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Innigkeit und revolutionäres Potenzial
Die christliche Innigkeit scheint ein besonders reaktionäres Mädchenbild zu transportieren, erst recht da, wo früher dazu aufgerufen wurde, sich mit dem Platz zu bescheiden, an den Gott einen gestellt hat. Aber dies ist nur der patriarchale Schleier, der sich über die Wahrheit gelegt hatte. Denn echte Innigkeit der Seele ist gerade das revolutionäre Potenzial schlechthin.
Warum? Weil sie den Menschen mit seinen wahren Quellen in Verbindung hält. Das Mädchen mit der innigen Seele wird eben nicht den billigen Versprechungen der Konsumkultur, den trivialen Zurichtungen des Schulsystems, den nichtssagenden Surrogaten der Popwelt oder den Selbstbeweihräucherungen politischer Repräsentanten verfallen. Es wird aber ebenso wenig in destruktive Verweigerungshaltung, unfruchtbar-intellektuelle Diskussionen und Diskursspielchen, linke Streitereien um die richtigste Ideologie, Analyse, Strategie und Taktik oder andere Kopflastigkeiten und Gefühllosigkeiten verfallen.
Sondern was das Mädchen auszeichnen wird, ist eine tiefe Harmonie zwischen dem richtigen Blick für das Falsche und dem heilenden Fühlen und Handeln in Bezug auf das Richtige und das Gute.
Das Mädchen zerreißt nicht Kopf und Herz, Intellekt und Seele, um den Intellekt als das kritische Element schlechthin in Anschlag zu bringen, sondern es urteilt mit dem Herzen – und sieht damit genauso klar, aber nicht genauso scharf, gefühllos, aggressiv und analytisch ... sondern sanft, empfindsam, liebevoll und aufbauend. Das Mädchen erkennt das Falsche auch alles. Aber es trägt in seinem Herzen nicht einen zersetzend-analytischen Geist, sondern ein konstruktiv-heilendes Wunder.
Das Mädchen weiß genau, wie eine wahrhaft menschliche Welt aussieht, wie sie funktioniert und funktionieren würde. Sie weiß genau wie die Marxisten, die Linken, die Aktivisten, die Protestler und viele andere, was sich ändern muss. Aber sie trägt in ihrer Seele auch das Mittel dazu – nämlich die Liebe.
Und wo die Liebe fehlt, da bleibt nur der scharfsinnige, aber zersetzende Geist, der nicht in der Lage ist, etwas Positives aufzubauen. Wenn es dafür einen Beweis bräuchte, muss man sich nur die selbstzersetzenden Diskussionen innerhalb der linken Bewegung anschauen. Überall und immer wieder stößt man hier auf den Beweis, dass der Intellekt selbst keinerlei wahre, reale Zukunftskräfte in sich trägt. Alles Reale hat seine Quelle im Herzen – und einem Denken, das sich aus diesem nährt, nicht jedoch aus dem toten Intellekt. Zudem geht es auch in der linken Bewegung um Macht, Einfluss, Geltungsstreben, Flügelkämpfe und fast alles Übrige, was anderswo kritisiert wird.
Dies alles macht es den Gegenmächten sehr, sehr leicht, weiter zu marschieren: Turbo-Kapitalismus, Geopolitik, Propaganda, Fake News, ,gelenkte Demokratie’. Die Gesellschaft, wie wir sie kannten, zerfällt immer mehr, und die Kohäsionskräfte sind einfach zu schwach, weil die führenden Männer – es sind fast nur Männer – dieses System des auf Konkurrenz beruhenden Kapitalismus selbst gewollt und selbst gewählt haben und immer wieder als alternativlos hinstellen.
