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Warum ein Mädchen geliebt wird
Warum wohl liebt ein Mann ein Mädchen?
Weil ein Mädchen anders ist. Anders als wer? Als der Mann? Nein – denn eine Frau ist auch anders. Also anders als wer? Wie ist das Mädchen anders? Anders als alles. Es ist anders als alles andere. Und das ist der wahre Ursprung der Mädchenliebe, der Parthenophilie.
Es ist bereits ein Wahnsinn, darüber zu diskutieren, ob ein Mann eine Liebesbeziehung zu einem sechzehn-, einem vierzehn- oder einem zwölfjährigen Mädchen haben darf. Warum? Weil es das Gleiche ist, wie wenn zwei Brüder sich gehässig um einen Kaugummi streiten, während neben ihnen ihre liebe Schwester stirbt. Der Leser erschrickt über die totale Abwegigkeit dieses Vergleichs? Er sollte lieber über seine eigene Blindheit erschrecken.
Denn das Mädchen stirbt tatsächlich. So viele Mädchen leben irgendwo, an irgendeinem Ort, und werden nicht geliebt, werden nicht verstanden, fühlen sich einsam und allein, mit ihren Empfindungen, ihren Gedanken. Und langsam stirbt ihre Seele... Stirbt hinein in die Alltäglichkeit. In die Anpassung. Sie stirbt einfach. Die größte Tragik...
Und die gefühllosen anderen Seelen empfinden das nicht. Sehen das nicht. Wiegeln dies ab. Schon den Gedanken. Es ist aber kein bloßer Gedanke – es ist Realität. Der Tod der Mädchen...
,Ach was!’, sprechen zahllose Leser. ,Hört euch den an, diesen Spinner! Erzählt was von sterbenden Mädchen, dabei geht es den Mädchen heute so gut wie nie zuvor. Sie sind behütet, sie werden geliebt – von ihren Eltern, Freundinnen, Freunden – und alles ist bestens. Sterbende Mädchen – was für ein Schwachsinn!’
So spricht die abgestumpfte Seele. Die, der ,die Schläge auch nichts geschadet haben’. Seelen, die so sprechen, merken überhaupt nicht, in welcher Welt wir leben. In welcher Welt vor allem viele Mädchen leben. Wer so spottet; wer einen unverstandenen Gedanken spöttisch derart abtut – der hat gar nicht die innere Fähigkeit, ein Mädchen wirklich zu verstehen. Es fehlt ihm einfach das innere Organ. Er ist innerlich von vornherein viel zu stumpf, zu selbstüberzeugt, zu hart, zu grob, zu hochmütig und selbstverliebt.
Wer nicht weiß, wie einsam eine Seele inmitten aller angeblich intakten Umwelt, aller Fürsorglichkeit, aller Freundschaften und Bekanntschaften sein kann, sich inmitten einer scheinbar heilen Welt gleichsam als Fremde fühlend – der wird ein Mädchen nie verstehen.
Natürlich – nicht alle Mädchen sind derart einsam. Aber was sagt es über die urteilenden Seelen aus, dass sie an solche einsamen Mädchen bis jetzt nicht einmal gedacht haben? Und dass sie auch keine Ahnung haben, wie viele Mädchen vielleicht derart einsam sind? Was sagt dies über die spottenden Seelen aus? Dass sie ihre eigenen Urteile viel, viel mehr lieben als die Mädchen...
Es geht jetzt gar nicht darum, ob die parthenophile Seele einem solchen Mädchen dasjenige Verständnis und diejenige Geborgenheit zu schenken vermag, die es so entbehrt. Es geht erst einmal nur um das Anerkennen dieser Tatsache an sich – die Tatsache der einsamen Mädchen. Ist man bereit, die Wirklichkeit anzuerkennen – oder geht man über diese Mädchen hinweg, wie die um den Kaugummi streitenden Brüder?
Viele Mädchen sterben. Sie gehen an innerer Einsamkeit zugrunde. Und was dann weiterlebt, ist nicht mehr das, was es war – nicht mehr das Mädchen. Nur noch ein angepasstes Etwas. Eine resignierte Seele. Irgendwo leer geworden. Und irgendwo tot ... gestorben.
