Parthenophilie

Wilde Mädchen

Sonja Düring: Wilde und andere Mädchen. Die Pubertät. Freiburg 1993. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern.

Das Buch ,Wilde und andere Mädchen’ der Hamburger Psychotherapeutin Sonja Düring kommt zunächst durchaus unscheinbar daher und wird daher sicherlich nicht allzu viel Verbreitung gefunden haben, aber auch dieses Buch hat es durchaus in sich.

Zunächst entlarvt Düring kritisch Freuds Blick auf die weibliche Sexualität, die Frau und das Mädchen und macht in diesem Zusammenhang die Entwicklungsbedingungen von Mädchen in einer männlich dominierten Gesellschaft sichtbar – um sie dann anhand einer Studie mit dreiundvierzig Frauen noch detaillierter in ihren Verschiedenheiten erlebbar zu machen.

Dass das Mädchen weniger einen ,Penisneid’ hat, als ein Erleben der mit diesem verbundenen größeren Möglichkeiten des Jungen, wurde schon früh festgestellt.[7][1] Düring verweist auf Freuds ganze fragwürdige Argumentation, dass das Mädchen, um psychisch zur Frau zu werden, seine Triebhaftigkeit zu verdrängen habe, die Erregung sozusagen nur noch über den Mann erfahren solle.[12][2]

In jedem Fall aber haben Mädchen die Aufgabe, sich mit der weiblichen Rolle, die auch die Mutter einnimmt, zu identifizieren. Die größere Schwierigkeit scheint der Junge zu haben, denn auch er ist zunächst ganz auf die versorgende Mutter orientiert. Düring zitiert eine andere Autorin:[17f][3]

Der springende Punkt der ödipalen Erfahrung ist der Identifkationsbruch mit der Mutter. Sie hört auf, der Spiegel der eigenen Subjektivität und damit die Bestärkerin der eigenen Autonomie zu sein. Somit steht die Autonomie plötzlich in Opposition zur Pflege. Aus diesem Identifkationsbruch mit der Mutter erwächst sowohl die männliche Individualität als auch die männliche Rationalität. Hier müssen wir den Ursprung des instrumentellen Verstandes suchen. Er entwickelt sich vor allem aus der Identifikation mit dem Vater bei der Ablehnung der persönlichen, prozeßorientierten Formen der Sorge, Pflege und Aufrechterhaltung des Wachstums anderer.

Mit anderen Worten: Ursprung männlicher Rationalität und damit Objektivierung der Umwelt wäre die Verneinung der Rolle der selbstlos-empathischen Mutter. Indem der Junge die Mutter als Identifikationsfigur ablehnt, wird er selbstbezogen-rationalistisch. Stoller geht so weit, zu sagen, dass Männlichkeit eigentlich ein lebenslanger Kampf gegen die eigene Weiblichkeit darstellt.[86][4]

Düring beschreibt weiter, dass Junge und Mädchen zuerst die Mutter begehren – und der Junge die narzisstische Kränkung der Zurückweisung durch Identifikation mit dem Vater bewältigt.[5] Das Mädchen wird ebenfalls von der Mutter zurückgewiesen, verstärkt noch durch das ,homosexuelle Tabu’, behält aber die Möglichkeit einer identifikatorischen Beziehung. Darüber findet es dann ,den Weg zum Begehren des Vaters’,[20] denn Identifikation bedeutet auch Ablösung.[87][6]

Freud nahm aufgrund seines ,Penisneids’ an, dass das Mädchen sich von der Mutter löse, weil diese es mit einem verkümmerten Geschlecht ausgestattet habe. Aus feministischer Sicht löst es sich viel eher, weil es die einst mächtig erschienene Mutter gegenüber dem Vater und der männlichen Welt als ohnmächtig erlebt.[21] Aber auch wenn das Mädchen sich mit dem Vater identifiziert, bleibt es paradoxerweise in der Tradition der Mutter – das männliche Geschlecht zu idealisieren und das eigene abzuwerten. Rettend wäre im Grunde nur, beide Geschlechter in sich zu vereinen und die Polarisierung aufzuheben.[22]

