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Werfen wie ein Mädchen
Iris Marion Young: Werfen wie ein Mädchen. Ein Essay über weibliches Körperbewusstsein. Ditzingen 2020. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern.
1980 veröffentlichte Young einen grundlegenden Essay über weibliches Körperbewusstsein.[1] Sie griff dabei die Beobachtung von Erwin Straus über die ganz andere Art des Werfens bei Mädchen auf.[7][2] Straus hatte beschrieben, wie schon fünfjährige Jungen für einen Wurf den gesamten Körper einsetzen, Mädchen aber im Grunde nur den Arm: ,Der Ball fliegt ohne Kraft, Geschwindigkeit und exakte Zielgebung’.[8] Aufgrund dieses frühen Altersunterschiedes vermutete Straus einen biologischen Unterschied, eine spezifisch ,weibliche Haltung’ gegenüber der Welt.[9] Schon 1949 hatte dagegen Simone de Beauvoir in ihrem Werk ,Das andere Geschlecht’ weibliche Wesensart auch durch die Situation der Unterdrückung erklärt: zur Frau werde man gemacht.[10]
Auch Young versteht ,Weiblichkeit’ als bestehend ,aus einer Reihe von Strukturen und Bedingungen, die die typische Situation des Frauseins in einer bestimmten Gesellschaft abstrecken’.[15][3] Als Mensch ist die Frau ,ein freies Subjekt, das an der Transzendenz teilhat’, [16] ihre Situation als Frau stößt sie jedoch gleichzeitig in die Immanenz und ein Objekt-Sein.[17]
Young führt aus, dass Mädchen und Frauen nicht nur anders werfen, sondern auch anders sitzen, stehen, gehen und anderes: ,Wir neigen auch eher dazu, unsere Hände und Arme so zu halten, dass sie unseren Körper berühren und schützen. [...] Mädchen und Frauen tragen Bücher in den allermeisten Fällen an die Brust gepresst [...].’[18f] Auch beim Hochheben oder Bewegen von Dingen setzen Frauen im Grunde nie ihren ganzen Körper ein.[19] Sie gehen nicht zum Ball, sie sind ,im körperlichen Umgang mit Dingen oft ängstlich, unsicher und zögernd’.[21] Zusammenfassend stellt sie fest:[22]
Wir erfahren unseren Körper häufig als zerbrechliche Last und nicht als Mittel zur Durchsetzung unserer Ziele. Wir glauben, unsere Aufmerksamkeit auf den Körper konzentrieren zu sollen, um sicherzustellen, dass er tut, was wir wollen, und wir richten dafür keine Aufmerksamkeit auf das, was wir mittels unseres Körpers erreichen wollen.
Während der männliche Körper ganz mit dem jeweiligen Ziel verschmilzt (Transzendenz), sind weiblicher Körper und weibliches Bewusstsein gehemmt (Immanenz). Die Frau traut sich und ihrem Körper die Dinge nicht zu.[26] Sie empfindet oft weniger das Ziel als die Unfähigkeit und die Gefahr, unter anderem einer Verletzung.[27] Der eigene Körper wird als Objekt wahrgenommen, letztlich auch angeschaut von der Umwelt.[31]
Weibliche Existenz erlebt auch den Raum als eine Beschränkung, betont auch selbst den Innenraum.[33][4] Young stellt fest:[34]
Die weibliche Existenz scheint eine existenzielle Grenze zwischen sich und dem Raum, der sie umgibt, zu ziehen. Sie tut dies in einer Weise, die den Raum, der ihr gehört und der ihrem Zugriff und ihrer Manipulation offensteht, begrenzt und den darüber hinausgehenden Raum für ihre Bewegung verschließt.
Weitere Studien zur Raumwahrnehmung belegen, dass Männer eine Figur stärker aus ihrer Umgebung herausheben können, während Frauen sie tendenziell ,als in ihre Umgebung eingebettet und durch sie fixiert’ sehen.[38][5]
Young sieht nun wie de Beauvoir den Grund all dieser Beobachtungen ,in der speziellen Situation der Frauen, die durch die sexistische Unterdrückung in der heutigen Gesellschaft bestimmt wird.’[39] Mädchen werde weder Gelegenheit gegeben, noch würden sie in gleichem Maße wie Jungen dazu ermutigt, ,ihre gesamten physischen Kapazitäten [...] zu beweisen’. Sie haben auch keine weiblichen Vorbilder, die entsprechend stark körperlich aktiv sind.[40]
Mädchen werden schon früh gewarnt, sich nicht schmutzig zu machen, sich nicht zu verletzen, ihre Kleider nicht zu zerreißen und so weiter.[41] Schon kleine Kinder urteilen dann übereinstimmend, Mädchen würden sich leichter verletzen. Auf diese Weise hält sich ein Mädchen zunehmend für zerbrechlich.[42] Diese Unterschiede tauchen erst in der Grundschule auf.[42] Ältere Mädchen erleben sich dann auch als Objekt der Umgebung – angeschaut, beurteilt, teilweise auch berührt, bedroht und angegriffen.[43]
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Youngs Ausführungen sind unmittelbar nachvollziehbar. Allerdings sind sie gleichzeitig einseitig. Da sie die weibliche Unsicherheit oder ,Gehemmtheit’ in Bezug auf das ausgeprägt Körperliche nur als Folge von Unterdrückung und anderen äußeren Einwirkungen deutet, gerät ganz aus dem Blick, dass auch die weibliche Seele selbst mehr auf Innerlichkeit, Sanftheit und Zusammenhang gerichtet sein könnte – statt auf Manipulation, Leistung, Effektivität und Instrumentalität. Sowohl der originär seelische Unterschied der Geschlechter – jenseits von aller Unterdrückung – als auch das tief Positive der speziell weiblichen und hier ganz konkret der Mädchenseele kommt bei Young nicht in den Blick.