*
Und die Tragik ist noch viel größer. Der Wahnsinn ist noch viel größer – zu diskutieren, ob ein Mann und ein Mädchen eine Liebesbeziehung haben dürfen. Welch ein Wahnsinn... Haben wir keine größeren Sorgen ... als die Liebe zwischen einem Mann und einem Mädchen zu verhindern!?
Die Welt versinkt in Chaos – und wir diskutieren über das, was, wenn es wahr wird, das Zarteste ist, was es geben kann? Durch das Mädchen. Und durch die Liebe des Mannes, die sich dem Mädchen so unendlich anpasst. Darüber diskutieren wir? Da sehen wir ein riesiges Tabu? Ein ,No Go’? Eine Straftat? Ein dreizehnjähriges Mädchen zu küssen? Zu streicheln? Wo auch immer es möchte...?
Und wir sehen kein Tabu und keine Straftat darin, die Welt mit Waffen zu überziehen; die Natur mit Plastik zu verseuchen; die Tiere zu ,Fleisch’ zu degradieren und Tag für Tag nicht nur zu morden, sondern auch zu quälen. Wir sehen kein Tabu und keine Straftat darin, die Grundlage des ,Zusammenlebens’ auf den Egoismus zu bauen, den Sozialdarwinismus (Kampf, Konkurrenz, Überleben des Stärksten). Kein Tabu darin, dass die Reichen immer reicher werden, was sie ja notwendig irgendwo den Anderen wegnehmen; kein Tabu darin, dass bloßer Reichtum von allein immer noch reicher wird (Zinssystem, Spekulationsgewinne), während unsichtbar auf der anderen Seite das Netz der Armut über immer mehr Regionen und Existenzen geworfen wird. Kein Tabu sehen wir in dieser schamlosen Vergewaltigung der Vielen durch die Wenigen; der schamlosen Vernichtung dieser Erde, der einzigen, die wir haben. Wir sehen kein Tabu und keine Straftat in ... der Apokalypse.
Wir leben inmitten der Apokalypse. Innerhalb weniger Jahre hat sich die Frage der Klimaerwärmung fatal zugespitzt, und schon unsere Kinder und Enkel werden uns fragen, warum wir hier nichts getan haben – sondern stattdessen die Liebe zwischen Mann und Mädchen zur angeblichen ,Katastrophe’ aufgebauscht. Sie werden uns fragen, ob wir verrückt waren – und dies mit vollem Recht. Was wir jetzt anrichten, was wir jetzt vernichten – wie wollen wir dies je rückgängig machen? Wir können es nicht. Mit Tod und Vernichtung übersäen wir die Welt – und empfinden nicht einmal die rasende Not, in die wir diesen einzigartigen Planeten stürzen.
Tausendfältiges Leid der Tiere, tausendfältige Vernichtung der Lebensräume. Tausendfältiger Egoismus, der sich wie ein finsterer Krebs über die Erde ausbreitet, tausendfach Metastasen säend, und wir haben diesen Egoismus zu unserer Grundlage gemacht. Wir beten ihn an. Wir sagen: Der Kapitalismus ist das einzig Mögliche. Und wenn er Tod und Vernichtung bringt, dann war eben nur das möglich...
Welch ein Irrsinn! Welch eine Todessehnsucht! Welche ein morbider Selbsthass und welche sadistische Gleichgültigkeit! Merken wir eigentlich noch, was wir tun? Merken wir eigentlich noch, wohin uns das Gift des falschen Weges bereits geführt hat? An den finstersten Abgrund, der überhaupt nur denkbar ist! Und natürlich – eine Steigerung ist immer auch noch denkbar. Der Egoismus, die Gleichgültigkeit – sie können immer noch mehr zunehmen. Billige Resignation, williges Vollstreckertum. ,Die anderen sind ja auch nicht besser’. Und ,ich habe das alles ja so nicht gewollt.’ Billigste Entschuldigungen!
Wer hat denn den Mut, zu sagen, dass dieses gegenwärtige System nicht Krankheitssymptome zeigt, sondern die Krankheit ist? Wer hat den Mut, zu sagen, dass wir längst in der Katastrophe leben? Dass uns nur noch wenige Jahre bleiben, um da gegenzusteuern, wo wir bisher krampfhaft festgehalten haben? Wenige Jahre noch!