Nach Freud führt der Ödipuskomplex zur Verdrängung der kindlichen Sexualstrebungen und mündet in der ,Latenzphase’, der Triebschub der Pubertät führt zur Aufgabe der inzestuösen Wünsche und Hinwendung zu anderen Objekten.[23] Zwar besteht in der Pubertät noch die Möglichkeit, dass der ödipale Traum (Inzest) wirklich wird, aber hier greift das Inzesttabu. Die Möglichkeit bisexueller Strebungen wiederum wird unterbunden, indem die Kultur nun nachdrücklich auf die Anpassung an die Geschlechtsrolle drängt – während das Mädchen bis dahin durchaus noch ,Tomboy’ (Wildfang) sein durfte.[7] Carol Hagemann-White schreibt:[25][8]

Das selbstbewußte, eigene Kompetenzen erlebende Mädchen verliert mit dem Beginn der Adoleszenz ihr Selbst und verbringt die Jugendphase damit, dem Wunschbild ihres sozialen Umfeldes entsprechen zu wollen. Eine verunsicherte, überkritsiche Beziehung zum eigenen Körper verstärkt die Bereitschaft, sich der Außenbewertung zu unterwerfen [...]. Erst als Erwachsene, wenn Liebessehnsucht und Aufopferungsphantasien enttäuscht sind, findet die Frau zum aktiven Selbst zurück.

Die berühmtesten ,wilden Mädchen’ sind Pippi Langstrumpf und die rote Zora.[35] Aber was geschähe mit ihnen in der Pubertät? Schon wenn die Menstruation verheimlicht wird oder als ,Unpässlichkeit’ etc. gilt, wird der Stolz der Frau auf ihr Geschlecht gebrochen.[34f] Ein anderes Beispiel ist die Warnung, nachts allein nach draußen zu gehen – oder selbst verantwortlich zu sein, wenn ,etwas passiert’.[36] Hinzu kommt die Abhängigkeit der Mädchen von motorisierten Jungen, zumindest auf dem Land.[63] Viele Mädchen schwärmen für ihre Lehrerinnen, weil diese im Gegensatz zur Mutter eine in der Öffentlichkeit stehende, autonom wirkende Frau ist.[38]

Die vielfältigen Reaktionen von Mädchen auf die Pubertät beschreibt Helene Deutsch:[42][9]

Selbstverständlich wird das Mädchen, das sich in der Vorpubertät knabenhaft verhalten hat, zuerst mit Ablehnung auf die sich nun entwickelnden sekundären Geschlechtsmerkmale, die ihrem Körper das feminine Aussehen verleihen, reagieren. [...] Es kommt aber auch vor, daß ein knabenhaftes Mädchen mit einem Schlage ihre bisherige Haltung aufgibt und sich mit Interesse und Freude ihrer Weiblichkeit zuwendet. Es kommt auch umgekehrt vor, daß Mädchen, die sich in der Vorpubertät mehr passiv und weiblich verhalten [...] haben, mit dem Fortschritt der Pubertät und der körperlichen Verweiblichung ihre Haltung nach der anderen, mehr männlichen Richtung ändern. Es gibt auch Mädchen, deren Entwicklung geradlinig von der Kindheit über die Pubertät zur Erwachsenheit führt [...].

Deutsch geht von einer bisexuellen Phase kurz vor der Adoleszenz aus, in der es zu einer homosexuellen Objektwahl kommt. Diese geht, wenn sie internalisiert werden kann, in die Bildung eines Ichideals über, andernfalls tritt sie ,unverändert als Perversion in die Persönlichkeit ein’,[10] wobei dem das gesellschaftliche Homosexualitätstabu entgegenwirkt.[43] Mit der Aufgabe des homosexuellen Begehrens akzeptiert das Mädchen seine passive Rolle – ,jedenfalls solange die Geschlechterordnung selbst nicht zur Disposition steht.’[45] Sie wendet vereinfacht gesagt ,ihre Aggressionen nach innen und überträgt ihre Omnipotenzgefühle auf den Mann’.[50]

