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Kurz: Die Kinder der Lilith (1928)
Isolde Kurz (1853-1944), in Stuttgart geboren, entstammt einer freigeistigen Familie und mütterlicherseits einem alten Adelsgeschlecht. In München verdiente sie Geld mit Übersetzungen und Sprachunterricht. Mit Mutter und Bruder folgte sie der Einladung eines anderen Bruders nach Italien, der in Florenz als Arzt tätig war. Dort verkehrte sie unter anderem mit Böcklin und Burckhardt. Ab 1888 tritt sie als Dichterin und Schriftstellerin hervor. Im Dritten Reich bleibt sie anerkannt, steht innerlich jedoch in starker Opposition.[1]
Die großartige Dichtung ,Die Kinder der Lilith’ ist nicht unmittelbar ein Dokument der Parthenophilie, dennoch ist es in diesem Zusammenhang wesentlich, denn es berichtet in Bezug auf die Schöpfung von zwei weiblichen Wesen – Eva und der sagenhaften Lilith.
Verfolgen wir zunächst ein wenig den Lilith-Mythos an sich.
Lilith ist ursprünglich ein Dämon der sumerischen Mythologie. Sie ist auf der letzten der zwölf Tafeln des babylonischen Gilgamesch-Epos (,Gilgamesch, Enkidu und die Unterwelt’) erwähnt. Dort pflanzte Inanna in ihren Garten einen Baum, den ein Unwetter am Euphrat entwurzelt hatte. Sie wollte sich daraus Bett und Stuhl schnitzen, fand aber schließlich, dass sich im Wipfel ein Vogel, in den Wurzeln eine unverzauberbare Schlange ein Nest gebaut hatten und im Stamm das Geistermädchen (Lilitu) wohnte. Der von ihr um Hilfe gebetene Gilgamesch erschlug die Schlange, worauf der Vogel wegflog und auch Lilith in die Einöde floh.[2]
Seitdem gilt sie als ruheloser Luftgeist, im Stadtstaat Mari auch als ,nächtlicher Schutzwind’. Ihr Wortstamm ,Lil’ bedeutet Wind, der Bezug zur semitischen Wurzel ,Lyl’, ,Nacht’, gilt dagegen als spätere Volksethymologie. In der Bibel ist sie bei Jesaja kurz erwähnt.[3] Auch in talmudischen Quellen des 3. bis 5. Jahrhunderts gilt sie als Nachtdämon. Ab dem 5. Jahrhundert erwähnen Amulette und Zauberschalen aus Mesopotamien und Iran die Dämonenkategorien der männlichen Lils und weiblichen Lilits, wobei insbesondere Zauberschalen diese als Incubus- und Succubus-Dämonen beschreiben, die nachts Menschen heimsuchen und den Tod von Kindern verursachen. Nach einer Variante haust eine solche Lilit auf der Türschwelle und erschlägt oder erwürgt vorbeikommende Kinder.[4]
Erstmals als Adams erste Frau erwähnt wird sie von dem anonymen, spätestens etwa um 1000 entstandenen ,Alphabet des Ben Sira’. Meist als satirisches Werk gedeutet, beginnt es mit der Erwähnung, dass der Prophet Jeremia den Ben Sira unwissentlich mit seiner Tochter zeugte.[5] Ben Siras Ruhm reicht bis an den Hof von Nebukadnezar II., dem er, zu diesem gerufen, zweiundzwanzig Geschichten erzählt.[6]
In der fünften Antwort geht es um Lilith, die Gott wie Adam aus Erde geschaffen habe. Sie habe Adam gesagt, sie werde nicht ,unten liegen’, worauf Adam erwiderte, auch er werde nicht unter ihr liegen, weil nur sie in diese Position gehöre und er der Überlegenere sei. Sie machte geltend, dass sie schon durch ihre Erschaffung gleich seien. Als sie sich nicht einigen können, spricht Lilith den ,unaussprechlichen Namen’ (des Teufels) aus und erhob sich in die Lüfte. Adam ruft Gott, der drei Engel zu ihrer Verfolgung schickt und ankündigt, wenn sie nicht zurückkomme, müsse sie täglich den Tod von hundert ihrer Kinder zulassen. Die Engel finden sie am Roten Meer, wo einst die Ägypter ertrinken würden. Lilith schickt sie fort und sagt, sie sei nur dafür geschaffen, Krankheit für Kinder zu verursachen. Nur wenn sie die drei Engel oder ihre Namen oder Amulette sehe, habe sie keine Macht.[7]
