6
Die japanischen ,Idols’
Seit den 70er Jahren kamen in Japan die ,Idols’ (aidoru) auf, singende Mädchen um die zwanzig, die als Vorbild für die feminine Frau schlechthin galten und möglichst hübsch und niedlich (kawaii) waren. Teilweise wurden ,gezielt Laien ohne Gesangsausbildung aufgenommen, deren bei einzelnen Mädchen mitunter unzulängliches Gesangstalent sie nur noch umso niedlicher erscheinen lassen sollte’. Mitte der 90er Jahre wurden die Mädchen dann viel jünger. In den letzten Jahren hatte die ,Idol-Industrie’ mit etwa zehntausend Mädchen rund eine Milliarde Dollar Jahresumsatz.[1] Doch hinter der starken Kommerzialisierung liegt wesentlich mehr.
Eine Dokumentation gibt eindrückliche Einblicke in diese Wirklichkeit, in der es ganz zentral um die Begegnung zwischen der ,Idol’ und ihren Fans geht.[2] Die Verehrung dieser Mädchen durch Männer ist teilweise ungeheuer stark. Es zeigt sich darin eine ungeheure Sehnsucht nach menschlicher Begegnung, nach Schönheit und Unschuld. Hier wird das Wesen der Parthenophilie tief sichtbar, und wer es verurteilt, hat dessen eigentliche Tiefe nicht verstanden. Der Kapitalismus, seine Kälte, seine Anonymität, seine Konkurrenz enttäuscht unzählige Menschenseelen existenziell. Diese Mädchen sind reale Wesen und zugleich tiefe Symbole für Glück, für Fröhlichkeit, für ein Angenommenwerden, wie man ist. In gewisser Weise sind sie Ersatzsymbole – aber in gewisser Weise auch eine tiefe Heilung dessen, was der Kapitalismus in der Seele zutiefst krankmacht.
Die Mädchen wiederum spüren, dass sie geliebt werden – und sie schenken Liebe, Wärme, Zuneigung. Es ist wie eine tiefe ,Win-Win-Situation’, aber es ist mehr. Es ist wie eine Art Vorschau auf eine tief menschliche Zukunft – wenn man durch allen Kommerz hindurchblickt. Es ist mehr als jeder Star-Kult, denn bei den Idols geht es um Wärme, um Begegnung, im Grunde um etwas tief Zukünftiges. Man kann dies jederzeit verurteilen, aber dann sieht man nicht, was der Kapitalismus anrichtet – immer noch nicht...
Die ,Idols’ sind eine ungeheure Projektionsfläche – aber sie zeigen der Welt die Menschheitszukunft: unschuldiges Leuchten... Und jedes Mal senken sie diese Keime in die Seelen aller, von denen sie geliebt werden. Im Grunde sind sie moderne Mädchenpriesterinnen der Unschuld...
*
Dies ist der idealische Blick auf die Idols. Das bedeutet nicht, den Blick vor einer wiederum anderen Realität zu verschließen. Denn selbstverständlich entsteht auch hier Druck dadurch, dass man ja erfolgreich sein muss, allein schon wegen der Konkurrenz, denn immer mehr Mädchen wollen ebenfalls Idol werden... Und hier eben liegt die offene Wunde: Auch die Idols werden ihrerseits hineingesogen in die kapitalistische Maschinerie – in die mörderische Konkurrenz um Aufmerksamkeit und Beliebtheitsranking.
Das bedeutet, ihre Unschuld, ihre Leichtigkeit, ihr Mädchentum darf nicht mehr unschuldig und frei atmen – sondern wird seinerseits zermalmt von dem Druck, der immer entsteht, wo Konkurrenz das herrschende Prinzip wird. Im Endeffekt machen die meisten Idols dann die Erfahrung, mehr oder weniger völlig ersatzbar zu sein – und mit Anfang zwanzig bereits nicht mehr zu ,taugen’.
Was das Idol eigentlich ist – ein Wesen der Freude, der Bewunderung – wird so in sein Gegenteil pervertiert. Aber es ist eigentlich das Mädchen selbst, das hier geschändet wird, denn Idols sind Mädchen. Ihre heilige Mission wäre es, genau dies auszustrahlen. Wo aber die Verwertung zugreift, da greift zugleich die Ent-wertung zu – die Perversion, die der Kapitalismus seinem Wesen nach ist. Im Grunde dürfte ein Idol-Mädchen sich von keiner fremden Macht abhängig machen. Dann würde das Ideal eine Chance haben...
Und die Männer? In einem Artikel heißt es anknüpfend an die erwähnte Doku:[3]
Japanische Wissenschafter, die sich mit dem Phänomen beschäftigen, haben die Soziophobie und die Kontaktangst vor allem jüngerer Männer als Grund des Idol-Booms ausgemacht.
Wer sich dem Umgang mit gleichaltrigen Frauen nicht gewachsen fühlt, findet in den faktisch unerreichbaren Sängerinnen die Idee einer Partnerin verkörpert, die keine eigenen Ansprüche an ihr Gegenüber stellt. So entfällt die Notwendigkeit, sich auf einen anderen Menschen einzulassen, sich gegenseitig anzunähern und im Zuge dessen womöglich auch eigene Verhaltensweisen infrage zu stellen. Idole fordern nichts. Beim formalisierten, teuer bezahlten Smalltalk mit Erinnerungsfoto ist jeder Mann interessant und liebenswert – so, wie er eben ist.