In einer männlich dominierten Kultur ist für Frauen keine wirkliche Alternative zur passiven Rolle vorhanden. Düring zitiert Eva Poluda-Korte, die beschreibt, wie viele Frauen sich, um nicht von ihrer Liebesfähigkeit gefesselt[11] und auf ,das Modell ihrer Mütter’ zurückgeworfen zu werden, an der einzigen Alternative, einem ,männlichen Leistungsprofil’ orientierten, daber auch unterschwellige Ängste hatten, zu ,vertrocknen’.[56][12]

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Düring fand nun vier Typen von Mädchen-Biografien, die sie plakativ wilde, rebellische, brave und ,richtige’ Mädchen nennt. Etwas schematisch könnte man sie so beschreiben:[122f]

Die wilden Mädchen fühlen sich in der Kindheit frei wie ein Junge, sind viel draußen, teilweise fühlen sie sich emotional vernachlässigt, teilweise ist die Mutter kontrollierend,[13] und es besteht insbesondere dann eine eher enge Bindung zum und Identifikation mit dem Vater (,Vatertöchter’). In der Pubertät wird der weiblich werdende Körper als Beschränkung empfunden,[14] auch der Vater zieht sich zurück. Das Mädchen grenzt sich aber auch von der Mutter und deren Abhängigkeit ab. Es schwankt zwischen Depression, Rückzug und aktiver Aggression. Sexualität wird teilweise passiv erduldet, seltener ganz vermieden, teilweise werden schwächere Partner gewählt.[124ff][15]

Die rebellischen Mädchen fühlen sich in der Kindheit bedrückt, zerrissen und unsicher. Die Mutter ist oft kontrollierend, das Mädchen fühlt sich nicht geliebt. Auch die Beziehung zum Vater ist ambivalent, bestimmt von Furcht und Bewunderung. Die körperliche Pubertät wird mit Stolz erlebt. Die Beziehung zu den Eltern ist vom Kampf um Autonomie geprägt. In der Sexualität werden Sex und emotionale Beziehung teilweise voneinander abgespalten, um sich nicht zu unterwerfen.

Die braven Mädchen haben oft eine geborgene Kindheit. Gespielt wird meist mit den Geschwistern, die meist auch versorgt werden müssen. Die Beziehung zur Mutter ist eng bis symbiotisch, teilweise ist diese auch sehr kontrollierend. Der Vater wird auch hier oft bewundert und gefürchtet. Die Veränderungen der Pubertät werden oft verleugnet, mit der Tendenz, Kind bleiben zu wollen. Der Vater wird als Liebesobjekt aufgegeben, gegenüber der Mutter hat das Mädchen wegen seiner Autonomiewünsche Schuldgefühle. Die Sexualität ist von regressiven Phantasien und dem Wunsch, liebgehabt zu werden, geprägt.[16]

Die ,richtigen’ Mädchen fühlen sich in der Kindheit allein, traurig und einsam. Sie hoffen vergeblich auf Liebe insbesondere der Mutter, die wenig präsent ist. Der Vater ist ausgeblendet oder wird erotisiert. Gespielt wird meist allein, etwa mit Puppen. Die Pubertät wird mit Stolz und als Befreiung erlebt, oft erhält das Mädchen nun mehr Aufmerksamkeit. Bezüglich der Mutter kommt es zur Identifikation und zugleich Abgrenzung. In der Sexualität erlebt das Mädchen eine Lust am Begehrtwerden und Begehren.[122f][17] Erste Enttäuschungen können oft nicht konstruktiv verarbeitet werden.[133]

Düring stellt fest, dass ,das Spannungsverhältnis zwischen Autonomie und Liebe’ nur von den ,wilden Mädchen’ in der Kindheit und von den ,richtigen Mädchen’ in der Adoleszenz positiv gelöst werden konnte, sonst blieb es immer bei einem sehr belastenden Antagonismus.[153f][18] In unserer Kultur stehen dem Mädchen auch keine Bilder für weibliche Autonomie oder die Verbindung von Autonomie und Liebe zur Verfügung.[159]

