen Diamanten wirklich lieben, der mehrere Zentimeter groß war? Seelisch gesehen würde er dadurch gerade allen Wert verlieren. Und waren nicht auch zarte Kirschblüten viel berührender als riesige Sonnenblumen-, Amaryllis- oder Hibiskusblüten?
Das noch Zarte, noch ,Unfertige’ der Mädchen war für ihn gerade das Höhere. Menschen degenerierten geradezu, wenn sie erwachsen wurden – jedenfalls war es bei Mädchen so. Weil Mädchen leuchteten ... und nur sie. Gegen diese Erkenntnis verwehrte man sich, indem man das Erwachsene als ,weiter entwickelt’ definierte, dabei entwickelte man sich zurück. Es waren die Mädchen, die weiter entwickelt waren – und sie bewiesen es schon durch ihren zarten Protest, während die Erwachsenen brav die Rädchen der Maschine spielten ... und es auch den Mädchen schon ,beibringen’ würden, indem sie sie zerstörten. Samt ihrem Leuchten...
Mädchen waren das Höhere. Sie trugen noch eine Unschuld in sich, die sich später überall verlor. Am meisten unter anderem übrigens bei den ,alten weißen Männern’, die das ,C’ im Namen verhöhnten und missbrauchten. Denn hatte nicht Christus die vollkommene Unschuld gebracht? Und hatte ihn nicht ein Mädchen empfangen...? Würde man all dies nur einen Moment lang ernst nehmen – der Kapitalismus müsste von innen heraus zerbrechen, an seinen eigenen Sünden, seiner eigenen Leere... Aber man nahm es nicht ernst – wie man die Mädchen nicht ernst nahm. So auch Christus nicht, und so auch die Unschuld generell nicht. Allenfalls auf eine süßlich-nostalgische, heuchlerische Art, die ihn jedes Mal fast erbrechen ließ. Die Seelen waren mit Verrat regelrecht durchtränkt. Und für die meisten galt das Christus-Wort: ,...vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun’.
Der Mann schickt einen Leserbrief an die Zeitung, schreibt auf seiner eigenen Webseite einen längeren Artikel und sucht weiter nach Meldungen über die Mädchen. Drei Tage später entdeckt er eine zweite kleine Zeitungsmeldung, dass sich auch an einer anderen Schule vier Mädchen zu einem unbegrenzten Streik entschlossen hätten. Sein Herz hüpft geradezu vor Freude, und er malt sich erneut die ganzen konkreten Bedingungen aus – aber eben auch, wie durch wenige Schritte alles bereits erstickt werden kann, sogar weitere Meldungen...
Am Wochenende entdeckt er dann einen Wordpress-Blog der Mädchen selbst. Dieser löst in ihm Gedanken über das Verhältnis von ,kämpferisch’ und ,unschuldig’ aus. Die Mädchen versuchen natürlich, an eine Öffentlichkeit zu appellieren und diese auch entsprechend zu informieren – aber die Gefahr ist dabei stets, dass sie auf diese Weise ihr Eigenstes verlieren: das Berührende... An seine Stelle tritt dann etwas letztlich ganz Austauschbares, das so gesehen auch gar keine Individualität mehr hat, jedenfalls nichts Berührendes. Es wird bloße Botschaft, ist aber nicht mehr Seele.
Ausführliche Gedanken über die moderne ,Coolness’ und ihre Geschichte, über den Feminismus und dessen ganzen Ansatz folgen. Denn sowohl die Coolness als auch der gegenwärtige Feminismus bekämpften das Feminine – damit aber das Seelische selbst:[46f]
Feminin bedeutete berührend. Und warum? Weil das Feminine nicht vor dem Schwachsein floh. Und warum dies nicht? Weil es den modernen Kult um das Stark-sein-Müssen nicht mitmachte. Einen Kult, den die Feministinnen übrigens kräftig mit angefeuert hatten. Feminine Frauen machten dies einfach nicht mit. Und gerade darum hatten sie oft so viel Seele. Erstens, weil sie die primitiven Dogmen durchschauten. Zweitens weil sie empfindsam waren und gerade diese Seite in sich auch zuließen, statt sie zu verdrängen.
Und sie berührten, weil sie sich nicht schämten, schwächer zu sein, im Gegenteil. Aber es kam noch viel mehr hinzu. Das Feminine war ein ganzes Reich. Denn auch die Seele war eine ganze Welt. So, wie das Coole ein absoluter Widerspruch zum Femininen war, so war es auch das Unbescheidene, das Ehrgeizige. Hinter dem Femininen stand ein ganzes, berührendes Ethos.
Genau das machte es den Feministinnen so verhasst. Sie hatten jahrhundertelang die zweite Geige gespielt – weg damit! Jetzt konnten auch Frauen Managerinnen werden, Dirigentinnen, Chefärztinnen... Er bezweifelte das gar nicht. Er wartete nur auf jene Zukunft, in der auch die Chefärztinnen und Managerinnen feminin sein würden – denn dann wäre erneut das Ende des Kapitalismus gekommen... Was dagegen jetzt geschah, war nichts weiter als eine Fortsetzung der männlichen Doktrin mit anderen Mitteln. Frauen, die ihren Mann standen. Welch eine Ironie...!
Weitere Gedanken machen sehr deutlich, dass es nicht um das Dominierbare geht, sondern um die Reinheit der Seele: ,Die Feministinnen verwechselten also Ursache und Wirkung. Die schüchternen Mädchen waren dominierbar – aber man liebte sie nicht deswegen, sondern wegen ihrer Schüchternheit, hinter der eine unglaubliche Seelenreinheit stand. Eine Unfähigkeit, je selbst zu dominieren.’ Aber gerade solche Mädchen wurden heute bereits von ihren eigenen Geschlechtsgenossinnen verspottet... ,Guck mal die, wie uncool! Was für ein peinliches Schneewittchen...’ Dabei war die Seelenreinheit das Einzige, was diese Welt retten konnte...
In der beginnenden Adventzeit schließen sich Gedanken über den Christusimpuls und das Christuswesen an, denn auch die Mädchen hatten auf ihrem Blog geschrieben, dass sie so, wie die Welt war, nicht Weihnachten feiern könnten... Es erweist sich, dass der Protagonist mit der Christengemeinschaft verbunden gewesen war, sich dieser aber ebenfalls schleichend entfremdet hatte:[58]
Daran waren die Feministinnen ,schuld’ – und die Mädchen... Beide? Ja, beide. Denn der Gott war auch in der Christengemeinschaft ein männlicher, nicht nur grammatikalisch. [...] Als die ganze Gender-Frage wirklich massiv aufkam – es war noch gar nicht so viele Jahre her –, da war ihm dies endgültig bewusst geworden. Da hatte er nicht mehr die Augen davor verschließen können, dass dies alles ein Unding war. Dass man die göttliche Dreieinigkeit nicht zweitausend Jahre lang und noch immer männlich kodieren konnte! Warum hatte Rudolf Steiner diese Unmöglichkeit nicht gesehen? Warum hatte er da einfach weitergemacht? Weil man sich sonst gar nichts mehr hätte vorstellen können? Aber wäre das nicht viel besser gewesen? Viel zukunfttragender?
Für den Protagonisten hat das Christuswesen eine innigste Nähe zum Wesen gerade des Mädchens. Und das Christentum würde keine Zukunft haben, wenn man ,es nicht schaffte, zu erleben, wie dieses Wesen einen aus den Augen eines Mädchens anblickte, eins mit ihr, wie es einst eins mit Jesus geworden war... Eins mit ihr...’
Um den Mädchen Mut zu machen, schreibt er ihnen, macht sich auch selbst immer weiter Gedanken zum Verhältnis zwischen seinem reinen Ideal und der Moderne, denn auch die heutigen Mädchen waren ja ,modern’... Er denkt nach über Cancel-Kultur, Diskriminierung, Intellektualisierung, die tiefe Schuld des Mannes an der immer stärker gewordenen Herrschaft des Intellekts... Und immer wieder kehrt er zum Wesen des Mädchens zurück, zu jenen reinen Herzen, die es immer weniger gab:[73]
Auch diese Mädchen hatten sich anzupassen. Sie mussten gecancelt werden. Ihr reines Fühlen war so unerwünscht, dass sich überall, wo es sich offenbarte, peinliches Schweigen ausbreitete – und man schnell zur Tagesordnung überging, als hätte ein Querdenker eine Bemerkung gemacht. Ein solches Mädchen wäre das Gegenteil eines Querdenkers, aber der Effekt war der gleiche: Diese Mädchen hatten keine Daseinsberechtigung in dieser Welt. Er musste an ein Bibelwort, ein Christuswort denken: ,Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.’ Und das Mädchen auch nicht.
Diese Mädchen waren zu gut für diese Welt. Jeder Einzelne hatte sein wahres Wesen so sehr verraten, dass die Welt eine Gestalt angenommen hatte, dass sie keine Engel mehr tragen konnte – obwohl einstmals vielleicht jeder Einzelne ein Engel hatte sein sollen ... und das Zukunftwort, das leise in die Gegenwart sich trug, noch immer dieses Ziel bedeutete. Aber wer sprach es? Christus und ... die Mädchen...
Auf der Webseite der Mädchen entdeckt er neue Einträge, der Streik weitet sich aus. Aber wieder zweifelt er, da die Mädchen erneut gleichsam ihre ,Follower’ informiert halten wollen, worüber sich so unendlich viel von ihrem Eigentlichen verliert. Dann aber entdeckt er auch ein Video von zwei sich gegenseitig interviewenden Mädchen, und hier offenbart sich ihm auf einmal tatsächlich noch jenes Wesen des Unschuldigen und Aufrichtigen – und eines der beiden Mädchen nimmt immer mehr sein ganzes Herz ein. Schließlich muss er ständig an sie denken...
Er schreibt der Webseite der Mädchen erneut, verfolgt den sich weiter ausweitenden Streik mit tiefer Anteilnahme und macht auch in seinem kleinen Bekanntenkreis auf die streikenden Mädchen aufmerksam – doch die Reaktionen offenbaren die Realität: ,Der eine verbuchte seine Mitteilung auch wieder nur unter seiner ,Vorliebe’ für Mädchen, ein anderer meinte, das würde sowieso bald wieder eingehen, selbst ,Fridays for Future’ sei es ja so gegangen. Nur ein dritter bedankte sich und fand diesen Impuls uneingeschränkt großartig. Andere antworteten nicht so schnell – oder vielleicht auch gar nicht...’
Schließlich berichtet sogar die ,Frankfurter Rundschau’ – allerdings konservativ und staatstragend. Scheinbar neutral und objektiv informierte sie über die drohenden Strafen, spricht zumeist von ,Kindern’ und so weiter. Nochmals schreibt er den Mädchen, um sie zu unterstützen und ihnen die Mechanismen der Berichterstattung erlebbar zu machen. Er nimmt an dem Schicksal der Mädchen und ihres Protestes so viel Anteil, dass der tägliche Besuch ihrer Webseite für ihn fast etwas Heiliges wird, das Wesentliche jedes Tages.
Dann stellt sich sogar ein bekannter YouTuber auf die Seite der Mädchen – und erneut erlebt der Protagonist den Zwiespalt zwischen innerer Aufrichtigkeit und der Form der Coolness, die alles durchdringt und verfälscht... Dasselbe empfindet er, als sich die Mädchen plötzlich ,Klima-Rebell*innen’ nennen. Dennoch weitet sich der Protest immer weiter aus. Er schreibt den Mädchen erneut einen langen Brief und versucht, Ihnen etwas von dem verständlich zu machen, was er fortwährend innerlich bewegt und empfindet – etwas von der Frage nach dem Wesen eines Mädchens und nach dem in der Gegenwart drohenden Seelentod...
Ein weiterer Artikel der ,Frankfurter Rundschau’ behandelt die Mädchen fast wie Kriminelle, degradiert sie zu ,Fällen’, und ein sich anschließender Meinungsartikel vervollständigt die ,Gehirnwäsche’, indem er Realpolitik und naive Mädchen, die erpresserisch zu streiken beginnen, einander gegenüberstellt. Wieder taucht der Protagonist ein in lange Gedanken zu gesellschaftspolitischen Hintergründen und zu dem berührenden Wesen der Mädchen, zu ihrer unmittelbaren Nähe zu dem ätherischen Christus, zur Sphäre der Auferstehung.
Am nächsten Tag entdeckt er den Artikel eines progressiven ,Lifestyle’-Magazins, eine Reportage über die Mädchen, die ihn durch ihre Authentizität zutiefst berührt:[162]
Die Schreiberin hatte längst sein Herz gewonnen. Es gelang dieser Frau, die eine große Empathie besitzen musste, wirklich die ganze Stimmung einzufangen, im Grunde das Seelische, die Seele – er spürte Seele! Die Seelen der Mädchen. Er spürte alles... Und bei dem letzten Satz des Mädchens, das hier ,Frauke’ hieß – alle Namen waren geändert –, bei diesem letzten Satz wurde sein Herz so tief berührt, dass er es geradezu physisch spürte. Für einen Moment hörte alles bloß Schriftliche auf, und alles verwandelte sich vollständig in reine Seele. ,Wir mussten das tun...’ Es war, wie wenn das Mädchen unendlich anwesend war – ja, wie wenn man in diesem Moment überhaupt erst begreifen würde, wie anwesend man selbst sein konnte, wie ... kommunionsfähig. Wie groß konnte die Hingabe der eigenen Seele sein, um spüren zu können, was ein Mädchen hier sagte...?!
Schließlich erscheinen sogar verhalten-wohlwollende Kritiken in zwei anderen großen Tageszeitungen. Die Sache der Mädchen scheint Fahrt aufzunehmen. Es kommt sogar zur Einladung eines Mädchens in eine Talkshow. Der Protagonist fürchtet hier das Schlimmste, eine völlige Entlarvung der angeblichen ,Naivität’ der minderjährigen Mädchen, aber ein ebenfalls eingeladener Protestforscher gibt ein eher schwaches Bild ab, und das Mädchen gewinnt die Herzen des Publikums. Die Sendung bekommt ein ziemliches Presseecho, wobei konservative Zeitungen kein gutes Haar an der Moderatorin oder den Mädchen lassen.
Dann aber nimmt das Geschehen eine abrupte Wende, denn die Abendnachrichten berichten, dass die baden-württembergische Kultusministerin und ihre hessische ,Amtskollegin’ die Schulverweigerung der Mädchen als schlechtes Vorbild und kontraproduktive Protestform scharf zurückwiesen und die betreffenden Eltern dazu aufriefen, mit allem ,gebotenem Einfluss’ auf ihre Kinder einzuwirken, das unentschuldigte Fehlen noch vor Beginn der Weihnachtsferien zu beenden. Und selbst der Kanzler wird für einige Worte interviewt und bestätigt, man lasse sich nicht erpressen, die Schülerinnen sollten ihre Aktion beenden.
