Parthenophilie

Vom Ursprung der Sehnsucht


Ich möchte mich an dieser Stelle einem Buch zuwenden, das dem Mysterium der in der Seele des Mädchens lebenden Kräfte wohl näher gekommen ist als nahezu jedes andere Buch. ,Spirituell’ kann man diese Kräfte natürlich in verschiedenster Weise anschauen, benennen und erleben. Aber jetzt geht es um ihre Realität und ihr Mysterium in der Mädchenseele. Dort leben sie. Man kann sagen, der spirituell Suchende sucht sie – aber das Mädchen hat sie. Der Suchende ist arm, das Mädchen ist reich... Und wir wollen diese Kräfte dort suchen, wo sie sind. Nicht da, wo verschiedene ,spirituelle Literatur’ sie als ,reine Lehre’ wieder zur Verfügung zu stellen versucht oder vermeint, sondern da, wo sie real leben. Nicht in einer noch so erleuchteten Ausnahme-Seele, sondern im Mädchen. Das Mädchen ist die eigentliche Ausnahme-Seele.

Und selbst wenn man dies anders sieht, geht es uns jetzt um dieses Mysterium. Denn – nicht jede Seele kann erleuchtet werden, aber jede Seele kann begreifen, was im Herzen des Mädchens lebt. Und: Viele spirituelle Wege nähren in vielen Seelen den Hochmut. Das Mädchen aber ist das Gegenmittel zu allem Hochmut. Auch in dieser Hinsicht ist das Mädchen die sanfte Heilerin... Ein Mädchen hat den Hochmut gar nicht nötig – und doch trägt es (gerade deshalb) den Himmel im Herzen... Flüchten wir also nicht in spirituelle Wolkenkuckucksheime, sondern nähern wir uns dem, was das Mädchen so innig besitzt – wir aber nicht mehr...

Das Buch, dem ich mich nun zuwenden möchte, trägt den Titel ,Vom Ursprung der Sehnsucht’ und wurde geschrieben von Henning Köhler, einem Heilpädagogen.[1]

                                                                                                                                       *

Zunächst versucht Köhler ein Bewusstsein zu schaffen für das, worin der Materialismus besteht. In seiner Einleitung beginnt er mit dem Gedanken, dass heute die Frage nach dem ,richtigen’, glücklichen Leben immer mehr medizinalisiert werde: ,Glücklichsein’ wird mit ,Gesundsein’ immer mehr gleichgesetzt – und letzteres vor allem mit der Abwesenheit körperlicher und psychischer ,Beschwerden’. Treten solche ,Beschwerden’ auf, wird alles versucht, um den ,psycho-physischen Apparat’ wieder ,zum störungsfreien Funktionieren zu bringen.’ Und Köhler fragt:[13]

Sollte das die Quintessenz der abendländischen Geistesgeschichte in bezug auf den menschlichen Daseinswert sein?

Es ist vielmehr die Bankrotterklärung – eines Zeitalters, das ebendiese eigene Geistesgeschichte durch absolute Ignoranz in den Schmutz tritt. Die Menschheit hat alles verloren, was jemals inneres Organ für wirklichen Wert und Sinn war. Reste dieses ,Organs’ sind noch vorhanden – aber der Mensch klammert sich an die Materie, an das Körpersein, an die Störungsfreiheit, als gebe es ein ewiges Körperleben oder als bestünde der Sinn des Lebens in der möglichst lange währenden Verdrängung des Todes. Der Materialismus klammert sich immer blindwütiger an das Funktionieren – das Prinzip der Maschine, das ,geölte Laufen’, wird zum ,Sinngehalt’ eines an Sinn immer mehr entleerten Zeitalters. Und in demselben Maße greifen Anonymität und Egoismus der immer mehr auf ihren Körper reduziert und auf diesen (selbst-)bezogenen Menschen um sich. ,Glück’ wird der bloße Körper – und was man mit diesem alles machen kann.

Folgen wir weiter Henning Köhler. Er weist darauf hin, dass der ,Defekt-Begriff’ (mit dem der Begriff der ,Norm’ eng zusammenhängt)[2] einen ,nach genau festgelegtem Programm arbeitenden Mechanismus’ voraussetze, der weder Eigenwillen, noch Eigenwahrnehmung, Empfindung etc. habe:[14]

Wo die genannten Qualitäten teilweise oder ganz vorhanden sind, hat man ein beseeltes Lebewesen vor sich, und ein solches kann nicht „defekt“ sein, sondern es leidet – was ein himmelweiter Unterschied ist, den man endlich zur Kenntnis nehmen sollte.[3]

In diesem Zusammenhang verweist er auf die Grundtatsache des Zusammenhanges von Leib, Seele und Geist. Es besagt viel über ein Zeitalter, wenn selbst über eine solche Grundtatsache gestritten oder sie bereits völlig abgestritten wird. Eine Zeit aber, die sich dafür blind macht, muss notwendigerweise beim Mechanismus landen – bei der völlig anderen Tatsache, den Menschen als Mechanismus zu betrachten oder (zunächst nur) als solchen zu behandeln. Unsere Zeit versinkt in der hochmütigen Illusion der Machbarkeit. Wo ein ,Problem’ ist, soll möglichst schnell eine ,Lösung’ her – aber die eigentlichen Ursachen werden brutal verleugnet...

Im nächsten Kapitel lenkt Köhler den Blick in das Innere der Seele des Lesers. Was lebt da und entzieht sich dem Kälteprozeß der Verdinglichung, Veräußerlichung, der Abstraktion, der Intellektualisierung? Was lebt jenseits dessen? Dahinter? Davor? Darunter?

Welches sind die Quellen Ihrer Sehnsucht? Worauf richtet sich Ihre Hoffnung im Kern, das heißt wenn Sie alle auf Haben, Scheinen und Gewinnen bezogenen Hoffnungssurrogate abziehen und sich darauf besinnen, was einst als Leitmotiv Ihres Seins und Werdens vor Ihnen stand und alles andere überstrahlte? [...] Wie war das bei Ihnen in den Zeiten, „als das Wünschen noch geholfen hat“?[16][4]

Und Köhler beantwortet die Frage. Am Grunde der menschlichen Seele liegen zwei reine Impulse, die noch nichts zu tun haben mit dem ,Haben’ und ,Festhalten’; die noch ganz auf ein Sein und Werden gerichtet sind. Es sind dies der Impuls der Liebe und der Impuls der Freiheit. In ihnen kommen wir dem Wesen der Seele ganz, ganz nahe:[17]

Die Hoffnungsachse verläuft von der Freiheit zur Liebe und umgekehrt. Und alles, was diesen Sehnsüchten zuwiderläuft, kränkt den Menschen.

Dieses ,kränkt’ ist dabei tief existenziell zu verstehen. Die Seele lebt in dieser zweifachen Sehnsucht. Es ist ihr Ur-Impuls, das, was sie ausmacht. Es ist alles, was sie hofft. Die Seele lebt in, aus und für dieses beides ... Freiheit und Liebe. Und Köhlers wunderbares Wort ,Hoffnungsachse’ macht erlebbar, dass die Seele zugleich ein Hoffnungswesen ist. Dieses eine Wort offenbart sie in ihrer ganzen Verletzlichkeit. Die Seele kann nicht erwarten, dass ihre Impulse und Hoffnungen einen Ort finden, an dem sie wachsen und sein dürfen – sie kann es nur hoffen. Sie ist durch und durch verletzlich, enttäuschbar, kränkbar. Und das kränkende Prinzip wird dazu führen, dass sie ihre Hoffnung, ihre Ur-Hoffnung mehr und mehr aufgibt. Dass sie resigniert. Dass sie erstarrt, versteinert. Dass sie sich anpasst. Dass sie in den Modus des Habens und Besitzens wechselt. Dass sie fortan für die Surrogate lebt – die viel leichter zugänglich sind. Surrogate, die ihr die Illusion von Freiheit und vielleicht sogar von Liebe vermitteln.

Und nach diesen einleitenden Gedanken zielt Köhler unmittelbar auf das Zentrum – auf das eigentliche, innerste Wesen der jungen, der an der Schwelle zur Jugend stehenden Seele. Der nun folgende Absatz ist so gedrängt von Sinn, dass man eigentlich lange, lange bei ihm verweilen müsste, um die Fülle des Gesagten in seiner ganzen Tiefe erfassen zu können. Denn nun schreibt Köhler:[17]

Wir bewegen uns, ausgehend von einer Suchaktion nach dem Ursprung der Sehnsucht, verweilend bei der Kritik des gängigen Gesundheitsbegriffs, über die Erörterung der Sinnfrage als Beziehungs- und Gestaltungsfrage auf das Phänomen des im frühen Jugendalter rein hervortretenden Zärtlichkeitsvermögens zu. Die vor der Geschlechtsreife gnadenhaft als Liebesreife und adventliches Vorgefühl auf alle echten Be-Freundungen des Lebens hervortretende Wärmequalität des Eros, durch die das „Du bist“ zum Ereignis unmittelbaren Verstehens der gott-ebenbildlichen Gestalt des Anderen – seiner Hinentworfenheit auf den MENSCHEN – wird, ist das Ziel, dem sich die Betrachtung nähert und von dem sie geführt wird.

Bei Köhler sind solche Sätze bis in die Tiefen durchlebt und mit wahrer Seelenfülle errungen. Sie sind im Grunde das, was man früher Weisheit nannte; was nur alte Menschen durch ein ganzes Leben hindurch als Weisheit in sich reifen lassen konnten. Es sind lebendige, lebenerfüllte Erkenntnisse, die gleichsam wie mächtigste Engelsflügel durch die Seele ziehen.

Was sagt Köhler hier? Kann unsere Seele die erschütternde Realität des hier Gesagten Satz für Satz mitempfinden? Oder geht die Seele auch an solchen Sätzen dumpf und im wesentlichen bloß intellektuell vorbei, über sie hinweg? Was geschehen müsste, wäre, dass an solchen Sätzen das bloße Lesen einem geradezu ungläubigen Staunen weicht – einem Bis-ins-Innerste-erschüttert-Werden. Dem Erleben, dass man hier zum ersten Mal vor der wahren, der echten Wirklichkeit steht. Und wer dieses nicht erlebt, möge darin sein Urteil sehen, dass die eigene Seele schon nahezu hoffnungslos verstumpft und verstummt ist – es sei denn, sie erhebt sich zu einem verzweifelten Ringen, das Unfassbare dieser Sätze doch noch zu erleben. Zu der verzweifelten Ahnung, dass sie ja wirklich viel zu tief gesunken ist, in die Empfindungsarmut hinein. In das Stumpfe. In den Haben-Modus, der nichts anderes ist als eine die Seele abtötende Maschinerie. Die Seele muss den Verlust ihrer selbst erleben. Anders ist keine Hoffnung mehr...