Interessanterweise fand Düring, dass die ,richtigen Mädchen’ mit ihrer gelungenen pubertären Ablösung gerade ,starke Mütter’ hatten. Diese waren ebenso berufstätig, schränkten das Mädchen daher nicht ein, fehlten ihm auch emotional. Die Stärke der ersehnten Mutter führte zur Identifikation mit ihr, während der emotionale Mangel zugleich auch zum Vater und damit ins heterosexuelle Begehren trieb.[160] Mit den ersten Liebesenttäuschungen fielen diese Mädchen ,in ihre regressiven Abhängigkeitsgefühle zurück’.[161] Während der Pubertät aber befanden sie sich durch die Identifikation mit ihren dem kulturellen Ideal nicht entsprechenden Müttern keineswegs am ,weiblichen’ Pol, sondern ,mitten im Spannungseld des Geschlechterdualismus’.[161] Die ,wilden Mädchen’ mussten ihre Identifikation mit dem (starken) Vater in der Pubertät aufgeben.[162]

Düring zieht folgendes Fazit:[164]

Die äußerlich eher Angepaßten waren innerlich sehr widerständig, und diejenigen, die nach außen eine aktive und aggressive Haltung an den Tag legten, hegten innerlich oft die gegenteiligen Wünsche. [...]
[...] Deshalb richten heute Mütter und Väter, die den Kindern wenig zur Verfügung stehen, zugleich aber die Freiheit der Mädchen nicht einschränken, sich anderswo zu holen, was sie brauchen,[19] vermutlich weniger Schaden an als Mütter, die den ganzen Tag ausschließlich für die Kinder zuständig sind und damit fast zwangsläufig ein hohes Maß an Kontrolle ausüben. Sich mit dieser Mutter noch zu identifizieren, lehnen Mädchen zunehmend ab – genauer: Es ist ihnen zunehmend gar nicht mehr möglich. [...] So gesehen, schafft sich das Patriarchat seine eigenen Totengräberinnen.

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In meinen Romanen schildere ich immer wieder sehr weibliche, sanfte Mädchen. Diese würden den ,braven Mädchen’ entsprechen. Auch sie sind von dem ,Wunsch, liebgehabt zu werden’, geprägt – aber, und das darf nicht übersehen werden, ihre eigene Liebesfähigkeit ist mindestens genauso groß. Zugleich erleben sie stets einen emotionalen Mangel – weil sie tief empfindungsfähig sind und ihre Umgebung dies nicht versteht.

Die Anpassungsfähigkeit und Hingabe dieser Mädchen verstärkt oft das Kontrollierende der Eltern, die die zu große ,Stille’, das fast anorektische, zumindest scheinbare Sich-Zurückziehen kritisieren und – auch aufgrund nicht durchschauter eigener Schuldgefühle – das Mädchen um so autoritärer in die Bahnen der elterlichen Vorstellungen bringen wollen.

In Wirklichkeit aber haben alle diese ,stillen’ Mädchen – und das wäre ein fünfter Typus, den Düring nicht wirklich beschreibt – eine große innere Stärke, denn sie wissen (wenn auch vielleicht nur halbbewusst) zutiefst, dass sie richtig empfinden, und diesen innersten Kern ihres Wesens lassen sie sich nicht nehmen. Und was ist dieses ,Richtige’? Es ist gerade ihre Liebes- und Hingabefähigkeit, dieses zutiefst Weibliche. Gerade diese Empfindungsfähigkeit kann mit allem mitfühlen, kann das Leid und den Egoismus in dieser Welt tiefer miterleben als jede andere Seele. Diese Mädchen fühlen mit der Natur, mit der gequälten Kreatur und mit ihren Mitmenschen – aber niemand fühlt, wie es ihnen geht.

Weil sie die ,Emanzipation’ und die ,Coolness’ nicht mitmachen, sind sie auch unter ihren Geschlechtsgenossinnen einsam. Dass sie sich trotzdem dafür entscheiden (weil sie schlicht ihr eigenes Wesen nicht verleugnen können), beweist zugleich ihre innere Kraft.[20]

Es ist kein Wunder, dass sich in meinen Romanen schließlich ein Junge oder aber ein Mann in diese Mädchen verliebt. Denn ganz offensichtlich sind sie die liebenswertesten von allen. Still und unscheinbar, aber innerlich unendlich liebesfähig – und fortwährend Liebe empfindend, ganz konkret, im Grunde zur ganzen Welt, die sie doch so allein lässt.