Die Natur wird unwiederbringlich sein, wenn alles in Monokulturen, ausgeräumten Landschaften, abgeholzten Regenwäldern, leergefischten Meeren, ausgestorbenen Arten bis hin zu den Bienen, verödet sein wird. – Das Klima wird unwiederbringlich sein, wenn die Atmosphäre so verändert ist, dass sie sich aufheizen wird, auch wenn wir dann die weitere Produktion von Treibhausgasen stoppen könnten. – Die Menschlichkeit wird unwiederbringlich verloren sein, wenn Anonymisierung und Gleichgültigkeit weiter zunehmen, was sie zwangsläufig tun werden, denn die Dynamik hat noch längst nicht ihren Endpunkt erreicht. Die irrationalen Kämpfe werden zunehmen, werden heftiger werden. Kälte, Gefühlsleere und Hass werden zunehmen. Egoismus, Brutalität, Nationalismus. Nicht nur Fremdenfeindlichkeit, sondern ,Nächstenfeindlichkeit’.
Und all das – all das ist die notwendige, die zu erwarten gewesene Folge dessen, was wir so lange vergöttert und angebetet haben: den Egoismus und den Konkurrenzkampf. Jetzt ernten wir die giftigen Früchte dessen, was wir jahrhundertelang gesät haben. Die Chinesen, die Russen, die sich nationalistisch-radikalisierenden Regierungen machen uns vor, was wir gesät haben. Sie führen unser Rezept, unser giftiges Dogma nur bis zum bitteren Ende. Sie halten uns den Spiegel vor. Und wir können noch so lange behaupten: ,Aber so sind wir nicht.’ Doch, so sind auch wir! Nur mit dem scheinheiligen Deckmäntelchen, dass etwas darübergelegte Moral und Gutmenschentum die Dinge doch nicht so schlimm sein lassen würden. Aber wir stehen am Abgrund. Und die anderen haben uns nur nachgemacht – und vielleicht etwas übertroffen. Aber wir haben das Rezept erfunden. Und lange genug davon profitiert.
Die Erde ist am Ende. Und wir sind es gewesen. Wir haben sie getötet. Wir haben nicht nur die Mädchen auf dem Gewissen – sondern unseren ganzen Planeten. Überall stehen jetzt die Nationalismen wie Zombies aus den Gräbern auf, aber der Nationalismus ist nur der konsequent zu Ende gedachte Egoismus, den wir nie wirklich verlassen haben. Dem wir immer mehr zum Opfer werfen: Schulen, Krankenhäuser, alles. Alles wird kapitalisiert, wird zum Profitobjekt. Und der Profit ist jener Zombie, der alle mit in sein Grab reißen wird.
*
Wir haben nur noch eine einzige Chance. Wir müssen mit dem Mut der Verzweiflung und dem Mut der vollen Aufrichtigkeit das Ruder ganz herumreißen. Flickereien, Reformen und andere Illusionen werden nichts mehr helfen, denn das System ist an der Wurzel krank – war es immer schon, aber jetzt hat sich die Fäulnis offenbart. Die Todesprozesse, die unser System gesät hat, treten nun überall zutage, die Vernichtung wird offensichtlich, an jedem Punkt. Und wer es nicht glauben will, macht sich absichtlich blind, weil er flüchtet – vor der Erkenntnis und vor der Wahrheit. Ihm sind dann Dogmen und Bequemlichkeit lieber als die Rettung...
Manche Menschen werden die Todesprozesse erst sehen, wenn das eiskalte Wasser seine Klauen um sie schließt. Zwar haben sie auch den Eisberg schon gesehen, aber sie wollten es nicht wahrhaben – und spielte die Kapelle nicht so wunderschön? Sie haben auch das Auseinanderbrechen des Schiffes gesehen – aber ist das wirklich die Realität? Man beginnt Schreie zu hören, die armseligen Rettungsboote werden zu Wasser gelassen – aber ist das denn wahr? Wird nicht alles gut werden? Ist das nicht alles falsche Panik und Panikmache? Es hat doch bisher alles wunderbar funktioniert? Ja, das kann sich auch der Todgeweihte sagen, kurz bevor überall in seinem Körper Metastasen entdeckt werden.
Ein Mädchen würde nie Profit machen wollen.