Diese Pseudo-Affären erinnern an die mittelalterliche Praxis des Minnesangs, an die in sehnsuchtsvolle Lieder gegossene Verehrung unerreichbarer Frauen. Der Idol-Kult ist aber vor allem typisch für die fortschreitende Fluchtbewegung ins Virtuelle. [...] Laut Statistiken nehmen in Japan tatsächlich immer mehr Männer, aber auch viele Frauen Abstand von Partnerschaften und sexuellen Kontakten.
Wo dies enden könnte, kündigt sich bereits an: Erst vor wenigen Wochen heiratete ein 35-jähriger Japaner das Hologramm einer jungen Frau namens Hatsune Miku. [...] Vor den Traualtar trat sie in einer Glaskugel, einer sogenannten Gatebox. Ein Zertifikat des Herstellers fungierte als „Heiratsurkunde“ für die rechtlich nicht bindende Liaison. [...] Bisher sollen schon 3700 Männer eine mit Lautsprechern ausgestattete Gatebox-Figur geheiratet haben. Und während beim Kontakt mit Idolen aus Fleisch und Blut noch ein Rest an Unsicherheit, an möglicher Kränkung oder Zurückweisung bleibt, sind die Partner von Hologramm-Ehefrauen beim Blick in deren Augen nun vollständig bei sich selbst.
Dieser Artikel ist tief aufschlussreich. Aber das Selbstgefällig-Beurteilende daran ist selbst Teil der Krankheit. Der wahre Impuls müsste es auch hier wieder sein, aufrichtig und voller Empathie nach den Ursachen zu fragen. Japan ist uns in seiner Anonymisierung des gesamten Lebens weit voraus. Lernen, Arbeiten, Schlafen. Wie soll da das Menschliche überleben? Der Artikel suggeriert, es sei ein zunehmender Narizssmus, der die Menschen ,bindungsunfähig’ mache. Aber genau das ist erneut die kapitalistische Krankheit: Möglichst alles dem Einzelnen zuschieben, während die katastrophale Entwicklung unbemerkt weiterrollt. Es ist der Kapitalismus selbst, der dem menschlichen Leben immer mehr alles Seelische nimmt. Er ist es auch, der Konsum und Durchsetzungsvermögen predigt – Eigenschaften, die für jede Partnerschaft toxisch sind.
Es geht nicht um Narzissmus, sondern tatsächlich um eine tiefe Verunsicherung: ,Wer liebt mich wirklich noch, wie ich bin?’ Wenn sich inzwischen männlichen Seelen von einem virtuellen Hologramm mehr geliebt fühlen, als sie den Mut haben, eine reale Partnerin zu suchen, ist dies keinerlei Hinweis auf einen Narzissmus, sondern ein erschütterndes Symptom für den grenzenlosen Druck,[4] den Menschen inzwischen in dieser Welt empfinden – den grenzenlosen Druck, funktionieren zu müssen, während sie eigentlich für niemanden zählen... Inmitten dieses Druckes können natürlich auch Mann-Frau-Beziehungen nur noch in immer stärkere gegenseitige Forderungen entarten, weil der Stress überall überhandnimmt, während gleichzeitig die täglich gepredigte Konsumhaltung vielfach auch Beziehungen zum ,Wegwerfartikel’ macht, sobald sie nicht hundertprozentig befriedigen.
Es geht um das völlige Gegenteil von Narzissmus – eine tiefgreifende Demütigung der menschlichen Seele. Die geschilderte, täglich schonungsloser wirkende Kombination von Faktoren führt zu einer völligen Verunsicherung – und die Ursache ist jedes Mal der Kapitalismus mit seinen ihm inhärenten, furchtbaren Grundprinzipien.
Das Mädchen ist der völlige Gegensatz dazu.[5] Deswegen ist es absolut kein Wunder, dass zahllose japanische Männer ein Idol-Mädchen wie einen Engel verehren. Letztlich repräsentiert es ganz real das Ideal – das Ideal absoluter Aufrichtigkeit, Unschuld, Reinheit und Liebe. Das grenzenlose Ende des Kapitalismus.
Den Anbruch einer wahrhaft menschlichen Welt.
Fußnoten
[1] Wikipedia: Japanisches Idol.
[2] Tokyo Idols – Die Pop Girls von Japan (GB/CAN/J, 2017, Regie Kyoko Miyake), auf YouTube zu finden. • Manfred Riepe: Tokyo Girls. Tagesspiegel.de, 6.9.2018. • ,Die Nähe zwischen den treuen Fans und den "Idols" ist eines der Hauptattraktionen. Nicht nur bei den Konzerten sind die Fans anwesend, auch bei organisierten Handschüttel-Events [...] und durch permanente Online-Kommunikation können sie ihre "Idols" bewundern. [...] Eine strikt einzuhaltende Regel für die Mädchen ist: Alle Fans bekommen die gleiche Aufmerksamkeit. | Millionen von Männern – hauptsächlich mittleren Alters – verbringen einen großen Teil ihrer Freizeit auf Konzerten ihrer kleinen Idole. [...] Nicht nur ihre Freizeit, auch ein großer Teil ihres verfügbaren Einkommens fließt in die Kontaktpflege zu den japanischen Mädchen.’ Tokyo Idols. Die Pop Girls von Japan. www.phoenix.de.
[3] Michael Streitberg: Wer keine Frau findet, flirtet mit einer Illusion. Neue Zürcher Zeitung, 6.4.2019.
[4] Ich nenne nur Angst vor Arbeitslosigkeit, vor Rationalisierung, immer internationalere Konkurrenz, steigende Mieten und überhaupt Lebenshaltungskosten etc.
[5] Siehe meine Bücher ,Der Kapitalismus und das Mädchen’ sowie ,Mädchenland’ (beide 2022).