Die Beziehung zu einem Mann führt dann fast zwangsläufig dazu, dass in der Familie eine Katastrophe hereinbricht. Das Mädchen wird ermahnt, zur Rede gestellt, man kommt mit ,Missbrauch’ und ,völliger Dummheit’ des naiven Mädchens, man versucht, es zu zwingen, die Beziehung abzubrechen etc. Doch das Mädchen findet bei dem Mann gerade zum ersten Mal dasjenige, wonach es sich immer gesehnt hat – Geborgenheit und echtes Verständnis. Denn der Mann ist nicht weniger liebesfähig als das Mädchen. Er erkennt das Wesen dieses Mädchens als Einziger wirklich – und gerade deshalb liebt er es.

Die von Düring beschriebene Spannung zwischen Autonomie und Liebe hört hier völlig auf zu bestehen. Denn so sehr sich das Mädchen in dieser Beziehung hingibt, so sehr gibt auch der Mann seine ganze Liebe. Er unterwirft das Mädchen nicht, er beherrscht es nicht, all diese Begriffe verlieren hier ihren Sinn. Der Mann trägt dieses einzigartige Mädchen gleichsam sanft auf seinen starken Händen – er bleibt Mann, aber das Mädchen fühlt sich von ihm nicht beherrscht, sondern geliebt, und genau das ist die ganze Realität.

Man muss es ganz deutlich aussprechen: Coolness und ,Fun-Kultur’ machen eine Seele liebesunfähig. Hier liegen die wirklichen Gegensätze. Selbstverliebte Ego-Seelen können nie eine Liebesbeziehung eingehen. Die meisten Jungen und jungen Männer haben noch überhaupt nicht die innere Reife, ein Mädchen zu lieben – und oft ist die Frage, ob sie sie je erreichen.

Wahre Parthenophilie aber bedeutet gerade dies: Sie bedeutet, ein Mädchen zutiefst zu lieben. Damit aber ist die parthenophile Seele dem Mädchen ähnlicher als jede andere Seele – denn sie weiß wahrhaft, was ,lieben’ heißt. Gleiches kann nur von Gleichem erkannt werden. Die parthenophile Seele erkennt das geliebte Mädchen zutiefst in seinem ganzen, wunderschönen Wesen... Auch sie macht ernst mit der Realität des Seelischen, die das Mädchen so tief kennt...
 

Fußnoten


[1] Karen Horney (1932): Die Angst vor der Frau. Über den spezifischen Unterschied in der männlichen und weiblichen Angst vor dem anderen Geschlecht, in: dies.: Die Psychologie der Frau. Frankfurt am Main 1984. • Düring erzählt von einer Patientin, die vierjährig die Rückkehr des invaliden Vaters aus dem Krieg erlebte: ,Als sie etwa zur gleichen Zeit das erste Mal nackt mit einem Jungen badete, dachte sie, dieser sei verkrüppelt, weil ihm so komische Teile zwischen den Beinen hingen.’[18] • Das Mädchen empfindet sich selbst also als heil und ganz!

[2] Sie bringt dies mit dem im 19. Jahrhundert sich vollziehenden Wandel des heterosexuellen Paares von einer ökonomischen zu einer emotional-sexuellen Einheit in Verbindung und schreibt: ,Das heterosexuelle Paar wurde – überspitzt formuliert – auf engstem Raum zusammengedrängt und sollte auch noch harmonieren. Die individuelle Entfaltung von Mann und Frau hätte diese Einheit schnell gesprengt.’ Also mussten die Geschlechter polarisiert werden, was ,zugleich deren Hierarchisierung möglich’ machte.[13] • Die Frau wurde also in der bürgerlichen Ära als völlig passives Wesen definiert.

[3] Jessica Benjamin: Die Antinomien des patriarchalischen Denkens. Kritische Theorie und Psychoanalyse, in: Wolfgang Bonß & Axel Honneth (Hg.): Sozialforschung als Kritik. Zum sozialwissenschaftlichen Potential der kritischen Theorie. Frankfurt am Main 1982, S. 426-455, hier 441.