Wir müssen begreifen, dass wir unsere Lebensweise, die eine Vernichtungs- und Mordweise geworden ist, so weit getrieben haben, dass wir am diametral anderen Ende angekommen sind – als dem, wo das Mädchen steht.
Ein Mädchen würde nie etwas zerstören.
Ein Mädchen würde, wenn es etwas hat, sofort um sich schauen, was die anderen haben. Und wenn die anderen nichts haben, würde es teilen – oder alles den anderen geben. Ein Mädchen denkt von den anderen her. Das Glück des Mädchens ist es, wenn es allen gut geht. Das ist ein Mädchen.
Kann man jetzt verstehen, warum ein Mann ein Mädchen liebt? Es ist offensichtlich.[1]
Und eine Welt, die egoistisch und gleichgültig weiter den Weg in die Vernichtung geht, hat für das Mädchen nicht das Geringste übrig. Sie verrät es – nicht nur Tag für Tag, sondern in jeder Sekunde. Die Seele des Mädchens wird von Augenblick zu Augenblick mit Füßen getreten. Das Wesen des Mädchens wird verspottet, denn man sagt: Wir gehen lieber den Weg der Vernichtung weiter. Natürlich will man sich billig einreden, dass man selbst dabei ja nicht ,mitmacht’. Aber man tut es, allein schon durch die himmelschreiende Gleichgültigkeit – die auch keine andere wird, wenn man sich moralische Entrüstung über den Zustand der Welt einredet. In Wirklichkeit betet man dieses ,Ich kann ja nichts machen’ geradezu mit größter Lust an – entlastet es doch von allem, wirklich allem. Dass man sich aber selbst das ,Leiden’ an diesem Zustand der Welt nur einredet, wenn überhaupt – das ist das bestgehütete Geheimnis.
Nein – in Wirklichkeit lebt in der eigenen Seele nur eine geradezu dämonische Gleichgültigkeit. Und die Empörung über ,die eigentlich Verantwortlichen’ ist nur ein billiger moralischer Lack über dieser Gleichgültigkeit. Denn wirkliche Verantwortlichkeit schaut nie auf die Anderen – und sie leidet immer existenziell.
Das ist die Gretchenfrage an unsere Seelen, die längst einen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben. Es ist die Frage des Mädchens: Wie hältst Du es mit dem Leiden?
Das wirkliche, das existenzielle, das unausweichliche, tiefe, aufrichtige Leiden ... es würde uns wieder mit der wahren Wirklichkeit verbinden. Und also wäre es ... Re-ligion... Aber das ist eben das Wesen der Gretchenfrage – dass sie die Finger in die Wunde legt. Und die Wunde ist die Amfortaswunde – die wir gar nicht heilen können. Wir leiden ja gerade an unserer Unfähigkeit zu leiden! An der modernen Gleichgültigkeit, die sich nur noch einredet, an dem, was wir fortwährend verursachen, zu leiden – sich aber in bequeme Schuldzuweisungen flüchtet, um überhaupt irgendein Gefühl zu haben. Moralische Entrüstung ist gleichsam das allgemeine Aufputschmittel, mit dem die Seele sich die Illusion verschafft, überhaupt noch am Leben zu sein.
Ein Mädchen würde sich nie empören. Nicht, bevor es nicht zuerst abgrundtief eingetaucht wäre in das Leiden mit alledem, was leidet. Wahrhaftes, existenzielles Mitleiden, von erschütterndster Aufrichtigkeit – das ist die Ur-Regung der Seele des Mädchens.[2]
,Wenn ihr nicht werdet wie die Mädchen...’
Diese Welt wird nicht bestehen, wenn wir als Menschheit nicht eine völlige Umkehr erreichen. Diese Umkehr besteht aber in dem Wesen der Mädchenseele. Das Mädchen trägt in seiner Seele das Wesen der Umkehr. Hier lebt etwas absolut Heiliges.
Einst war von den Kindern die Rede: ,Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder...’ Das versteht heute niemand mehr – und die Welt hat ihr Kindheitsstadium endgültig hinter sich gelassen. Aber es geht auch gar nicht darum, kindlich zu werden. Nur hätte damals das Wort von den Mädchen erst recht nicht verstanden werden können.
