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Das Mysterium des Männlichen und Weiblichen
Herder mit ganzer Seele aufnehmend, können wir fortfahren und sagen: So stammt der Mensch aus einer geistigen Welt – und soll ihr, sich völlig verwandelnd, als Selbstgestalter seines Schicksals (und zugleich mit gnade- und segensvoller Hilfe höherer Wesen) auch wieder entgegenleben und -streben – was er bereits mit jedem lebendigen Ideal, mit jedem Impuls zarter Liebe auch tut.
Und dieses Wunderwesen Mensch schied sich, aus dem Geistigen kommend, nun auch in ein Männliches und ein Weibliches. Kann man dies nicht einmal sehr tief und aufrichtig empfinden?
Das Männliche ist mehr willensbetont, das Weibliche betont mehr Vorstellung, Fantasie, Intuition, Empfindung. Wir alle wissen und spüren, dass der Mann in der Regel ,durchsetzungsstärker’ ist, die Frau dagegen innerlich reicher, seelenvoller, mehr mit jenen Kräften verbunden, die das Leben lebenswert machen. Wieviele Männer würden gleichsam dahinvegetieren und sich allenfalls von Fast Food ernähren und alle paar Monate mal die Bettwäsche wechseln, wenn ihnen keine Frau seelische Hülle geben würde – auch ganz materiell gesehen?
Das hat also nicht nur mit gesellschaftlichen Rollen(mustern) zu tun, sondern mit dem, was in Männern schlichtweg nicht lebt, keine Realität hat. Und Frauen wiederum besitzen nicht diese ausgeprägte willensbetonte Durchsetzungskraft – wozu auch? Was nützt es, sich wie ein Wissenschaftler oder ein Geostratege in bestimmte Themen zu ,verbeißen’ und sie ohne Rücksicht auf Verluste oder das wirklich Sinnhafte im Leben viel zu isoliert und ignorant zu verfolgen?
Man spürt zweifellos, wie sehr ich mit den Qualitäten des Weiblichen sympathisiere. Natürlich hat auch die ,männliche’ Willensstärke ihren Wert – und geschichtlich vielfach und unendlich gehabt. Das bedeutet aber nicht, dass Frauen nicht auch einen starken Willen hätten – dieser lebt in ihnen nur völlig anders: viel sanfter, viel stärker auf Kooperation und Miteinander ausgerichtet. Und eben auch: viel stärker in Form von Hingabe, auf das Gegenteil von Rücksichtslosigkeit. Frauen wollen ganz überwiegend nichts egoistisch für sich erreichen. Schon gar nicht machen sie daraus einen Lebensplan, ,Karriere’. Einzelne Frauen, die sich dem Männlichen angepasst haben und männlich geworden sind, schon – aber die meisten nicht. Das bedeutet nicht, dass sie gar nichts erreichen wollen würden. Es bedeutet nur, dass sie weniger egoistisch sind, weil sie weniger im Willen leben – weil da noch ganz viel anderes ist: Intuition, Fantasie, Empathie, Seele... Damit kann man nicht so ein ,Willens-Tier’ werden wie so mancher Mann.
Der Mann kann mit seiner Willensbetontheit unendlich viel erreichen – er kann aber auch unendlich viel kaputtmachen, weil er eben nur für sich etwas erreichen will. Oder auch für andere mit, aber eben um seines Ruhmes willen – oder vielleicht auch sehr selbstlos, aber ohne Blick für die größeren Zusammenhänge. Überspitzt gesagt: Möglicherweise verdanken wir dem Mann den größten Teil der heutigen materiellen Zivilisation. Der Frau aber verdanken wir, dass diese Zivilisation noch Seele hat. Noch immer...
Lou Andreas-Salomé schrieb einmal:[1]
[...] daß im Weibe alle einzelnen Bethätigungen des Wesens in engerer und lebhafterer Wechselwirkung mit einander stehen, als es beim Mann mit dessen Fähigkeit zu gesonderterem Kräftespiel nothwendig ist. In Wirklichkeit stellt das einfach das „geringere Differenzirungvermögen“ des Weibes dar; aber man muß nicht vergessen, daß dieser Ausdruck nicht nur etwas Negatives bedeutet, sondern eine festgehaltene hohe Fähigkeit zur organischen Einheitlichkeit, die das Weib nicht nur physisch, sondern auch psychisch zu etwas Einzigartigem, Unersetzlichen macht. Es ist etwas sehr Bestimmtes, das man als „frauenhaft“ empfindet, und schließt im gleichen Wort die Schwächen wie die Vorzüge, Lob wie Tadel, zusammen [...].