[4] Robert J. Stoller: Perversion. Die erotische From von Haß. Reinbek bei Hamburg 1979. • Aus feministischer Sicht ist diese Erklärung eher zweifelhaft und verkehrt die realen Machtverhältnisse ins Gegenteil.[86] • Sie widerspricht auch Freuds ,Penisneid’. Bloß weil der Junge sich von der Mutter lösen muss, muss seine Geschlechtsidentität noch lange nicht so ,fragil’ sein, dass er sich daraufhin lebenslang an der weiblichen Welt ,rächen’ muss. Auch das Mädchen muss sich schließlich von der als schwach erlebten Mutter lösen. • Andererseits ist eben auch das Mädchen weiblich und ist die Mutter nun einmal der Ur-Bezug. Und entwicklungsbiologisch würde sich ohne entsprechende, vom Y-Chromosom verursachte Hemmungen jeder Embryo weiblich entwickeln. So gesehen, ist der ,Kampf gegen die eigene Weiblichkeit’ schon auf grundlegend biologischer Ebene eine Tatsache.

[5] Die psychoanalytischen Vorstellungen sind teilweise sehr abstrus. Zum einen ist offenbar völlig unklar, ob der Junge den Bruch vollzieht oder ob er gezwungen ist, sich mit dem Vater zu identifizieren, weil die Mutter ihn ,zurückweist’. Weiterhin schreibt Düring, der Junge stelle sich dann vor, ,die Eigenschaften des idealisierten Vaters zu introjizieren, um ihn dann auszuschalten und die Mutter doch noch zu bekommen.’[20] • Es mag zwar analog des Freud’schen ,Penisneides’ einen ,Mutterneid’ des Jungen geben, weil nur der Vater diese ,besitzt’, aber eine Vorstellung, den Vater ,auszuschalten’, dürfte in den meisten Fällen nicht vorliegen. Allenfalls mag sich der Junge an der Stelle seines Vaters vorstellen – das ist aber etwas völlig anderes als die Vorstellung eines ,Ausschaltens’, möglicherweise gar Freuds postulierter Ur-Vatermord. Allerdings mag dies unter erstickenden, patriarchalen Verhältnissen, wie sie zur vorletzten Jahrhundertwende noch durchweg existierten, anders gewesen sein.

[6] Benjamin schreibt: ,Die identifizierende Liebe des präödipalen Mädchens bildet die Basis der späteren heterosexuellen Liebe. Wenn das Mädchen erkennt, daß es nicht wie der Vater sein kann, will sie ihn haben ... Und diese Anerkennung (durch den Vater, S. D.), gepaart mit der vorherigen Identifikation, befähigt das Kind zur heterosexuellen Liebe – einer Liebe zu dem, was anders ist.’ Jessia Benjamin: Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Frankfurt am Main 1990, S. 108f.[87]

[7] Schmauch beobachtete bei Vätern, die ihre Kinder nicht geschlechtstypisch erziehen wollten, dass sie mit Schulbeginn an ihre Söhne doch harte Anforderungen stellten – offenbar aus Angst, sie könnten leistungsmäßig versagen, da Männlichkeit durch Leistung definiert wird – während Mädchen als Sexualobjekt definiert werden, die Angst hier also ist, ob sie ,weiblich’ genug sind. Ulrike Schmauch: Anatomie und Schicksal. Zur Psychoanalyse der frühen Geschlechtersozialisation. Frankfurt am Main 1987.[62]

[8] Carol Hagemann-White: Berufsfindung und Lebensperspektive in der weiblichen Adoleszenz, in: Karin Flaake & Vera King (Hg.): Weibliche Adoleszenz. Zur Sozialisation junger Frauen. Frankfurt am Main/New York 1992, S. 64-83, hier 71.

[9] Helene Deutsch (1948): Psychologie der Frau. Bern 1988. • An anderer Stelle schreibt Deutsch sehr unfeministisch: ,Es kommt häufig vor, daß eine begabte Frau über den Wert ihrer eigenen Ideen im unklaren bleibt, bis sie dieselben Ideen von jemand anderem, den sie hochschätzt, empfangen hat. [...] Das Gefühl der eigenen Unsicherheit bei produktiven Tätigkeiten entspricht der tiefverwurzelten Notwendigkeit des Weibes, von außen befruchtet zu werden, um schöpferisch zu sein.’ Ebd., S. 117.[49]

[10] Sigmund Freud: ,Zur Einführung des Narzißmus’ (1914). Projekt Gutenberg.