Der Protagonist ist schockiert und schreibt den Mädchen unmittelbar. Er macht ihnen grenzenlosen Mut – und entlarvt die Techniken, mit denen man sie bekämpft, bis auf den Grund. ,Die innerlich reifsten Mädchen würden ganz gewiss auch selbst spüren, wie die Dinge funktionierten, aber kein Mädchen, das zugleich noch Unschuld in sich trug, konnte bereits das volle Ausmaß begreifen. Er wusste, dass alle Mädchen, die sich für die Rettung der Welt einsetzten, viel zu gut für diese Welt waren...’ Als er anschließend an die frische Luft geht, ist ihm trotz allem klar, dass die Sache der Mädchen verloren ist:[215]
Die Kräfteverhältnisse waren nicht auf Seiten der Mädchen. Die Behörden, die Ministerinnen und der Kanzler – sie alle waren klug genug gewesen, sie hatten früh genug reagiert. Die Mädchen hatten keine Chance, weil sie noch nicht stark genug gewesen waren. Man hatte sie im Zustand ihrer Zartheit erwischt – ihre zarte Aufrichtigkeit war noch zu machtlos, die Seelen der Menschen zu erreichen und zu heilen. Und schon war der Keil zwischen die Mädchen und die übrigen Seelen getrieben. Die Dämonen hatten längst zugeschlagen...
Völlig klar ist dem Mann, dass hier in Wirklichkeit übersinnliche Mächte einen Kampf kämpften, von dem materialistische Seelen nicht das Geringste wussten – obwohl sie sich selbst instrumentalisieren ließen. Der wirkliche Kampf war der zwischen Intellekt und Unschuld, zwischen anonymer Abstraktheit und dem wahren Menschenwesen...[217f]
Voller Vertrauen hatten sich diese Mädchen mit dem System angelegt, in einer geradezu heiligen Naivität daran glaubend und mit reinen Herzen darauf hoffend, dass dann doch durch eine geheimnisvolle Harmonie auch alle übrigen Seelen die Stimme ihres Gewissens wiederfinden würden, um, gleich wie sie, das Wahre und Gute zu erkennen und ihm liebend zu folgen...
Und dieses heilige Vertrauen, das ganz eins war mit ihrem noch so unschuldigen Gewissen ... wurde nun mitleidlos und ohne weitere Regungen erstochen. Mit perfekt abgezirkelten Worten, in Anzug und Krawatte. Es floss kein Blut, es floss etwas viel Heiligeres: übersinnliche, zarte, reine Gewissenssubstanz aus Mädchenherzen. Und damit verbunden doch auch Blut: das heilige Blut des Christuswesens... Es floss auch hier. Gerade hier...
Der Protest der Mädchen bricht zusammen, drei Tage vor Weihnachten schreiben sie auf ihrer Webseite gleichsam einen Abschiedsgruß, danken noch einmal ganz besonders dem YouTuber Junko und der Interviewerin des einen Magazins, Nora Zeilinger. Der Mann ist erschüttert, weint reale Tränen um das Schicksal der Mädchen...[221]
Für drei Wochen hatten Mädchen die Welt erobert – mit ihrer Anmut, mit ihrem Leuchten, ihrem Wesen ... für drei Wochen waren Engel auf Erden gewandelt ... und hatten jeden an sein eigenes leuchtendes Inneres erinnert, wie vergeblich auch immer... Drei Wochen lang hatte die Offenbarung gedauert. Das Christuswesen war drei Jahre auf Erden gewandelt ... die Mädchen hatten sich drei Wochen lang offenbaren dürfen ... und waren dann genauso gekreuzigt worden... Und während alle zumindest noch dem Namen nach die Geburt Jesu feierten ... würden die Mädchen ihre Grablegung erfahren...
Er selbst weiß nicht, wie er Weihnachten feiern soll, am Ende schmückt er den heiligen Baum dann doch. ,Das war er selbst den Mädchen schuldig... Sie hatten ein schönes Fest gewünscht – und im Grunde war es ihr Schmuck...’
Und dann ruft, am Morgen des Heiligabend, ein Mädchen an:[230]
„Ja?“, meldete er sich ziemlich kurz angebunden.
,Herr Buchwald?’
Es war eine Mädchenstimme – der Erkenntnis erschütterte ihn bis ins Innerste, blitzartig, fast wie ein Schock.
„Ja?“, fragte er freundlich noch einmal, tief verwirrt...
,Hier ist ... also ich bin ... Mira. Ähm ... ich ... also ich wollte sie mal anrufen, weil ... weil sie uns ... so oft und so lieb geschrieben haben... Ich meine ... ich bin eine von den Mädchen, wissen Sie...?’
Er war nicht weniger unsicher als dieses Mädchen – er stand noch immer unter Schock, dass er angerufen wurde!
„Woher ... woher hast du meine Nummer?“, fragte er, fast ohne Kontrolle über seine eigenen Worte.
,Von ihrer Webseite...’, sagte die Stimme des Mädchens am anderen Ende. , Störe ich gerade? Das, ähm ... das wollte ich nicht...’
„Nein, du störst gar nicht!“, beeilte er sich zu erwidern. „Ich war nur ... nur so erstaunt, weil ... meine Webseite hatte ich ganz vergessen...“
,Ja, doch ... da steht sie...’, sagte das Mädchen unsicher.
Irgendwie verliebte er sich schon in ihre Stimme...
„Und was willst du?“, fragte er sehr freundlich, fast behutsam.
,Ähm ... also vielleicht ... vielleicht finden Sie das ja komisch, aber ...’ Er hörte ein leises Ausatmen am anderen Ende. ,Aber ich wollte Sie mal fragen, ob ... ob ich Sie besuchen könnte... Ich weiß ja nicht, was sie ... nach Weihnachten vorhaben, vielleicht sind Sie ja gar nicht da... Aber ... vielleicht ja doch...’
Das Mädchen ist entschlossen, ihn zusammen mit einer Freundin – eine Auflage ihrer Eltern – am dritten Weihnachtstag zu besuchen und dann bei einer Tante zu übernachten. An diesem Tag ist er regelrecht bis zu einer inneren Verwirrung nervös:[233]
Er hatte noch viel Zeit, es war gerade erst ein Uhr... Also ging er nach draußen. Die kalte Luft tat seiner Verwirrung gut. Aber sie hob sie nicht auf.
Das Mädchen hatte ihn ... wegen seiner ,lieben Briefe’ angerufen? Wollte ihn deswegen besuchen? Vielleicht um sich doch noch dafür zu bedanken? Aber da war mehr gewesen ... auch ein eigenes Bedürfnis ... ganz deutlich. Sonst würde so ein schüchternes Mädchen sich nicht auf so eine Reise machen – sogar gegen die Bedenken ihrer Eltern.
Was würden ihre Fragen sein? Aber was auch immer ... ihre Stimme ... und ihre ganze Art hatten ihn schon jetzt berührt. Mehr als das. Es war wahr. Er hatte sich im Grunde schon in ihre Stimme verliebt ... und die Stimme offenbarte so viel von dem Wesen! Immer. Sie war eins mit diesem Wesen... Mira... Wer war Mira... Sogar ihr Name war wie ein Geheimnis. Und wie ein Wunder. Und wunderschön ... wie ihre Stimme...
Als die Mädchen ihn dann besuchen, schockiert ihn zusätzlich der Umstand, dass Miras Begleiterin jenes Mädchen aus dem Video ist, in das er sich ursprünglich verliebt hatte – aber Mira berührt ihn noch unendlich stärker. Er empfängt die Mädchen mit einem vorbereiteten Brokkoli-Auflauf:[244f]
Er sah, wie das vielleicht ein halbes Jahr ältere Mädchen dem jüngeren auftat – ein wenig unbeholfen, aber so wunderschön... Wie konnte bei einem Mädchen selbst das Unbeholfene eine Vollkommenheit sein? Jetzt tat es sich selbst auf. Und das Verheerende war – sie war das Mädchen aus dem Video...! Aber wenn dies schon verheerend genug gewesen wäre ... sie war nur die Begleitung des jüngeren Mädchens... Und dieses war nun wahrhaftig schön... Vielleicht nicht grenzenlos schön – aber in jedem Fall wunderschön ... und vielleicht war es gerade das Wunder, dass es bei einem Mädchen Unvollkommenheit gar nicht gab, dass jegliche Schönheit bei einem Mädchen immer wieder den Anschein gab, als wäre sie vollkommen...
Dieses engelhaft schöne Mädchen schaute ihn scheu an – und er musste lächeln und woanders hinsehen, zu ihrer Begleitung, die jetzt langsam fertig wurde... Und dann durfte er sich nehmen und hatte auch dadurch noch ein paar gnädige Sekunden gewonnen. Aber die Gnade würde aufhören ... und dann würde das Jüngste Gericht beginnen ... die Scheidung der Geister. Sein Herz zitterte. Er hatte noch nie die Gegenwart eines so schönen Mädchens länger als ein, zwei Sekunden ertragen müssen...
Sie hatte langes, dunkelbraunes Haar, das weich noch weit über ihre Schultern herabfiel, weich, wie nur Mädchenhaar sein konnte. Ihre Augen waren von einem berührenden Grünbraun, ihre Haut so hell, dass man überall um ihre Augen ganz hauchzart, fast nur angedeutet, Sommersprossen hervorschimmern sah – zart wie Schneeflocken auf der Haut... Ihre Nase war so sanft und ebenmäßig wie ihr Blick ... und ihre Lippen ebenso sanft und unschuldig, nicht ,sinnlich’, sondern empfindsam, der unschuldige Ausdruck tiefer Empfindsamkeit... Ein bisschen erinnerte ihr Gesicht ihn an Mackenzie Foy, die einmal in einem Märchenfilm gespielt und in die er sich damals verliebt hatte – aber dieses Mädchen war viel stiller, viel sanfter, viel schlichter, viel unschuldiger ... und viel schöner...
Sie sprechen zunächst unter anderem über den Weihnachtsbaum, mit dem die beiden Mädchen nichts Tieferes verbinden, obwohl Mira die echten Kerzen wunderschön findet. Es erweist sich, dass Julia selbstbewusster, ja auf unschuldige Weise sogar provokanter ist. Als sie es sich mit angewinkelten Beinen und einer Decke für die Füße schließlich auf der Couch bequem gemacht haben, kommen unweigerlich neben Miras eigentlichem Anliegen auch seine Empfindungen den Mädchen gegenüber zur Sprache:[251ff]
Das engelgleiche Mädchen sah ihn an ... mit einer Unsicherheit, die sich nun in ein grenzenloses Vertrauen wandelte, in eine geradezu erschütternde zarte Hoffnung ... und sie fragte:
„Was sollen wir tun? Was sollen wir jetzt tun? Ich bin nur gekommen, um Sie das zu fragen...“
Aber die Frage war kosmisch weit – so grenzenlos wie die Schönheit ihrer Augen, ihres ganzen Antlitzes, so grenzenlos weit, er versank in dieser Schönheit, o mein Gott, er ertrank in ihr...
Er konnte gerade noch rechtzeitig seinen Blick abwenden.
„Ich bin nicht derjenige, der euch das sagen kann, Mira...“, erwiderte er leise.
„Aber Sie haben so viel geschrieben!“, erwiderte sie in zarter Verzweiflung, unschuldig beharrend. „Immer wieder! Sie müssen doch etwas raten können!“
Ein Mädchen war selbst in seiner Verzweiflung schön – es wurde nur immer schöner, ergreifend schön...
„Das ist auch so etwas...“, murmelte er. „Ich wusste nicht einmal, wer es liest... Und wieviel davon ... verstanden werden würde... Überhaupt nur akzeptiert werden würde, verstehst du...“
„Was meinen Sie...?“, fragte sie unsicher.
„Du weißt doch, was er meint...“, erwiderte Julia.
Fast furchtsam blickte er zu dem anderen Mädchen. Durchschaute sie ihn? Durchschaute sie seine ganze Mädchenliebe und verachtete ihn leise?
„Was meine ich denn...?“, fragte er zögernd.
Sie sah ihn an.
„Na ja... Ich sag mal so: Einige haben über diese Mails gelacht... Mehr sag ich dazu nicht... Aber manches fand ich schon auch eher schräg...“
„Und was?“, fragte er.
Er hatte das Gefühl, wie wenn sich eine Schnur um seinen Hals zuzuziehen im Begriff war.
„Na ja, was soll ich sagen? Irgendwas haben sie doch mit diesen Mädchen... Mit uns... Irgendwas ist da doch komisch...“
Sie hatte den fast flehenden Blick von Mira ignoriert und es einfach ausgesprochen. Jetzt sah diese ihn geradezu betroffen an – und ihre Begleitung sah ihn auch an, fast musternd, mit gespannter Erwartung...
Gut, nun waren sie also an dem Punkt ... und auf einmal war er fast erleichtert, vor allem weil jenes engelschöne Mädchen es noch immer nicht übelnahm – dies war eigentlich immer nur das Entscheidende für ihn...
„Was denkst du denn, was ich mit euch ,habe’, Julia?“, erwiderte er hilflos, in hilfloser Aufrichtigkeit. „Dass man sich in euch verlieben kann...? In euch, deren Herzen reiner sind als das jedes anderen Menschen? In euch, die ihr mit unschuldiger Wahrhaftigkeit treuer das Wesentliche ergreift als wer auch sonst? In euch, die ihr wunderbarer und wunderschöner seid als alles, wohin man auch blickt? Die ihr sogar da, wo ihr unbeholfen seid, nur berühren könnt? Die ihr eigentlich überhaupt keine Unvollkommenheit habt, selbst da, wo ihr kritisch werdet?
Ja, es ist so. Ich bin von euch berührt, immer wieder – ich kann es einfach nicht ändern. Ich kann es nicht ändern, dass ich Mädchen liebe – dass ich sie viel berührender, viel schöner, viel kostbarer, viel ehrlicher, viel erstaunlicher, viel wunderbarer und viel großartiger finde als Frauen. Sie sind es – und ich kann es nicht ändern. Sie sind es einfach. Und ich kann mich nicht verstellen – und ich will es auch gar nicht... Warum soll man lügen? Die ganze Welt lügt entweder, oder sie ist blind... Ich bin nicht blind, Julia... Ich habe Augen... Und ich habe eine Seele...“
Damit hatte Julia nicht gerechnet, sie kann zunächst gar nichts erwidern, ebenso wenig Mira, und so fährt er fort:[253f]
„Es tut mir so leid, falls ... falls man das verachten sollte... Oder falls man ... sich darunter etwas völlig Falsches vorstellen sollte. Ich bewundere und ich verehre das Wesen von Mädchen ... und ich weiß, dass Mädchen am wenigsten wissen, was sie eigentlich so unendlich von allen anderen unterscheidet... Sie wissen es am wenigsten ... und viele wollen auch gar nichts mehr davon wissen ... und dann verschwindet es, natürlich...“
„Was verschwindet dann?“
Er sah sie wieder an, das Mädchen aus dem Video.
„Das Berührende, Julia... Letztlich zählt nur das Berührende... Was also berührt? Das ist die Antwort...“
„Sie haben in Ihren Mails von ,Unschuld’ geschrieben. Unschuldige Mädchen berühren also? Ich will aber gar nicht unschuldig sein!“
Da war das Thema... Jetzt waren sie mittendrin.
