Parthenophilie

Das Mädchen – die Zukunft des Menschen


Dass es sich bei dem, was Köhler beschreibt, um ein – im Grunde um dasChristus-Geheimnis handelt, hat das folgende ,Christophorus’-Gedicht von Else Mögelin am Ende in wunderbare Worte eingefangen:

Er wollte nur dem Stärksten dienen,
da überwältigte ihn ein Kind,
in dessen reinen, hellen Mienen
Liebe und Leid verborgen sind.

Er meinte noch, es wäre leicht zu tragen,
als er ihm lächelnd seine starken Schultern bot;
doch als die Wasser wirbelnd um ihn schlagen,
fühlt er, er trägt das Göttliche und seine Not.

Das Schwerste ist’s, das Zarte zu behüten;
er weiß es, als er taumelnd aus dem Wasser stieg.
Gott zu bewahren seine reinsten Blüten,
das ist des Starken schwerster, schönster Sieg.

Das Zarte zu behüten... Denn es ist der Schlüssel zum heiligen Mysterium. Und das Mädchen behütet es...

Nicht umsonst zieht die Unschuld des Mädchens unendlich an. Es ist die Anziehung von etwas zutiefst Heiligem – und kann so sogar das Reich von Eros mit dem Heiligen durchdringen und mit ihm verbunden halten.

Schiller (1759-1805) vermochte es noch, das Geheimnis der Schönheit der Unschuld und ihrer tiefen Anziehung in eine heilig-weite Dimension zu bringen:

Daraus erhellet, daß diese Art des Wohlgefallens an der Natur kein ästhetisches, sondern ein moralisches ist; denn es wird durch eine Idee vermittelt, nicht unmittelbar durch Betrachtung erzeugt; auch richtet es sich ganz und gar nicht nach der Schönheit der Form. Was hätte auch eine unscheinbare Blume, eine Quelle, ein bemooster Stein, das Gezwitscher der Vögel, das Summen der Bienen u. s. w. für sich selbst so Gefälliges für uns? Was könnte ihm gar einen Anspruch auf unsere Liebe geben? Es sind nicht diese Gegenstände, es ist eine durch sie dargestellte Idee, was wir in ihnen lieben. Wir lieben in ihnen das stille schaffende Leben, das ruhige Wirken aus sich selbst, das Dasein nach eigenen Gesetzen, die innere Nothwendigkeit, die ewige Einheit mit sich selbst.
Sie sind, was wir waren, sie sind, was wir wieder werden sollen. Wir waren Natur, wie sie, und unsere Kultur soll uns, auf dem Wege der Vernunft und der Freiheit, zur Natur zurückführen. Sie sind also zugleich Darstellung unsrer verlornen Kindheit, die uns ewig das Theuerste bleibt; daher sie uns mit einer gewissen Wehmuth erfüllen. Zugleich sind sie Darstellungen unserer höchsten Vollendung im Ideale, daher sie uns in eine erhabene Rührung versetzen.

Das Mädchen nun verkörpert gleichsam die Offenbarung eines zutiefst Menschlichen – etwas, was die übrigen Menschen erst in heiligerer Zukunft erreichen werden, wenn sie, berührt vom Wesen des Mädchens, nicht aufhören, danach zu streben. Denn das Mädchen mit dem guten Herzen macht bereits wahr, was Schiller an anderer Stelle als diese Zukunft mit folgenden Worten beschreibt:

Was die Natur in seiner Wiegenzeit für ihn übernommen hatte, sollte er jetzt selbst für sich übernehmen, sobald er mündig war. Er selbst sollte der Schöpfer seiner Glückseligkeit werden, und nur der Antheil, den er daran hätte sollte den Grad dieser Glückseligkeit bestimmen. Er sollte den Stand der Unschuld, den er jetzt verlohr, wieder aufsuchen lernen durch seine Vernunft, und als ein freier vernünftiger Geist dahin zurück kommen, wovon er als Pflanze und als eine Kreatur des Instinkts ausgegangen war; aus einem Paradies der Unwissenheit und Knechtschaft sollte er sich, wär es auch nach späten Jahrtausenden zu einem Paradies der Erkenntniß und der Freiheit hinaufarbeiten, einem solchen nehmlich, wo er dem moralischen Gesetze in seiner Brust eben so unwandelbar gehorchen würde, als er anfangs dem Instinkte gedient hatte, als die Pflanze und die Thiere diesem noch dienen.