[11] Hier liegt das ganze Drama unserer Kultur, denn Liebesfähigkeit wäre eigentlich das, worauf alles ankommt. Nur darf sie nicht allein Sache der Frau bleiben – während der Mann diese Liebesfähigkeit der Frauen dazu missbraucht, sie auf ihre passive Rolle zu reduzieren!

[12] Eva Poluda-Korte: Identität im Fluss. Zur Psychoanalyse weiblicher Adoleszenz im Spiegel des Menstruationserlebens, in: Flaake/King, Weibliche Adoleszenz, a.a.O., S. 147-165, hier 162.

[13] So ist die Autonomie dieser Mädchen entweder erfolgreiche Kompensation des Alleinseins oder Abwehr gegen Überbehütung und Kontrolle.[66f]

[14] Eine Frau erinnert sich: ,Busen wuchs, und ich dachte, wie kann ich denn jetzt noch auf Bäume klettern. Ich fühlte mich total behindert. Ich kaufte immer BHs, die die Brust einschnürten. [...] Habe vor dem Spiegel gestanden und geheult. [...] Ich hatte das Gefühl von großer Ungerechtigkeit.’[72f]

[15] Eine Frau schildert den Umbruch der Pubertät: ,Hatte das Gefühl, daß plötzlich andere Sachen wichtig sind, z.B. gut aussehen, schlank sein. [...] Es war sehr wichtig, einen Freund vorweisen zu können, und ich habe mich immer bemüht, einen abzubekommen, um meinen Wert für andere zu steigern.’[70] • Etwas später erweitert Düring, dass die wilden Mädchen der drohenden Geschlechter-Ohnmacht auf zwei Wegen zu entgehen versuchen: ,Entweder indem sie unwiderstehlich für Männer werden und so Macht über sie erlangen [...], oder indem sie versuchen, gar nicht erst in ihren Blick zu geraten [...].’[74] Dem entspricht die zumeist sehr unbefriedigende Alternative zwischen ,erotischer Frau’ und ,Kumpelfrau’.[78] Düring kommentiert: ,wofür sie früher Anerkennung erhielten, wird jetzt zum Makel; nicht selten wenden sich auch die Väter abrupt von ihnen ab. Das Frauwerden erscheint als eine Kette von Verlusten.’[80] • Dem Verlust des Vaters entspricht die Angst, den Freund nicht auch noch zu verlieren, falls man sich sexuell verweigern würde.[105] • Die Angst vor Sexualität und Hingabe wird auch in folgender Erinnerung sichtbar: ,Mit ca. 12 Jahren nahm mich mal ein Junge in die Arme und streichelte mich. Da kamen plötzlich sehr schöne Gefühle in mir hoch, die mir jedoch auch Angst machten. Ich war zuerst unfähig, mich zu bewegen, saß da wie erstarrt und machte mich dann aus dem Staub.’[119]

[16],Alle Mädchen hatten während der Adoleszenz blühende sexuell-romantische Phantasien, ohne diese auch nur annähernd in die Realität umsetzen zu können.’ Nach dem Auszug von zu Hause holten sie ihre Jugend nach, erforschten mit 25-35 Jahren ihre sexuellen Wünsche und kämpften damit, sie in Beziehungen auch äußern zu können.[146]

[17] Zwei der neun Mädchen dieser Gruppe wählten ,einen sehr viel älteren verheirateten Mann zum Freund’. Sie fühlten sich dadurch innerlich sehr aufgewertet, gleichzeitig setzte sich durch den Geheimhaltungszwang aber auch ihre Isolation fort.[133]

[18] Der Kampf um Autonomie kann bis zur selbstzerstörerischen Anorexie führen – manche Mädchen versuchen, ,über die Vernichtung ihres weiblichen Körpers ihre Autonomie zu erhalten und sich dem sexualisierten Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern zu entziehen.’[156]

[19] Zum Beispiel auch in einer zärtlichen Beziehung mit einem Mann – wenn nicht die Gesellschaft hier doch wieder die Freiheit der Mädchen einschränkt!

[20] Ich würde diesen fünften Typus daher die ,still leuchtenden Mädchen’ nennen.