Erinnern wir uns noch einmal der Formulierung von Young, wonach das Weibliche ,den Raum, der ihr gehört und der ihrem Zugriff und ihrer Manipulation offensteht, begrenzt’. Das ist genau der Punkt! Aber ein zutiefst berührender und zutiefst positiver. Denn während der Junge der typische prometheische Entdecker und Manipulator ist, der mit bloßem Kopf und Willen sich die gesamte Umwelt potentiell unterwirft, lebt das Mädchen viel zarter in einer verletzlichen, aber tiefen Einheit mit seiner Umgebung – die es gerade nicht manipulieren will. Was also als ,Gehemmtheit’ und ,Zögerlichkeit’ interpretiert wird, könnte auch einmal als zarte Zugewandheit und Empathie erkannt werden.
Die angebliche ,Passivität’ von Mädchen wird so zu einer tiefen Zukunftsfähigkeit, die bewusst darauf verzichtet, die Umwelt zu einer manipulierten zu machen, zu einem bloßen Objekt. Das Mädchen, das von Young als ängstlich dargestellt wird, lebt gerade wegen dieser größeren Unsicherheit in einem viel tieferen Einklang mit der Umgebung – während Junge und Mann in beliebigem Zugriff auf die Umwelt diese jederzeit zu einem bloßen Objekt degradieren können.
,Werfen wie ein Mädchen’ – dies kann als tief positive Offenbarung eines Wesens gesehen werden, dass den Körperkult nicht mitmacht, sondern bezeugt, dass das Seelische ungleich wichtiger ist. Es wäre nichts gewonnen, wenn Mädchen und Frauen sich an umfassenden ,Körpereinsatz’ gewöhnen würden. Möglicherweise wäre vielmehr unendlich Entscheidendes verloren.
Young weist darauf hin, dass sie in ihrer Untersuchung weder zweckfreie Bewegungen wie Tanz noch die sexuelle Körpererfahrung untersuchen konnte.[46] Auch hier würden die Schwächen jeder einseitigen Deutung offenbar werden. Denn im Tanz von Mädchen und Frau kann ihre ganze Anmut als tiefe Fähigkeit, Vertrauen in den umgebenden Raum zu haben, ja tief mit ihm verschmelzen zu können, völlig offenbar werden. Hier, wo es nicht um Kraft, um Schnelligkeit oder Konfrontation geht, treten die einzigartigen Fähigkeiten der weiblichen Seele und des weiblichen Körpers unmittelbar ans Licht.
In der Sexualität wiederum ist der weibliche Körper und die weibliche Seele eindeutig mehr auf der Seite der Hingabe. Was erneut als ,Passivität’ abgewertet werden könnte, hat jedoch wiederum innigste Entsprechungen zu Empathie, Sanftheit, Einklang und Zärtlichkeit. Es sind dies alles Zukunfts-Eigenschaften. Und das Mädchen besitzt sie...
Fußnoten
[1] Young IM (1980): Throwing like a girl: A phenomenology of feminine body comportment, motility, and spatiality. Humand Studies 3, 137-156. • Deutsch zuerst Young IM (1993): Werfen wie ein Mädchen. Eine Phänomenologie weiblichen Körperverhaltens, weiblicher Motilität und Räumlichkeit, übers. Barbara Reiter. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41(4), 707-725.[47]
[2] Erwin W. Straus: The Upright Posture, in: ders.: Phenomenological Psychology. New York 1966, S. 137-165, hier 157-160.
[3] In diesem Sinne bemerkt sie dann auch, dass demnach nicht notwendigerweise jede Frau ,weiblich’ sein müsse, während umgekehrt auch Männer in mancher Hinsicht ,weiblich’ sein können.[15]
[4] Erikson EH (1964): Inner and outer space: Reflections on womanhood. Daedalus 93(2), 582-606. • Erikson interpretierte dies als Projektion der weiblichen Innenorgane (Vagina, Gebärmutter), während der Junge viel mehr im Außenraum, als Projektion des Phallus, beheimatet sei.[33]
[5] Siehe Eleanor E. Maccoby & Carol N. Jacklin: The Psychology of Sex Differences. Palo Alto 1974, S. 91-98.