Und doch hat das Mädchen alles, was die kleinen Kinder auch haben.[3] Aber zugleich hat es mehr. Es hat Bewusstsein – was wir alle so sehr haben wollen. Es hat Seelenfülle – was wir nicht mehr haben, aber wonach wir uns vielleicht (noch) so sehr sehnen. Das Mädchen vereint den heiligen Goldgrund der Kindheit mit dem heiligen Ziel des Bewusstseins und bewusster Verantwortung.
Das Mädchen steht nicht nur zwischen Kind und Frau, sondern auch zwischen Unschuld und Schuld – Schuld hier auch verstanden als den Verlust der Unschuld und der Fülle des gesegneten Erlebens. Die Schuld des Erwachsenen ist der Verlust des Goldgrundes...
Aber das Mädchen zwischen Kind und Frau ist kein halbes Zwitterwesen – es ist mehr als Kind und Frau, darin liegt seine tiefe Anziehung und Erotik (hier auch seelisch verstanden, Eros als heilige Essenz der Anziehung an sich). Denn es hat bereits Bewusstsein wie die Frau, wie der Erwachsene, und es hat trotzdem noch die Unschuld. Sein Bewusstsein ist noch unschuldig – und gerade darum so erfüllt, begnadet von dem Goldgrund. Diesen haben alle Kinder, aber von den Wesen zwischen Kind und Erwachsenem nur noch die, die wahrhaft Mädchen sind.
Das Mädchen ist also auch kein Zwitterwesen zwischen Unschuld und Schuld. Es hat dasjenige, was normalerweise nur mit der Schuld einhergeht – Bewusstsein –, und es hat die bewahrte Unschuld, die sein Wesen geworden ist. So ist es auch hier mehr als beides Einzelne. Das Mädchen ist eine Steigerung.
So, wie die Frau bereits wieder verblüht, während das Mädchen wahrhaft blüht – so vergeht im modernen Erwachsenen auch die Menschheit, die Menschlichkeit bereits wieder, während sie im Mädchen wahrhaft blüht, auf schönste, duftendste, leuchtendste Weise.
Die erwachsene Seele verfault in Selbstbezug, in Empfindungsarmut, in Gleichgültigkeit und Desinteresse, in einem engen Seelengefängnis, das das Leid der Welt nicht mehr spüren kann. Das Mädchen blüht in wahrer Unmittelbarkeit aufrichtigster Seelenregungen – und man kann diese gar nicht in Worte fassen, ohne ihre Heiligkeit anzutasten. Auch ihnen nähern kann man sich eigentlich nur empfindend, in dem Versuch einer gleichen, einer ähnlichen Unmittelbarkeit.
,Wenn ihr nicht werdet wie die Mädchen...’
Im Herzen des Mädchens lebt die Seele des Rettenden. Das Mädchen ist die Retterin, weil sie alles Rettende in ihrem Herzen hütet. Alles, was je auf Erden wertvoll war und ist und sein wird ... hütet das Mädchen.
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Es ist auch bereits eine verfaulte Frucht unserer Schuld, dass wir nichts mehr wirklich real denken können.
Für das Mädchen ist alles real – der kleinste Blick, die kleinste Geste, um wieviel mehr alle Furchtbarkeiten, die sich täglich ereignen –, für uns ist nichts mehr real. Wir glauben zwar, dass wir vor der Realität stehen, aber wir empfinden daran nichts mehr – oder viel, viel zu wenig –, also leben wir von der Realität längst abgekapselt. Wir sind wie Träumer oder wie unter abdämpfenden Drogen Stehende, unter Tranquilizern, Beruhigungsmitteln Stehende. Wir nehmen die ,Wirklichkeit’ wahr – und winken müde lächelnd ab (auch wenn wir glauben, wir täten mehr).[4] Für ein Mädchen ist aber auch die Schönheit real. Es kann sich über die kleinste Blume am Wegesrand freuen – und Freude beim Mädchen ist nicht unsere Freude, die wir kennen! – während wir über dieselbe Blume nicht einmal mehr müde lächeln...