Was also sagt Köhler? Wir suchen den Ursprung der Sehnsucht. Auch wenn wir die Sehnsucht selbst bereits weitgehend verloren haben sollten, suchen wir zusammen mit Köhler ihren Ursprung. Was für ein Vorhaben! Den Ursprung der Sehnsucht! Einen unsagbaren, einen unfassbaren Ur-Quell, der unverfügbar ist für alle Angriffe, die sich nur auf das Entsprungene richten können, nie aber auf den Ursprung selbst. Was ist die Quelle, was ist der Ursprung der Sehnsucht? Jener Ursprung, aus dem sie immer wieder neu ent-springen kann, selbst wenn sie verschüttet wurde? Ein Flüsschen kann begradigt, eingefasst, zugemauert, gesteuert, eingedämmt und ausgetrocknet werden. Aber wo ist seine Quelle? Wo ist sein Ursprung? Wo ist das absolut Unverfügbare, aus dem das Flüsschen immer wieder neu hervorgeht?

Der herrschende Gesundheitsbegriff kann hierfür den Blick nur völlig verstellen, denn er hängt sich an das Tote. Obwohl es scheinbar um den lebenden Organismus geht, geht es in Wirklichkeit nur um einen mechanistischen Begriff dieses Organismus, während man gar nicht weiß, was eigentlich ein Organismus ist, noch viel weniger die Seele. Ursache – Wirkung. Symptom – Behandlung. Jeder Defekt muss und kann abgestellt werden. Diese Ausrichtung innerer Begriffsbildungen ist gerade Teil des lebendigen, ertötenden Prozesses des Verlustes der Seele. Durch ihre eigene Begriffsbildung arbeitet die Seele daran, sich selbst zu verlieren.

Was aber, wenn der ,Sinn’ nicht darin bestünde, Defekte abzustellen, ,Beschwerden’ zu beseitigen und ein reibungsloses Funktionieren wiederherzustellen – sondern darin, Beziehungen zu erleben und zu gestalten, in jeder Hinsicht und in tiefstem und umfassendstem Sinne? Was, wenn die Seele in diesem tiefsten, heiligsten Sinne ein Beziehungwesen wäre? Und ein Gestaltungswesen? Wenn man dieses Wesen nur in tiefen, heiligen Worten suchen könnte: Beziehung, Zuneigung, Liebe, schöpferisches Gestalten, heilig-liebende Kreativität, Schöpfertum, durchdrungen von Freiheit und Liebe, von dem Ur-Impuls der Zärtlichkeit...

Und auf genau dieses Zentrum zielt Köhler mit seiner inneren Erkenntnisbewegung. Und er sagt: Im frühen Jugendalter tritt dieses Ur-Wesen der Seele in einer nie dagewesenen und auch nicht wiederkehrenden Reinheit und Unmittelbarkeit hervor: ,das Phänomen des im frühen Jugendalter rein hervortretenden Zärtlichkeitsvermögens’.

Die unsagbare Tiefe dieses Vermögens[5] wird auch nicht ansatzweise erfasst, wenn man es nur in den üblichen Vorstellungen äußerlicher, körperlicher Zärtlichkeit belässt, denn der Ursprung der Zärtlichkeit ist nicht körperlich. Und ebensowenig geht es um die bloße, nahende Geschlechtsreife. Denn, wie Rudolf Steiner nicht müde wurde, zu betonen, diese Tatsache (die Geschlechtsreife) ist eingebunden in ein viel umfassenderes Geschehen, das er ,Erdenreife’ nennt und das auf nichts anderes deutet als auf die hervorbrechende, unfassbare Liebesfähigkeit des jungen Menschen.

Nimmt man dieses Geschehen ernst; begreift man seine erschütternde Wirklichkeit; lässt man sich von ihr wirklich, real berühren ... so kommt man unweigerlich zu spirituellen Begriffen und Erkenntnissen. Spirituell im Sinne von nicht materiell, nicht körperlich, nicht mechanistisch, nicht kausal oder sonstwie erfassbar, sondern nur über-irdisch und über-sinnlich erfassbar. Wir stehen vor der Tatsache, dass der Impuls des Zärtlichkeitsvermögens etwas rein Übersinnliches ist – das sich zwar körperlich ausdrücken kann, das aber selbst nicht körperlich ist. Selbst noch der liebevollste Blick eines Augenpaares ist etwas leiblich Vermitteltes – aber es ist eben nur leiblich vermittelt. Doch durch die Augen blickt uns etwas ganz anderes an, etwas, was nichts mit dem Leib zu tun hat, nichts...

Und von diesem spricht Köhler. Bereits vor der Geschlechtsreife, der mit der Sexualität verbundenen Reife, lebt gnadenhaft, das heißt, aus übersinnlichen Wirklichkeitsbereichen geschenkt, eine Liebesreife. Der junge Mensch an dieser heiligen Schwelle zwischen Kindheit und Jugend kann so tief, so rein und so heilig lieben wie nie mehr danach. Die Griechen kannten den Begriff kairos für den begnadeten, gesegneten Augenblick. Das hier von Köhler in den Mittelpunkt gerückte Alter lebt zweifellos in diesem kairos.

Und er spricht davon, versucht, erlebbar zu machen, dass in diesem ,Augenblick’, diesem Alter von etwa zehn, elf, zwölf Jahren, ein adventliches Vorgefühl aufsteigt – eine heilige Ahnung in Bezug auf alle echten Be-Freundungen des Lebens, wobei aber die jetzigen Empfindungen zugleich bereits heilige Fülle bilden, während später unendlich viel davon wieder verlorengeht, denn jetzt, jetzt in diesem jungen Alter, tritt ungehindert, rein und lebenskräftig, seelenleuchtend, die Wärmequalität des Eros hervor – Eros verstanden als ebendiese ur-heilige Qualität reiner Wärme, reiner, heiliger Zuneigung. Das absolute Wunder, die heilige Essenz des Mysteriums der Liebe. In diesem Alter lebt das Heiligste auf Erden im jungen Menschen wie in einem Tempel. Und bricht auf wie eine unsagbar schöne und zarte Blüte...

Was die gnadenhaft geschenkte ,Liebesreife’ in der Seele des jungen Menschen erweckt, ist die allertiefste Ahnung vom Geheimnis des Anderen, jenes heilige Du, dem Martin Buber (1878-1966) sich zu nähern versuchte.[6] Und die erschütternde, zarteste Ahnung, dass in jedem Du das allergrößte Geheimnis lebt – das in keinerlei Worte zu fassende Geheimnis des MENSCHEN, das wirkliche Ur-Mysterium. Und in der eigenen Seele flammt eine unsagbare – und vielleicht auch unsagbar zarte – Liebe zu diesem Mysterium auf. Ein zartestes Ergriffensein und Berührtwerden von dem Mysterium selbst. Etwas nicht mehr Sagbares...[7]

                                                                                                                                       *

Das in diesem Alter zutiefst aufbrechende Mysterium, diese unbeschreibliche Liebesfähigkeit, ist zugleich das Verletzliche schlechthin. Es ist ganz auf Zartheit gebaut – daher ist es Zärtlichkeit –, aber das Zarte ist zugleich das Verletzlichste. Man denke an zarte Blüten... Und die Tragik, die sich hier in jedem Moment ereignen kann, ist ebenfalls unvorstellbar:[18]

Ich habe in meinem Buch Jugend im Zwiespalt [...] darauf hingewiesen, daß in der Pubertätszeit seelische Kränkungen, als Brüskierungen der im selbsterkennenden Bewusstsein aufscheinenden Freiheits- und Liebessehnsucht, die in diesem Alter einer offenen Wunde gleicht, wie Vergiftungsschocks wirken können.

Und jetzt können wir wieder an die ,sterbenden Mädchen’ denken. In jedem Moment sterben Seelen. Und die aufrichtigsten Seelen sterben sogar körperlich.[8] Denn die Verletzungen der Welt treffen mitten hinein:[19]

[...] in die Verletzlichkeit des erwachenden Eros, den wir kennenlernen werden als Begabung eines radikalen, an die Wurzeln gehenden ([...] von lat. radix, Wurzel) Feingefühls für das Zwischenmenschliche: „Du-Sinnigkeit“.

Und hier liegt die heiligste Quelle von Menschlichkeit überhaupt – das absolute Mysterium:[19f]

Wir berühren das eigentliche, „geheime“ Thema [...] vom Jungbrunnen, von der [...] Jugendlichkeit des Eros und der Kreativität [...]: das KINDHEITSWESEN. Diese geheiligte Qualität oder Instanz, wenn sie in der „Es-Welt“ (Buber) nach außen gekehrt wird mit dem nichts als Nähe und Verstehen begehrenden Gestus der Hin-Gabe, ist aber auch unser wundester Punkt, unsere eigentliche Blöße. In der Abschiedsstimmung des biographischen Schwellenübertritts zur „Erdenreife“ (Rudolf Steiner) erhebt sich ungeschützt das KIND in seiner ganzen Entschiedenheit zum Guten [...].

In diesem heiligen Moment vor der Pubertät leuchtet das volle Geheimnis der Menschheit auf. Ein schlichtweg Übersinnliches bricht leuchtend in die Seele ein oder aus ihr hervor. Ein allen Seelen gemeinsamer Impuls zum Guten in tiefstem Sinne. Und Köhler lenkt den Blick darauf, dass dieser ,Impuls’ selbst wesenhaft ist. Es ist das KIND, das KINDHEITSWESEN, das hier in der Einzelseele aufscheint, sich regt und ungeschützt in Erscheinung tritt.

Die Sehnsucht dieses Kindheitswesens geht nach einer heiligen Gestaltung aller Verhältnisse, auf dass sich in ihnen genau dieses eine offenbare: Liebe und Zärtlichkeit. Die Ur-Sehnsucht richtet sich auf DAS GUTE – und damit sind auch die großen Verhältnisse radikal gemeint.

Köhler entlarvt es im folgenden Kapitel als ein Krankheitssymptom, das radikale Ringen aufgegeben zu haben:[25]

[...] daß man sich in der Illusion wiegt, das Projekt gesamtgesellschaftliche Erneuerung in Richtung auf einen freiheitlichen, demokratischen Sozialismus, das heißt auf gesunde Verhältnisse habe sich erübrigt. [...] Offenbar ist die Suspendierung des Wahrnehmungsvermögens für den ruinösen Charakter dieser [heutigen, ,kapitalistischen’, H.N.] Lebensform eine der durch sie hervorgerufenen Degenerationserscheinungen.