„Du bist es aber! Du kannst es gar nicht ändern. Gut – bis du es änderst. Ja, dann hast du es geändert... Aber in gewisser Weise ... bist du dann nur noch halb Mädchen...“
„Weil ich nicht mehr unschuldig bin?“
„Ja, weil du die Unschuld dann mit Modernität überdeckst, mit Selfies, mit Selbstbewusstsein – wie schön! Weißt du, wer selbstbewusst ist? Die Behörden, die Ministerinnen und der Kanzler! Die fließen über vor Selbstbewusstsein! Deckel zu, Sache erledigt...
Aber verletzlich zu bleiben, sich verletzlich in etwas hineinzustellen, wo man schon annehmen kann, dass man die schwächere Seite ist – und trotzdem da zu stehen, unschuldig, fast wehrlos, nur mit dieser tiefen Aufrichtigkeit in den Augen und im Herzen ... das können in dieser absoluten, bedingungslosen Intensität nur Mädchen... Wer denn sonst?“
„Das nennen sie ,unschuldig’?“
„Ja, das und noch unendlich viel anderes. Es ist einfach eine Reinheit des Herzens, die damit zu tun hat, dass man noch vom Herzen aus handelt – und nicht von irgendeinem Kopf aus...“
„Okay, dann bin ich gerne ,unschuldig’!“, lachte Julia, und auch Mira schien nun endlich erleichtert, weil es ihrer Begleiterin wieder gut ging...
„Ich dachte“, fuhr diese fort, „Sie meinen jetzt so ,Rehaugen’ wie hier bei Mira und das alles...“
Mira sah ihre Begleiterin entsetzt an und wurde hochrot...
„Das war ein Witz!“, sagte Julia und fasste ihren Schützling bei beiden Schultern, tröstend, beruhigend.
Dennoch sah sie ihn noch einmal an.
„Aber trotzdem... Das müsste für Sie doch eigentlich fast ein Ideal sein, oder...?“
Nun wurde er fast rot ... oder vielleicht wurde er es auch wirklich.
Er wagte es kaum, das andere Mädchen, von dem gerade die Rede war, anzublicken...
Das Gespräch setzt sich auf einer sehr tiefen Ebene immer weiter fort – und es gelingt dem Mann, auch Julia immer wieder erleben zu lassen, um welches Mysterium es ihm eigentlich geht und dass hierin zugleich das zutiefst Menschliche liegt, was selbst Mädchen mehr und mehr verlieren. In Zusammenhang mit der Talkshow kommt es dann zu folgendem Dialog:[263f]
„Also geht es gar nicht“, resümierte Julia.
„Es geht – aber eine Talkshow ist einfach nicht das richtige Format. Dort gelten die Gesetze des Kopfes ... also sozusagen der Gegner, die hier immer viel stärker sind. Und selbst wenn man sie besiegt, wie es Tina ja eigentlich sogar gelungen ist, weil sie einfach die besseren Argumente hatte, die ja einfach auf eurer Seite sind ... selbst dann wurden die Menschen nur zum Nachdenken angeregt, aber nicht in eine Änderung hineingetrieben... Sie wurden zwar berührt, selbstverständlich auch von Tina, aber nicht genug. Sie wurden nicht erschüttert. Von einer Unschuld, die einem den Boden unter den Füßen wegzieht...“
„Wow...!“, erwiderte Julia. Dann fragte sie, unschuldig feixend: „Tut Mira das denn bei Ihnen...?“
„Julia, hör auf jetzt!“, sagte diese völlig verzweifelt und schon wieder hochrot in ihrem ganzen schönen Antlitz.
Es gelingt ihm, Mira die Scham zu nehmen, während Julia unschuldig und unbeschwert immer weiter mit den Gegebenheiten spielt:[265f]
Dann deutete er auf den Saft.
„Wollt ihr ... wollt ihr vielleicht etwas trinken? Wenn ja, bedient euch einfach jederzeit...“
„Ich komm ja nicht ran!“, feixte Julia unschuldig. „Und außerdem soll man doch eigentlich keine Begehrlichkeiten haben...“
Der Engel neben ihr schaute seine Begleitung von neuem entsetzt an.
Ihm aber gefiel auch dieser unschuldige Humor, der ihn fortwährend vertrauensvoll herausforderte, eigentlich mit ihm spielend...
„Was der Körper braucht, gehört doch nicht dazu, Julia! Man hat doch Durst. Und manchmal möchte man auch einfach einen Schluck trinken. Oder einen Spekulatius essen... Habe ich leider nicht dran gedacht...“
„Weil Sie noch unschuldiger sind als wir...“
„Julia!“
„Ist schon gut, Mira. Ich verstehe Julias Humor doch so unglaublich gut... Sie will außerdem doch auch wissen, wie das ist... Aber das gehört nicht zur Unschuld, Julia. Das ist vielleicht eher männliche Nachlässigkeit, die überhaupt nicht so liebevoll bis in die Details gehen kann ... und schon die Kekse vergisst, wo sie an den Saft noch gedacht hat...“
„Sie haben schon für uns gekocht! Sie haben an alles gedacht – Sie sollten sich nicht selbst schlecht machen!“
„An Hausschuhe hat er nicht gedacht...“
Mira wurde völlig verzweifelt.
Er musste plötzlich lachen – gegen seinen Willen. Aber diese beiden Mädchen berührten ihn so unsäglich. Sie passten so unendlich gut zusammen, wie Feuer und Wasser...
Als beide ihn erstaunt ansahen, sagte er, wieder ernst, noch immer tief berührt:
„Ihr seid so unglaublich wunderbar... So wunderschön... Ich weiß nicht, ob ich Julia noch verständlich machen kann, was Unschuld ist – aber es ist so wunderbar, euch zu sehen... Ich bin so froh, dass ihr hier seid!“
Julia lächelte jetzt.
„Gerne doch!“
Sie begann, sich wohlzufühlen.
Dann kommen sie endlich zu Miras eigentlichem Anliegen:[267]
„Bitte mach weiter, Mira...! Was war weiter...“
Sie sah ihn mit großen, fast flehenden Augen an.
„Nichts!“, erwiderte sie hilflos. „Das war es! Ich dachte ... ich dachte, ich muss mit Ihnen sprechen... Ich dachte ... Sie könnten wissen, was wir jetzt tun sollen...“
Unsäglich berührt konnte er selbst nicht sagen...
„Sogar nach der Tagesschau haben Sie uns Mut gemacht! Ich habe die Uhrzeit gesehen... Eine halbe Stunde später kam Ihre lange E-Mail schon an! Als erste...! Aber – –“
Völlig unvorbereitet musste er mit ansehen, wie dem Mädchen nun die Tränen kamen.
„Es nützte nichts!“, sie musste aufschluchzen. „Die meisten – die meisten Mädchen sagten –“
Julia tröstete sie vorsichtig, aber der Engel schluchzte weiter.
„– – sagten, dass sie aufhören würden – und – von ihren Eltern gezwungen wurden – und es brach – – es brach –“, wieder gab sie ein herzzerreißendes Schluchzen von sich, „einfach zusammen, verstehen Sie? Am –“, sie versuchte, sich zu fassen, aber es gelang ihr nicht, „am zweiundzwanzigsten – – waren wir noch immer fünfzehn – – fünfzehn Mädchen in der ,Versammlung’ – aber – aber wir wussten, dass – – die meisten da draußen – – aufhören würden oder schon – – oder schon aufgehört hatten – – und auch einige – von uns schon – –“, noch einmal schluchzte sie so herzzerreißend, „und da wussten wir ... dass es – –“
Sie konnte nicht weitersprechen ... nur noch weinen... Und Julia tröstete sie unendlich liebevoll... Auch ihm kamen die Tränen, als er dieses Bild sah. Jetzt sah er wirklich zwei Mädchen... Zwei...
Es dauerte lange, bis sich Mira wieder beruhigen konnte ... und dann war sie von ihren eigenen Tränen so beschämt, dass er nur ganz vorsichtig wieder Brücken bauen konnte.
Es kommt zu einem langen Gespräch über den gesamten Kapitalismus und seine Hintergründe, die Unmenschlichkeit der Bedingungen in den Krankenhäusern und so weiter. Immer wieder geht es aber auch um das Geheimnis der Seele, um das Empfinden des Heiligen, das Besondere von Mädchen. Zwischendurch möchte Julia gerne auch Kekse haben, und sie gehen kurz einkaufen. Die kleinen ,Späße’ von Julia nehmen aber schließlich so überhand, dass es plötzlich und unerwartet völlig verzweifelt aus Mira herausbricht:[293]
„Jetzt hör auf, Julia! “, rief Mira völlig überraschend.
Als diese sie völlig überrascht ansah und auch er entsetzt von der plötzlichen Wendung war, sah er, wie sich Miras Augen mit Tränen füllten. Bevor er etwas tun konnte, brach sie hilflos in ein Schluchzen aus und verbarg ihren Kopf in ihren Händen.
„Mira!“, sagte er bestürzt – und auch Julia blickte ihn betroffen und beschämt an.
Verzweifelt schluchzte das stille Mädchen, dann hob es seinen Kopf und rief mit tränenüberströmtem Gesicht:
„Julia nimmt es alles gar nicht ernst! Und – Sie reden nur mit ihr! – Immer geht es um sie! – Aber ich bin zu Ihnen gekommen! – Ich wollte mit Ihnen sprechen, nicht sie! “
Erneut fiel sie in sich zusammen und schluchzte herzzerreißend und völlig untröstlich...
„Mira...!“
Er nickte der völlig bestürzten Begleiterin zu, die es erst daraufhin wagte, dem weinenden Mädchen über den Rücken zu streicheln, was die Tränen nur weiter vertiefte... Noch einmal nickte er ihr zu, damit sie nicht aufhöre...
Er hatte noch nie einen so verzweifelten Blick gesehen, einen so unschuldig-hilflosen Blick... Ihm schien, dass er erst jetzt wusste, was Verzweiflung war... Mit einer Verzögerung von Sekunden standen nun auch seine Augen in Tränen, und die ersten rollten bereits seine Wangen hinunter – Julia sah ihn bestürzt an, aber er schämte sich nicht. Auch er musste aufschluchzen...
Kurz darauf sah das tränenüberströmte Mädchen betroffen auf, und zwei bis ins Innerste getroffene, tränenüberströmte Menschen sahen einander an.
Die ganze Atmosphäre und auch die Gespräche vertiefen sich nochmals in ungeheurer Weise.
Sehr deutlich wird, wie tief Miras Wesen ihn berührt – aber ebenso, wie sehr ihn überhaupt das Wesen von Mädchen schon immer geprägt und verwandelt hat:[297f]
Und dann sah er für einen Moment nur diesen Engel, und er flüsterte fast nur:
„Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast, so zu bleiben, wie du bist, Mira. Aber du bist der Weg, die Wahrheit und das Leben... Was du in dir trägst und bist, das ist die Heilung...“
Und dann sprach er wieder zu beiden Mädchen und sagte:
„Die Wenigsten werden es ganz begreifen... Aber viele werden es erleben, sehr viele... Die Unschuld lehrt die Seelen, wieder zu empfinden. Und so lehrt sie, auch selbst wieder unschuldig zu werden. Langsam. Denn es bedeutet, wieder zu lernen, was man verlernt hat. Nicht nur verlernt, sondern sogar verloren... Es geht also langsam... Und es geht nur, wenn man berührt wird... Aber was kann überhaupt berühren, wenn nicht die Unschuld... Nur sie kann berühren...
Dass ich so stark berührt wurde, hat damit zu tun, dass Mira mich von Anfang an berührt hat – und dass ich mein Leben lang von Mädchen berührt wurde... Aber was bedeutet das? Mein Leben lang haben Mädchen mich daran erinnert und mich gelehrt, was Unschuld ist... Kein Mädchen wusste das. Sie wussten nicht einmal, dass sie unschuldig waren... Aber ich habe es immer gewusst – und so haben sie mich immer gelehrt, fortwährend...
Und so wurde ich auch unschuldig, immer mehr... Und dass ihr das alles gesehen habt, bis hin zu meinen Tränen ... das erübrigt Julias Frage, denn es beantwortet sie. Wo ich unschuldig bin – oder wie ein Mann unschuldig sein kann. Die Unschuld ist immer so groß, wie die Tiefe selbstloser Empfindungen reicht...
Und wenn man Mädchen liebt ... dann lernt man empfinden, oh ja... Fortwährend taucht man ein in ihre Unschuld, lebt in der Anmut, die sie offenbaren... Empfindet die ganze Zartheit dessen ... und die eigene Seele verwandelt sich fortwährend leise in das, was man so liebt; was man so innig wahrnimmt, in was man so voller Liebe und Hingabe eintaucht... Hingabe!
An nichts kann man sich so sehr hingeben wie an ein Mädchen – weil nichts so sehr berührt wie ein Mädchen. Aber die Hingabe ist selbst Unschuld – und schon wieder bringt ein Mädchen einem die tiefste Unschuld bei: die Hingabe...
Und diese Hingabe lebt dann auch in allem anderen: Wie man an einem Strand entlanggeht... Wie man sich der Schönheit einer Blumenwiese hingibt... Einer einzelnen Blume... Einem Käfer... Und man hat das alles von den Mädchen gelernt... Von der Hingabe an diese wunderschönen und wunderbaren Wesen...
Da also wird auch der Mann unschuldig... Da kommt die Unschuld des Mannes her. Von den Mädchen. Vielleicht werden andere Männer von etwas anderem geheilt. Aber es muss ja etwas sein, was ihre Herzen berührt... Und was soll das sein, wenn es kein Mädchen ist? Was kann so berühren... Nichts...“
Immer mehr vertieft sich das Gespräch in das Geheimnis der Wandlung, in das Wesen der Unschuld, in die Schwäche der modernen Seele. Irgendwann brennen nur noch die erneuerten Kerzen am Weihnachtsbaum. Das innige Gespräch lebt unter anderem von Julias Fragen, die verständlicherweise mit dieser ganzen Frage der Unschuld ringt. Sie ist keineswegs so unschuldig wie Mira, spürt aber deutlich, dass auch sie irgendwie vieles viel ernster nehmen müsste, als sie es bisher getan hat...
Sie sprechen auch über die Empfindung des Heiligen, und es wird deutlich, dass Mädchen der heutigen Zeit auch diese Empfindung fast völlig verloren zu haben scheinen. Aber in einer Seele, wie Mira sie hat, gibt es noch überall Spuren dessen:[327f]
„Ich weiß nicht... Ich wollte manchmal an Gott glauben...“
Diese Antwort berührte ihn sehr.
„Aber dann konntest du es doch nicht?“
„Nein...“
„Und warum nicht? Kannst du es sagen?“
„Es ging einfach nicht... Ich konnte es mir einfach nicht vorstellen... Ich konnte mir Gott nicht vorstellen...“
„Ein Liebeswesen?“
„Ja, aber die Welt ist ja nicht so...“
Er verstand so gut, was sie meinte!
„Okay, Mira... Aber gab es noch etwas anderes? Gab es noch bei etwas anderem dieses Gefühl des Heiligen...“
Sie überlegte eine ganze Weile – und auch dies war heilig. Wie ein Mädchen so innig, so aufrichtig in sich hineinlauschen konnte, in den heiligen Tiefen unschuldiger Erinnerungen...
„Als ich mal einen Vogel begraben habe...“
Ihre Antwort erschütterte ihn mit sanfter Gewalt... Dieses Mädchen kannte so unendliche Heiligtümer von Empfindungen!