Und in dieser Weise, die uns von der wirklichen Realität bereits völlig abgeschottet hat, können wir auch die wahren Kräfte, die in der Seele des Mädchens leben, nicht einmal mehr ahnend begreifen. Wir haben wirklich – nicht im übertragenen, sondern im wörtlichen Sinne – keine Ahnung. Eine heilige Ahnung wäre bereits der zarte, demütige Beginn einer Erkenntnis. Aber wir haben nicht einmal eine Ahnung. Wir leben an dem Heiligsten dumpf vorbei – und haben nicht einmal von dieser Tatsache eine Ahnung. Eigentlich bestehen wir nur noch aus Dumpfheit...
Heiligste Kräfte ... und wir begreifen nicht einmal, wovon die Rede ist. Nicht einmal ansatzweise... Wir sind noch unglaublich viel dümmer als kleine Kinder, die nur für den so in den Himmel gelobten ,Intellekt’ ,dumm’ sind, während wir für die heiligsten Kräfte, die in der Welt überhaupt existieren, so dumm sind, dass wir sie weder denken können, noch empfinden können, noch wollen können. Wir sind so ,dumm’ wie der Taubstummblinde, der nichts mitbekommt, obwohl er von allem umgeben ist.
Wenn wir noch einen ansatzweise realen Begriff vom ,Himmel’ hätten, würde etwas in uns berührt werden, wenn man sagen würde, was man sagen müsste, weil es eine Wahrheit ist: Das Mädchen trägt den Himmel in seinem Herzen.
Aber selbst unsere Begriffe sind erloschen – erloschen wie eine Kerze, die man ausgeblasen hat. Sie könnte brennen, aber sie tut es nicht. Also ist kein Licht da – und es wird nichts erkannt. Unsere Begriffe sind so tot, so hohl, so leer, dass wir den ,Himmel’ nur so denken können wie den Weihnachtsmann, den es ja auch nicht gibt. Dass es aber mehr gibt zwischen Himmel und Erde als unsere aufgegebenen Kindheits-Vorstellungen, will uns nicht in den Sinn. Wir haben nicht erkannt, dass wir nicht aus dem ,Märchen’ herausgewachsen sind, sondern dass wir versäumt haben, unsere Vorstellungen mitwachsen zu lassen. Es ist, wie Tolstoi einmal sagte:
Wenn dir der Gedanke kommt, dass alles, was du über Gott gedacht hast, verkehrt ist, und dass es keinen Gott gibt, so gerate darüber nicht in Bestürzung. Es geht vielen so. Glaube aber nicht, dass dein Unglaube daher rührt, dass es keinen Gott gibt. Wenn du nicht mehr an den Gott glauben kannst, an den du früher geglaubt hast, so rührt das daher, dass an deinem Glauben etwas verkehrt war, und du musst dich besser bemühen, zu begreifen, was du Gott nennst...
Wir aber leben noch immer in derselben Welt wie Kant, der ein Lobpreis auf Eitelkeit, Hab- und Herrschsucht sang:[5]
Dieser Widerstand [des Menschen gegen andere, H.N.] ist es nun, welcher alle Kräfte des Menschen erweckt, ihn dahin bringt seinen Hang zur Faulheit zu überwinden und, getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen, die er nicht wohl leiden, von denen er aber auch nicht lassen kann. Da geschehen nun die ersten wahren Schritte aus der Rohigkeit zur Cultur, die eigentlich in dem gesellschaftlichen Werth des Menschen besteht; da werden alle Talente nach und nach entwickelt, der Geschmack gebildet und selbst durch fortgesetzte Aufklärung der Anfang zur Gründung einer Denkungsart gemacht, welche die grobe Naturanlage zur sittlichen Unterscheidung mit der Zeit in [...] ein moralisches Ganze verwandeln kann. Ohne jene an sich zwar eben nicht liebenswürdige Eigenschaften der Ungeselligkeit, woraus der Widerstand entspringt, den jeder bei seinen selbstsüchtigen Anmaßungen nothwendig antreffen muß, würden in einem arkadischen Schäferleben bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben: die Menschen, gutartig wie die Schafe, die sie weiden, würden ihrem Dasein kaum einen größeren Werth verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat; sie würden das Leere der Schöpfung in Ansehung ihres Zwecks, als vernünftige Natur, nicht ausfüllen. Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortreffliche Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht.