Die Schrift ,Abhandlung über die linken [bösen, H.N.] Emanationen’ (1265) von Rabbi Isaak ben Jakob ha-Cohen beschreibt sieben böse Mächte von Samael bis Lilith, die als göttliches Paar die bösen Dämonen beherrschen, die gegen die guten Emanationen kämpfen. Das Böse ist hier als Entartung bei der Emanation der dritten Sefira Binah entstanden und wird im apokalyptischen Zweikampf zwischen Samael und dem Messias besiegt werden. Es sind hier eine ältere und eine jüngere Lilith beschrieben, letztere ist Gemahlin des Asmodäus und wird von Samael begehrt. Das dualistische Konzept ist neu für die Kabbala, wird aber schließlich von Moses de Leon ins Zentrum der Lehre des Zohar gestellt.[8]
,In jüdisch-feministischer Theologie wird Lilith im Midrasch als eine Frau dargestellt, die sich nicht Gottes, sondern Adams Herrschaft entzieht und im Gegensatz zu Eva resistent gegen den Teufel ist. Sie symbolisiert positiv die gelehrte, starke Frau. In einer anderen Version brachte Lilith als erste Frau Adams Gott dazu, ihr seinen heiligen Namen zu verraten. Der Name verlieh ihr unbegrenzte Macht. Lilith verlangte von Gott Flügel und flog davon.’[9]
Oft gilt sie als sexuell-sinnlicher Pol zur mütterlich-folgsamen Eva – nicht zuletzt in Goethes Faust.[10]
Wenn aber Lilith, wie oben angedeutet, gegen den Teufel immun ist, so gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder ihr Wesen ist nicht sinnlich, oder die Sinnlichkeit ist unschuldig. Und genau in diesem Sinne dichtet Isolde Kurz über Lilith – und in demselben Sinne muss über das Mädchen gedacht werden.
In der Dichtung ,Lilith’ wird zuerst geschildert, wie Adam erschaffen wird. Dieser steckt zunächst wie ein kleines Kind alles in den Mund und ist ,in seiner blinden Gier’ ,dümmer als jedes andere Tier’. Das ,andere’ hat seine Berechtigung, denn erst danach erfolgt die Sonderung und das erste Ich-Erlebnis. Doch während Gott ihn liebevoll beschützt und leitet, singt der gleichsam undankbar-selbstgenügsame Adam ihm ,keinen Psalm’. Und nun bringt Gott ihm eine Gefährtin – Lilith:[11]
Da kehrt ins irdische Gefild
Der Herr mit dem lieblichsten Wunderbild.
Wie er’s erschuf, ist uns verborgen,
Es strahlt wie Paradiesesmorgen,
Vom Scheitel fließt ihm Sonnengold,
Zwei Flüglein hat’s, noch aufgerollt,
Wie junge Blätter unentfaltet,
Sonst ist es Adam gleich gestaltet
Und anders doch und seiner viel,
Ein schlanker, beweglicher Blumenstiel.
Als Adam dies Gebild erschaut,
Springt er vom Boden mit Jubellaut,
Begreifend, daß dies Wonnewesen
Ihm zur Gefährtin auserlesen.
Und stracks hebt er zu tanzen an,
...
Kreist immer näher um die neue,
Die an den Herrn sich schmiegt mit Scheue.
Doch mählich wird auch sie beherzt,
Ein Schalk aus ihren Augen scherzt,
Und Adam – er vergisst Gott geradezu und betet stattdessen dieses weibliche Wesen regelrecht an.
Und: Lilith! Lilith! nennt er sie.
Ja, denkt euch, was der Mensch getan:
Er kniet vor ihr, er betet an!
...
Er sieht nur Liliths Angesicht.
Des Tadels ledig bleibt der Tor,
Der Herr schiebt ein Gewölke vor
Und läßt die zwei allein beisammen
Mit jedem Blicke sich mehr entflammen.
Schon steht sie keck auf Adams Füßen,
Um näher ihn Mund an Mund zu grüßen,
Am Abend des ersten Paradiesestages erweist sich, dass das schöne Geschöpf Lilith gleichsam über Adam herrscht, weil dieser ihr verfallen ist:
,Sieh, Adam, wie sich der Himmel rötet,
Droben im Hain, wo die Nachtigall flötet,
In der Veilchengrotte, da will ich ruhn.
Dorthin, Sklave, trage mich nun.’
Da liegt sie, wohlig hingebettet,
Und neben ihr wie angekettet
Adam – bei eines Glühwurms Span
Kniet er verzückt und starrt sie an.