„Wir waren im Urlaub“, erzählte sie zögernd, weil er nichts gesagt hatte. „Und ich war so ein bisschen allein durch den Wald gegangen ... und dann lag er da... Neben dem Weg... Ich habe ihn begraben... Und dann habe ich ein bisschen gebetet... Und ein bisschen geweint... Und ich habe ihn angefasst, obwohl Mama immer gesagt hat, man soll nichts Totes anfassen – aber ich wollte ihn berühren, ich wollte ihn nicht nur mit Stöckern anfassen ... und zu Hause habe ich mir dann die Hände gewaschen, aber ich habe mich so geschämt, dass ich mir die Hände wasche ... und habe noch einmal ein bisschen geweint... Er konnte meine Hände ja nicht mehr spüren ... aber ... aber ich habe mir vorgestellt, dass er sie noch spürt...“
Hatte sie ein bisschen Tränen in den Augen? Er hatte jetzt Tränen in den Augen, kurz vor dem Herabperlen...
„Ja, Mira...“, brachte er mit belegter Stimme hervor.
Dann musste er sich doch einmal kurz über die Augen wischen...
Sie sah es berührt...
Julia begreift immer mehr, um welches Mysterium es geht – und auch sie ist mehr und mehr von Mira berührt. Schließlich tritt sie mit ihren Fragen ganz zurück, damit in der nun noch bleibenden Zeit Mira mit ihrer einen Frage, was man tun könne, allen Raum haben kann... Und nun taucht das Gespräch endgültig ein in die heiligen Tiefen der Seele – und gelangt fast von selbst in die Sphäre des Übersinnlichen, zur Realität heiliger Mächte und Gegenmächte.
Als die Mädchen dann Hunger bekommen, gehen sie zu einer nahen Pizzeria:[348]
Als sie in die ziemlich eisige Abendluft traten, atmete er einmal tief ein – das tat gut! Er hoffte, dass für die Mädchen die Pause genauso erholsam sein würde.
„Was machen Sie eigentlich ... als Beruf, meine ich?“
Er war tief betroffen, als er merkte, dass Mira in offenbar zögernder Unschuld diesmal direkt den Platz an seiner Seite gesucht hatte.
„Ich arbeite als Lektor und Übersetzer, freiberuflich von Zuhause aus.“
„Was macht ein Lektor?“
„Korrekturlesen von Büchern auf Fehler, auch durchaus inhaltliche Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge, je nachdem, wie weit der Auftrag geht. Lektor kommt von lateinisch ,Lesen’, deshalb auch ,Lektüre’...“
„Ah...“
Er spürte, dass sie für die letzten Stunden, die ihnen noch blieben, einen engeren Kontakt suchte ... weil er sie offenbar bisher nicht enttäuscht, sondern ihr etwas geschenkt hatte, was ihr anscheinend etwas bedeuten konnte – wie er so sehr gehofft hatte! Aber diese zarte Annäherung des Mädchens berührte ihn grenzenlos...
Doch nun fühlte sie sich vielleicht wieder verunsichert, weil sie sich ,dumm’ vorkam, dabei hatte er das Wort so schlicht wie möglich nur deshalb erklärt, damit sie sich nicht dumm vorkam, sondern auch das Fremdwort als solches verstehen konnte.
„Ich hoffe, du kommst dir nicht dumm vor, Mira“, sagte er warm. „Du bist nicht dumm. Manche wissen vielleicht halbwegs, was ein Lektor macht, aber es ist nicht wichtig. Ob es Julia wusste, weiß ich nicht. Und woher das Wort kommt, weiß sowieso niemand...“
Der Engel schwieg befangen... Julia meldete sich von der Seite:
„Ich wusste auch nicht, was ein Lektor ist.“
Die Atmosphäre des Restaurants ermöglicht es Julia, auch wieder ihren Humor zu entfalten:[350f]
„Bist du vegetarisch, Mira?“, fragte er warm.
„Nicht immer ganz...“, gestand sie. „Meine Eltern sagen auch, man soll auf seinen Körper hören... Ich glaube, manchmal brauche ich ein bisschen Fleisch. Aber ich schäme mich immer furchtbar...“
Er bewunderte sie so sehr... Ihre stille, weiche Aufrichtigkeit...
„Und du Julia?“, lächelte er. „Hast du dir schon mal Gedanken darüber gemacht?“
„Ja, aber ich krieg’s einfach nicht hin. Ich werde schon nach drei Tagen ohne irgendetwas Fleischliches zittrig...“
„Wirklich?“
„Ja – glauben Sie mir etwa nicht?!“
„Doch! Aber bei manchen Formulierungen von dir kann man schon unsicher werden, ob es nicht doch auch etwas übertrieben ist... Und vielleicht ist es ja auch etwas psychisch, als Gewohnheit sozusagen. Also schon nach drei Tagen...?“
„Sie glauben mir nicht! Ich sag’s doch...“
„Doch, ich glaube dir. Julia, bitte sei nicht böse...“
„Ja, okay – weil Sie uns einladen und ich kein Brot essen muss...“
Er sah in Miras Augen, dass sie es allmählich aufgab, von Julia etwas anderes zu erwarten als solche Antworten – und dass sie sich immer leise fremdschämte... Und doch mochte er auch Julias Humor.
Und noch immer ringt sie zugleich mit der Frage der Wandlung:[351f]
„Aber trotzdem glitzere ich nur und bin kein Edelstein, nicht wahr?“
Diese Frage erschütterte ihn wirklich... Es musste sie nachhaltig beschäftigen. Es tat ihm so leid...
„Julia...“, sagte er warm. „Warum beschäftigt dich das so? Was liegt dir eigentlich so an meinem Urteil? Und vor allem: Was willst du selbst denn eigentlich sein...?“
„Ich weiß es auch nicht... Manchmal bin ich einfach neidisch, wenn Sie so von Mira reden... Aber ich weiß ja auch, dass Sie Recht haben... Ich hab ja selbst gesagt, dass ich nicht so sein will... Also weiß ich eigentlich selbst nicht, warum ich das gesagt habe...“
Er empfand eine so unendlich warme Zuneigung zu diesem in sich zwiespältigen Mädchen...!
„Ach, Julia... Ich glaube, in dir lebt wirklich eine Sehnsucht nach mehr Unschuld ... und du hast nur nicht den Mut dazu. Dieser Mut zu weniger Coolness. [...]“
„Ich bin ja gar nicht immer so! Ich trau mich bei Ihnen einfach, weil – vielleicht, weil Sie Mädchen sowieso mögen...“
Er lächelte gerührt.
„Aber die unschuldigen mag ich mehr...“, forderte er sie liebevoll heraus.
„Davon haben Sie ja schon eins!“
Er sah, dass es Mira wieder unangenehm war, und sofort wurde er wieder ernst.
„Aber, Julia, hast du auch unschuldige Empfindungen – gegenüber der Natur, gegenüber Tieren, gegenüber Schönheit...? Kennst du das? Bist du vielleicht nur gegenüber Menschen so schlagfertig – und hast dort, wo du gerade mit etwas anderem allein bist, auch Momente, wo du eine viel größere Unschuld kennst, viel stillere Empfindungen hast...?“
„Wollen Sie mich ausforschen?“
Er lächelte hilflos.
„Ja... Ich würde dich so gerne kennenlernen, Julia. Aber nur, wenn du keine Angst davor hast... Und: Nein... Ich kann nicht gegen Mauern rennen... Und: Ich würde auch dieses liebe Spiel mit dir spielen. Ich mag deinen Humor so sehr... Aber wir haben ja keine Zeit mehr... Wir müssen auch das Wesentliche berühren... Das ist es, weshalb Mira sich auf diese weite Reise gemacht hat. Und es ist so wichtig...“
„Und kostbar.“
„Ja, wenn wir es schaffen. Aber das musst du erleben, Julia. Dass es kostbar ist. Nicht nur sagen...“
„Ja, ich weiß...“
Nachdem sie gegessen haben und wieder zurückgegangen sind, vertieft sich das Gespräch weiter. Der Protagonist kann mit den Mädchen in tiefster Weise über das Wesen des Menschen sprechen, über Wiederverkörperung, über den heiligen Sinn der Erdenleben, über Engelwesen, Dämonen, die Schöpfung und die Frage, warum der Mensch nicht einfach von Natur aus gut sein konnte...[376f]
Sie schwieg andächtig. Wie sie ihm zuhörte ... wie aufrichtig ihre Augen waren...! Er musste sich kurz abwenden und auf den heiligen Baum blicken... Sein Herz schlug zu heftig...
Als er sich ihr wieder zuwandte, sah er, wie sie in ihren Schoß blickte, fast zärtlich... Dann sah sie ihn wieder mit diesen Augen an, diesem Wunder von Augen... Er hatte noch nie so ein unschuldiges Gesicht gesehen.
„Ich glaube, sie schläft...“, flüsterte sie mit dieser Zärtlichkeit.
Er musste an das Beispiel mit der Ehrfurcht und dem schlafenden Baby denken...
Wieder schaute sie in ihren Schoß und flüsterte zärtlich:
„Julia...?“
O, Himmel! Nur einmal von diesem Mädchen so zärtlich angesprochen zu werden!
Sie blickte ihn fast fragend an, wie unsicher, was sie jetzt machen sollten, wo sie ein anderes, schlafendes Mädchen im Schoß hatte... Mein Gott, wie schön sie war...!
„Ich höre zu...“, sagte sie nun halblaut. „Hoffentlich habe ich Sie nicht unterbrochen.“
Er war wie in einer anderen Welt...
„Wie konntest du so lieb werden, Mira...?“
„Ich weiß nicht“, erwiderte sie, auf einmal wieder schüchtern.
Mira hatte sich gegen Hänseleien nie gewehrt – die Unschuld gehört schlicht zu ihrem Wesen. Noch nie hat der Mann das Christuswesen so stark gespürt wie in ihrer Nähe. Hilflos gesteht er ihr die Tatsache seiner Liebe, von der sie im Grunde längst weiß:[380]
„Und...“, brachte er mit von neuem belegter Stimme hervor, „ich liebe dich, Mira... Auch grenzenlos... Es geht nicht weg, und ich weiß, dass es nicht weggeht, solange ich diese Unschuld sehe... Es ist ... sie erschlägt mich sanft, sie ... sie streichelt mich sanft, sie tröstet mich unendlich, sie ... sie verspricht mir nichts, sie ist einfach nur da und ... und verändert doch alles ... sie ist ein Wunder, Mira ... ein Wunder an Schönheit ... du bist wunderschön ... und ich bin so dankbar, dass du ... für einen Tag mein Leben betreten hast, Mira ... ich bin so unendlich dankbar! Dieser Tag reicht ... er ... er reicht wirklich für ein ganzes Leben... O Gott, ich ... Mira, wirklich, ich hoffe ... du musst dich nicht schämen, wenn ich gleich wieder meinen Kopf hebe... Ich ... ich lasse ihn unten, bis es dir wieder gut geht...!“
Demütig hielt er den Kopf gesenkt und schaute auf den Teppichboden...
„Bitte heben Sie ihn doch...“
Ihre sanfte, etwas scheue Stimme!
Er sah sie wieder ganz vorsichtig an, und sie war befangen, aber hielt seinem Blick scheu stand – nur er ging in dem zarten Strom ihrer Unschuld unter, nur er...!
„Es tut mir so leid, Mira, dass ich dich so liebe...! Bestimmt wäre es viel einfacher für dich gewesen, wenn es nicht so wäre...!“
Sie schwieg befangen.
Er zündet noch einmal neue Kerzen an. Dann nimmt er allen Mut zusammen, und bittet Mira unter plötzlichen Tränen, die einfach kommen, ob er sie während der letzten Stunde einfach nur vorsichtig im Arm halten dürfe, ob sie dies zulassen könne... Berührt wagt sie es, kuschelt sich an ihn – und fühlt sich nach einer kurzen Zeit der Gewöhnung bald ebenfalls geborgen... Und schließlich kommt es zu folgendem Dialog:[388f]
„Hatten Sie...“, durchbrach ihre leise Stimme dann erneut zart die Stille, „also nie ... ein Mädchen im Arm...? So...?“
„Nein...“
Ihre liebe Frage erschütterte sein ganzes Wesen. Warum fragte sie dies überhaupt?
Wieder vergingen mehrere Momente.
„Sie sind wahrscheinlich sehr einsam ... nicht wahr?“
„Mira, mach dir darüber keine Gedanken... Bitte...“
„Aber sie kommen einfach... Jetzt, wo ich den Baum sehe ... und alles so still ist ... und Sie mich so umarmen ... und ich darüber nachdenke ... dass Sie Mädchen liebhaben... Lieben...“
Er konnte nur hilflos schweigen.
„Dann sind Sie doch einsam...“
Ihre beharrliche, innige, liebe Zartheit machte ihn geradezu grenzenlos hilflos. Sie sprach gleichsam mit seiner Sehnsucht ... und wusste nicht, was sie anrichtete...
Sie fühlt sich auch schuldig, dass gerade sie nun der Grund seiner Einsamkeit sein wird – und ist nicht bereit, diese Empfindung nicht zu haben, ihr ganzes Gewissen fühlt eine Verantwortung dafür, dass ihr die Liebe dieses Mannes zuströmt. Immer mehr zeigt sich, wie auch sie ihm innig zugetan ist. Zuletzt möchte sie überhaupt nicht zu ihrer Tante gehen, um noch etwas mehr Zeit zu haben. Sie ruft sie an und sagt ab...[398]
Sie hatte sich scheu wieder an ihn gekuschelt, als wäre dies inzwischen bereits die vertrauteste Position, die sie kannte...
Das anmutige Vertrauen des Mädchens lässt sogar kurz sein Geschlechtsteil erigieren, und er muss sogar an das denken, was vielleicht, theoretisch, möglich werden könnte ... aber sie ist so unschuldig, dass all dies einfach nicht in Frage kommt... Sie selbst sendet fortwährend unschuldige Liebessignale. Als ihr aber klar wird, wie sehr er sie liebt, hat sie erneut verzweifelte Schuldgefühle:[402f]
„Es tut mir so leid...“
Er streichelte tröstend ihren Arm.
„Ich hätte Sie nicht anrufen dürfen! Ich hätte nicht kommen dürfen! Ich hätte nicht –“
„Doch, Mira! Doch! Du musstest es tun... Du warst meine Rettung, verstehst du nicht?“
„Aber wie?! “, fragte sie leidenschaftlich verzweifelt, den Tränen nahe.
„Mira, Mira! Beruhige dich... Bitte...“
Er drückte sie zart an sich, und sie konnte sich beruhigen.
„Wie...“, fragte sie noch einmal schwach, hilflos.