Was hochmütig oder sogar durch ganz gezielte Machtinteressen verdrängt, verleugnet und verschwiegen wird, ist, dass es neben dem freiheitsberaubenden ,autoritär-kommunistischen Großversuch’[25] und dem auf Egoismus, Konkurrenzkampf und Vernichtung beruhenden ,kapitalistischen Gegenentwurf’ noch andere Wege gibt, auf denen das wahrhaft Menschliche erstmals zur Geltung kommen dürfte.

Rudolf Steiner beschrieb dies in dem von ihm 1919 unter größten persönlichen Mühen in das gesellschaftliche Leben eingebrachten Impuls der Sozialen Dreigliederung.

Er beschrieb, dass das Prinzip der Freiheit in das Geistesleben gehört – wo es im ,kommunistischen Großversuch’ gerade beseitigt wurde, aber auch im Kapitalismus durch Schulbehörden, Bildungspläne etc. beseitigt wird, um an seine Stelle eine Maschinerie und abstrakte Vereinheitlichung zu setzen, während ebendieser Kapitalismus die Freiheit gerade in die Wirtschaftsebene verpflanzt, wo sie wie ein Wundbrand gerade das Überleben des Stärksten hervorruft.
Steiner beschrieb, wie im Wirtschaftsleben gerade die Brüderlichkeit das wahrhaft menschliche Prinzip wäre und ist – die auch objektiv längst überall wirkt, wo in der arbeitsteiligen Gesellschaft ein Mensch für den anderen arbeitet, ganz objektiv, ob er dies gerne tut oder nicht. Das Wirtschaftsleben ist von seiner inneren Gestalt her längst brüderlich – es ist längst wahrer Kommunismus: einer für den anderen. Doch dies wird nicht empfunden. Und innerlich-seelisch arbeitet jeder doch nur für sich und/oder fühlt sich ausgebeutet, hasst seine Arbeit und wird für die Ausbeutung seiner Arbeitskraft bezahlt wie auf einem modernen Sklavenmarkt. Die realen Verhältnisse sind zutiefst krank und kränkend, krankmachend. Aber das menschliche Potenzial ist längst da: der eine Mensch arbeitet für den anderen, für den Menschenbruder, für die Menschenschwester.
Und Steiner beschrieb, wie das dritte Prinzip, die Gleichheit, gerade ganz und gar für die Rechtssphäre Gültigkeit hat. Vor dem Gesetz und in Bezug auf alle zwischenmenschlichen Verhältnisse sind die Menschen gleich. Sie sind nicht gleich in Bezug auf ihre Fähigkeiten (Geistesleben), auch nicht in Bezug auf ihre Bedürfnisse (Wirtschaftsleben) – aber in Bezug auf ihr Menschsein und das Verhältnis von Mensch zu Mensch (Rechtsleben). Erst durch dieses Erleben würde auch hier die Menschlichkeit überall Einzug halten: Der andere Mensch ist wie ich. Er ist eigentlich mein Bruder, meine Schwester...

Auch im Kapitalismus wird Recht gebeugt, weil sich der Reiche den besseren Anwalt leisten kann, Beziehungen zu mächtigen Menschen hat, die wiederum Einfluss nehmen, auf die öffentliche Meinung, die Presse, vielleicht die Richter selbst. Überall wird Recht gebeugt, wo es der Macht weichen muss. Auch der Mensch, der mit Hilfe seiner Macht innere und äußere Übergriffe auf einen anderen Menschen ausführt – und sei es nur eine sexistische Bemerkung, von Berührungen ganz zu schweigen, oder eine herabsetzende Bemerkung, weil man als Vorgesetzter Macht über einen anderen Menschen hat: überall wird die Rechtssphäre verletzt und gekränkt, denn jeder Mensch hat ein Recht darauf, in tiefstem Sinne menschlich behandelt zu werden. Im Sinne voller Gleichheit – und letztlich im Sinne aufrichtiger Brüderlichkeit.

Der Kapitalismus tritt die höchsten Ideale wahren Menschentums tagtäglich mit Füßen. Und an diesen Tritten klebt Blut – das Blut derer, die stündlich gekränkt und geopfert werden, und das Herzblut der Seelen, das er diesen Seelen gerade austreibt, weil er an dessen Stelle Gleichgültigkeit setzt, das berüchtigte ,Über-Leichen-Gehen’. Das müssen gar nicht reale Leichen sein, es muss nur reale Gleichgültigkeit sein.
Dieses scheinbar, aber doch nur leichthin ,bedauernde’ ,So-ist-es-eben’, als würde es keine Alternative geben, als müsste all dieses Unmenschliche in Kauf genommen werden und wäre die einzige Aufgabe, doch irgendwie inmitten all dessen zu profitieren.

Aber das KINDHEITSWESEN begehrt dagegen auf. Für den jungen Menschen ist offensichtlich, dass dies nicht wahr sein kann – nicht ,der Weisheit letzter Schluss’. Weil es offensichtlich ist, wie unweise, wie unmenschlich, wie verrückt, wie tödlich dies alles ist. Das KIND offenbart das ganze Ausmaß der Selbstlüge, des unglaublichen Verrats an der Liebe, an dem erschütternden Impuls der Zärtlichkeit. Das KIND offenbart die Wahrheit: Der Kapitalismus hat alles verraten. Die gesamte Menschlichkeit. Das Menschsein an sich. Er hat es verraten und vernichtet. Er ist mitten dabei. Er schreitet fort. Es wird nicht aufhören. Die Zärtlichkeit wird untergehen – denn sie ist sein, des Kapitalismus’ Widerspruch. Der Kapitalismus ist unmittelbar und direkt gegen das KINDHEITSWESEN gerichtet. Denn nicht die Liebe zählt, sondern der Profit. Nicht die Liebe.

Und der Kapitalismus leugnet auch die andere Grundwahrheit: dass jeder Mensch berufen ist, mitzugestalten an dem einen großen Mysterium, das da heißt: Menschheit. Werdende Menschheit. Ein heiliger sozialer Organismus, der noch nicht ist, aber werden will. Der Kapitalismus bekämpft diesen. Er schafft die Krankheit. Er schafft kranke Prozesse und kranke Menschen, kranke Seelen:[28]

[...] daß die meisten Menschen unter dem deprimierenden Eindruck stehen, ihre Sehnsucht nach sozialer Zugehörigkeit als unentbehrliche Mitwirkende an einem komplexen (Beziehungs-) Kunstwerk, das eine Zukunfts-Sinn-Perspektive auf etwas Übergeordnetes und doch Urvertrautes hin („soziale Plastik“) eröffnen würde, laufe ins Leere.

Für den Kapitalismus ist der Einzelmensch wertlos – wichtig nur als ,Humanressource’ (!), zur Steigerung des Profits, des Profits anonymer Anderer, der sogenannten ,Gewinner’. Die Rhetorik kann anders sein, aber es wird dann nie gesehen, dass diese Rhetorik dem Prinzip des Kapitalismus immer nur aufgelagert ist (indem man zum Beispiel von ,sozialer’ Marktwirtschaft spricht) – und dass die Vernichtung erst aufhören wird und die wahre Menschlichkeit erst dann anbrechen kann, wenn man sich von dem zerstörerischen Prinzip des Kapitalismus ganz verabschieden wird.

Das Wort ,soziale Plastik’ wurde von Beuys geprägt – gemeint als das heiligste Kunstwerk überhaupt: die lebendige Frucht der sozialen Kunst, die überhaupt erst künftig eine echte Fähigkeit werden wird, allerdings eine Fähigkeit jedes Menschen. Beuys betonte: Jeder Mensch ist ein Künstler. Und er meinte dies im Sinne dieses wahren Menschentums. In jedem Menschen lebt eine schöpferische Instanz; das Schöpferische, das Kreative, das in Kreativität sich liebevoll Auslebende, das in Liebe schöpferisch Handelnde und Gestaltende ist das Urwesen des Menschen. Und dies zu begreifen, wäre der Höhepunkt der christlich-abendländischen Geistesgeschichte – nicht etwa Exzellenzcluster oder Start-Ups:[28]

Eine humane Gesellschaft wird also daran zu erkennen sein, daß sich in ihr jeder Einzelne nach Maßgabe seiner individuellen Einsichten und Fähigkeiten als (Mit-)Gestalter einbezogen und gewürdigt fühlen kann, indem er das tut, was zu tun ihm sein Engel rät, also was er wirklich will. Man erspare mir das ausgeleierte Argument, dann würde es keine Müllmänner mehr geben! Wir können davon ausgehen, daß die Engel nicht unbedingt unsere grobschlächtigen, von ganz unbegründeten Eitelkeiten verzerrten Maßstäbe in bezug auf Wert und Bedeutung menschlicher Tätigkeiten teilen.

Und der Kapitalismus? Er redet von ,Mitgestalten’ – aber er tut es unter seinen Prämissen. Denn niemand kann in unserem Zeitalter ohne weiteres tun, wozu ihm ,sein Engel rät’, also den zarten moralischen Impulsen folgen, die in seinem Inneren geheimnisvoll aufsteigen – sondern er wird eingespannt in Ausbildungen, in Arbeitsplatzsuche und in die Notwendigkeit zum Gelderwerb, andernfalls er in die demütigenden und erniedrigenden Mühlen einer Maschinerie gerät, die sich das ,Fördern und Fordern’ zum Motto gemacht hat. Nicht begreifend, dass niemand ,gefördert’ werden müsste, der die freie Möglichkeit hätte, seinen Weg zu suchen, seinem Stern zu folgen, Hand in Hand mit seinem Engel nach seiner Aufgabe zu streben... Dass erst recht niemand ,gefordert’ werden müsste, der diese Möglichkeit hätte, weil er selbst von sich am aufrichtigsten fordern würde, all das wahrzumachen, was in ihm liegt, denn nichts anderes wäre seine Sehnsucht. Jeder Mensch ist ein wahrhaft begabter (mit Gaben und Talenten gesegneter) Mit-Gestalter an diesem einen, großen, geheimnisvollen Ganzen – und der Kapitalismus braucht nicht zu fordern, er braucht nur aufzuhören, diese kostbarsten Fähigkeiten zu vertreiben und zu vernichten. Das tut er aber von seinem Wesen her. Er muss sich also selbst abschaffen. Weil er dies aber nie tun wird, muss er abgeschafft werden – indem die Menschen zu ihrem eigenen Wesen erwachen, das mit Kapitalismus nichts zu tun hat.