Ein Weilchen scheint sie so zu schlafen,
Ergötzt sich an der Pein des Sklaven,
Ausstreckt sie plötzlich dann den Arm
Und zieht ans Herz ihn liebewarm.
Das war ein Schauern, ein Entzücken,
Ein Umhalsen und An-den-Busen-drücken
Und andere närrische Dinge mehr.
Die Nachtluft wird von Seufzern schwer.
Lilith! hallt’s von der Bäume Zweigen,
Lilith! lächelt der Sternenreigen,
Lilith! duftet der Blütenbaum.
Am Sabbat, dem siebten Schöpfungstag, ruht Gott von seinem Werke, und es wird Luzifer-Samael geschildert, wie er als leuchtender Engel des Morgensterns mit seinem Eigenlicht rätselt, wozu der Mensch geschaffen wurde. Gott zeichnet eine Spirale und offenbart ihm, dass der Mensch einst höher stehen werde als alle Engelwesen:
Ja aufwärts! Hoch bis über die Sterne,
Über euch alle in Weltenferne,
Auch über dich, so hell du scheinst,
An meine Seite steigt dereinst
Der Mensch – er aller Sonnen Sonne,
Mit der Gottheit teilend die Schöpferwonne, ...
Adam hat ,der Tierheit und der Gottheit Triebe’, ,die Himmels- und die Erdenliebe’ – aber wer wird seine Nachkommen himmelwärts ziehen? Lilith!
Von Adam, dem armen Erdenkloß,
Bau’ ich durch Lilith eine Leiter
Zum höchsten Sitz des Himmels weiter.
Drum hab’ ich die Freundin ihm gepaart,
Halb von seiner und halb von eurer Art,
Daß sie mit Liebesdorne
Ihn wecke, stähle, sporne,
Er zu massig und sie zu fein,
Unvermögend jedes für sich allein.
Ihr gab ich keine irdischen Waffen,
Sie soll begeistern, er soll schaffen.
Von ihm die Kraft, die Felsen spaltet,
Den festen Sinn, der ordnend waltet,
Von ihr die Flamme stets bewegt,
Die Unruh, die das Uhrwerk regt.
Des Regenbogens bewegliche Habe
Schenkte ich Lilith zur Morgengabe,
Womit sie schwebend den Raum erfüllt,
Sich in farbenwechselnde Schleier hüllt.
Sie mag im Spiel sich mit ihm freuen,
Zu Seifenblasen ihn verstreuen,
Und aus den bunten Farbenspiegeln
Ahnend ein Künftiges entsiegeln,
Um ihre wechselnden Gestalten
Kann nichts verwelken, nichts veralten.
Ob sie über Blumen sich tändelnd wiegt,
Auf Wolkenrossen jauchzend fliegt,
Wo sie erscheint, muß alles blühn,
Was sie berührt, wird frisch und grün.
Und Liliths Mund kann nimmer lügen,
Wohin sie irrt auf Fabelflügen,
Der träge Riese muß ihr nach!
...
Schon seh’ ich fern den Morgen scheinen,
Wo nimmer pflichtig dem Gemeinen
Der holde Sohn des Widerspruchs,
Aufreckend seinen Riesenwuchs
Vom Erdkreis, den er unterjocht,
An meines Himmels Pforten pocht.
Dann werd’ ich in den Arm ihn schließen,
Der Sohn, dem Vater nahgesellt,
Soll schaffend sich mit mir ergießen
Durch alle Adern meiner Welt.
Lilith erweist sich als das Ewig-Weibliche, das den Menschen hinanzieht. Sie ist halb Mensch, halb Engel. Sie begeistert, sie ist die Flamme, die Schönheit, das Blühen, die Wahrhaftigkeit – all dasjenige, was einst den Menschen als Gottessohn offenbaren wird. Sie ist Adams heiliger, inspirierender Genius.
Wenn kaum die Gipfel sich entzünden
Und die ersten Vögel das Licht verkünden,
Tritt Lilith aus dem Felsgemach
Und jubelt den trägern Gefährten wach:
,Steh, Adam, auf! die Sonne winkt, ...
Doch kaum ist er erwacht, entflieht sie – und lässt sich suchen. Adams innere Kraft, ihr zu folgen und folgen zu wollen, erweist sich aber als sehr begrenzt. Dem Engel Gabriel klagt er sein Leid:
Möcht’ lieber nicht erschaffen sein.
Habe ein lebendes Fieber zur Seite,
Immer ist Lilith mit mir im Streite.
Das ist ein Hetzen, eine Qual,
Ein Durch-die-Wälder-Rennen, ...