Das Männliche und Weibliche ergänzen einander – und jeder hat auch Teile des anderen in sich. Dennoch sucht der Mann das Weibliche in dessen ganzer Tiefe – und deshalb auch das Mädchen. Deshalb – und nicht wegen der eigenen Unsicherheit – kann der Mann es als tiefste Tragik empfinden, wenn auch die Mädchen sich ,emanzipieren’.
Gegenüber einer zu männlichen Frau kommt sich ein Mann überflüssig und albern vor[2] – nicht, weil er nicht selbstständig genug wäre, sondern weil eine Welt nur aus Männern und den Männern angeglichenen Frauen für ihn schlicht sinnlos wäre. In dem Roman ,Euphemia’ (1790) von Charlotte Lennox hat ein Mann angesichts einer gebildeten Lady und ihrer sattelfesten Freundin dieses Gefühl und sagt tatsächlich recht belehrend:[3]
A man makes a silly figure [..] in company with so learned a Lady, and her Amazonian friend. [...] Women should always be women; the virtues of our sex are not the virtues of theirs. When Lady Cornelia declaims in Greek, and Miss Sandford vaults into the saddle like another Hotspur, I forget I am in company with women; the dogmatic critic awes me into silence, and the hardy rider makes my assistance unnecessary.
Die Frage ist: Was finden diese zwei Frauen an einem Mann? Haben sie noch Interesse an ihm, was zieht sie an einem Mann an? Oder wird der Mann tatsächlich auch für sie – überflüssig? Und was soll er an ihnen lieben? Oder soll er sich ihnen gegenüber wie – Männern gegenüber verhalten?
Kritisch-dogmatischer Intellekt und kraftvolles Reiten genauso wie der Mann – was genau ist dann noch die Anziehung? Welche Nuancen sind dann noch weiblich? Und reichen diese Nuancen für die Anziehung und eine dauerhafte Liebe zwischen den Geschlechtern?
Der Mann sehnt sich nach einem weiblichen Wesen mit Herz und Gefühl, mit Seele und heiliger Empfindungstiefe. Nicht nach Intellekt, nicht nach Kraft und Beherrschung – das hat er alles selber. Wenn die weiblichen Wesen anfangen, auch vor allem das zu haben, entsteht die Frage, warum oder wofür er sie eigentlich noch lieben soll...
Susanna Tamaro schrieb vor wenigen Jahren:[4]
Alles, was männlich ist, enthält auch das Prinzip des Weiblichen, und das Weibliche enthält das Männliche.
Die Zerrüttung in so vielen Gefühlsbeziehungen ist auch darauf zurückzuführen. Statt sich zu ergänzen und ein harmonisches Ganzes zu bilden, stellen sich die Gegensätze auf die gleiche Ebene und treten in Wettstreit.
Und in diesem Wettstreit gibt es keine Sieger, sondern nur einen Verlierer.
Die Liebe.
Hiermit wendet sie sich eindeutig gegen jede Vermännlichung der Mädchen und Frauen – und zugleich gegen jedes Allzumännliche der Männer. Die Liebe stirbt, wenn Männer, die nicht lieben können, auf Frauen oder Mädchen treffen, die ebenfalls nur noch auf Konkurrenz aus sind.
Das Urbild der Seele aber ist das Mädchen – niemand hat so viel Seele, so ausschließlich auch, wie das Mädchen mit einem reinen Herzen. Es ist ganz Seele. Und so offenbart es die heilige Qualität des Weiblichen schlechthin. Und so liebt der Mann das Mädchen nicht, weil es stark wäre (das ist es nicht), auch nicht, weil es schwach ist (das auch), sondern vor allem und zutiefst deshalb, weil es so sehr Seele ist und hat.
Im Mädchen steht vor dem Mann wirklich das, was ihm am meisten fehlt. Deswegen kann er es auch am tiefsten lieben. Und – scheinbares Paradox – wenn der Mann selbst auch Seele hat, kann er das Mädchen nur um so mehr lieben, denn Liebe ohne Seele ist unmöglich. Und natürlich möchte der Mann auch der Beschützer des Mädchens sein – denn gerade hier liegt ja seine Fähigkeit. Und indem er das Mädchen vor dem harten ,Lebenskampf’ beschützt, ermöglicht er ihm, sein Wesen zu behalten – jenes Wesen, das er so liebt und das fast nicht ,für diese Welt gemacht’ zu sein scheint. Ja – der Mann liebt im Mädchen wirklich einen Engel. Das gerade ist die Liebe zum Mädchen: Liebe zu einem Engel. Zu etwas Seelenvollem, was er nie erreichen kann, wie seelenvoll er auch sein mag.[5]
Auch der Mann mag darum kämpfen, dass in der Welt die Seele nicht verlorengeht. Im Mädchen aber findet er immer wieder ihren Urquell – den heiligen und zarten Ursprung von Seele überhaupt...