Und während Kant sich abstrakt und theoretisch mit dem ,Liebesgebot’ des Evangeliums abmüht:

[...] Denn es fordert doch als Gebot Achtung für ein Gesetz, das Liebe befiehlt, und überläßt es nicht der beliebigen Wahl, sich diese zum Princip zu machen. Aber Liebe zu Gott als Neigung (pathologische Liebe) ist unmöglich; denn er ist kein Gegenstand der Sinne. Eben dieselbe gegen Menschen ist zwar möglich, kann aber nicht geboten werden; denn es steht in keines Menschen Vermögen, jemanden blos auf Befehl zu lieben. Also ist es blos die praktische Liebe, die in jenem Kern aller Gesetze verstanden wird. Gott lieben, heißt in dieser Bedeutung, seine Gebote gerne thun; den Nächsten lieben, heißt, alle Pflicht gegen ihn gerne ausüben. Das Gebot aber, daß dieses zur Regel macht, kann auch nicht diese Gesinnung in pflichtmäßigen Handlungen zu haben, sondern blos darnach zu streben gebieten. Denn ein Gebot, daß man etwas gerne thun soll, ist in sich widersprechend, weil, wenn wir, was uns zu thun obliege, schon von selbst wissen, wenn wir uns überdem auch bewußt wären, es gerne zu thun, ein Gebot darüber ganz unnöthig, und, thun wir es zwar, aber eben nicht gerne, sondern nur aus Achtung fürs Gesetz, ein Gebot, welches diese Achtung eben zur Triebfeder der Maxime macht, gerade der gebotenen Gesinnung zuwider wirken würde. Jenes Gesetz aller Gesetze stellt also, wie alle moralische Vorschrift des Evangelii, die sittliche Gesinnung in ihrer ganzen Vollkommenheit dar, so wie sie als ein Ideal der Heiligkeit von keinem Geschöpfe erreichbar, dennoch das Urbild ist, welchem wir uns zu näheren und in einem ununterbrochenen, aber unendlichen Progressus gleich zu werden streben sollen. Könnte nämlich ein vernünftig Geschöpf jemals dahin kommen, alle moralische Gesetze völlig gerne zu thun, so würde das so viel bedeuten als, es fände sich in ihm auch nicht einmal die Möglichkeit einer Begierde, die ihn zur Abweichung von ihnen reizte; denn die Überwindung einer solchen kostet dem Subject immer Aufopferung, bedarf also Selbstzwang, d. i. innere Nöthigung zu dem, was man nicht ganz gern thut. Zu dieser Stufe der moralischen Gesinnung aber kann es ein Geschöpf niemals bringen. Denn da es ein Geschöpf, mithin in Ansehung dessen, was es zur gänzlichen Zufriedenheit mit seinem Zustande fordert, immer abhängig ist, so kann es niemals von Begierden und Neigungen ganz frei sein, die, weil sie auf physischen Ursachen beruhen, mit dem moralischen Gesetze, das ganz andere Quellen hat, nicht von selbst stimmen, mithin es jederzeit nothwendig machen, in Rücksicht auf dieselbe die Gesinnung seiner Maximen auf moralische Nöthigung, nicht auf bereitwillige Ergebenheit, sondern auf Achtung, welche die Befolgung des Gesetzes, obgleich sie ungerne geschähe, fordert, nicht auf Liebe, die keine innere Weigerung des Willens gegen das Gesetz besorgt, zu gründen, gleichwohl aber diese letztere, nämlich die bloße Liebe zum Gesetze, (da es alsdann aufhören würde Gebot zu sein, und Moralität, die nun subjectiv in Heiligkeit überginge, aufhören würde Tugend zu sein) sich zum beständigen, obgleich unerreichbaren Ziele seiner Bestrebung zu machen. Denn an dem, was wir hochschätzen, aber doch (wegen des Bewußtseins unserer Schwächen) scheuen, verwandelt sich durch die mehrere Leichtigkeit ihm Gnüge zu thun die ehrfurchtsvolle Scheu in Zuneigung und Achtung in Liebe; wenigstens würde es die Vollendung einer dem Gesetze gewidmeten Gesinnung sein, wenn es jemals einem Geschöpfe möglich wäre sie zu erreichen.
Diese Betrachtung ist hier nicht sowohl dahin abgezweckt, das angeführte evangelische Gebot auf deutliche Begriffe zu bringen, um der Religionsschwärmerei in Ansehung der Liebe Gottes, sondern die sittliche Gesinnung auch unmittelbar in Ansehung der Pflichten gegen Menschen genau zu bestimmen und einer blos moralischen Schwärmerei [...] vorzubeugen. Die sittliche Stufe, worauf der Mensch [...] steht, ist Achtung fürs moralische Gesetz. Die Gesinnung, die ihm, dieses zu befolgen, obliegt, ist, es aus Pflicht, nicht aus freiwilliger Zuneigung und auch allenfalls unbefohlener, von selbst gern unternommener Bestrebung zu befolgen, und sein moralischer Zustand, darin er jedesmal sein kann, ist Tugend, d. i. moralische Gesinnung im Kampfe, und nicht Heiligkeit im vermeintlichem Besitze einer völligen Reinigkeit der Gesinnungen des Willens.