Selbst der große Kant kann also offenbar den Gedanken nicht fassen, dass eine in Eintracht lebende Menschheit sehr wohl ihre Anlagen entfalten könnte – nämlich alles zu tun, was für das Gute notwendig ist: dem Kranken zu helfen, dem Alten, dem Hungernden. Kant begreift nicht, dass Herz, Seele und Geist keinen anderen Antrieb brauchen als die Liebe – und dass jeder andere Antrieb niemals wahrhaft fruchtbar sein kann. Wie sollte er auch? Allenfalls dadurch, dass die göttliche Gnade selbst die Kraft, ,die stets das Böse will’, manchmal noch zum Guten wendet. Der Mensch soll aber endlich lernen, nicht mehr das Böse zu wählen. Wird er dies tun, bevor es zu spät ist? Das Mädchen tut dies von Anfang an. Es wählt nicht das Böse... Und so schafft es mehr für die Entfaltung der wahrhaft menschlichen Naturanlagen als jeder andere. Wann werden wir endlich von der Blindheit geheilt?
*
In einem lesenswerten Vortrag über die Aktualität Casanovas (!) hat Burkhard Brunn am Ende die moderne Erkaltung der Seele eindringlich in Worte gefasst:[6]
Nun möchte ich noch auf ein aktuelles Phänomen eingehen, das mit der Tendenz zur Individuierung zusammenhängt, worunter zu verstehen ist, dass das Individuum sich in unserer entwickelten, ausdifferenzierten Gesellschaft immer mehr aus den Traditionen von Kirche, Gewerkschaften usw. herauslöst, Institutionen, die dem Einzelnen bestimmte Entscheidungen abgenommen hatten, die er nun selber treffen muss. Dies gilt für die mobilen, wortwörtlich entwurzelten Menschen ganz besonders. Mit der Individuierung wächst die Freiheit, Entscheidungen zu treffen, d.h. die Souveränität – freilich nur eine Souveränität innerhalb der Spielräume, welche die Gesellschaft dem einzelnen lässt. Damit verbindet sich der Anspruch auf Selbstverwirklichung, ein Anspruch, der oft von einem Narzissmus getrieben ist, eine Selbstverliebtheit, zu der meist die Erziehung den Grundstein legt. "Da wir aber als selbstverliebte Menschen vor nichts solche Angst haben wie vor dem Gefühl, enttäuscht zu werden, haben wir immer eine Reißleine im Kopf und begeben uns in eine Beziehung nur so weit hinein, dass sicher ist, dass wir auch wieder hinauskommen." Was Florian Illies hier in "Generation Golf" beschreibt, ist das ökonomische Kalkül, mit sich selber Haus zu halten, d.h. anstatt sich hinzugeben, sich großzügig zu schenken, lieber am Gefühl zu sparen. Geiz ist geil offenbar auch hier. [...]
Neulich habe ich vom "Verfallsdatum" einer Beziehung gelesen. Verfallsdaten haben sonst nur verderbliche Konsumartikel. Die Liebesbeziehung wird mit diesem Ausdruck nicht nur als kurz und als notwendigerweise immer weniger genießbar, sondern auch als ein reines Konsumentenverhältnis beschrieben, also als eine Dienstleistung, die mit der Zeit schlechter wird. Dass aus einer kurzfristigen Liebesbeziehung eine langfristige werden kann, dass die Verliebtheit sich etwa zu einer Liebe entwickelt, wird mit diesem Ausdruck von vornherein ausgeschlossen. Die Beziehung verfällt hoffnungslos – offenbar weil man einander wortwörtlich satt hat.
[...] Gegen die fatale Ökonomie in der Liebe hilft nur das Verschwenden, d.h. das Geben, ohne an das Nehmen zu denken, und die kunstvolle Gestaltung der Beziehung.[7] [...] Und vor allem: nach Casanova sollte eine solche Liebesbeziehung ein Fest der Freiheit sein, jenseits von Gewalt, psychischer Abhängigkeit und Unterdrückung.[8] Steter Neuanfang, um frei zu sein und diese Freiheit zu teilen.
Wir leben also nicht allein in einer Epoche der Individualisierung, sondern in einer Epoche der Egoisierung und damit der zunehmenden Einsamkeit. Der Weg zum Individuum ist in eine völlig falsche Richtung gegangen – er ist in den Dornen von Narzissmus, ,Selbstoptimierung’ und Gefühlsverarmung erstickt. Vertrauen und Hingabe als ,Auslaufartikel’. Ist es da nicht deutlich, warum ein Mann sich von einem Mädchen so tief angezogen fühlen kann?