„Ich kann es nicht weiter erklären, Mira... Ich habe es alles schon so sehr gesagt... Du bist das Vollkommenste, Schönste, Wunderbarste, Zärtlichste, Unschuldigste, Wahrhaftigste, was ich je erlebt habe! Niemandem begegnet ein Engel im Leben, niemandem so wirklich und so lange...! Du bist reinstes Glück, Mira... Und ich kann alles ertragen, nach diesem Tag, weil ich ihn für immer bewahren darf... Ich habe das Glück gekannt, Mira! Das tiefste Glück auf Erden... Und noch die Erinnerung an dich wird mein Glück sein ... für immer wird sie es sein... Glaub mir...“
„Das macht mich so traurig! Das klingt so traurig!“
„Das ist es aber nicht, Mira. Selbst Trauer kann Glück sein. Du musst es mir einfach glauben... Du hast gesagt ,Entweder Sie lieben mich nicht – oder Sie lassen es zu, dass ich mich schuldig fühle...’ Aber ich bin glücklich, Mira... Du wirst mich nicht lieben – aber dann musst du zulassen, dass ich dieses traurige Glück kennen werde – es ist Glück, Mira...“
„Sie sind so ein einzigartiger Mensch“, flüsterte sie. „Ich bin noch nie jemandem begegnet, der ein trauriges Glück kennt...“
Noch einmal macht er ihr Mut für die Zukunft, versucht, ihr die Kraft zu geben, die sie braucht, wenn sie das Gute tun und die Menschen verändern will. Sie ist bis ins Innerste berührt:[404]
Als er schwieg, war auch ihr Schweigen so zart, dass man einen Engelsflügel gehört hätte... Und dann hörte er, wie sie leise aufschluchzte... Fast unterdrückt schluchzte sie vor sich hin...
„Mira!“, flüsterte er betroffen. „Was ist – –“
„Sie sind –“, schluchzte sie leise, auch, um Julia nicht aufzuwecken, „so ein unendlich guter Mensch...! Ich halte das nicht aus... Es ist so unendlich schön mit Ihnen – und ich komme mir so unendlich schuldig vor! Es ist alles so unendlich traurig...!“
Sie überließ sich ihrem Schluchzen ... und er streichelte wieder zärtlich ihren Arm ... fast drückte sie sich noch weiter an ihn...
Auch ihm stiegen Tränen der Rührung und des Glückes in die Augen.
„Mira...“, sagte er voller Mitleid, während auch ihm wieder die Wangen nass wurden, „bitte quäle dich doch nicht, bitte, Mira...! Können wir es nicht bei dem Schönen belassen... Einfach nur das? Kannst du es mir zuliebe? Dich nur wohlfühlen...? Geborgen...?“
„Ich fühle mich geborgen! Aber ich kann es nicht nur... Könnte ein Engel es ,nur’?“
Er begriff, dass es aussichtslos war. Zärtlich drückte er sie an sich, und sie schluchzte leise noch weiter... Er konnte sie nur trösten... Es gab trauriges Glück... Ein Engel und ein hilflos Liebender kannten es im Angesicht der fast wieder heruntergebrannten Kerzen...
Ihr Gespräch wird noch inniger – und schließlich schläft Mira in seinen Armen ein:[408f]
Und dann schwiegen sie lange, wie als wenn sie so alles festhalten könnten ... die ganze Innigkeit ... das ganze Zarte, Heilige ... die ganze Vertrautheit, die Unschuld, die Nähe, das Glück... | Und dann hörte er irgendwann nur noch ihren stillen Atem ... so gleichmäßig, so unschuldig, so sanft ... dass er wusste, dass sie eingeschlafen war, in seinen Armen ... und nun kannten die stillen, sanften, hingebungsvollen Tränen kein Halten mehr ... die Zeit hatte sich erfüllt... Ein Mädchen war glücklich in seinen Armen eingeschlafen ... das einzige Mädchen, das er jemals wahrhaft lieben würde. Und er blieb einfach so mit ihr, sie behütend wie einen Engel...
Bis auch er einschlief... Und als er irgendwann wieder aufwachte, bettete er sie zärtlich und ging in sein eigenes Bett, noch einmal mit Tränen in den Augen, Tränen tiefster Liebe...
Ihren Abschied am nächsten Vormittag erlebt er fast wie einen Traum, ihr ganzes Wesen wie zart leuchtend.[413]
Und als das Jahr zu Ende ging, kam es ihm vor, als habe sich das Wunder seines Lebens ereignet ... das größte Wunder, das Menschen erleben konnten, wenn sie Glück hätten ... wenn das Schicksal ihnen unendlich günstig wäre ... ihr Engel voller Gnade ... das größte Wunder ... jenes, das fast kein Mensch in seinem Leben erlebte ... vielleicht in einem der vielen Leben, die man haben würde ... ein solches ... ein solches echtes, heiliges Wunder...
Es war nicht ihre zarte Sendung, die noch einen Tag vor Sylvester angekommen war, die sie direkt am Tag nach ihrer Rückkehr abgesandt haben musste ... diese war nur wie eine Fortsetzung alles bereits Geschehenen, und doch hatte er niemals damit gerechnet, aber womit hatte er überhaupt gerechnet, ein Mädchen sprengte alles Rechnen, man durfte und konnte nicht rechnen, wenn ein Mädchen zart in den Raum trat, in den eigenen Lebens-Raum... Und ihre Sendung hatte nur aus einem unschuldig blassen Papier bestanden, in der Hälfte gefaltet, und darauf war nur eines gemalt gewesen, ein rotes Herz ... nur die Silhouette, nur sie in scheuer Linie aufgemalt ... und gefaltet ... und abgeschickt ... und seine Augen standen in Tränen, wann immer er sie ansah ... diese Nachricht... Diese Botschaft... Diesen Dank... Dieses Zeichen...
Und er hatte ihr gesagt, sie solle sich nur ,melden’, wenn sie wirklich Hilfe brauche – er wollte nicht, dass sie von ihm abhängig würde; dass sie seine Hilfe, seinen Rat fortwährend suchte; dass es nicht ihr eigener Weg wäre, sondern etwas, für das sie gar nicht wahrhaft eigene Kraft hätte ... er musste sie wieder von sich losreißen... Und dann hatte sie diese ,Weisung’ bereits mit diesem einen Brief zart durchbrochen ... ihm nicht gehorchend ... und gerade dadurch ihr Eigenes beweisend... Bereits da wusste er, dass ihr eigener Weg begonnen hatte, auf eine Weise, wie ihn nur ein Mädchen gehen konnte...
,Und dann kam lange nichts... Und für ihn war jeder Tag eine Ewigkeit ... denn die Liebe kannte kein Maß ...’, er ,liebte nur noch ein Mädchen und vermisste es grenzenlos, und weinte oft, wenn er an sie dachte, besonders abends, besonders in diesen Stunden, wo sie so innig bei ihm gewesen war, grenzenlos nahe... Und alle, alle Tränen, die er weinte, waren Tränen jenes kostbaren traurigen Glücks...’
Er verfolgt an der Webseite der Mädchen, wie die wenigen übriggebliebenen Streikenden jeden Tag weniger werden, aufgebend, ,eines nach dem anderen, gezwungen von den Umständen, vergewaltigt in ihrem reinsten Wesen, in ihren zartesten Intuitionen...’[415f]
Aber ein Mädchen gab es, dass nicht erfasst wurde von dem Radar der ,Nachrichten’, der ,Informationen’, die die Bevölkerung fortwährend mit dem Wichtigsten versorgen sollten, die ,auf dem Laufenden’ halten sollten, denn auf dem Laufenden sollte man ja bleiben, als informierter Bürger, als demokratisch wertvolles Mitglied der Gesellschaft, deshalb gab es Nachrichten, Rundschreiben, Vorschriften, Verordnungen, Gesetze und das Grundgesetz. Aber unterhalb dieses Radars verweigerte sich ein Mädchen weiter, gedeckt von wohlwollenden Eltern ... und ging statt in die Schule durch die Straßen, und an ihre Seite hatte sie sich eine nicht zu große Pappe umgehängt, die sie selbst gebastelt hatte und auf der stand: ,Liebe statt Kapitalismus’.
Aber es war nicht die rührend-naive Botschaft, die die Aufmerksamkeit Vieler fesselte, sondern ihr zartes, fast scheues Auftreten – und dann hinterließ sie denen, die sie empfangen wollten, kleine Zettel, nicht größer als jener, den er empfangen hatte, aber ungefaltet und ohne das Herz, das gemalte, hier hatte es eine andere Gestalt, denn es waren Worte, von Hand geschrieben und nur deshalb kopiert, damit sie Viele erreichen konnten.
Und die Worte sprachen von der Unwahrheit des Kapitalismus, der die Menschen verführte. Sie sprachen von Krankenhäusern in Zeitdruck. Von sinnlosen Schulen, die die jungen Seelen betrogen. Von Jobs, die es niemals geben sollte, weil jede Arbeit füreinander Sinn machen müsste. Von Armut. Von Ungleichheit. Von Zerstörung der Natur. Von Abstumpfung. Und von der Seele... Davon, wie Menschen wirklich leben wollten ... wenn sie auf ihr Innerstes hörten, wie es ganz leise sprach, etwa kurz nachdem ganz frischer Schnee gefallen wäre...
Das war es, was die Menschen berührte ... wenn sie alle Worte gelesen hatten ... wie sie sich in einen zarten Zusammenhang woben ... und einen solchen hinterließen, einen zarten Zusammenhang ... und dieser schloss sich mit dem zusammen, was sie schon vorher erlebt hatten, an dem Mädchen selbst ... das nicht war wie die Infozettel-Verteiler an den Ständen oder sonst jemand, sondern das genauso war wie ihre Worte, sogar ihre Handschrift ... vorsichtig, fast scheu, so überhaupt nicht aufdringlich, sondern sanft, geradezu zurückhaltend, grenzenlos bescheiden ... und trotzdem hatte jeder plötzlich ein Blatt in der Hand, fast wie von Wunderhand, von Engelhand ... und las es schon deshalb, weil das Mädchen so berührend gewesen war ... und als man es gelesen hatte, war es alles ein großer Zusammenhang ... zumindest für jeden, der seine Seele nicht ganz verdrängte.
Und wer ihr mehrmals begegnete ... an einem anderen Tag wieder ... der begann, dieses Mädchen zu lieben...
Die Webseite der Mädchen beginnt, über Mira zu schreiben. Und irgendwann schickt Mira ihm einen weiteren Brief: ,Wieder war es ein unschuldiges, halb gefaltetes Blatt ... und auch dies mit einer Zeichnung ... einer Schneeflocke... Sie war so kunstvoll und so sorgfältig, dass sie damit mindestens eine halbe Stunde zugebracht haben musste, vielleicht sogar eine Stunde ... überall sah er berührende Unvollkommenheiten, und doch war diese eine Schneeflocke so vollkommen, wie er sie nie hätte malen können... Und dann stand rechts unten noch klein ... ,Ihre Mira’. Und er hielt dieses Heiligtum in den Händen, und ihm fehlten die Worte...’
Mira beginnt, ein weißes Kleid zu tragen, außerdem einen weißen Haarreif und ein ,zauberhaftes Haarband, das sich, ebenfalls geschmückt, nach unten dann halb weiß, halb transparent, in verletzlichen Wellen kräuselte, um dann zusammen mit ihrem Haar irgendwo bei ihren jungen Schulterblättern zu enden...’
Wiederum später schreibt Mira ihm, wie sie zum ersten Mal ein Altenheim besucht hat; wie sie sich um Obdachlose kümmert; wie sie auch in Krankenhäuser gehen wolle, aber das sei nicht erlaubt... Wegen ihres ,unentschuldigten Fehlens’ von der Schule sei bereits ein erster Bußgeldbescheid gekommen, aber ihre Eltern würden dagegen klagen, weil sie doch mehr lerne und mehr tue, als es der Schule je möglich wäre. Und zuletzt schreibt sie in sehr zarter, einfühlsamer Weise von ihm und jenem einen Tag mit ihm:[425f]
Es machte fassungslos. Es sprengte die Grenzen der eigenen Seele. Aber vielleicht begriff man jetzt erst, was der Mensch eigentlich war? Vielleicht war dieses Mädchen der einzige Mensch? Weit wie der Kosmos, erfüllt von zarter Liebe... Das Mysterium des Menschen... Er hatte ihr vom Menschen gesprochen ... und sie offenbarte ihm den Menschen... Und hatte er dies nicht von Anfang an erlebt? Christus und das Mädchen...? War dies nicht das offenbare Geheimnis? Dass hier die Verkündigung lebte, wie alle Menschen sein könnten ... werden müssten, in treuer Hingabe an den weiten Weg, der noch vor ihnen lag?
Er erwidert ihr mit einem ebenfalls sehr langen Brief und warnt sie vor der äußeren Welt, die ihr stets Naivität vorwerfen werde... Sie ruft ihn zwei Tage später an, und sie telefonieren noch einmal drei Stunden. Er spricht erneut von den Gegenmächten, und Mira erkennt nun erst recht die ganze Größe der notwendigen Aufgabe.
Eine winzige Meldung des ,Mannheimer Morgens’ erscheint über die Schülerin ,Mira W.’, aber die Webseite der Mädchen berichtet begeistert, und die Mädchen aus ihrer eigener Klasse tragen fast geschlossen ebenfalls weiße Bänder in ihren Haaren. Aber auch andere Menschen schicken Fotos solcher Bänder, bis hin zu einer sechsundachtzigjährigen Frau. Von Nora Zeilinger erscheint in demselben Magazin eine weitere Reportage über Mira, in der die Journalisten letztlich ihre eigene Berührung schildert:[435f]
Was bedeutet das? Schon an diesem Punkt merke ich, dass ich zu einer ,Mira-Versteherin’ werde. Ich wähle bewusst dieses in den letzten Jahren zu einem unglaublichen Kampfbegriff gewordene Wort – mit anderen Worten: Ich diskreditiere mich eigentlich selbst. Aber was mir schon im ersten Interview mit den anderen Mädchen deutlich geworden ist, das tritt mir hier mit Mira gleichsam nochmals unglaublich verstärkt entgegen: Mira kämpft nicht. Sie kann es gar nicht. Sie ist, nach unseren gegenwärtigen Begriffen, schlicht nicht ,konfliktfähig’. [...]
Mira kann eigentlich nur auf empathische Fragen antworten – oder ihre Antwort möchte um jeden Preis auf diese Ebene zurückkehren. Indem sie einen sanft bei der Hand nimmt... Sie tritt einem nicht entgegen – sie wendet sich sozusagen um und sagt: Komm mit mir... Lass das Alte hinter dir, dort vorn liegt die Zukunft, nicht da, wo du sie glaubst...
Und ich weiß, dass mir unzählige Leute jetzt entgegnen (!) werden: Wie gedenkst du, mit reiner Empathie die Welt zu rocken? Aber mir war so, als bedeute ,rock’ der Fels, und ich glaube, die Härte ist gerade das, was die Welt derzeit umbringt. Und war mir nicht auch so, als würden dieses Totschlagargument immer dieselben bringen? Alte weiße Männer ... oder ihre gesichtslosen Nachbeter?
Längst ist mir klar, dass ich mir mit diesem Artikel zahllose Feinde mache – aber ich muss gestehen: Es ist mir egal. So wie es Mira egal ist, dass sie früher in der Schule oft gehänselt wurde. Dass sie neulich von drei betrunkenen Männern in der Straßenbahn angegriffen wurde und man ihr eine halbe Bierdose ins Kleid gegossen hat. Sie macht einfach weiter. Und diesen Mut – diesen Mut möchte ich einmal haben! Ich kann nur sagen: Dieses Mädchen hat mich unendlich berührt ... es hat mich schlicht verändert. Zum Besseren. Und nur das wollte sie. Keine Konfrontation, keinen Streit, sondern die Lösung. Sie hat es geschafft... Bei mir hat sie es geschafft. [...]