– während Kant sich also in großer geistiger Gründlichkeit, aber auch Abstraktheit mit dieser Frage abmüht, steht das Mädchen mit dem guten Herzen ganz schlicht da, in all seiner Unschuld, und hat verwirklicht, was Kant als bloße Schwärmerei bezeichnet. Denn es liebt die moralische Pflicht, weil es von ihr gar nicht getrennt ist. Denn die moralische Pflicht, die ein Geist wie Kant nur aus dem Himmel der (bloßen) Vernunft holen kann, lebt bei dem Mädchen unmittelbar im Himmel seines Herzens – genau da, wo auch die Liebe zu dieser ,Pflicht’ lebt. Das Mädchen ist mit dem Willen zum Guten eins – und eben nicht gespalten in das Wissen um das Gute sowie das Gebot, es zu tun, und andererseits die zahllosen Begierden, die den gewöhnlichen Menschen alltäglich davon abhalten, es wirklich zu tun.

Die Liebe zum Guten ist lehrbar – aber das Herz des Mädchens ist wie ein unendlich fruchtbarer Boden, in dem der Keim sofort aufgeht. Er tut dies aber wiederum nur, weil das, was von außen als ,Lehre’ und Vorbild im weitesten Sinne an das Mädchen herantritt, nur dasjenige erweckt, was das Mädchen aus dem Reich des Vorgeburtlichen längst mitgebracht hat und woran es sich nur erinnern muss. In Wirklichkeit lebt im Herzen des Mädchens also nicht nur die gute Erde, sondern sogar der Keim selbst – wie in jedem Herzen –, aber im Mädchen braucht es nur die geringsten Bedingungen, und er beginnt zu blühen. Es ist seine Bestimmung zu blühen – und so tut er es sogar unter widrigen Umständen.

Das Mädchen lebt aus dem Herzen heraus. Und so ist es kein Wunder, dass im Mädchen etwas blüht, was für die übrige Menschheit noch lange nur als Gebot eine sanft erziehende Wirkung haben kann. Das Mädchen kennt das Geheimnis der Liebe zu dem Gebot, denn es ist kein anderes Geheimnis als das seines Herzens. Das Herz selbst spricht dieses Gebot aus – und damit kommt es überhaupt nicht mehr von außen. Bei Kant und beim gewöhnlichen Menschen (gerade im Mann) spricht nur der Verstand das Gebot aus – und das Herz ist durch vielerlei Begierden davon abgehalten, ihm wirklich zu folgen. Beim Mädchen spricht bereits das Herz selbst...