Adam ist völlig unfähig, zu erkennen, was das heilige, begeisternde Leben in Lilith ist – für ihn ist ihr Feuer ,Fieber’, ihr Locken und Entfliehen ,Streit’ und ,Hetzen’ und ,Qual’. Als Gabriel andeutet, dass Adam gar nicht weiß, was er an ihr hat, lenkt Adam kurz ein – nur um sich neuerlich zu beklagen:
Mich sollt’ es ja nicht verdrießen,
Gäb’s nach der Arbeit nur Ruh und Genießen.
Doch was ich auch schaffe, ihr scheint’s gering,
Nie freut sie sich zweimal am gleichen Ding.
...
Und morgen sollt’ ich Vogel sein.
So launisch gibt’s der Traum ihr ein.
Denn auch im Schlaf hat sie nicht Ruh,
Ich hör’ ihr halbe Nächte zu.
Das ist ein endlos Fabelweben,
In Gespinsten ein Auf- und Niederschweben,
Bis mir die Wimpern fallen,
Hör’ ich sie träumend lallen
Von niegesehnen Dingen.
Drum band ich ihr die Schwingen
Mit einem Goldhaar stark und lang,
Lilith hat tatsächlich Flügel – und Adam muss diese sogar binden, damit sie ihm nicht ganz entfliegt. Dennoch ist ihr begeistertes, fortwährend neues Erkennen und Vorhaben, Aufrufen und Antreiben für Adam die reinste Überforderung. Sie ist halber Engel – und Adam zunächst nur ,Erdenkloß’! Unschuldig leben und strömen in Lilith die Himmelsherrlichkeit und Realbilder reinen Schöpfertums, zu dem Adam fähig werden soll – und Adam ist schon vom Zuhören erschöpft...
Zugleich beschreibt er, wie sehr Lilith paradiesisch eins ist mit aller Schöpfung – und wie wenig er letztlich von ihr lassen kann:
Und wie sie mich entzündet,
Ist alles ihr verbündet.
Der Löwe wedelt ihr im Busch,
In Ried und Rusch,
In Sumpf und Röhrig
Ihr alles hörig!
Die Schlange, die sich giftig ringelt,
Hält kosend ihren Leib umzingelt,
Und ziehen wir die feuchte Bahn,
Kommen die Fische und glotzen sie an.
Ich möchte sie hassen,
Doch wie sie mich quält,
Ich kann sie nicht lassen.
Es ist, als ob die Blumen erblassen,
Wenn Lilith fehlt.
Ob ohne sie, ob ihr vereinigt,
Bin ich gepeinigt.
Selbst die Schlange ist bei Lilith noch nicht böse – genauso wenig wie der Löwe. Und auch Adam muss zugeben: selbst die schönsten Blumen scheinen blass, ,wenn Lilith fehlt’.
Gerade als Adam sich so beklagt, kommt Lilith heran – und nun erweist sich, dass sie sehr wohl die Demut vor dem Engelbruder kennt, während Adam nun erst recht gottlos-eifersüchtig wird:
Wie er so klagt in Groll und Weh,
Kommt Lilith strahlend von der Höh’,
Von Rosen einen vollen runden
Kranz um die leuchtende Stirn gewunden,
...
Wie sie den Boten des Herrn erblickt,
Mit gekreuzten Armen sie sich bückt
Und streut die Rosen ihm zu Füßen,
Den Gast mit Düften zu begrüßen,
Den irdische Speise nicht erquickt.
Doch Adam sieht schon feindlich kalt,
Weil ihm der erste Gruß nicht galt,
Die Blumenlast auf ihrem Arm,
Die er nicht pflückte,[12] schafft ihm Harm.
Gabriel versucht, ihn noch einmal eines Besseren zu belehren:
,Betörter du,
Dir gesellte der Herr die Freundin zu,
Daß sie dich gern Beharrenden,
Im eignen Ich Erstarrenden
Aufrüttle aus träger Selbstsucht Ruh,
Doch ihres Leibes Wonnebecher
Gab er zum Tröster und Sorgenbrecher.
Schuf er nicht eins zu des andern Heil?
Eitel sind deine Klagen.
Welches der beßre, der schlimmere Teil,
Sollst du nicht fragen.
Sie tut, wozu der Herr sie schuf,
Folg’ du so willig seinem Ruf!’