Es sei denn, in einem einzigen Sinne – und in den Worten, die Beuys dem gegeben hat: ,Geist ist Kapital’. Der Geist des Menschen, der von dem Liebe- und Zärtlichkeits-Impuls durchdrungene Geist, ist das einzige Kapital auf Erden, das existiert. Alles andere ist Surrogat und wendet sich wie ein Dämon gegen seinen Schöpfer, ihn sich seiner selbst entfremdend. Geist ist Kapital. Und alles andere Kapital kann in einem geistlosen Zeitalter, das den Geist auf Intellekt, IQ, ,Humanressource’, ,Exzellenz’ etc. reduziert und für ihre Zwecke auf das Prokrustesbett der Verwertbarkeit spannt, nur dem dienen, was die Menschlichkeit bekämpft und vernichtet.

Und diese dann vernichtete, niedergeworfene und völlig abgedämpfte Menschlichkeit unterwirft sich dann den Suggestionen und gedanklichen Konditionierungen, wonach ,niemand arbeiten würde’ oder ,keiner Müllmann mehr würde’, wenn er nicht durch die Not des Geldwerwerbs und das fordernde ,Jobcenter’ dazu gezwungen wäre. Köhler erwähnt, wie Kinder noch ein untrügliches Gespür dafür haben, dass der ,Müllmann’ nicht weniger wertvoll als der Arzt oder der Anwalt ist, ja dass Kinder noch sehr real Müllmann werden wollen, weil sie in solchen Menschen noch innerlich lebendig Helden empfinden, die sich gekonnt auf den hinteren Tritt schwingen, die mit kräftiger Hand die schweren Tonnen hochheben, die mit einem echten Liebesimpuls eine ganz und gar unverzichtbare, bewundernswerte Aufgabe erledigen, Tag für Tag... Kinder wissen, dass diese Aufgabe in den Augen des Engels wertvoller ist als die eines blutleeren Managers. In den Augen der Kinder ist sie es auch...

Nur der erwachsene Mensch, der den Kontakt zu dem KIND ganz verloren hat, kann meinen, ein Mensch, der nicht arbeiten müsste, würde auch nicht arbeiten – oder würde nur noch seinen egoistischen Genüssen frönen. Kennen wir nicht all die vom Arbeitsprozess ausgeschlossenen Menschen, die in Sinnlosigkeit und Depressionen, oft genug auch im Alkohol versinken? Ist dies nicht der vollgültige Gegenbeweis dieses schäbigen Vorurteils – ein voller Beweis dafür, dass jeder Mensch sich gebraucht fühlen und gebraucht werden will? – Ja, dann sagt man, der Arbeitslose könnte doch alles Mögliche tun, er hat doch jetzt Zeit und alle Möglichkeiten. Ja, aber er ist bereits durch die Vernichtung hindurchgegangen. Der Kapitalismus hat ihm die eigentliche Kreativität und den heiligen Zärtlichkeits-Impuls längst ausgetrieben. Dann nimmt er ihm noch die bezahlte Arbeit. Und dann ist die Seele am Ende.

Erst vernichtet der Kapitalismus den Liebes-Impuls, und dann spannt er jeden Einzelnen in seine unmenschliche Maschinerie ein. Was er dann mitleidlos ausspuckt, ist kein Mensch mehr, sondern eine resignierte Seele, die noch immer Sehnsucht hat, aber keine Kraft mehr, sich dieser voll bewusst zu werden, einschließlich der damit verbundenen schöpferischen Quellen. Der Arbeitslose ist zwar noch ein ,Mensch’, aber seine Seele ist, wie die so vieler anderer, ein Grab für das KIND geworden. An ihm ist ein Künstler verlorengegangen. Ein heiliger Mitarbeiter für das unendlich wichtige Ganze, das ohne ihn gar nicht zur Erscheinung kommen kann. Der Kapitalismus watet knietief im Blut nicht gelebter Zärtlichkeit, nicht geoffenbarter Kreativität für den Menschenbruder, für alle Menschenbrüder und -schwestern. Der Kapitalismus hat jede Seele auf dem Gewissen, denn er tötet in jedem Menschen den Künstler, der das KIND ist.

Köhler erwähnt Beuys’ Werk ,Honigpumpe am Arbeitsplatz’ auf der Documenta 1977. Beuys’ Arbeiten wurden von den wenigsten verstanden. Für ihn war das berühmte ,Fett’, aber eben auch hier der Honig etwas, was über alles bloß Symbolische weit hinausging. Fett ist ganz real ein Wärmespeicher. Honig ist ein Speicher von Süße – und Süße ist das materielle Pendant zur Zärtlichkeit. Bienen sind reine Wärme-Wesen, sie leben ganz und gar im Licht und in der Schönheit. Und in ihrem dunklen Stock schaffen sie, obwohl sie als Insekten ,Kaltblüter’ sind, einen Wärmeorganismus. Gemeinsam können die Bienen die Temperatur im Stock durch Muskelzittern auf über 30 Grad halten. Wenn Beuys also eine Honigpumpe zur Realität werden lässt, deutet er auf das ,offenbare Geheimnis’, dass die Biene ein sozialer Organismus ist, dass der Bienenstock eigentlich ein großes Lebewesen ist – und dass in das Leben der Bienen eigentlich das Geheimnis der Liebe hineingeheimnißt ist. Die Biene ist gleichsam aus Instinkt ein Liebe-Wesen, ein zutiefst soziales Wesen. Der Mensch könnte es aus Freiheit werden, denn auch in ihm liegt dieses Mysterium als sein Ur-Wesen verborgen.

Und das gerade ist das Einzigartige des Menschen: dass er das heilige Geheimnis der Liebe mit vollem Bewusstsein und aus voller Freiheit wahrmachen kann. Es ist seine Freiheit. Und deswegen wird es auch seine Liebe sein. Nicht aus Instinkt, sondern aus freiem, ur-individuellem Willen. Der Mensch ist das Mysterienwesen des Kosmos: Freiheit und Liebe gehen eine einzigartige Verbindung ein, die nur hier existiert: im Menschen. In jenem Menschen, der das unaussprechliche KINDHEITSWESEN zur Offenbarung bringt. Einzigartig und unwiederholbar. Der Mensch und das KIND. Sie sind von vornherein füreinander bestimmt – und sie suchen einander von Anbeginn an... Der Mensch ist das KIND. Er weiß es nur noch nicht...

Das Mysterium kann sich nicht ereignen, wenn der Kapitalismus die Rahmenbedingungen dämonisiert. Was sich im Bienenstock ereignet – eine heilige Gemeinschaft –, das muss der Mensch radikal aus eigenem Impuls heraus erringen. Diese Zukunft wird kommen. Der Kapitalismus wird eines Tages fallen. Und das KIND wird seine sanfte Herrschaft antreten. Die Liebe des Einen zum Anderen wird regieren – und wird alles kreative Tun bestimmen. Liebe wird Kunst werden – ,soziale Plastik’. Der Mensch wird den Bienen in nichts mehr nachstehen. Was sie instinktiv tun, wird er aus Freiheit tun. Aus Freiheit und aus freier, soziale Kunst gewordener Liebe.[9]

Die scheinbar „nur“ politische Forderung nach Befreiung der Arbeit läuft also auf die ganz und gar nicht politische Frage nach dem Sinn des Lebens hinaus.[32]

Der Mensch verfehlt diesen Sinn, wenn er sich nicht als berufen zur Gestaltung des Ganzen begreift.[10]

Aber wer ist derjenige, der beruft? Wer ist der Rufer? Wer gibt den heiligen Auftrag?

Die Paradoxie des Sinn-Problems besteht darin, daß wir uns, sinnhaft, das heißt schöpferisch handelnd, als Ausführende des selbsterteilten utopischen Auftrages MENSCH empfinden, der aber nur von jemandem erteilt werden kann, der ihn im Augenblick des Erteilens schon erfüllt hat; ich muß des MENSCHEN inne sein, um ihn mir aufzutragen.[33]

Mit anderen Worten: ich muss das Geheimnis zu erleben beginnen, indem ich von ihm ergriffen werde. Ich erahne es, indem es in mir zu leben beginnt. Ich werde des MENSCHEN, des KINDES inne, weil ich dessen innewerde, dass der MENSCH, dass das KIND mich anschaut. Ich schaue an, indem ich angeschaut werde. Die übersinnliche Erkenntnis ist immer ein heiliger Prozess der Kommunion, des geheimnisvollen Einswerdens. Ich kann das KIND nur finden, indem es mich findet – indem ich mich von ihm finden lasse... Die Hingabe wird zum Beschenktwerden... Gerade in der Hingabe finde ich, weil ich gefunden werde.

Warum ist das so? Weil Hingabe identisch mit dem Liebes-Impuls ist. In der Hingabe schmelzen in einem geheimnisvollen Wärmeprozess alle Grenzen, gibt es nur noch Brücken, und über die Brücken geschieht die geheimnisvolle Einswerdung des Erkennens (,Und sie erkannten einander’ ist das alttestamentarische Wort für die liebende Vereinigung). Die Seele kann sich mit dem KIND da vereinigen, wo sie in sich dieselbe innere Bewegung findet, die das KIND ist: den Zärtlichkeits-Impuls.

Wann immer der Wunsch, einen Anderen oder die Anderen zu beschenken, das bestimmende Motiv meines Handelns ist [...], dringe ich erkennend zum MENSCHEN vor Kraft der MENSCH-haltigkeit meines Wollens.[33]

In jedem Liebesimpuls nähere ich mich geheimnisvoll zugleich dem heilig-übersinnlichen Ur-Wesen, weil in dem Moment in mir etwas von ihm lebt und es mir in genau diesem Moment längst nahegekommen ist, sich mir geschenkt hat. Es sind dies heilige Prozesse, die nicht abstrakt verstanden oder beschrieben werden können. Es sind Mysterien. Es ist das Mysterium.

Aber gerade weil Liebe nur geschenkt werden kann, niemals erzwungen, ist es ein historischer Irrtum, zu glauben, Arbeit sei bezahlbar. Arbeit ist niemals bezahlbar – denn sie soll immer sein und werden ... menschliche, geschenkte Liebe. Deswegen wollte Rudolf Steiner Arbeit und Einkommen entkoppeln: Jeder Mensch sollte das zum Leben bekommen, was er braucht, um arbeiten zu können – nicht als ,Entlohnung’ seiner Arbeit, die es gar nicht geben kann. Menschliche Arbeit als verkörperte Liebe ist nie käuflich und immer unbezahlbar. Was ein Mensch für den anderen tut, ist immer unbezahlbares Geschenk. Es kann nie etwas anderes sein. Alles andere wäre Sklaverei. Menschliche Arbeit für den Anderen ist Gabe, ist Hin-Gabe, also Liebe.