Anderthalb Jahrhunderte lang konnte dieses System – zuerst mit Kinderarbeit, später mit irrsinnigen anderen Opfern, mit zwei Weltkriegen, mit zunehmender Verstädterung, Versiegelung der Landschaft, Naturzerstörung, Naturentfremdung, Atomkraft, Konsumflut und Plastikkrieg, um nur einige Stichworte anzudeuten –, einen ungeheuren Wohlstand schaffen, dem aber zugleich eine ungeheure Verarmung der Seele entspricht und der ferner täglich seine Opfer fordert, die fein säuberlich ausgeblendet werden. Dieses System bringt die Welt an den Abgrund, weil es die Natur und das Menschliche immer mehr an den Rand drängt, in bloße Nischen, letzte Reservate – während die sichtbare ,Natur’ meist bloß noch Monokultur ist und das sichtbar ,Menschliche’ meist bloß noch eine Art Funktionieren ... und während das System weiterhin über Leichen geht, immer mehr dem Untergang entgegen.
Und die bloße Analyse dieses Irrsinns, dieses kollektiven Wahnsinns, hilft keinen Schritt weiter. Sie mag hilfreich für die Erkenntnis sein, aber das war es dann auch. Das bloße Wissen um den Wahnsinn lockt heute ,keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor’ – und dies ist bereits eines der Krankheitssymptome: Die Seele ist bereits ein schwerstbehindertes Rudiment, Meister im Verdrängen und in der Selbstabschaffung, in der Flucht ins Private, in das Süßlich-Regressive, das man so oft dem Mädchen vorwirft. Aber dieser Totstellreflex, diese Lähmung, dieser Stupor, diese Starre ist das Wesen des Intellekts. Der Intellekt ist etwas Totes – nichts anderes will ich fortwährend erlebbar machen. Das, worauf die Wissenschaft so stolz ist, ist im Allgemein-Menschlichen gerade der Ruin, der Bankrott, die Abschaffung des Menschlichen. Der (post-)moderne Mensch hat seinen Intellekt in Riesengrößen aufgeblasen, und der moderne Hochmut entspricht im Grunde immer wieder der Leere dahinter – aber das Herz und die Seele insgesamt hat dieser (post-)moderne Mensch völlig vernachlässigt, wie eine Ackerbrache. Gewuchert ist hier nur noch Unkraut, sonst nichts mehr. Und mit diesen Kräften soll eine andere Welt möglich sein?
Nein – möglich ist sie nur mit Kräften der Liebe. Mit jenen Kräften, die in absoluter Fülle im Herzen des Mädchens leben. Warum in so wenigen anderen Herzen? Ja – warum... Weil all diese anderen Herzen die ,Prioritäten’ so völlig anders gesetzt haben... Auf den Konsum, auf das Materielle, auf die Coolness, auf den Hochmut des bloßen Intellekts, auf die Anpassung an diesen Zeit(un)geist. Dieser absolut hypertrophe Intellekt, diese Diktatur des Kopfes, dieser Terror der angeblichen Ratio – sie sind der Tod des Mädchens. Der Tod des Mädchens ist aber der Tod der lebenswerten Kultur überhaupt – und auch der Tod der Natur. Was noch eine Weile überleben wird, sind Surrogate. Und die Illusion, dass es mehr wäre und man überhaupt das Ruder noch irgendwie herumreißen könne.
Es gibt nur eine wirkliche Rettung. Und das sind die Kräfte, von denen hier die Rede war und ist. Die Kräfte, die im Herzen des Mädchens leben. Echte Aufbaukräfte. Echte Zukunftskräfte. Echte Liebeskräfte. Nur von hier kann die Rettung kommen.
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Der Psychotherapeut Maaz machte 2003 in seinem Buch ,Der Lilith-Komplex’[1] auf den Mangel an echter Weiblichkeit in unserer Kultur aufmerksam, der dazu führt, dass die Seele den Wahnsinn der modernen Kultur, bereits tief verwundet, mehr oder weniger hilflos hinnimmt:[170]
Nur eine ‚mutterlose Gesellschaft’ kann die Demütigung der Arbeitslosigkeit, das Elend der Armut und die ungerechte Verteilung der Güter akzeptieren. Weil die meisten Menschen zuwenig gute Mütterlichkeit erfahren haben, tolerieren sie die Spaltung in Reich und Arm, beschuldigen sich die einen selbst als Versager, während die anderen ihren tiefen seelischen Mangel mit materiellen Gütern oder mit der Macht über andere Menschen kompensieren. Auf beiden Seiten aber bleiben der Schmerz über innerseelischen Mangel und der Haß wegen der auferlegten Entfremdung unerkannt. Nur in der rachsüchtigen Zerstörung von ‚Mutter’ Natur oder ‚Mutter’ Erde und in den kriegerischen Auseinandersetzungen der ‚Geschwister’ wird etwas von dieser Beschädigung der Seelen erkennbar.