Nur eine letzte Bemerkung noch, auch an meine Redaktion, die mir diesen Artikel wahrscheinlich um die Ohren schlägt, aber auch an mich selbst: Ist Miras ganzes Auftreten in Weiß, das fast wie das Ideal des Viktorianischen Zeitalters wirkt, nicht die volle Stützung patriarchaler Rollenbilder? Nein. Sie wäre es, wenn wir nicht schon einen Schritt weiter wären. Wir Feministinnen haben dem Patriarchat gezeigt, dass wir uns anziehen, verhalten, dass wir denken und tun können, was wir wollen. Mira macht davon jetzt nur Gebrauch. Sie zieht an, denkt, will und tut, was den Kapitalismus an sein Ende führt.
Der Protagonist bewundert diese Frau restlos, die den Mut hat, sich selbst den Boden zu entziehen – und einfach weiterzumachen.
Einen Tag darauf bekommt er jedoch Besuch – er denkt erst, es ist die Post. Aber es ist Nora Zeilinger. Sie hat in dem Interview mit Mira natürlich auch von ihm erfahren und konfrontiert ihn nun schonungslos mit dem, was in ihren Augen Realität ist:[440]
Bestürzt nahm er wie ein Gast auf seiner eigenen Couch Platz und sah diese Frau an, die auf überraschende Weise wie eine Feindin in sein Leben eingedrungen war...
Als er dies getan hatte, maß sie ihn erneut mit ihren Blicken.
Dann fragte sie geradezu ruhig:
„Wie kamen Sie eigentlich dazu, die Mädchen mit ihren E-Mails zu belagern...?“
Jetzt war alles offensichtlich. Sie ritt den ,Pädophilen’-Film...
„Was meinen Sie mit ,belagern’?“
Er fühlte sich schon jetzt beschmutzt und entwürdigt...
„Ich habe Ihre Webseite gesehen. Sie machen doch gar kein Hehl daraus, dass Sie ... auf junge Mädchen stehen...!“
„Das mag Ihre Deutung sein. Ich habe noch nie in meinem Leben so einen Begriff verwendet!“
„Es ist doch egal, welchen Begriff ich verwende, es geht doch um die Tatsache! “
„Um die Tatsache? Um welche Tatsache?“
„Die ich eben ausgesprochen habe. Sie stehen auf junge Mädchen!“
„Wenn es eine Tatsache wäre, würde ich ja auch das Wort verwenden. Ich tue es aber nicht – also ist es keine Tatsache...“
„Wollen Sie mich verarschen? Halten Sie mich für blöd oder was?“
Zeilinger ist von ihrem Standpunkt nicht abzubringen, jede Antwort passt für sie nur in das Muster:[443]
„Sie glauben nicht, dass jemand ein Mädchen aufrichtig lieben kann, nicht wahr, Frau Zeilinger?“, fragte er ohne alle Waffen.
„Ach – hören Sie mir mit der Tour auf! Sie glauben wahrscheinlich selbst dran, dann ist es noch vergeblicher! All die süßlichen Texte auf Ihrer Webseite, diese Mädchenverherrlichung! Ja, natürlich glauben Sie selbst dran, müssen Sie ja, allein schon um Ihrer eigenen Rechtfertigung willen. Sie zimmern sich Ihr eigenes Ideal, und am Ende leben Sie in dieser absoluten Märchenwelt, in der nur noch Mädchen herumschweben – ein erotisches Paradies, nicht wahr? Und dann kommt so ein Mädchen auf einmal unerwartet hereingeschneit – unschuldig wie der Schnee selbst! –, und ihr Glück ist vollkommen... Aber nein ... es muss noch unter die Decke... So nah wie möglich. Merken Sie gar nicht, wie Sie die Mädchen missbrauchen? Merken Sie es wirklich nicht...?“
Sie hält es in keiner Weise für möglich, dass die Liebe zu einem Mädchen tief unschuldig sein kann. Selbst als er ihr etwas zu trinken anbietet, hält sie dies nur für Ablenkung – er aber fühlt seine Liebe zu Mira und auch deren zarte Liebe fortwährend durch den Schmutz gezogen... Als die Frau den Orangensaft ostentativ nicht anrührt, zerbricht etwas in ihm, denn er hatte sie vorbehaltlos bewundert. Tränen treten in seine Augen...:[445]
Er ließ seinen stillen Tränen freien Lauf. Er schämte sich ihrer nicht, wozu auch? Er hatte hier keinen Kampf zu kämpfen – den Kampf kämpfte sie. Sie allein. Es war nicht sein Kampf.
„Sie wissen nicht, wie das ist – –“, brachte er stockend hervor, immer am Rande eines Schluchzens. „Sie – – Sie haben zeitlebens Mädchen geliebt... Von ferne – – Sind ihnen nie zu nahe getreten! – – Haben sie verehrt, diese Mädchen – einfach, weil es Mädchen waren, verstehen Sie? Einfach nur das...!
Weil sie etwas hatten, was niemand sonst hatte... Unschuld... Eine berührende Schönheit... Und all das andere, was Mädchen auch noch haben! Spontanität. Lebendigkeit. Anmut...“
Mit dem Sprechen, mit dem Sich-Öffnen seines Wesens kehrte seine Fassung langsam wieder, aber er sprach einfach immer weiter, ruhig, in tiefer Aufrichtigkeit, voller Wehmut, über die lebenslangen Verurteilungen...
Immer weiter beschreibt er das, was er zeitlebens empfunden hat – das Wesen der Mädchen und seine Liebe zu ihnen. Zuletzt muss er noch einmal weinen:[448f]
[...] Wie lange wird es noch so eine Seele geben wie Mira? Wie ist so etwas überhaupt möglich? Wie konnte sie das schaffen? Ich kann es mir nicht erklären... Es ist ein Wunder... Wie konnte sie das schaffen? Einfach nur zu überleben...? So...? Ich weiß es nicht!“
Er musste aufschluchzen.
„Ich weiß es einfach nicht – – ich weiß nur, dass ich sie einfach liebe! Und zwar so unglaublich unschuldig – –! Ich hätte ihr nie etwas getan... Niemals... Keinem einzigen Mädchen...!“
Er musste sein Gesicht in seiner Hand bergen...
Als er schließlich wieder aufsehen konnte, nahm er beschämt noch einen Schluck von seinem Saft. Er schämte sich nicht seiner Tränen. Er schämte sich nur seiner Einsamkeit...
Schließlich sah er seinen weiblichen Gast wieder an...
„Ich habe jetzt ein ganz anderes Bild von Ihnen...“, sagte sie leise.
„Das ist gut...“, sagte er mit hilfloser, leiser Ironie.
„Ich denke, ich sollte mich entschuldigen...“
Die Atmosphäre verändert sich völlig. Beide erkennen, wie wahrhaftig der jeweils andere ist, sie bieten sich die Vornamen an. Unter ganz anderem Vorzeichen möchte Nora nun dennoch verstehen: ,Wie war das dann ... mit Mira unter der Decke? So nah ... ich meine, Sie sind ein Mann! Was geschieht dann?’
Er beschreibt nun ausführlich das Wesen Idealisierens und des Idealischen, jenes Reich, in dem er immer gelebt hat – so dass dieses das Wesentliche war und ist, nicht körperliche Prozesse, die dem Mädchen gar nicht gerecht werden würden.[453f]
„Aber wie haben Sie sie überhaupt dazu gebracht, dass sie zu Ihnen kommt und sich ... ankuschelt? Das kam doch sicher nicht von ihr? Das müssen Sie doch irgendwie ... veranlasst haben?“
„Das wird jetzt sehr intim, Nora...“, sagte er leise. „Ich habe sie ... unter Tränen gebeten, sie nur für eine Minute vorsichtig im Arm halten zu dürfen...“
„Okay...“, erwiderte sie fast entschuldigend.
„Und dann war sie so berührt, dass ... es am Ende doch zu mehr wurde... Dass sie sich auch selbst geborgen fühlte... Dass sie nicht mehr wegwollte, Nora! Auch nicht mehr woanders schlafen, sondern einfach noch bleiben! Ich glaube, auch sie war in diesen beiden letzten Stunden sehr, sehr glücklich... Sie ist in meinen Armen eingeschlafen...“
„Sie ist in Ihren Armen eingeschlafen?“
„Ja...“
„Das hat sie mir gar nicht erzählt.“
„Vielleicht haben Sie nicht danach gefragt... Vielleicht hat auch ein Mädchen heiligste Erlebnisse, die sie nur erzählt, wenn sie gefragt werden würde ... oder vielleicht nicht einmal dann...“
Zeilinger schämt sich sehr, was sie noch eine Stunde zuvor von ihm gedacht hatte. Ausführlich taucht das Gespräch weiter ein in das Mysterium der Mädchenliebe – und der Protagonist versucht zu beschreiben, wie das Wesen des Mädchens gerade überall das Heilende wäre:[457f]
„Darf ich noch etwas anderes fragen – bevor Sie mich ganz in Ihre ,Mädchen-Schiene’ reinziehen?“
„Welche ,Mädchen-Schiene’, Nora? Waren auch Sie von Mira berührt oder nicht? Sind Sie es noch – oder ist es schon wieder vorbei?“
„Nein, ist es nicht. Aber was wollen Sie tun? Jedem Mann ein Mädchen zum Kuscheln geben – und abwarten, was passiert? Ob sich der Kapitalismus in Luft auflöst?“
Er musste kurz lachen – wegen der absoluten Absurdität ihres Vorschlages und ihrer illusorischen ,Fertiglösung’, die selbstverständlich nicht eintreten würde. Dennoch lag darin jene Wahrheit, die sie sehr wohl zusammengeführt hatte.
„Das ist zumindest für mich eine extrem erotische Vorstellung! Aber wer weiß, vielleicht auch für so manches Mädchen? Ich meine, Sie müssen bedenken, dass erotische Vorstellungen in diese Richtung auch den Mädchen schon ausgetrieben werden, bevor sie auch nur denken können, nach dem Motto der Kindergartenratschläge: ,Wenn ein Mann kommt, lauf weg!’ Und glauben Sie nicht, dass das herrschende Tabu auch Mädchen davon abhält, sich für Männer zu interessieren, was sie sonst sehr wohl viel deutlicher täten...?
Und wohlgemerkt – Ihr Vorschlag bezog sich auf das Kuscheln! Es war keine Rede von etwas anderem! Wäre es wirklich so abwegig, dass dann, wenn jeder Mann ,ein Mädchen zum Kuscheln bekäme’, auch mit dem Kapitalismus etwas passieren würde...? Dass er womöglich wirklich seinem Ende entgegengehen würde? Sanft und allmählich, in dem Maße, in dem das Berührtsein der Männer durch die Mädchen zunähme?“
„Ich glaube, wir müssen jetzt wirklich aufhören, sonst gehen meine bisherigen Prinzipien ihrem Ende zu... Ich muss mir das einmal in Ruhe durchdenken; ich habe das Gefühl, dass sie einem hier den Kopf verdrehen ... und vielleicht war genau das ja auch Mira passiert...“
„Ist das jetzt wieder ... eine Art Humor?“
„Eine Art, ja, ich ... ich muss sagen, ich bin etwas verwirrt...“
„Von was, Nora? Von der Wahrheit dieser Gedanken, auch wenn sie in dieser Form illusorisch sind? Wir können nicht jedem Mann ein Mädchen zum Kuscheln geben! Sie wissen genau, dass das nicht geht! Aber genauso wenig können wir den Kapitalismus abschaffen! Oder doch...?!“
Das Gespräch geht immer mehr an die Wurzeln – und kommt bis zu der Erkenntnis, dass niemand mehr Ernst macht als Mira ... und dass es um nichts anderes als diesen Ernst geht. Nach und nach gelingt es Manuel – so heißt der Protagonist –, Nora die Realität der Seele näherzubringen:[463f]
„Aber man kann doch heute bis ins Einzelne erklären, was passiert, wenn man sich verliebt zum Beispiel...“
„Aber haben Sie mir vorhin denn nicht zugehört? Oder es schon wieder vergessen? Erst muss man sich doch verlieben – und dann werden die Hormone ausgeschüttet. Man darf doch nicht Ursache und Wirkung verwechseln!“
„Und die ganzen Synapsenkaskaden kurz vor dem Tod? Mit denen man die religiösen Erlebnisse erklärt?“
Verzweifelt suchte er ein anderes Beispiel.
„Wenn eine Frau ihren Mann verlässt und ihm sämtliche Hochzeitsgeschenke vor die Füße knallt, meinen Sie dann auch, sie verlässt ihn, weil die Sachen runtergefallen sind?“
„Nein!“, lachte sie.
„Ich weiß nicht, ob das als Beispiel jetzt ganz passend war, aber man darf doch immer wieder nicht Ursache und Folge vertauschen! Die Wissenschaft findet immer wieder irgendwelche Phänomene und meint, damit jeweils Ursachen gefunden zu haben, aber das ist etwas völlig anderes! Vielleicht ist die Ursache jedes Mal die Seele, aber die wird gar nicht berücksichtigt! Immer nur als ,Folge’, die nur existiert, weil bestimmte ,Dinge’ passieren, aber vielleicht existieren und passieren die Dinge nur, weil die Seele existiert?“
„Na gut, ich bin da zu wenig bewandert, ich weiß es nicht...“
„Aber nehmen Sie Ihre eigene Seele ernst, Nora! Wie fühlen Sie sich, wenn Sie auf diese Weise ,erklärt’ werden sollen? Wie fühlen Sie sich so als Gehirn? Als Synapsenkaskade?“
„Schlecht!“, lachte sie.
Und allein schon für diese wahrhaftige Bemerkung liebte er sie abermals...