Das heißt, die Schönheit ihres Leibes, das Erleben der Sinnlichkeit mit Lilith, ist Adam zum Trost gegeben – mit dieser reinen Wonne mag er wohl die Kräfte finden, sich über seine träge Faulheit und Selbstsucht zu etwas Besserem zu erheben... Dies entspricht dem heiligen Wirken der Erotik, wie es schon Platon beschrieb. Doch wie schwer dies Adam wird, zeigen die nächsten Zeilen, denn Adam erweist sich als regelrecht taub gegenüber dem soeben verschwundenen Engel:
Kaum will sich Lilith schmeichelnd nahn,
Faucht sie der Finstre grimmig an,
Zerreißt der Blumenketten Tand
Und stampft ihn knirschend in den Sand.
Gleich brennt die Zwietracht lichterloh:
,Nur dir entweichend werd’ ich froh.’
,Ich weiß, drum flieh’ ich weit von hier.’
,So sei’s, noch heute scheiden wir.’
Und auseinander stieben beide,
Und beiden bricht das Herz vor Leide.
Sie flieht zum Bach, zum Felsen er,
Dort starrt ein jedes hoffnungsleer.
Ihr Tal, das Mandelblüten streut,
Scheint eine grausige Wüste heut.
Doch schon macht Adam den Nacken krumm,
Und Lilith sieht sich zögernd um,
Bis Aug’ dem Aug’ begegnet
Und ihre Füße, von selbst gehoben,
Sie willenlos zusammenschoben,
Bis sie mit Urgewalten
Sich klammernd fassen und halten
Und es Küsse wie Feuer vom Himmel regnet.
,Vergib mir’, spricht er in sanftem Ton,
,Ich bin der Erde rauhster Sohn.
Du kannst’s nicht fassen, lichter Geist,
Wenn mich das Tier im Busen reißt.
Gern sühn’ ich, was ich Böses tat ...’
Wie deutlich ist auch dieser Abschnitt! Lilith flieht zum sanften Wasser – Adam zum harten Felsen, beides Bilder für das Wesen jedes von beiden: liebliche Unschuld – sich verhärtender Selbstbezug. Beide können nicht ohne einander, doch Adam macht ,den Nacken krumm’ (das heißt, er senkt den Kopf in noch immer sehr selbstbezogener erster Scham oder auch erst einmal nur grollender Einsamkeit), Lilith dagegen sieht sich in zögernder Unschuld als erste wieder zu ihm um. Und sehr wahr nennt Adam sie ,lichter Geist’, während er von dem Tier in seiner Brust spricht. Ihrem Engelhaften entspricht seine Selbstsucht.
Doch nun, wo sich erweist, dass Adam nicht von seiner doch so innig Geliebten lassen kann, tritt Samael-Luzifer erneut auf den Plan. Er befürchtet jetzt, dass tatsächlich wahr werden könnte, was Gott sagte:
Ihn hebt noch Lilith von der Erde,
Sie, die zu meiden schwor die Wolkenwelt,
Bis ihrem Flug der seine sich gesellt.
...
Jetzt gilt’s, bevor er siegt, ihn zu beschleichen,
Sein hohes Ziel, er soll es nie erreichen!
Jetzt, Sammael, mach’ du dein Meisterstück.
Der Flug Adams wird hier verbildlicht mit einem weiteren Flügelpaar, das er sich mühevoll anzufertigen beginnt. Man fühlt sich hier an Ikarus erinnert – doch sind dies tief bedeutsame Bilder. Ikarus wagte gleichsam zu früh, was einst wirklich die Aufgabe des Menschen ist, auf die Gott sogar wartet: dass der Mensch sich zu ihm erhebe, nicht in Hochmut, sondern in wahrer, langer Entwicklung. – Eindrücklich aber ist, wie Lilith geschildert wird: Wie ein Bodhisattva hat sie als halber Engel dennoch dem Himmel entsagt, solange nicht auch Adam fähig sein wird, sie in diese wahre Heimat zu begleiten...
Und nun ist es Luzifer, der Eva aus der Rippe Adams bildet. Er verführt sie also nicht erst – er erschafft sie bereits:
Da wär’ sie denn. Ganz schön – das neue Weib.
Den Atem bringt sie mit aus Adams Haus,
Hier leg’ ich’s hin, die Sonne brütet’s aus. –
Nur eines fehlt, ein Fehler und ein Glück:
Kein Hirn in diesem zarten Rippenstück!
Um desto leichter wird sie ihn bezwingen.
Wohlauf, sie atmet schon! Nun mög’s gelingen.
Währenddessen erweist sich Liliths ganze Treue – sie, die dem Himmel so verbunden ist, dass sie sogar die Sphärenklänge als heimatlichen Ruf vernimmt:
Still lauschend wie auf ferne Klänge
In ihres Schleiers Duftgepränge
Kommt Lilith über die Felsenhänge.