Nachdem Köhler auf diese Tatsache hingewiesen hat, kehrt er erneut zurück zu jenem Alter, in dem sich dieser Liebes-Impuls zum ersten Mal erschütternd in die Wirklichkeit hebt. Er tut dies zunächst nicht im Hinblick auf die ganze Menschheit, sondern auf einen geheimnisvoll geliebten Menschen, der so aber zugleich wie ein Bote für die ganze Menschheit erscheint. Und Köhler fasst dieses existenzielle Geschehen in folgende Worte:[34]

[...] daß sich aus der unvermutet und aufwühlend hereinbrechenden „Weltkraft“ [...] des Eros jener Wunsch zu schenken geradezu gebieterisch erhebt und mit einer solchen Innigkeit auf den einen oder anderen, zum Stellvertreter des Menschen erkorenen leibhaftigen Menschen richtet, daß sich jählings die Skala der Wichtigkeiten auf eine völlig welt-fremde, nämlich weit in ein Zukünftiges vorausahnende Weise verschiebt.

Was für ein wundervolles Wort: ,erkoren’. In diesem einen zärtlichen Wort liegt der ganze Idealismus, mit dem nicht nur die Liebe die junge Seele ergreift, sondern mit der sich diese junge Seele zugleich das Geliebte sucht,[11] das sie dann mit ihren innigen Empfindungen beschenkt. Fortan ist dieser eine, auserwählte Mensch der Wichtigste auf Erden – und ist nichts wichtiger, als ihm alles zu schenken, was die Seele zu schenken vermag. Eine tiefe Sehnsucht nach Hingabe lebt in der Seele in Bezug auf das geliebte andere Wesen. Und was ,weltfremd’ erscheint, ist nichts anderes als das radikale Ernstmachen mit dem Impuls der Liebe, der Zärtlichkeit, der Verehrung, der Hingabe. Es ist Ernstmachen mit dem heiligen Wesen des MENSCHEN. Der Mensch ist kein Bündel aus Egoismen und Selbstbezüglichkeiten, und das in diesem Alter rein und tief liebende Kind kurz vor der Schwelle zur Jugend weiß dies so unmittelbar, wie nur irgendetwas gewusst werden kann.

Und Köhler beschreibt dies:[34f]

Das heranwachsende Mädchen, erfüllt von Zärtlichkeit für einen vielleicht nichtsahnenden, geheimen Freund, würde, wenn es ausdrücken könnte, was es fühlt, etwa sagen: Alles wäre für immer gut, wenn das, was ich zu geben habe, ihm helfen könnte, so zu werden, wie ich ihn sehe. Ich sehe, was er nicht zu sehen vermag, nämlich wie er wirklich ist, und ich bin dazu da, es ihn sehen zu lehren ... – Nicht wenige übrigens können diese Art von Gefühlen ausdrücken und tun es: adressiert zum Beispiel an das „liebe Tagebuch“. Hier spricht die Sehnsucht an sich [...].

Hier taucht es auf, das Mädchen... Offenbar war es auch für Köhler naheliegend, dies an einem Mädchen zu beschreiben, diese selbstlose Hingabe- und Liebe-Fähigkeit. Dieses Sehen hinter alle Mauern und Schleier, dieses Durchstoßen der Schleier durch eine allertiefste Wärmequalität. Die Mädchen haben dies in tiefstem Maße – und darum gibt es zum Beispiel auch kaum einen Jungen, der Tagebuch schreibt. Die Jungen sind bereits viel mehr Opfer dessen geworden, was das Mysterium des MENSCHEN austreibt und vernichtet.[12]

Und noch einmal entwirft Köhler die soziale Utopie (von griech. ou ,nicht’ und topos ,Ort’, etwas, was – noch – keinen Ort hat), die zugleich Aufgabe ist, dem Menschen aufgegeben als das Einzige, was Sinn hat, was der Sinn ist:[37]

Man muß ja heute aufpassen, daß man sich nicht unter Entschuldigungszwang gestellt fühlt, wenn man das Allermenschlichste tut, nämlich Ausflüge in die Zukunft unternimmt, um des MENSCHEN gewahr zu werden.
[...] Auf der Grundlage einer von materialistischen Vorurteilen entrümpelten Psychologie, die den Primat des Geistes und somit die Freiheits- und Liebessehnsucht (nicht die Triebabstillung) als primären Motivationsfaktor (an-)erkennt, muß eine neue Beziehungs-Ethik [...] entwickelt und von zwei Seiten her im sozialen Leben wirksam werden: erstens als eine allmählich sich ausbreitende Qualität des „Interesses von Mensch zu Mensch“, welches „der Grundnerv allen sozialen Lebens“ (Steiner) [...] ist, zweitens als maßgebliches Kriterium für arbeitsrechtliche, eigentumsrechtliche, sozialrechtliche und natürlich auch bildungs- und kulturpolitische Gestaltungen.

Das Kriterium für menschliche Gestaltungen kann nur das erlebte Mysterium des MENSCHEN sein, der Urquell alles menschlichen Empfindens und aller moralischer Intuitionen. Niemals kann das Kriterium für menschliche Gestaltungen der Egoismus, der Profit oder ein ,es war schon immer so’, gar ,es gibt dazu keine Alternative’ sein. Jeder Mensch spürt innerlich exakt und unwiderleglich, dass es Alternativen geben muss und zweifellos gibt. Die aufrichtig empfindende Seele spürt sie ja in jedem Moment – und es sind nur die einkonditionierten Denkgewohnheiten, die das Aufleuchten moralischer Intuitionen verhindern, mit denen die Gesellschaft sich unmittelbar auf den Weg machen könnte und würde, um sich wahrhaft menschlichen Gestaltungen zu nähern und diese Schritt für Schritt zu verwirklichen.[13]

Die Seelen, die dies als bleibende, als unverwirklichbare Utopie abtun, verurteilen sich selbst gewissermaßen zum Tode. Ebenso diejenigen Seelen, die den hier immer wieder berührten Liebes- und Zärtlichkeitsimpuls gar nicht mehr (oder noch nicht) übersinnlich denken können:[39]

Wir müssen zum einen über das zwischenmenschliche Beziehungsfeld, das Ich-Du-Ereignis sprechen, über den, ich möchte fast sagen verfemten Bereich der Zärtlichkeit, dem ja heute, wenn er nicht heillos eingekitscht wird, offener Spott entgegenschlägt; wir müssen zweitens sprechen über den schwer mißhandelten Begriff der Kreativität; und über ein Drittes, was Kreativität und Zärtlichkeit verbindet, wird zu sprechen sein. Nennen wir dieses Dritte, dem wir nachspüren wollen, Eros. Das heißt nicht etwa Beischlaf [...], sondern der originale philosophische Begriff des Eros meint erstens die geistig-seelische Liebe im Grenzbereich zur sinnlichen Anziehung, zweitens den Drang nach Erkenntnis und schöpferischer Tätigkeit.
Ich behaupte und versuche zu begründen, daß [...] Kreativität und Zärtlichkeit zwei Erscheinungsformen ein und derselben Hoffnungs- oder Sehnsuchts-Substanz sind.

Im Folgenden geht Köhler von neuem auf das tief Falsche der Defekt-Orientiertheit und Leidensvermeidung ein. Er macht dies zunächst am Licht verständlich: Ich kann Licht nur wahrnehmen, wenn es auch die Finsternis gibt – andernfalls wäre Licht nicht Licht. Gäbe es keine Finsternis, könnte das Licht sie nicht aufhellen, und ich würde nie wissen, was Licht ist.[43] Dann überträgt er dies auf die seelische Wirklichkeit. Auch hier kann nichts ohne seine Polarität wachsen und sich entfalten:[44]

Qualitäten wie Hoffnung, Freude oder liebevolles Einverständnis wären in ihrer wahren Bedeutung gar nicht faßbar, gar nicht verstehbar ohne den Hintergrund der entsprechenden Komplementärerfahrungen. [...] Empfindungstiefe, Verstehenskraft und die Fähigkeit, in den herausgehobenen Stunden des Lebens wirklich als ganzer Mensch anwesend zu sein, sind Ergebnisse einer (Seelen-)Welterfahrenheit, die das Dunkle, Abgründige, Bedrückende einschließt.[14]

Man denke an herzzerreißend weinende Kinder, die nur deshalb, weil sie auch dieses tiefe Leid kennen, in anderen Augenblicken unfassbar froh aufstrahlen können.[15]

Die heutige Haltung, alle psychischen ,Probleme’ sofort zu behandeln, bedeutet demgegenüber im Grunde nichts anderes als:[45]

[...] eine ständige, latente Demütigung unter dem Deckmantel des Mitleids. Idealisiert wird ein daueroptimistischer, heiterer, unbekümmerter, selbstzufriedener, psychisch ausgeglichener [...] Prototyp [...].

Seelische ,Schmerzräume’ sind dem Menschwerden notwendig – und ,ein behaglich und wohlfühlig dahinplätscherndes Sein’[45] hindert gerade an der wahren Menschwerdung, ist im Grunde nichts anderes als ein seelischer Todeszustand.[16] Man kann hier an die Science-Fiction-Filme denken, wo die Bürger des Zukunftsstaates in einem ,immer-glücklichen’ Zustand konserviert werden, wo sie keine Fragen stellen, kein Leiden kennen, natürlich auch kein Mitleid und keine wirkliche Liebe...

Die Liebe wird erst gefunden, wo der Mensch an dem Unvollkommenen, ja sogar Schlechten und Schlimmen leidet – und wo dieses Leid seine Herzens-, seine Liebeskräfte aufruft und ihn zu schöpferischen Taten gestaltender Zärtlichkeit kommen lässt. Wer das Leid von sich weist und ,Stärke’ durch Abhärtung, durch Gleichgültigkeit beweist, entfernt sich gerade vom Menschenwesen – während der, der sich dem Leiden öffnet, gerade eine wahre Stärke gewinnt, indem aus der ,Befreundung mit Schwäche’[51] die Kraft der Liebe erwächst.[17]

Köhler weist darauf hin, dass das Schicksal oder, konkreter gesagt, der Engel ein allzu seicht dahinplätscherndes Leben aufwühlen kann, damit der Mensch wieder Anschluss an seine vorgeburtlichen Entschlüsse oder Ziele findet. Gemeinsam mit dem Engel ist es aber das eigene höhere Ich, das versucht, den Alltagsmenschen aufzuwecken:[60]

Das Konzept „Lebensqualität gemütlich, vergnügt und kerngesund“ geht bekanntermaßen sehr selten auf, und das liegt nicht an der bösen Welt und an den unzureichenden Konfliktabwehrvorrichtungen, sondern am Qualitätsgespür des inneren Künstlers, der nicht damit einverstanden ist, daß in seinem Namen ein biographisches Gebilde ohne Originalität und kompositionelle Spannung entsteht.