„Nehmen Sie sich ernst...“, sagte er leise noch einmal. „Und dann: nicht wieder zurückfallen. Das ist wirklich die wesentliche Zukunftsaufgabe der Menschheit...“
Als Nora Hunger hat, gehen sie in derselben Pizzeria essen, das Gespräch vertieft sich weiter. An Kleinigkeiten kann Manuel ihr zeigen, dass auch ein Teil von ihr Mädchen nicht für vollwertig hält, dass Frauen fortwährend mit Mädchen konkurrieren und anderes. Vor allem aber geht es immer weiter um das Geheimnis des Mädchens, damit zusammenhängend aber auch um das Verhältnis der Geschlechter, um Feminismus, um Hingabe, Konkurrenz, Liebe... Immer wieder gerät Nora, obwohl sie von der Sphäre der Gedanken beeindruckt und berührt wird, an die Grenzen, die Realität des Idealischen zu betreten:[479ff]
„Aber wenn Sie jetzt, damit, mit Ihren eigenen Empfindungen, die Sie jetzt haben, in dem, was Sie an Mira berührt, ganz konkret berührt ... wenn Sie damit jetzt auf Ihre eigene Seele blicken ... können Sie dann nicht, in heiligster Zartheit, spüren ... spüren, was der Mensch ... werden soll...? Im Sinne eines zutiefst berührenden heiligen Zieles...? Können Sie ... lernen, das zu spüren...?“
„Sie meinen, jeder Mensch soll eine Mira werden?“
„Ja, so berührend, so aufrichtig, so wahrhaftig, so bedingungslos. Und so unschuldig. Es ist das Wesen des Menschen ... aber es liegt in der Zukunft, kommt uns von dort aus sanft entgegen ... noch in uns selbst nur ein heiliger Keim, eine heiligste Verheißung... Wir selbst ... sollen sie wahrmachen ... eins mit ihr werden...“
„Wo dann die Männer edle Prinzen sind und die Frauen hingebungsvolle Prinzessinnen?“
„So ist Mira nicht, Nora. Das wirkliche Märchen der Menschheit hat kein Schema. Aber die brennende Hingabe und Unschuld ist nicht geringer! Mira ist ein Engel, Nora. Die Menschen sollen liebende Engel füreinander werden. Das ist das Ziel. Ob sie dann außerdem auch noch Prinzen und Prinzessinnen sind, wird sich zeigen. Wir sehen in Mira das Engelwesen, das das wahre Wesen des Menschen ist – reinstes, wirklich reinstes Menschentum... Alles, was Sie berührt, Nora...“
„Ich kann mir das immer wieder nicht vorstellen, Manuel. Nehmen Sie es mir nicht übel ... wenn man Ihre Worte hört, würde man es so gern...! Es sich vorstellen können... Dass es wahr wäre!“
„Das ist nicht verwunderlich, Nora. Ich sage es jetzt ganz nüchtern, einfach als spirituelle Tatsache. Es ist nicht verwunderlich. Glauben Sie, Sie könnten innerhalb von Minuten ,umsteigen’? Alles, was Entwicklung und Entwicklungsgeheimnisse betrifft, braucht Zeit. Selbst an etwas heute so Simples wie die Tatsache, dass die Erde rund ist, mussten sich die Menschen geradezu jahrhundertelang gewöhnen! Das Aufwachen der Seele zu sich selbst und zu der wirklichen Realität geht nicht so schnell. Es braucht ebenso Zeit. Aber leben Sie einmal mit diesen Gedanken! Sie werden sehen, wie sie Kraft gewinnen ... wie sie auch Ihnen Kraft schenken. Und eines Tages wachen Sie auf und fragen sich: Wie konnte ich je etwas anderes für wahr halten? Glauben Sie mir. Es ist so. Sie müssen nur den Mut haben, mit diesen Gedanken zu leben. Allein schon, weil sie Ihrer Sehnsucht entsprechen.“
„Aber ist es denn nicht klar, dass es suggestiv sein wird? Selbstsuggestion? Weil man einfach möchte, dass es wahr ist?“
„Sie fragen sich das, weil Sie die Seele nicht ernst genug nehmen. Die Sehnsucht, Nora, wird heute völlig missverstanden. Sie ist kein Traum, sie ist ein zartes Wissen. Eine heilige Erinnerung, verstehen Sie? Die Seele weiß von ihrer eigenen heiligen Bestimmung. Sie weiß, dass es nicht der Kapitalismus ist, sondern das Märchen! Nämlich das Ideal. Es ist das innerste Wesen der Seele, Nora. Je tiefer die Seele in sich hineintaucht, desto heiliger wird es ... am Ursprung findet sie die heiligen Ideale, und das ist sie selbst, Nora! Sie macht sich nicht Ideale, sie schaut ihr eigenes Wesen ... und was sie idealisiert, macht sie sich selbst ähnlich. Wir müssen den Mut haben, unser wahres Wesen zu erkennen. Wir haben nicht Sehnsucht, weil wir unvollkommen sind, Nora, sondern weil wir uns an unsere eigene Vollkommenheit erinnern! An das, was wir werden sollen – weil es unser eigenes Wesen ist!
Man muss hier fortwährend von zwei Enden her denken, verstehen Sie? Oder sogar von dreien. Wir kommen schon bei der Geburt aus einem vorgeburtlichen Reich, aus dem wir diese brennenden Ideale mitbringen. Dann geht das fast immer sehr schnell sehr weitgehend verloren – außer bei Mira –, und dann bleibt aber in uns dieses Innerste vorhanden, diese Sehnsucht ... und dann gibt es die weit in der Ferne liegende Menschheitszukunft, wo die Seelen wirklich Engel auf Erden sein werden, immer und immer mehr, weil sie begreifen, dass nur eines Sinn macht: die Liebe. Und das wird die Verwirklichung des eigenen Wesens sein. Was man als Mensch ist.“
„Sie machen es so plastisch, dass man es immer wieder glauben will...“
„Das wollen Sie sowieso schon, Nora. Ich helfe Ihnen nur, es mit der Zeit auch zu können. Aber Ernst damit müssen Sie dann selber machen. Nicht zurückfallen. Allein schon um Mira willen. Was Sie an ihr berührt, ist real. Es gehört real zum Wesen des Menschen – Mira macht es nur wahr. Was wir uns alle nicht trauen... Mira macht es wahr. Sie ist die Wahrhaftigste von uns allen...“
Als Nora schließlich wieder abreisen muss, sind zwei Menschen Freunde geworden...
In den nächsten Tagen sieht Manuel auch in seiner eigenen Stadt vereinzelt Menschen mit weißen Bändern im Haar oder an der Kleidung. Voller Sehnsucht erinnert er sich an all die tief berührenden Erlebnisse mit Mira, schreibt ihr einen kürzeren lieben Brief, wie es ihr gehe und vieles andere. Am Ende bittet er noch sehr unbeholfen um ein Foto von ihr, ,wenn sie eines hätte, aber nur, wenn sie diese zarte Bitte verstehen könne... Es wäre für ihn ein kostbarstes Geschenk.
Die Webseite der Mädchen berichtet, dass fast alle Mädchen des ursprünglichen Streiks jetzt weiße Bänder tragen, sogar einige Obdachlose haben sich solche beschafft. Auch andere Mädchen wagen jetzt, mit ihnen zu sprechen, und kleine Momente von Menschlichkeit entstehen. Ein Lehrer mit weißem Band wird von seiner Schulleitung verwarnt...
Als Mira nicht antwortet, schickt er ihr, verzweifelt vor Sehnsucht, eine SMS – und ist zugleich über seine eigene hilflose Liebe verzweifelt:[493]
Und diese Sehnsucht war so groß, dass sie gegen die Wellen anruderte... Dass sie etwas tat, was er sonst nie getan hätte. Sie gab sich der möglichen Verachtung preis... Sie begann, sich der Grenze des möglichen Bedrängens zu nähern, verzweifelt, so hilflos wie möglich, wie eine Hündin, die ihre Kehle anbot, unterwürfig... Er fragte sie per SMS, ob sein Brief angekommen sei... Ob sie ihn erhalten habe... Und sie müsse nicht antworten, er wolle nur wissen, ob sie ihn gut bekommen, vielleicht gelesen habe...
Schon dafür schämte er sich! Was für ein schmaler Grat... Zwischen freilassender Liebe und hilfloser Verzweiflung. Zwischen einem Wunder von Begegnung kurz nach den ersten Weihnachtstagen ... und einer elenden Abhängigkeit, die an einem Mädchen zu kleben begann ... ,sticky’, wie die Engländer sagen würden. Erbärmlich... Einem Mädchen konnte tatsächlich stickig werden, wenn so ein alternder Mann plötzlich an ihr zu kleben begann... Er schämte sich so sehr... Er kam sich vor wie das erbärmlichste Wesen auf dieser Erde, mit seiner Liebe zu einem Mädchen ... von dem er nicht lassen konnte, während sie längst schon von ihm ließ, frei werden wollte, frei sein... Er hatte nicht einmal Tränen vor Scham. Er spürte es regelrecht bis in seine Eingeweide, wie es war, wenn ein Mädchen frei sein wollte, aber etwas an ihr klebte, wie ein Klotz... Wenn er sie wirklich liebte, müsste er sich selbst abschneiden, um hilflos in die Tiefe zu sinken ... in die endlose Finsternis...
Aber die Wirklichkeit ist eine andere. Als sie ihn schließlich anruft, hat sie herausgefunden, dass ihre Eltern ihr den Brief vorenthalten haben:[495f]
,Meine Eltern ... wollen nicht, dass ich Kontakt zu Ihnen habe. Sie haben mir Ihren Brief nicht gegeben...’
„Was? Aber warum nicht? Weil sie ... weil sie denken, dass – –“
,Ich weiß nicht, was sie denken, aber sie denken jedenfalls – –’
Sie zögerte. Obwohl er wartete, schwieg sie am anderen Ende.
„Was denken sie, Mira? Bitte sag doch was...“
Ein kurzes Zögern folgte, dann erwiderte sie:
,Sie finden das ... mit den ,Dämonen’ ... ,unverantwortlich’, sagen sie...’
Es stieg ihm heiß und kalt den Körper hoch. Erneut fühlte er sich wie ein Schuljunge, der bis auf die Haut ausgezogen wurde...
,Herr Buchwald?’
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Mira“, stammelte er.
,Ich habe es ihnen erzählt ... ich wusste ja nicht –’
„Ich hätte dich warnen müssen, Mira...“, sagte er untröstlich, tief beschämt.
,Das hatten Sie ja!’
„Nicht so nebenbei, ich hätte es viel ausführlicher erklären müssen...“
,Es ist ja nicht Ihre Schuld!’
„Doch...“
Sie schwieg verlegen...
„Und jetzt bist du gerade unterwegs?“
,Ja...’
Seine ganze Selbstachtung brach zusammen, aber die Liebe kannte so etwas sowieso nicht.
„Ich will nur mit dir Kontakt haben, Mira...“, sagte er fast flehend. „Ich kann auch ... ich weiß nicht ... ich kann auch mit allem aufhören... Mich entschuldigen... Was sie wollen...“
,Aber wenn es stimmt?’
„Was meinst du?“, fragte er verletzlich.
,Das mit den Dämonen...’
Mira glaubt dies nicht nur, weil er es gesagt hat – auch für sie macht alles, was geschieht, insbesondere in der Seele selbst, jetzt erst wirklich Sinn, wenn man die Existenz dieser höheren Wesen als Tatsache ernst nimmt. Manuel bleibt für sie die engste Vertrauensperson, auch sie möchte unbedingt weiter mit ihm Kontakt haben. Sie erkundigt sich auch, was er denn geschrieben habe. Und nun entfaltet sich ein Dialog, der die ganze, verletzliche Zartheit dieser beiderseitig so tiefen Beziehung zeigt:[498f]
„Oh...“, erwiderte er berührt. Er musste seine Gedanken erst einmal sammeln und sich erinnern. „Es war ein halber Liebesbrief...“, gestand er dann beschämt, mit etwas Selbstironie für sie, aber in Wirklichkeit war es die reinste Wahrheit... „Ich habe gefragt, wie es dir geht... Ob alles in Ordnung ist... Wie es Julia geht und ob ihr euch oft seht. Und dass du mich jederzeit anrufen kannst, wenn du ... etwas brauchst... Mich brauchst oder einen Rat oder – – eben so was...“
Ihm fiel noch das Foto ein... Das konnte er jetzt unmöglich auch noch sagen!
,Sie sind so lieb...’
„Ich bin nicht lieb, Mira... Ich liebe dich einfach! Und es tut mir so leid, was ich mit diesen Worten anrichte... Ein vierzehnjähriges Mädchen sollte sich nicht von einem alten Mann geliebt fühlen müssen... Nicht so...!“
Wieder schwieg es am anderen Ende. Dann fragte sie:
,Was meinen Sie...?’
„Wir haben doch darüber gesprochen, Mira!“, sagte er verzweifelt. „Ich mache dich doch nur die ganze Zeit abhängig von mir ... weil ich abhängig von dir bin! Liebe macht so hilflos, Mira...! Ich weiß nicht, was ich rede, ich fühle mich gerade wie ein Wahnsinniger! Jemand, der auf ein vierzehnjähriges Mädchen einredet und damit alles kaputtmacht, was er hatte... Ihr zartes Vertrauen... Wenigstens das...!“
Ein Schweigen am anderen Ende ließ ihn die größtmögliche Katastrophe annehmen. Aber es währte nur kurz.
,Sie machen das nur, weil es ihnen so kostbar ist...’
„Ja...“, sagte er mit hilfloser Selbstironie. „Da war es wieder...“
Sie musste kurz lachen – vielleicht auch nur, weil sie so lieb war; vielleicht tat sie es nur für ihn...
„Mira, bitte vergiss alles, was ich gesagt habe. Ich bin nicht bei Sinnen, nicht einmal ansatzweise. Ich frage mich, wie ich das je wiedergutmachen soll.“
,Ich weiß doch schon lange, dass Sie mich lieben...’
„Aber doch nicht so, Mira...“, sagte er hilflos, nun wieder völlig ruhig werdend. „Bist du ... denn gar nicht entsetzt gewesen...? Erschrocken... Fast abgestoßen...“
,Sind Sie jetzt wieder ,normal’?’
„Wenn ich wüsste, was das genau ist...“
Sie musste wieder leise lachen.
„Ja, Mira... Ich bin wieder so normal wie möglich...“
,Sehen Sie...? Bitte machen Sie sich keine Sorgen...’
Ihm blieb ohne Vorwarnung die Stimme weg. Die Tränen schossen ihm in die Augen. Er konnte mit Mühe ein Schluchzen verhindern...
,Herr Buchwald?’
„Ja – –“, presste er hervor.
Ihr betroffenes Schweigen am anderen Ende.
,Weinen Sie wieder...?’, fragte sie besorgt.
„Nein...“, brachte er erneut mühsam hervor. „Ist gleich vorbei, Mira –!“
,Wirklich, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen!’
„Das ist ja der Grund, warum ich fast geweint habe! Du bist so lieb, Mira! Nicht ich...“
,Wir sind einfach beide lieb...’, sagte sie in einer ergreifenden Unschuld.
„Was bin ich denn noch mehr, als eine Last an deinem Bein, Mira? An deinen Engelsflügeln...?“
Wieder dieses kurze Schweigen, das so typisch für sie war...
,Sie sind auch kostbar... Mir, meine ich...’
Wieder musste er fast weinen.
,Vielleicht...’, sagte sie, , merken Engel so eine Last gar nicht... Vielleicht hätten sie gar keine Flügel...’
Er konnte nur ungläubig schweigen, fassungslos, wie wenn sein Bewusstsein von etwas absolut Übermenschlichem zart überwältigt wurde... Ertränkt in etwas unendlich Zartem...
Nach diesem Gespräch ist er erschüttert. Sie aber schickt ihm als erstes Julias Nummer – für den Fall, dass ihre Eltern ihr das eigene Handy wegnehmen. Eine halbe Stunde später schickt sie ihm ihr Foto – für das sie extra sogar noch einen schönen Hintergrund gewählt hatte.