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Schiller und die anderen Vertreter des Deutschen Idealismus kannten noch die tiefe Verbindung zwischen Leib und Seele, wie sie sich ja schon in der Offenbarung von Empfindungen beweist:

Und zwar ist dies ein bewundernswürdiges Gesetz der Weisheit, daß jeder edle und wohlwollende [Affekt] den Körper verschönert, den der niederträchtige und gehässige in viehische Formen zerreißt.

Deswegen ist das Mädchen mit dem guten Herzen immer schön – nicht nur im Märchen – wenn auch nicht immer nach irdischen Kategorien. Die Hingabe des Mädchens an das Gute, sein Handeln aus dem Herzen heraus und mit ganzem Herzen, lässt das Mädchen buchstäblich in seinem ganzen Wesen leuchten – und wie ein Engel auf Erden erscheinen. Und tatsächlich ist ein solches Mädchen unmittelbar eine Botin dieser himmlischen Welten, in denen das Mysterium des wahrhaft Guten urständet. Das Mädchen ist von diesen Welten gerade überhaupt nicht wirklich getrennt – weil es dies auch nicht will.

Goethe (1749-1832) wies auf die Innigkeit der Seele, die aber gerade dem Mädchen so eigen ist:

Wie oft macht der gute Mensch sich Vorwürfe, daß er nicht zart genug gehandelt habe; und doch, wenn nun eine schöne Natur sich allzu zart, sich allzu gewissenhaft bildet [...], für diese scheint keine Duldung, keine Nachsicht in der Welt zu sein. Dennoch sind die Menschen dieser Art außer uns, was die Ideale im Innern sind [...].

Und Novalis (1772-1801) wies ganz direkt auf die heilige Heimat des Menschenwesens, der das Mädchen so nahe ist, dass es ihre Botin sein kann:

Jeder ist entsprossen aus einem uralten Königsstamm. Aber wie wenige tragen noch das Gepräge dieser Abkunft?

Das Gepräge ihrer Abkunft... Bei dem Mädchen leuchtet es unmittelbar auf seiner Stirn, seinem ganzen Antlitz, in seinen Augen, und all dieses Leuchten strömt aus der Quelle seines Herzens. Dieses ist der heilige Boden jenes uralten Königsstammes, der längst ein ur-junger Zukunftsstamm geworden ist, gehütet von einer unschuldig geweihten Königin und Priesterin, die wir nur als ,Mädchen’ bezeichnen... Sie aber ist die wahre Christophorus-Seele...
 

Fußnoten


[1],Christophorus’, in: Delphin-Almanach 1947. Hamburg 1947, S. 10.

[2],Über naive und sentimentalische Dichtung’ (1795). Projekt Gutenberg.

[3] Siehe auch mein Buch ,Vom Blick des Mädchens’ (2018).

[4] Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde. Thalia, Dritter Band, Heft 11 (1790), S. 3-29, hier 4-5, erster Abschnitt ,Uebergang des Menschen zur Freiheit und Humanität’. Wikisource.

[5] Glaube und Liebe oder Der König und die Königin (1798), Vorrede.

[6] Kritik der praktischen Vernunft (1788), Erster Theil, Erstes Buch, Drittes Hauptstück, Drittes Hauptstück ,Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft’. AA V, S. 83f. korpora.zim.uni-duisburg-essen.de.

[7],Ueber den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen’ (1780), § 22 ,Physiognomik der Empfindungen’. • Ruskin formulierte dieselbe Wahrheit in folgenden Worten: ,Every right action and true thought sets the seal of beauty on person and face; every wrong action and foul thought its seed of distortion.’ Munera Pulveris (1871). Library Edition XVII, p. 147-293, hier 149.

[8] Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96), 8. Buch, 3. Kapitel (Natalie über "die schöne Seele", ihre Tante).

[9] Das heißt: die uns im Äußeren umgeben.

[10] Glaube und Liebe oder Der König und die Königin (1798), Vorrede.