Wenn der Sinn fehlt, weil der Liebes-Impuls verfehlt wird, dann wehrt sich das innere Menschenwesen, denn in ihm lebt dieser Impuls, der sich offenbaren will.
Das Vermeiden von Leid führt zur ,Friedhofsruhe’ und zur ,Totenstarre’, denn immer mehr wird alles auf die Abwehr des ,Unangenehmen’ gerichtet sein – immer weniger auf ein vertrauensvolles Leben inmitten. Ist aber die Erstarrung bereits (teilweise) geschehen, wird allein schon der Prozess der Befreiung leidvoll. Aber so, wie auch die irdische Geburt den Säugling schreien lässt, also mit Leid verbunden ist, so ist auch die nicht leichte Befreiung von der Anklammerung an das Dogma des ,ewigen Gutgehens’ eine echte Geburt zu einem höheren Sein, aus dessen Blick heraus sie dann auch wirklich als Befreiung erlebt werden kann.
Leid ist dann nichts Schlimmes mehr, sondern tatsächlich ein Freund, ein treuer Begleiter, der einem hilft, zu wachsen... In Liebe blickt man auf das Leid und auf das, was es einem alles geschenkt hat.

Zum Schöpfer, zum Künstler wird der Mensch erst durch die Liebe – auch die Liebe zur Kreativität. Aber auch Kreativität ist Liebe, denn alles, was auf diese Weise entsteht, ist etwas Geschenktes. Ein Egoist kann kaum schöpferisch sein. Der Künstler schafft selbstlos – aus reiner Liebe zum Schaffensprozess an sich. Der Künstler gibt immer sich und seine Fähigkeiten an das Werk hin. Damit ist die Kreativität der Liebe innig verwandt. Beides ist Hingabe.

Die Liebe braucht keinen Boden, auf dem sie wandelt – sie hat ihren eigenen Boden. Das betrifft auch die ,Treue’, die sich durch moralische Dogmen allzu schnell in die Forderung nach Treue verwandelt – obwohl man Treue und Liebe ebensowenig fordern kann wie menschliche Arbeit, wenn sich nicht auch die Liebe in Sklaverei verwandeln soll. Die Liebe und die Treue sind immer Geschenk, unverfügbar. Der wahrhaft Liebende spürt in jedem Moment, dass ihm das geliebte Wesen am allerwenigsten gehört. Und auch die Liebe selbst, dieses ,Dies will ich nur mit dir teilen’, ist ein freies Geschenk, ja ,Zeichen der Ergriffenheit’.[69] Die Liebenden werden von der Liebe selbst ergriffen – und wenn sie beginnen sollten, sie festhalten zu wollen, wird die Liebe sich gerade wieder entziehen...

Die wahre Liebe speist sich aus dem Ewigen und wird von diesem getragen:[71]

[...] einer Art von Erinnerung (an frühere Begegnungen), die das seltsame Gefühl auslöst, sie sei von einer beschlossenen gemeinsamen Zukunft jenseits des diesmal Möglichen angestrahlt. Nicht selten sind die wesentlichsten und schönsten Dinge, die jemand hervorbringt, insgeheim einer solchen unerfüllbaren und zugleich unverbrüchlichen Liebe gewidmet.

Wer aber gerade diese Sphäre in seiner Seele abtötet – indem er sich etwa über diese ,Gefühlstiefen’ lustig macht –, der tötet in sich den eigenen höheren Menschen, der er ist. Denn dieser höhere Mensch kann sich zutiefst verletzlich machen und tut dies immer – das Mysterium der Zärtlichkeit besteht gerade darin –, und nur der Alltagsmensch flüchtet davor, flüchtet kraftlos in die Empfindungsarmut, die Oberflächlichkeit und den Spott, fühlt sich sogar noch stark in seiner trivialen Seichtigkeit.

Das Mysterium des MENSCHEN wird von den Gegenmächten heftig bekämpft – und allzuschnell erliegt der Alltagsmensch diesen Gegenmächten, die ihm das Leben bequem, seicht und hochmütig machen, während er nicht den Mut hat, den Impuls des wahrhaft Menschlichen zu suchen, sich diesem zu öffnen und sich zu ihm zu bekennen. Nicht den Mut und nicht die ,Lust’ – denn Liebe ist ,anstrengend’. Sie ist nur da, wenn die Seele sie entfaltet. Der Egoist kann dies gar nicht mehr. Aber auch die anderen Seelen verschanzen sich in ihr gesellschaftlich sanktioniertes Mittelmaß, leben vorbei an dem Mysterium, das fortwährend wartet und hofft und leidet ... weil es von allen verraten wird.

Gerne verweist man auch auf die angebliche ,Selbstaufgabe’ bei ,übertriebener Liebe’. Aber Köhler macht deutlich, dass diese Einwände die wahre Liebe gar nicht kennen – dass solche Argumente also nur billige Ausflüchte sind. Die wirkliche Liebe ist nie eine Rückkehr in den symbiotischen Mutterschoß gegenseitiger Abhängigkeit, sondern ein freies Geschenk inniger Hingabe, in der man sich nicht verliert und dennoch die Liebe und den Anderen gewinnt – was jemand, der zur Hingabe nicht fähig ist, nie erfahren wird:[82]

Wir müssen also unterscheiden zwischen dem Drang nach selbstvergessener, ausgelieferter Nähe und der Sehnsucht nach Befreundung, das heißt Selbstbewahrheitung in der Du-Bezogenheit oder, was dasselbe ist, Du-Bewahrheitung durch wirkliche individuelle Präsenz. Das du-gerichtete Füreinander setzt Getrenntheit voraus und ist somit unverträglich mit dem symbiotischen Ineinander.[18]

Der Egoist oder der Bindungsunfähige hat jedoch schon Angst oder Unwille vor diesem Füreinander – er bleibt lieber für sich und geht allenfalls völlig unverbindliche ,Beziehungen’ ein, die diesen Namen kaum verdienen. Köhler macht darauf aufmerksam, dass in dem Wort ,Freund’ (althochdeutsch ,fri-ond’) die Silbe ,frei’ enthalten ist – Freundschaft ist in jedem Moment freies Geschenk. Man denke auch an das Symbol der Ehe: zwei sich über- und ineinander legende Ringe. Keiner geht in dem anderen verschwindend auf, und doch bilden sie eine ,Schnittmenge’, eine Gemeinschaft, einen Innenraum, der nur ihnen beiden gemeinsam gehört, zu dem die Außenwelt keinen Zutritt hat. Zugleich hat dieser doppelte Ring Ähnlichkeiten mit der Lemniskate, dem Symbol für die Unendlichkeit...

Die heilige Substanz, die in der Freundschaft lebt, ist frei geschenkte Zuneigung und ein heiliges Interesse am Anderen. Im Wort Zu-neigung ist das Interesse bereits enthalten. Das eigene Wesen neigt sich dem anderen zu – geht also von sich fort zu dem Anderen hin. Und nichts anderes bedeutet Interesse – es bedeutet lateinisch ,dazwischen sein’. Warmes Interesse ist nie bei sich, es ist immer bei dem Anderen. Und doch hat das Interesse ja eine Quelle – und die ist man selbst. Es ist die Quelle selbst, die zum Anderen geht, die sich aufmacht in das heilige Reich des ,Dazwischen’, in das Reich des Verbindenden, des heiligen Bundes...

Die liebende, zuneigungsvolle Aufmerksamkeit ist immer bei dem, dem sie gilt – sie ist außerhalb des eigenen Körpers. Das ist immer so, schon bei der geringsten Sinneswahrnehmung. Diese Realität entgeht der Aufmerksamkeit nur deshalb, weil die Seele es nie gewohnt ist, sich selbst zu beobachten und die wirklichen seelischen Prozesse zu erleben. Die Seele ist wahrnehmend immer bei dem Wahrgenommenen – und in Zuneigung und Liebe wird diese Realität nur gesteigert. So sehr, dass das ,Inter-esse’, das reale ,Sich-im-Zwischen-befindend’, zu einer bewussten Erfahrung werden kann. Und mit Hilfe dieses Bewusstwerdens kann sich diese Fähigkeit nur um so weiter vertiefen, in heiliger Weise weiter vertieft werden, getragen von den Schwingen der Sehnsucht, genau dies zu tun – spürend, dass auf diesem Weg das heilige MENSCHENWESEN der Begleiter, der heilige Freund ist...

Dieses heilige ,Dazwischen’ kann auch die Sexualität heiligen, wenn sie nicht nur auf einen ,genitalen Zwangscharakter’ gegenseitiger Selbstbefriedigung oder eine regressive, bloße Verschmelzungssehnsucht reduziert wird. Auch hier öffnet der Eros den Blick für den Anderen:[94f]

Die erotisch [...] sensibilisierte Sexualität [...] läßt das kleine, gefräßige Ego hinter sich und eröffnet den Zwischen-Raum, die Zwischen-Zeit für Augenblicke des großen, unverstellten, ungeborenen ICH, welches sich im verstehenden Hingegebensein nicht etwa verliert, sondern erst bewahrheitet. [...]
Durchglüht und durchlichtet vom Eros der Bewusstseinsseele kommt dem Sexus weder das leidenschaftliche noch das genußvoll-verspielte Element abhanden, aber diese werden auf eine Stufe heraufgehoben, wo eben die Ich-Überkreuzung des intuitiven Verstehens stattfindet und das Motiv des Schenkens dasjenige des Selbstgenusses in den Hintergrund drängt. [...]
[...] Wo die gegenläufigen Begehrensströme übereinanderschlagen, greift das Wärmewesen ein, durch das die Ungeborenen einander gewahr werden.

Köhler zitiert in diesem Zusammenhang den ,engelinspirierten’ Satz von Lévinas: ,Im Antlitz des Anderen fällt Gott in mein Denken ein.’[95][19] Auf diese Weise ist die Erotik nicht der Vorhof zur körper- (und damit vor allem lust- und ego-) betonten Sexualität, sondern ein Engel, der auch die liebende Vereinigung der Leiber ganz mit dem Licht heilig-übersinnlicher Kommunion durchdringt. ,Und sie erkannten einander’. Die Bedeutung dieses einen Satzes kann einen zutiefst erschüttern...