Der Mangel an echter Empfindung, der schon früh den Seelen einkonditioniert wird, kann nur durch ein ausdrückliches Erkennen dieser Kulturtragik und ein bewusstes Handeln der ganzen Gesellschaft wieder rückgängig gemacht werden:[192]
Wir könnten uns dafür engagieren, daß es eine Gefühlskunde, eine Gefühlsschulung als Schulfach gäbe. Wir müssen dafür sorgen, daß das Emotionale nicht als Schwäche und Versagen diskriminiert wird [...]. [...]
Jede Mutter sollte, bevor sie schwanger wird, eine ‚Gefühlsschule’ besuchen können als wichtigste Vorbereitung auf eine spätere Mutterschaft – und dies kann nur eine Auseinandersetzung mit den eigenen möglichen oder verklemmten und abgespaltenen Gefühlen sein.
Wer nicht glaubt, dass in unserer Kultur eine hochgradige Selbstentfremdung im Vergleich zu einer wahrhaft gesunden Seele existiert, für den führt Maaz aus:[194]
Jeder Mensch kann sich jederzeit fragen, wie er sich gerade fühlt und was er fühlt. Es gibt immer eine Antwort darauf, wir sind nur nicht genug geschult darin. Gefühlsbeherrschung gilt tragischerweise als besonders tapfer und stark – und ist genau das Gegenteil: Es ist das Symptom der seelischen Schwäche, eines gestörten Selbstbewußtseins, weil der Mut und die Kraft zum Fühlen der Wahrheit verlorengegangen sind. Das Unangenehme, das Peinliche, Beschämende und Schmerzliche soll von der Wahrnehmung ausgeschlossen bleiben; damit wird der Mensch zum Gefangenen eines falschen Stärkekults, er läßt sich von außen festlegen, wie er zu sein hat, ohne Rücksicht auf seine wirkliche Befindlichkeit.
Die Frage, wie wir uns fühlen, ist heute derart unbeachtet, ja unbekannt, dass die meisten Menschen eigentlich nur funktionieren – und sich diese Frage niemals stellen. Selbst wenn sie auf die Frage eines anderen automatisch ,gut’ antworten würden, heißt dies keineswegs, dass sie sich wirklich gut fühlen. Oft gilt es schon als ,gut’, wenn man sich nicht ausdrücklich schlecht fühlt. Doch jeder weiß, wie unmenschlich der Alltag oft ist – und was man in sich bereits alles zum Schweigen gebracht haben muss, um an den kleineren und größeren gesellschaftlichen Zuständen nicht zu zerbrechen. Und hiermit schließt sich der Kreis: Wir lassen sie zu... Wir lassen sie zu, weil wir sie gar nicht mehr empfinden. Wir haben aufgehört, wirklich zu fühlen. Gerade das ist es, worauf Maaz aufmerksam macht.
Eine wirklich fühlende Menschheit wäre eine Kraft, die von niemandem aufgehalten werden könnte – die Welt würde sich grundlegend verwandeln. Sie würde wahrhaft menschlich werden...
Fußnoten
[1]● Hans-Joachim Maaz: Der Lilith-Komplex. Die dunklen Seiten der Mütterlichkeit. München 22003. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern. • Siehe auch ,Die narzisstische Gesellschaft. Ein Psychogramm’ (2012), ,Das falsche Leben. Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft’ (2017) und andere Bücher von Maaz.