Jetzt eben traf ein Ton ihr Ohr,
...
Oft lauscht sie so in Mitternächten,
Wenn die Gestirne ihren Halbkranz flechten,
Dem Mond, der tönend über die Hügel steigt.
Er tönt ihr, ja! Mit seinem Strahl
Stiehlt sich ein süßer Harfenklang zu Tal,
Der ihr die Seele schmeichelnd küßt und schweigt.
Dann fällt’s wie Tropfen groß und leise
Aus der Planeten brüderlichem Kreise,
Der wie ein Strom nach West hinunterschwillt.
Und Lilith regungslos am Rand
Des Lagers sitzt sie festgebannt,
Bis sie der Freund erwachend Törin schilt.
Denn nie, so tief die Nächte schweigen,
Vernimmt sein Ohr den Sternenreigen,
Der auch zu ihr als seltnes Glück nur quillt.
Heut aber ist ihr Sinn erschlossen,
In Strömen kommt’s herabgeflossen:
Aus Mittagsgluten im Zenit
Singt mächtig heut die Sonne selber mit.
Oh hoch und höher sich zu schwingen,
Den niedern Dunstkreis zu durchdringen,
Sie nah zu hören und mitzusingen!
Und wozu sind die Flügel ihr gegeben?
Was will das mächtige Aufwärtsziehn?
Hat ihr’s der Schöpfer nicht verliehn,
Zum tönenden Weltenlicht zu schweben?
Doch nicht allein will sie sich heben,
Nicht ohne ihn, nicht ohne ihn!
Der, was er wollen kann, vermag,
Tut bald mit ihr den ersten Flügelschlag.
Sei es, dass eine Versuchung Luzifers mitwirkt, sei es, dass am Tag der Erschaffung Evas als Kontrast gerade die größte Unschuld und Empfänglichkeit in Lilith lebt – sie bleibt Adam in himmlischer Entsagung treu. Und engelgleich-unschuldig schöpft sie nicht einmal Argwohn, als sie das neue Geschöpf zum ersten Mal sieht. Es ängstigt sie nur, weil sie spürt, dass es vielleicht gar keine Seele habe. Dennoch ist sie zu ihm freundlich und liebevoll:
Blick’ um dich, Lilith, Träumerin!
Was sucht dein Aug’ am Himmelsbogen?
Sieh nach der irdischen Wohnstatt hin,
Welch fremder Vogel zugeflogen.
...
Heran tritt Lilith, halb mit Zagen:
,Wer bist du, fremdes Frauenbild?’
Doch jene starrt verwirrt ins Leere.
,Steh auf, ich reich’ dir meine Hand.’
Die schweigt, und bleiern dumpfe Schwere
Hält sie am Boden festgebannt.
Da läßt sich Lilith bei ihr nieder.
,Wie kalt und starr sind deine Glieder!
Ein Schauer läuft von dir auf mich.
Mein Herz erbebt, wenn ich dich sehe,
Als wär’ ich in des Unglücks Nähe.
Wie dir die Lebensfarbe wich!
Du frierst, nimm meine Schleierhülle. ...’
...
Aufstiert ihr Auge fremd und wesenlos.
...
,Sieh, Liebster, was am Rain hier sitzt,
Ein Ding aus Fleisch und Bein geschnitzt.
Lebendig scheint’s, es regt sich matt,
Doch graut mir, ob es eine Seele hat.’
Das neue Geschöpf wendet sich nun jedoch ganz Adam zu, aus dem es stammt – und so wie Adam im Grunde Lilith angebetet hat, so betet Eva in blinder Gefolgschaft Adam an:
,Wie innig rührt mich dies Erscheinen,’
Spricht Adam zu dem Weib gebeugt,
,Als wär’ es Bein von meinen Beinen
Und Fleisch aus meinem Fleisch gezeugt.’
...
Mit Gliedern, Pulsen, die erwarmen,
Löst sie sich leis aus Liliths Armen,
Sinkt vor dem Manne auf die Knie,
Zu ihm die Hände breitend betet sie.
...
,Dein Wesen aber, laß mich’s wissen.’
,Kein Wesen, leb’ mir selbst entrissen.
Ich bin ein Teil, der losgetrennt
Sich seinem Ganzen zu vereinen brennt.’
,Doch was gebot der Herr dir, sprich!’
,Ich kenne keinen Herrn als dich. ...’