Fußnoten
[1] John Ruskin, der große Kunstwissenschaftler und soziale Denker, dessen Liebe zu dem Mädchen Rose La Touche so tragisch verlief, brachte es in dem schönen Städtchen Sallanches in den Rhone-Alpen auf den Punkt, als er die einzigartige Schönheit des Ortes rühmte, ihm entgegnet wurde, dennoch komme kaum eine Seele hierher, und er erwiderte: ,Very few people have souls, and those that have are generally ambitious and want to climb heights. Hardly anyone cares about beauty. If people did they wouldn’t build London [...].’ Henry W. Nevinson: Fire of Life. London 1935, p. 42. Wer die Schönheit liebt, kann nichts Hässliches schaffen – er leidet wie Ruskin darunter. Wer wahrhaft Mädchen liebt, leidet unter der furchtbaren Herrschaft männlicher Weltherrschaft, die fortwährend Hässlichkeit und Vernichtung bringt.
[2] In meinem Büchlein ,Vom Blick des Mädchens’ (2018) habe ich gerade diesen Ur-Impuls so tief wie möglich erlebbar zu machen versucht.
[3] Ich meine jetzt wie auch zuvor immer wieder jenes urbildliche Mädchen, das fortwährend der Mittelpunkt der Parthenophilie ist – nicht jene ,halben’ oder ,viertel’ Mädchen, die die heilige Essenz des Mädchentums gleichgültig über Bord werfen, um sich bequem ,selbst zu verwirklichen’. Ich meine die Goldmarie – nicht die Pechmarien.
[4] Für ein Mädchen wäre es unmöglich, sich ein Bundesligaspiel oder einen ,Tatort’ anzusehen, während Tiere gequält, die Natur vernichtet, Kriege geführt und Nationalismen aufgerichtet werden.
[5] Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), Bonner Kant-Korpus, AA VIII, S. 15-30, hier 21. korpora.zim. uni-duisburg-essen.de.
[6] Burkhard Brunn: Liebe in den Zeiten der Mobilität. Zur Aktualität Casanovas. Vortrag vom 15.4.2009, Landesmuseum Darmstadt, Außenstelle Lorsch. burkhard-brunn.de.
[7] Mehr noch – oder anders gesagt: dies alles ist nur möglich, wenn im Anderen das Ideal gesehen werden kann. Die mörderische Gefangenschaft des (post-)modernen Ego-Bewusstseins ist nur zu durchbrechen durch die völlige Absage an dieses und den Durchbruch zu einer Herrschaft des Herzens. Das Herz und ein mit dem Herzen verbunden bleibendes Denken vermag im geliebten Anderen jederzeit das Ideal zu sehen – und sogar im gesamten Umkreis, überall. Dies ist der magische Idealismus eines Novalis. Er allein verwandelt die Welt grundlegend – und vermag sie bis ins Unendliche zu verwandeln, ins Leben zu rufen, was jetzt noch nicht ist, nur als heilige Möglichkeit schon jetzt vorhanden ist. Magischer Idealismus ist nicht Illusion, sondern heilig entschlossener Wille verbunden mit der Magie des Herzens, ist Liebe als reale Wandlungskraft.
[8],1) Casanova betrachtete das andere Geschlecht nicht als inferior. [...] | 2) Er verstand die Liebe als ein Fest [...]. [...] Und wichtiger als all das: er besaß die bei Männern seltene Fähigkeit zur Hingabe, also das, was Männer eigentlich von Frauen erwarten. [...] | 3) Gewalt war Casanova zuwider und in der Liebe besonders. [...] | 4) Casanova war sehr großzügig: er machte seinen Geliebten feinfühlige Geschenke [...]. [...] 5) Casanova schrieb: "Ich verliebte mich immer in das Gesicht, und ich fühlte mich stets bereit, beim übrigen großzügig zu sein." Ebd. • Zur Gewalt hatte er ein Verhältnis, ,das ihn über die meisten Männer weit heraushebt: er verachtete Militär, Jagd und Stierkampf ausdrücklich’. Ebd. • Siehe zu Casanova auch ausführlich den fünften Band.