*
Die beiden tiefen Qualitäten des Männlichen und des Weiblichen ergänzen sich, wenn ein Mann ein Mädchen (oder eine Frau) liebend verehren kann – und wenn das Mädchen (oder die Frau) sich liebend hingeben kann. Wenn das Mädchen vielleicht auch ihn verehrt – und wenn er sich ihrem ganzen Wesen hingeben kann.
Dann befruchten beide einander zutiefst. Denn das Mädchen durchdringt die Seele des Mannes mit einer nicht mehr zu beschreibenden Sanftheit und Unschuld – und der Mann durchdringt die Seele des Mädchens mit einer tiefen Geborgenheit, Klarheit, mit Mutkräften und Aufrichtekraft, die es dem Mädchen ermöglichen, sein eigenes Mysterium in voller Stärke aufrechtzuerhalten – und sozusagen in einer immer irdischer werdenden Welt dennoch mit voller Engelskraft in dieser zu leuchten.
Ohne einen Begleiter würde das Mädchen in dieser Welt untergehen. Aber auch der Mann würde ohne das Mädchen untergehen. Das Mädchen würde ohne ihn aufhören, Mädchen zu sein. Der Mann würde ohne das Mädchen völlig verhärten und versteinern.
Beide sind aufeinander angewiesen. Das Mädchen aber trägt in sich den Quell einer allertiefsten Menschlichkeit – den die ganze Welt braucht. Sie könnte ihn nicht bewahren, weil er in kürzester Zeit vernichtet werden würde von den verhärtenden Kräften dieser Welt. Indem der Mann das Mädchen zutiefst liebt, schützt er diese Kräfte – und das Mädchen wird stark (!) genug, sie nicht von sich zu werfen oder unterzugehen.
Und erst, indem die Kräfte der Unschuld in der Welt zu leuchten beginnen, wird diese Welt einst begreifen, wie viel sie verloren hat und wiederfinden muss, um nicht völlig zugrundezugehen.
Dass der Mann, der die ganze Welt an einen Abgrund getrieben hat, das Weibliche in sich aufnehmen muss, ist eine mittlerweile fast triviale Wahrheit. Nicht trivial aber ist die Erkenntnis, wie weit dies gehen muss – wie weit das Mysterium reicht. Erst das Mädchen offenbart es...
Fußnoten
[1] Lou Andreas-Salomé (1899): Ketzereien gegen die moderne Frau. Die Zukunft 26(20), 237-240. sophie.byu.edu. • Diese so unglaublich selbstständige Frau wies darauf hin, dass man dennoch Frau bleiben solle: ,[...] wer ein Frauenbuch liebgewonnen hat, wird es auf sich wirken lassen dürfen wie eine Rose, die von blühendem Strauch gebrochen wurde. Aber ich kann nicht umhin, einigen Argwohn zu hegen, ob dies köstliche Gefühl einer zarten persönlichen Frauenberührung sich gleich bleiben wird bei der vehementen Art der heutigen Frau, sich auch schriftstellerisch mit Ellenbogenstößen auf den Kampfplatz zu schieben.’ Ebd.
[2] Oder eben nur als einem Menschen, Kollegen etc. gegenüberstehend, mehr oder weniger neutral.
[3] Charlotte Lennox: Euphemia, Band 2. London 1790, p. 165, zitiert nach Lillian Faderman: Surpassing the Love of Men. Romantic Friendship and Love Between Women from the Renaissance to the Present. New York 1981, p. 87.
[4] Susanna Tamaro: Ein denkendes Herz. München 2017, S. 48.
[5] Der Mann braucht das weibliche Wesen, das ,mit uns denkt und fühlt, und weiblich denken und fühlen und in uns den Anblick der Dinge vervollständigen soll, von denen wir nur die Hälfte sehen, und was [...] jenes kostbare Element bringt, das nur die Tochter Evas gewähren kann.’ Paul Mantegazza (1873): Die Physiologie der Liebe, übers. Dr. Karl Kolberg. Leipzig 1927, S. 100.