Während dies Adam mehr als gefällt, ist Lilith immer noch ohne jeden Arg voller Mitleid mit dem scheinbar blinden Geschöpf:
,Du Arme, die ihr Licht verlor,
Es ist nicht Gott, zu dem du flehst,
Der Mensch ist’s, der im Leibe west,
Mein Gatte, freundlich dir und gut.
Drum zittre nicht, sei wohlgemut.
Ich will mit Manna dich laben,
Sollst Trank und Obdach haben.
Bis du dir selber helfen kannst,
...’
O Lilith, Lilith, vernimmst die Sphären,
Daß so die Weisheit dir gebricht!
Die Schlange magst am Busen nähren,
Das Ding aus Adams Rippe nicht.
Da geht sie hin, und hold umfaßt
Führt sie ins Haus den dumpfen Gast,
Der auf die Schwelle fortgedrängt
Mit rückgekehrtem Blick am Manne hängt.
Lilith führt voller Güte und Liebe ihre eigene Feindin ins Haus... Und sehr bald zeigt sich, was aus Adam wird. Liliths edle, heilige Wirksamkeit läuft ins Leere, weil sie von Adam nicht mehr gesucht wird:
Im Wald, an des brausenden Wildbachs Rand
Weht Liliths schillerndes Luftgewand.
Sie fragt die Tiere: ,Wo ist mein Glück?’
Die Blumen: ,Kehrt es mir nie zurück?’
Da drunten, ach, in der Liebe Haus,
Da wohnt’s nicht länger, es flog hinaus.
Die Bitternis, sie schlich herein.
Wo kam sie her? Wer ließ sie ein?
Sie weiß es nicht, sie weiß nur klar:
Der Mann ist nimmer, der er war.
Der sonst so rasch und willig,
Ward träge, wechselnd, grillig.
...
Das Flügelpaar, voll Kunst gegliedert,
Mit starken Kielen schon befiedert,
Liegt halb vergessen in der Werkstatt nun.
Das Werkzeug rostet in der Ecke,
...
Und wes die Schuld?
Eva, das Bild, das Lilith ewig fremd,
Sie ist’s, die so die Kraft ihm hemmt.
In dieser Nähe dumpf und schwer
Erkennt sich Lilith selbst nicht mehr.
...
Denn kaum tritt der [= Adam] zu ihr heran,
So fängt das Bild zu leben an.
Wie sie verlangend zu ihm drängt,
An seinen Mienen wartend hängt
Und wie ein Hündlein, wenn der Herr es trat,
Mit Wedeln immer neu sich naht.
Ihr feuchter Blick, der Liebe wirbt,
Ihre Stimme, die wie Heimchen zirpt!
Lilith kann diese neue Wirklichkeit nicht aushalten – voller Schmerz flieht sie. Als sie auf die höchsten Gipfel gelangt, scheint sie an einer Steilwand zu stürzen:
Ein Schrei, sie gleitet, stürzt, eh’ sie’s gedacht,
Und schließt die Augen vor der Todesnacht.
– Noch nicht zerschmettert? Ist der Weg so lang?
Hält sie die Leere fest? Und horch, ein Klang!
Sie fällt ja nicht, die Erde war’s, die fiel,
Sie steigt, und Himmel, welch ein Orgelspiel!
Lilith ist halber Engel – und auf der Flucht zerschnitt ein Stein das Band, das ihre Flügel hielt. Nicht sie stürzt, sondern aus ihrer Sicht die Erde, weil sie dem Himmel entgegenfliegt. Adam stürzt aber auch in Wahrheit – denn er stürzt in die selbstgenügsame Bindung an die Erdenfrau, in der er buchstäblich eigentlich sich selbst liebt.
Und doch – das Wunder geschieht: Obwohl Lilith nicht mehr bei ihm ist, oder gerade deshalb, kann er sie nicht vergessen. Die nächste Szene zeigt ihn von neuem an der Arbeit an den Flügeln, auf die Lilith so sehr gehofft hat. An diesem Tag will er das Werk vollenden, und sie ,zucken schon vor Leben’. Doch Eva sät Zweifel und redet Lilith schlecht:
Mußt du für sie dich mühn und plagen,
Der’s nie beliebt, dir Dank zu sagen.
...
Lilith, die Arge, nahm dich in Pflicht.
Ihr frönst du, wenn du schaffst und werkst,
Mit deiner Mühsal ihren Hochmut stärkst.