In den nächsten Tagen erscheint der erste Text von Mira selbst auf der Webseite der Mädchen – und handelt von den Dämonen. Diese täten nicht so sehr das Böse, als dass sie das Gute verhinderten. Man lief an den Obdachlosen vorbei, hielt Abstand, aber es sind echte Menschen, ,und sie erzählten berührende Geschichten, konnten weinen und ein zum Weinen bringen... Und spätestens an dieser Stelle musste auch er weinen – denn er konnte nicht anders, als all diese Szenen real mit ihr mitzuerleben ... denn sie hatte all das erlebt! Sie schrieb nur von dem, was sie erlebt hatte ... jedes Wort! Mit nassen Wangen las er weiter...’ An jedem Punkt waren es Dämonen, die verhinderten, dass in der Seele der Menschen die Liebe einziehen konnte.
In verschiedenen Blogs wird über Mira diskutiert – was aber nur bewies, dass man ihre Sphäre bereits verlassen hatte. Man befand sich damit nur noch im Reich des Intellekts...
Dann sperren die Eltern tatsächlich seine Nummer, aber Mira telefoniert einfach mit Julias Handy weiter. Zugleich muss sie wegen ihrer ,Schulverweigerung’ Sozialstunden leisten:[515f]
Sie ging sanft erhobenen Hauptes in die ,Strafmaßnahme’ ... und es gab sogar Presseberichte von der ,Schulverweigerin Mira W.’, die jetzt ihre Sozialstunden in einer städtisch geförderten Kita ,antrat’. Der ,Mannheimer Morgen’ brachte gar eine kleine Reportage mit Foto vor Ort und berührendem Kurzzitat, wobei überhaupt nicht klar war, was der Beitrag am Ende sollte. Auf der einen Seite wirkte es wie der Ansatz zu einem ,Rührstück’, auf der anderen Seite wurde von den ,naiv-idealistischen Vorstellungen’ der ,Schülerin’ gesprochen, die auf der Webseite der ursprünglichen ,Klima-Mädchen’ jetzt sogar öffentlich einen Glauben an ,Dämonen’ bekundet hatte...
Zwei Tage später ruft Mira ihn aufgelöst an, dass sie nicht mehr in dem Kindergarten arbeiten wolle. Sie klagt ihm ihr Leid: Die meiste Zeit würden die Erzieherinnen gar nichts tun, sondern sich nur unterhalten, das gehöre sogar zum pädagogischen Konzept, die Kinder selbstständig ,machen zu lassen’, wie man ihr von oben herab erwidert habe. Aber es sei viel zu laut, jedes Kind sei einsam und spiele vor sich hin, viele zwar auch zusammen, aber nicht wirklich. Ein Mädchen habe trostlos mit Plastikpuppen gespielt:[518]
Und ich ging zu ihr und spielte mit ihr ... und auf einmal war sie glücklich! Und dann, auf einmal ... sah sie mich an und fragte mich: ,Bist du ein Engel...?’ Und ich wollte schon ,nein’ sagen, aber da lachte ein Junge, der das gehört hatte, ganz hässlich und machte sich darüber lustig – und dann zusammen mit einem zweiten. Sie machten sich lustig über das Mädchen! Und lachten und waren so hässlich, ich habe noch nie gesehen, wie kleine Kinder so hässlich sein können! Ich habe sie ausgeschimpft und das kleine Mädchen in Schutz genommen, aber sie zogen sich nur ein bisschen zurück und machten dann weiter mit ihrem Auslachen – bis eine Erzieherin vom Tisch rief, jetzt sei ,Schluss’. Da hörten sie auf – aber nicht damit, das Mädchen innerlich für einen kleinen Dummkopf zu halten!
Manuel ist ebenfalls fassungslos, versucht aber, Mira zu ermutigen, diesem Mädchen einfach so viel Liebe wie möglich zu geben. Mira befürchtet mit Recht, dass das Mädchen sie dann nur noch umso mehr vermisse. Er erwidert, dass selbst die Erinnerung an erlebte Wärme einem Kraft gibt...
Während weiße Bänder im Stadtbild häufiger werden – ,wenn man es ,objektiv’ nahm, war es vielleicht maximal jeder Vierzigste. Manchmal sah er Gruppen von Mädchen, die alle ein Band im Haar hatten, kleine ,Nester’ von Solidarität, wie er berührt dachte’ – ruft auch Nora ihn wieder an, nachdem ein besonders schlimmer Artikel in der FAZ erschienen ist, den sie regelrecht als ,Giftmüll’ bezeichnet. Nora hält es für möglich, dass sich die Bewegung rund um Mira so ausweitet, das eine wirkliche Alternative zum Kapitalismus in Sicht komme, und hat selbst in ihrem Bekanntenkreis gerade rege Diskussionen über das ganze Thema.
Er liest den Artikel ebenfalls und ist von der Perfidie erschüttert. Die Rede ist dort von ,wohlfeiler Weltverbesserungsromantik’, ,mit weißem Kleid und Schleifchen garniert’, von ,Erlöser-Mädchen, Bußpredigern und anderen Erscheinungen’, und am Ende legt der Autor nahe, lieber die Bescheidenheit zu besitzen, erst einmal in der Schule die größeren Zusammenhänge zu lernen, als ,gleich beim ersten Weltschmerz die Weltretterin spielen zu wollen’.
Manuel schreibt sofort einen Aufsatz für seine Webseite, auch Nora hat bereits einen Artikel begonnen: ,Das Urteil alter weißer Männer über Mira’. Sie erzählt ihm von den verschiedenen Urteilen in ihrem eigenen Umfeld und von verschiedensten eigenen Plänen, mit konkreten Punkten an die Öffentlichkeit zu gehen, diese auch mit jungen Menschen zu entwickeln und so weiter, darüber hinaus aber speziell auch mit Mädchen zu arbeiten:[532f]
,Ich will sie fragen, was sie über Mira denken – und mit ihnen erarbeiten, wie sie selbst sozialisiert worden sind ... einschließlich der ganzen Konsumfrage, der Coolness-Frage, der Selbstdarstellungsfrage, Handys, Selfies, innere Sehnsüchte, innerste Sehnsüchte... Das interessiert mich so brennend, Manuel! Seit Mira mir begegnet ist, entdecke ich in mir ganz andere Seiten ... und ich habe auch oft an dich gedacht, weißt du... An deine Mädchen-Liebe... Und an die Kuschelmädchen für jeden Mann!’
Sie musste lachen.
,Ich fange an, es immer besser zu verstehen... Was mich damals so berührt hat, als ich diesen Text schrieb, über Mira ... und meine Gefühle bei dieser Begegnung ... das zieht immer noch seine Kreise, Manuel. Es ist so umfassend! Da hängt alles dran – alles. Ich bin manchmal ganz sprachlos...’
Er musste lächeln.
„Das sage ich ja, Nora... Ein Mädchen ist ein Kosmos...“
,Ja, wirklich! Ohne Witz. Und weißt du, es tut mir wirklich leid, was ich am Anfang über dich dachte... Erst dachte ich, du bist absolut pervers. Dann dachte ich ... okay, er ist sympathisch, geradezu liebenswürdig, aber er übertreibt doch zumindest manchmal so absolut maßlos... Aber es deckte sich mit dem, was ich an Mira als Realität erlebte... Und du sahst das irgendwie an allen Mädchen ... sehr real, sehr nahe an der Oberfläche sozusagen.
Und gleichzeitig weiß doch auch unser Gewissen, wie eine Welt aussehen würde, die ganz und gar menschlich wäre. Das siehst du als Fähigkeit vor allem bei den Mädchen... Und weißt du ... immer mehr glaube ich, dass du Recht hast. Immer mehr fange ich an, das zu verstehen... Dass die Mädchen nur verführt sind von diesem ganzen Konsum, aber dass die Jungen ein echtes Problem haben... Ich habe eine ältere Autorin entdeckt, Carol Gilligan, die hat das wirklich auch eindrucksvoll vertreten, schon 1982, da hat sie –’
„,A Different Voice’“, lächelte er. „Das kenne ich natürlich...“
Und dann ruft Mira ihn verzweifelt erneut an mit der Frage, ob sie einmal zu ihm kommen könne. Er bekommt aus ihr nicht heraus, worum es geht. Auf Julias Hinweis hin schickt er das Geld für die Fahrkarte an das ,Hauptquartier’ der Mädchen, und Mira fährt zu ihm, während sie vorgibt, bei Julia zu übernachten...
Als sie schließlich ankommt, ziemlich verkleidet, damit niemand sie erkennt, vermisst sie scheu und befangen als erstes den Weihnachtsbaum... Manuel stellt ein paar Kerzen auf:[545f]
Es war ein mehr als armseliger Behelf ... aber es war warmes Licht...
Er machte probeweise das elektrische Licht aus – und es war erschreckend dunkel.
„Oh...“, sagte er betroffen. „Geht ... geht das so, Mira...?“
„Ja...“
Zögernd kam er wieder zu ihr und zu der Couch.
„Möchtest du ... wieder –“
„Ja...“, sagte sie, bevor er seine Frage zu Ende formulieren konnte.
Er ging fast befangen an ihrer zarten Gestalt vorbei, um sich zu setzen, während sie scheu darauf wartete – und dann kam sie noch befangener und zugleich zutiefst vertrauensvoll zu ihm und kuschelte sich verletzlich in seinen Arm... Zärtlich breitete er nur noch die Decke für ihre Beine aus...
Und dann waren sie einfach zwei Seelen, die jeweils auf ihre Weise und doch unendlich verbunden das Mysterium einer in die Gegenwart hineinragenden, kurzen Ewigkeit spürten, trauriges Glück ... verletzliche, vergängliche Geborgenheit auf der einen Seite und das grenzenlose Wunder eines sich schenkenden Engels auf der anderen...
Zunächst geht es nur um die Geborgenheit, die Mira jetzt empfindet. Es wird deutlich, dass sie sich bei ihm grenzenlos wohlfühlt. Dann erzählt sie unter Tränen, dass sie das kleine Mädchen in der Kita nur unglücklich gemacht habe. Am letzten Tag habe es geweint, sie musste auch weinen, und die Erzieherin habe sie daraufhin weggeschickt...
Manuel tröstet sie und erklärt ihr, dass sie als Einzige alles richtig gemacht habe – und rät ihr, einfach nochmal am Nachmittag auf das Mädchen zu warten. Dann könne sie sich mit all ihrer Liebe von ihm verabschieden und auch mit der Mutter sprechen und ihr sagen, wie einsam das Mädchen dort ist. Sie begreift, wie das Kindergartenkonzept und der Kapitalismus aus ein und derselben Wurzel hervorgehen – dem kalten, unendlich abstrakten Intellekt...
Dann erzählt auch sie von dem Artikel, den sie sich viel zu sehr zu Herzen genommen hat: ,Er hat gesagt, ich säe Chaos... Säe ich Chaos...?’ Er erwidert ihr mit der Wahrheit: Der Kapitalismus selbst sät Chaos, allem voran eine zunehmende Lieblosigkeit, von der dann alles andere Chaos ausgeht. Aber Mira ist noch immer nicht getröstet:[550]
„Ganz ehrlich, Herr Buchwald...“, sagte sie dann wieder tief leidvoll. „Kann man den Kapitalismus verändern? Oder ... bin ich ... wirklich nur ,mit Schleifchen garniert’... Ich ... ich kann wirklich keine einzige Schraube anziehen...“
Er ist grenzenlos erschüttert und sagt ihr, dass sie mehr könne als jeder andere, denn was ohne Liebe sei, sei auch ohne Sinn. ,Der Kapitalismus kann nicht eine Schraube anziehen mit Liebe – aber wozu geschieht es dann? Welchen Wert hat es dann noch? Die Liebe aber kann alles. Sie kann alles, was der Kapitalismus auch kann ... aber die Menschen wären glücklich! Die Liebe kann nur eine Sache nicht: egoistisch sein. Der Kapitalismus muss enden, Mira – und er wird enden, wenn die Menschen begreifen, was das Wichtigste ist ... und dass dies alles vermag, was gebraucht wird. Denn der Mensch kann alles. Er braucht nur die Liebe...’
Seine Worte, sein Beistand und seine Geborgenheit trösten sie so sehr, dass sie auch diesmal in seinen Armen einschläft...:[555]
Er hatte sie noch über eine Stunde so im Arm gehalten... Tief berührt ihrem Atem gelauscht, der aus ihrem so unendlich unschuldigen Wesen bestand... Irgendwann hatte sie sich dann hinlegen wollen, war halb aufgewacht und hatte sich in diesem Halbschlaf rührend hilflos ausgestreckt und ihren Kopf auf seinen Schoß gelegt ... und war dann sofort wieder eingeschlafen... Er hatte Tränen in den Augen... Sie schenkte ihm ihr ganzes Wesen, reines Vertrauen, reine Unschuld... So weit gefahren...
Am nächsten frühen Morgen begleitet er sie zum Bahnhof – sie gehen wirklich wie zwei Liebende durch die noch verschlafenen Straßen ... bis dahin, dass sie ihm schließlich einen scheuen, völlig unerwarteten Abschiedskuss gibt:[557]
Aber ihre unverwandt blickenden Augen verwandelten sich in eine Art zarte Entscheidung ... und auf einmal spürte er ihre Lippen auf den seinen, hilflos ihre zarte Süße ... eine kurze Ewigkeit lang, die ihn erschlug ... und dann stand sie wieder vor ihm, selbst hilflos errötet ... sandte ihm noch einen flehenden Blick, weil sie nun selbst völlig ratlos war ... und lief dann weg.
„Jetzt muss ich mich beeilen...!“
Der Roman endet mit der Perspektive, dass hier zwei Menschen einander aufrichtiger lieben, als es fast jeder andere vermag ... und mit den Gedanken und Empfindungen von Manuel, der, begleitet von dem Bewusstsein ihres berührenden Wesens, weit in die Zukunft denkt:[559]
Dieser wunderbare Planet stand vor einem Kollaps. Es war nicht nur die wachsende Ungerechtigkeit und Ausbeutung unter den Menschen. Nicht nur der Klimawandel. Nicht nur die Ozonschicht. Nicht nur das Aussterben unzähliger Arten. Es war die Vernichtung der Böden und ihrer Prozesse, der Kampf um zu wenig Süßwasser, die Übersäuerung der Ozeane, ihre Vergiftung mit Chemikalien und Plastik, es war eine unvorstellbare Katastrophe, die immer mehr herannahte. Und dann würden auch zivilisatorische Zusammenbrüche folgen, nicht mehr kontrollierbare Geschehnisse auch unter den Menschen selbst... Soviel zu ,Realismus’ und ,Schleifchen’!
Er selbst hatte das erst gestern zufällig wieder in einem Artikel so drastisch erläutert gefunden – ,zufällig’! Als wenn Mira damit zu tun hätte ... oder als hätte er es wissen sollen, bevor sie zu ihm kam... Aber sagen konnte er ihr davon nichts, nicht an diesem Tag... Dann wäre sie völlig verzweifelt... Und das durfte sie nicht! Es war alles noch viel schlimmer, als fast jeder ahnte. Es war gigantisch. Und es waren die Dämonen, die den Menschen blind halten wollten – und wie leicht verfiel er ihnen, so unendlich gern! Aber Mira hatte begonnen, ihnen offen entgegenzutreten... Sanft und unbeirrbar...
Mit Mira beginnt die Auferstehung der Seelen, der zarte Ostermorgen des ganz Neuen...