Mit Hilfe von Rudolf Steiners spiritueller Menschenkunde kann man zu dem Begreifen der Tatsache kommen, dass es eine bewusste Hingabe gibt – ein Bewusstsein, das dennoch tiefste Hingabe ist, ein ,bewusstes Hineinschlafen in den Anderen’. Es ist die Liebe selbst, die alle Paradoxa auflöst, weil sie eine höhere Wirklichkeit schafft:[96][20]

Es handelt sich um einen Erkenntnisweg der Zärtlichkeit in der eigentlichen [...] Bedeutung des Wortes. Zärtlichkeit ist Haltung, Gestus, Empfindungsqualität und gestalterisches Vermögen. Die zärtliche Haltung ist der meine ganze Gestalt erfassende Wunsch zu verstehen. Ich bin dieser Wunsch. [...] Und dies alles gipfelt [...] in dem Vermögen, intuitiv (das ist etwas anderes als instinktiv) das Richtige zu tun, nämlich das vom Anderen wortlos Erbetene, das, was ihm gerecht wird [...].

Das Erleben des wortlosen Verstehens ist das tiefste Glück innigen Liebens. Es ist oft zu einem Schlagwort geworden, aber es wird Wirklichkeit als Frucht heiliger Intuition. Und es hebt auch die liebende Vereinigung in eine unfassbar heilige Sphäre:[98]

Wer die Ausnahmesituation überkreuzter Geistes-Gegenwart – was nichts anderes heißt, als daß zwei Menschen einander wahrnehmen, wie Gott sie gemeint hat: in ihrer unversehrten inneren Schönheit – kennt, die der Sexus dem Eros verdankt, ist ein für allemal davon geheilt, sich an der zwanghaften Großfahndung nach immer ausgeklügelteren und abwegigeren Prozeduren für immer grandiosere Orgasmen zu beteiligen. [...] Denn es gibt im erotisch-sexuellen Bereich nichts Beglückenderes als den sinnlichen Durchbruch zur Über-Sinnlichkeit der höheren Du-Wahrnehmung.

Köhler weist auch daraufhin, dass es bei der ,sexuellen Befreiung’ der sechziger Jahre in seinen Untergründen um die Befreiung der Zärtlichkeit ging – auch wenn diese oftmals unterging, weil die bloßgestellte ,Geilheits-Fratze, die hinter dem Schleier bürgerlicher Scheinheiligkeit zum Vorschein kam, plötzlich als Ideal gefeiert wurde’.[99] Mit anderen Worten: Zunächst trug der Sturz in die Körperlichkeit den Sieg davon, der immer schon vorhanden war, auch wenn die Scheinheiligkeit diese bis dahin unterdrückt hatte. Der Sex wurde befreit – die Zärtlichkeit ist noch immer heilige Zukunftsaufgabe. Es ist die Befreiung der Sexualität selbst von bloßer ,Lust’ und Egoismus – unter den heutigen Bedingungen fast eine Utopie, aber eine, die einer völlig anderen Zukunft den Boden bereiten wird, weil sie diese andere Zukunft sein wird.

Das Ur-Wesen der Erotik ist die Zärtlichkeit. Und sie tritt zum ersten Mal vor der Pubertät auf – in einem Alter, wo sich das sexuelle Begehren noch nicht findet. Es ist, wie Köhler bereits sagte, seelische Liebe und Anziehung an der Grenze zur Leiblichkeit. Und über diese unendlich reine und tiefe Liebe schreibt er weiter:[101]

Diese Liebefähigkeit, die in Hölderlins Satz „Schon weil du bist, sei dir in Dank genaht“ eingefangen ist, begründet romantische Freundschaften zwischen Kindern und Jugendlichen, aber auch Erwachsene können die ganze verzehrende Sehnsucht einer Kinderseele auf sich ziehen – vielleicht ohne je davon zu erfahren, denn die reine erotische Zuneigung [...] ist scheu, selbstlos, von zärtlichen Phantasien umwoben und in gewisser Hinsicht rigoros, nämlich fest entschlossen, das geliebte Wesen in den Stand der Makellosigkeit zu erheben und sich durch kein „vernünftiges“ Argument darin beirren zu lassen.

Und wieder beschreibt Köhler dies am Beispiel der Liebe eines Mädchens:[110]

Ich kann nur immer wieder an Eltern, Lehrer und Erzieher appellieren, die Liebefähigkeit und innere Bindungsfähigkeit der Kinder in diesem Alter nicht zu unterschätzen. Das geschieht nämlich allzu oft. [...] Da verläßt ein Lehrer die Schule und ahnt nicht, daß ein kleines Mädchen fassungslos trauernd zurückbleibt, weil er sich noch nicht einmal von ihr, für die er doch alles ist, verabschiedet hat. Man bagatellisiere nicht den kindlichen Eros!

Diese reine Zärtlichkeitskraft richtet sich auf das geliebte andere Wesen, das so zugleich Stellvertreter des MENSCHEN wird. Der Einwand einer abstrakten Psychologie wäre nun, dass der ,Auserwählte’ nur ,als Projektionsfläche für illusionäre Wunschvorstellungen’ missbraucht werde.[104] Köhler weist demgegenüber darauf hin, dass es hier absolut nicht um gewöhnliche Psychologie geht, sondern um die Mitwirkung des Engels – denn der idealisierende Blick schaut den Menschen, ,wie Gott ihn gemeint hat’. Der Andere wird nicht zum Repräsentanten des MENSCHEN stilisiert, sondern als solcher erkannt.[105] In Wirklichkeit ist dieser Idealismus ein Geist-Realismus, ein reales Schauungsvermögen. Auch hier kann man wieder sagen: ,Und sie erkannten einander’ – in einer rein übersinnlichen Liebesbewegung.

Diese erotisch-zärtliche Zuneigung hat nichts mit sexueller Bereitschaft zu tun und darf auch nicht in diese Sphäre hineingezogen und auf diese Weise missbraucht werden – was die Liebe des Kindes tief enttäuschen würde.[21]

In der Jugend verwandelt sich dieser reine Zärtlichkeits-Impuls dann in die Fähigkeit, tiefe Ideale zu empfinden und zu erleben.[109] Im Idealfall richtet sich die im Menschenwesen hervorquellende Liebe dann mehr und mehr in tiefer Weise auf die ganze Menschheit.[115] Und im Zwischenmenschlichen wird der Eros der Freundschaft zu einem immer tieferen Einander-Erkennen – das so weit gehen kann, dass der Freund einen tiefer erkennt als man sich selbst.[111]

                                                                                                                                       *

Was uns Henning Köhler mit seinem Buch geschenkt hat, ist eine unvergleichlich tiefe Reise, die uns zu dem heiligen ,Ursprung der Sehnsucht’ führte. Und dieser Ursprung ist ... das heilige Urbild des MENSCHEN. An diesem Ursprung lebt das Wesen von Liebe und Freiheit, von Zärtlichkeit und liebe-durchglühter Kreativität, lebt das heilige Mysterium all dessen.

Es mag durch alles vorher Gesagte aber nun auch deutlich sein, wie sehr die Seele des Mädchens mit diesem heiligen Mysterium verbunden ist. Man kann in voller Aufrichtigkeit sagen: im Mädchen leuchtet dieses Urbild mitten in die Welt hinein, denn es trägt dieses Urbild unbewusst tief in seinem Herzen und lebt selbst danach. Im Mädchen ist so unglaublich wenig von diesem Heiligen verschüttet – das Mädchen ist seine Hüterin, es hütet all dieses Heilige durch sein so unglaublich leuchtendes Wesen.

Im Mädchen tritt das heilige Geheimnis der Unschuld, des unschuldigen guten Willens, so rein hervor wie nirgendwo sonst. Zärtlichkeit, Anmut und Hingabe leben in seinem Wesen – so sehr, dass sie bis in seine Leiblichkeit übergehen. ,Weiß wie Schnee, rot wie Blut...’ Im Mädchen werden die Märchen Wirklichkeit.

Wenn wir nicht werden wie die Mädchen, wird diese heilige, wunderbare Welt keinen Bestand mehr haben. Wenn wir aber das Geheimnis des MENSCHEN finden, wie es Köhler beschreibt; wenn wir es wirklich finden ... dann werden wir wie die Mädchen...
 

Fußnoten


[1]● Henning Köhler: Vom Ursprung der Sehnsucht. Die Heilkraft von Kreativität und Zärtlichkeit. Stuttgart 1998. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern. • Der kürzlich leider so früh über die Schwelle gegangene Henning Köhler (1951-2021) verkörpert für mich das Wesen des Heilpädagogen – mit einer Konsequenz ohnegleichen. Seit ich seine Bücher kennenlernte und seine Kolumnen in der ,Erziehungskunst’ (der ,Hauszeitschrift’ des Bundes der Waldorfschulen) las, bewunderte ich den michaelischen Mut, mit dem hier ohne Abstriche mit einem spirituellen und kindzentrierten Menschenbild Ernst gemacht wurde, immer wieder, und alle ,defizit-orientierten’, an bloßen Symptomen sich orientierenden ,Therapie’- und ,Behandlungsansätze’ in ihrer eigenen defizitären Natur entlarvt wurden. So war für mich Köhler von Anfang an ein Vorkämpfer für wirkliche Erkenntnisse, für spirituellen Erkenntnismut – während andere Ansätze und Darstellungen mit ihren Halbheiten und Kompromissen bereits nicht mehr auf der Seite des Kindes stehen, damit aber auf der Seite der das Kind bekämpfenden Gegenmächte. Um diesen Ernst geht es – und dass es darum geht, das lehrt Köhler immer wieder zu sehen. • Weitere Bücher von ihm: Die stille Sehnsucht nach Heimkehr. Zum Verständnis der Pubertätsmagersucht (1987), Jugend im Zwiespalt (1990), Vom Rätsel der Angst (1992), Von ängstlichen, traurigen und unruhigen Kindern (1994), Schwierige Kinder gibt es nicht (1997), Was haben wir nur falsch gemacht? (2000), War Michel aus Lönneberga aufmerksamkeitsgestört? Der AD(H)S-Mythos und die neue Kindergeneration (2002). • In seinen Vorbemerkungen zu ,Vom Ursprung der Sehnsucht’ sagt Köhler, das das Buch ,fraglos in der Anthroposophie Rudolf Steiners’ wurzele, er es aber auch ,als Huldigung verstanden wissen will an diejenigen’, die ,mit Originalität, Phantasie und profundem Wissen für eine menschlichere Welt gestritten und dem materialistischen Zeitgeist ihr glühendes Engagment für Freiheit und Liebe entgegengesetzt haben’. Besonders viel verdanke er hier Martin Buber, Joseph Beuys, Viktor E. Frankl und Emmanuel Lévinas.[9]

[2] Der ,Normalitäts’-Begriff ist aber der Todfeind wirklicher Erkenntnis des Individuellen. Überall, wo von einer ,Störung’ gesprochen wird, herrscht in Wirklichkeit ,Verständnislosigkeit, und alle Maßnahmen, die man ergreift, sind Verständnislosigkeitsresultate.’[143]

[3] Man muss Köhler mit dem richtigen Verständnis und der richtigen Empfindung lesen. So polemisch-kämpferisch sein Ton des öfteren ist – es ist das Kämpferische eines glühend Begeisterten, eines derjenigen, die für die Essenz des Menschentums und dessen Rettung streiten. Köhlers Polemik ist nie kalt – es ist die eines, der selbst leidet, so wie alles Menschliche an dem Verlust des Menschlichen leiden muss. Wer in diesem Sinne nicht leidet und nicht kämpft, ist kein Mensch mehr, denn er unterliegt bereits den Gegenkräften, die das Menschliche ersticken.

[4] Mit diesen wunderbaren Worten, die so unmittelbar in das Seelenreich führen, beginnt das Märchen des ,Froschkönig’.

[5] Was für ein wunderbarer Zusammenklang der Bedeutungen ,Fähigkeit’ und ,Reichtum’. Man denke an den ,Schatz im Himmel’... Dieses Vermögen ist jener Schatz! Er ist das anvertraute himmlische ,Talent’.

[6] Martin Buber: Ich und Du. Leipzig, 1923.

[7] Dieses Geheimnis hat ganz und gar zu tun mit dem Christus-Wesen, und ein unendliches Licht des Verstehens in Bezug auf dieses Wesen geben die christologischen Vorträge Rudolf Steiners in mehreren Bänden des Gesamtwerkes. Köhler schreibt: ,Christus als der Kindheitsrepräsentant, „der Sich-Bewegende“ (Beuys), aus dem Unschuldsraum Wiederkehrende als Bildner von Ideen und Anstifter zu Taten, die zwischen Himmel und Erde – also zum Kindheitswesen – Verbindung schaffen, wird vom Sperrfeuer der Gegenmächte empfangen.’[144] Zu diesem Sperrfeuer gehören auch Unglaube, Vorurteil, Dogmatismus, Abstraktion, Zweifel, Spott, Desinteresse, Oberflächlichkeit...

[8] Köhler beschreibt in dem von ihm erwähnten Buch den tragischen Tod eines Mädchens, das ungerecht bestraft (durch einen Schlag ins Gesicht) derart bis ins Innerste Leib-Seele-Gefüge gekränkt wurde, dass es innerhalb der nächsten Stunde mehr und mehr zusammenbricht und an Herzversagen stirbt. Henning Köhler: Jugend im Zwiespalt. Stuttgart 1990, S. 103ff. • Siehe auch das Beispiel der 1775 mit siebzehn verstorbenen, von ganz Hamburg geliebten Schauspielerin Charlotte Ackermann, selbst wenn sie aus Verzweiflung über die tiefe Kränkung auch Opium genommen haben sollte.

[9] Köhler weist darauf hin, dass sich dies nie unter den kapitalistischen Bedingungen eines Zwanges zur Arbeit ereignen kann: ,[...] wenn wir also von diesen Tätigkeiten nicht aufgerufen sind als kreativ Vermögende – die kreative Tat ist die in Liebe ausgeführte, also freie Tat – sondern sie nur zwangsweise ausführen als auf Entlohnung Angewiesene. Der universellen, umfassenden Wunsch-Kraft des Eros ist nicht Genüge getan, wenn sie als Begleitmusik zum weekend-feeling erklingt, und auch nicht dann, wenn sie in Sternstunden inniger Zweisamkeit wie eine Erinnerung an etwas längst Verlorenes aufscheint.’[31] • Damit ist gemeint, dass der Mensch sein wahres Mysterium nicht verwirklichen wird, wenn er es bloß an den (wahrscheinlich sogar noch selbstbezogen gefärbten) Freizeit- und Wochenendbereich bindet, und auch nicht, wenn dieses Geheimnis bloß in den Sternstunden der Ich-Du-Begegnung aufscheint, für das übrige Leben aber dennoch verloren und unverwirklicht bleibt. Das Mysterium des Menschen ist und bleibt von dem Geheimnis der völligen Umgestaltung, der erstmals wahrhaft menschlichen Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht zu trennen.

[10],Die englische Sprache kommt uns da mehr entgegen als die deutsche: work heißt „Arbeit“, aber auch Werk“, so daß be out of work nicht nur „arbeitslos“ bedeutet, sondern, wörtlich genommen auch übersetzt werden könnte als „aus dem Werk herausgefallen, ohne Werk, nichts bewirkend“.’[32] • Jeder Mensch ist ein Künstler, berufen zum gemeinsamen (Kunst-)Werk, bei dem auf niemanden verzichtet werden kann.

[11] Das Wort stammt von ,küren’ – also ,wählen’ und dann auch ,krönen’. Vergleiche Kurfürst, engl. ,choose’, von altengl. ,ceosan’, siehe nhd. ,kiesen’. www.dwds.de.

[12] Vergleiche dazu mein Buch ,Und erlöse uns von dem Coolen’ (2018). • Was Köhler hier schildert, habe ich in der Begegnung zwischen einem Mädchen und einer jungen Frau geschildert in meinem Roman ,Hingabe’ (2018). Dasselbe einzigartige Wesen der Mädchen lebt tief in meinem Roman ,Der Kreis der Hüterinnen’ (2018). Und zu dem Geheimnis der Mädchenseele, die sich dem ,lieben Tagebuch' anvertraut, siehe mein Buch ,Tagebuch eines Mädchens’ (2015).

[13],Das Denken emanzipiert sich [dann, H.N.] von den untauglichen Begriffen, in denen sich doch nur die kranken Verhältnisse widerspiegeln, um zu verstehen, was sich aus den Untergründen des gesellschaftlichen Lebens und dem Wesen des Menschen zur sozialen Skulptur hin entwickeln will.’[38]

[14] Im Anschluss an das Beuys-Wort ,Die Mysterien finden am Hauptbahnhof statt’ beschreibt Köhler in den Anmerkungen sehr persönlich: ,Ich kann sagen, daß ich als Drogenfreak unter Drogenfreaks, Heruntergekommener unter Heruntergekommenen, Penner unter Pennern, an den Seitenausgängen der Hauptbahnhöfe deutscher Großstädte [...] und so weiter, die von anständigen Bürgern gemieden werden, jene Ur-Erlebnisse hatte, die mein heutiges Welt- und Menschenbild prägen und mich auf den Weg gebracht haben, [...] das Prinzip der gegenseitigen Hilfe in Verbindung mit der Kindheitsidee als mein Lebensthema zu erkennen. Ich wäre damals fast auf der Strecke geblieben. Aber wäre ich damals nicht beinahe auf der Strecke geblieben, hätte ich einige zentrale Erfahrungen versäumt, aus denen ich bis heute Kraft beziehe.’[134f]

[15] Man denke auch an einen so wunderbaren Film wie ,Die Melodie des Meeres’ (2014), wo die Eule ,Macha’ (gesprochen Makka) alle Gefühle unterdrückt und in Gläser einsperrt, wodurch sie sich vom Leben selbst abschneidet, zu einer Art Dämon wird und auch alles andere Leben in Stein verwandelt.

[16] Eine Art Todesschlaf. Vergleiche Köhler: ,Ausgeglichen sind wir, grob gesagt, im Schlaf, und mit regelmäßigem, gesundem Schlaf ist dieser Forderung der Menschennatur Genüge getan.’[59] • Mit anderen Worten: Wer nach dem Aufwachen weiterschlafen will, ist sozial gesehen ein Schlafwandler, ein Egoist, der nur an die eigene ,Homöostase’ denkt, wie auf einem Drogentrip. Für die Gemeinschaft ist er verloren. Köhler vergleicht dies etwas später mit Tranquilizern, die ,auf Dauer die Quelle der Liebefähigkeit verschütten. [...] Die Sehnsucht, zu lieben und geliebt zu werden, Zärtlichkeit, Verständnis und menschliche Wärme zu erleben, schwindet. [...] Auf der rosaroten Wolke sind Liebe und Freundschaft überflüssig. Nettigkeiten verteilt man gern, es ist angenehm, sich mit anderen die Zeit zu vertreiben, Sex hat einen gewissen Vergnügungswert, aber eigentlich sind einem die Menschen gleichgültig, das Zusammensein bleibt oberflächlich.’[66f]

[17] Beuys sagte: ,Ich ernähre mich durch Kraftvergeudung’. Liebe und Hingabe sind gerade Kraft-Quellen!

[18],Mit der nötigen Gelassenheit kann festgestellt werden, daß es einen untergründigen vergeblichen Wunsch der Menschenseele nach Heimkehr in die embryonale Selbstvergessenheit gibt und daß dieser Wunsch [...] in einem widersprüchlichen Verhältnis zu den Motiven der Sehnsucht an sich, nämlich Liebe und Freiheit, steht; diese müssen anderen Ursprungs sein.’[83] • Direkt danach macht Köhler darauf aufmerksam, dass auch schon Mutter und Embryo selbst auf die Trennung voneinander (Ent-bindung) zuleben. Und kurz darauf: ,Erst die vorbehaltlose Entzweiung beziehungswiese Ver-Einsamung läßt uns zur Beziehungsfähigkeit reifen!’[84f]

[19] In den Anmerkungen schreibt er: ,Niemand übrigens war, so meine ich, malerisch dem Engelhaften näher als Alexej Jawlenski in der Phase seiner Variationen des menschlichen Antlitzes.’[122]

[20] Noch einmal möchte ich hier auf meinen Roman ,Der Kreis der Hüterinnen’ hinweisen, in dem genau dies in aller Tiefe erlebbar wird. • Köhler schreibt in einer Anmerkung: ,Daß wir füreinander da sind, um uns gegenseitig „verstehend zu bewahrheiten“, klingt heute wie eine Geschichte von einem fernen Planeten. Und doch ist es die Wahrheit. Die Wahrheit klingt also weltfremd. So weit sind wir inzwischen.’[142]

[21],Im übrigen konzidiere ich gern, daß viele Pädophile wirklich glauben, sie seien von reinster, aufrichtigster Zärtlichkeit ergriffen, die eben nur körperliche „Erfüllung“ suche. Es gibt eine engelhaft anmutende Form des Bösen, die unser reinstes Wollen – die Sehnsucht nach Liebe – auf Abwege locken will [...].’[102]