Das ist die Unwahrheit – auch wenn Eva selbst daran glauben mag. Auch wenn Lilith Adam am Anfang unschuldig-verspielt ,Sklave’ nannte, ist sie doch in Wirklichkeit seine wahre treue Freundin, die ihre eigene Heimat um seinetwillen fortwährend aufgab. Eigentlich kennt Lilith keinen Hochmut. Das Einzige, was sie kennt, ist die Sehnsucht nach der Höhe, nach allem, was himmlisch genannt werden kann. Dorthin möchte sie Adam mitnehmen. Hochmut dagegen bewegt Eva, die Adam gegen Lilith aufhetzt und aus Eigennutz und Antipathie die Unwahrheit sagt.
Eindrücklich wird nun geschildert, wie Adam innerlich zerrissen gleichsam alles vernichten möchte[13] – und wie Eva sich sogar dem hingeben will, weil sie ihm ganz und gar hörig ist. Dies rührt wiederum Adam – und es folgt eine neue innige Vereinigung. Da taucht Lilith auf. Liebend hat sie sich zu ihm gesehnt, um ihn in die Herrlichkeit mitzunehmen. In aufrichtigster Begeisterung ruft sie ihn auf, mit ihr zu kommen. Geradezu rührend ist, wie auch sie bedingungslos nur an ihn denkt – Eva nicht etwa verachtend, aber in ihrem Herzen sich nicht im Geringsten aufteilend, Eva gleichsam kaum sehend. In höchsten, erschütternden Tönen preist sie das Leben in Himmelssphären, versucht es, Adam erlebbar zu machen – doch Eva zischt (!) dazwischen:
,Das frommt dir schlecht,
Wenn sie dich hält, so bleibst du Knecht.’
Da wandeln des Beklommenen Nöte
Mit einmal sich in Zornesröte:
,Du tatest, was ich dir verbot,[14]
Hinweg von mir!’ Sein Auge droht.
,Wie, Adam, sprichst du so zu mir?
Nicht Herrn und Mägde gibt es hier,
Nur Einen, dem wir alle dienen,
Er rief mich, und ich bin erschienen.’
,O hörst du, hörst du, wie sie pocht!’
Ruft jene, der’s im Busen kocht.
,Heut sollst du am Triumph dich letzen,
Ihr den Fuß auf den Nacken setzen.’
Eva hetzt Adam gegen Lilith auf – während sie bestürzt und unschuldig darauf beharrt, dass sie einander gleichwertig seien (sie, die doch viel höher steht als Adam!). Dieser aber hatte versucht, sie als Eigentum zu behandeln und ist nun tief gekränkt, dass sie dem Ruf ihres Gottes gefolgt ist. Eva aber hetzt ihn erneut auf, sich gewaltsam über Lilith zu stellen, nun endgültig, in bösartigem Triumph.
Und tatsächlich folgt Adam den Einflüsterungen und behauptet, er sei der Herr, sein sei die Macht, und wer klug sei, gehorche ihm. Die edle und reine Lilith kann ihm nur in liebender Unschuld antworten:
,Mein Gatte, mir gesellt vom Herrn,
Mit dir zu rechten sei mir fern.
Ich hörte die Wahrheit in Sternenchören,
Kein irdischer Mißklang darf mich stören.
Tu mir nur eins: die Puppe dort,
Die seelenlose, schick’ sie fort!
Von ihr nur kommt uns alles Weh,
Ich atme nicht, wenn ich sie um dich seh’.
Und nun geschieht die Katastrophe: Adam verweigert die Bitte – und zerschneidet das Band mit Lilith:
,Von ihr mich trennen, nimmer, nein!
Ich lieb’ sie, wie mein Fleisch und Bein,
Die selbst zum Atmen mein bedarf,
Ihr ganzes Sein zu meinen Füßen warf.’
Laut jubelt Eva. Lilith bebt,
Sie sieht’s: das Glück hat ausgelebt,
Und kann und kann es doch nicht fassen
Und will, was sie geliebt, nicht lassen.
Noch einmal ruft sie ihn zurück:
,O denk’ an unser erstes Glück,
Denk’, Adam, an die Veilchengrotte!’
Doch die umschlingt ihn ihr zum Spotte,
Dazwischenrufend: ,Hör’ sie nicht,
Du bist verloren, wenn sie spricht.’
Und er im Wahn, mit blinden Hieben,
Haut in die Glut, daß Flammen stieben,
Zerschlägt, zertrümmert Liliths Freude,
Seiner Flügel leuchtendes Goldgeschmeide.
Da zeugt ihm Evas Jubelschrei,
Daß er ihr und der Erde verfallen sei.
Lilith ist die absolute Unschuld. Sie kann nicht zürnen, nicht einmal Eva – alles, was sie kann, ist, nicht fassen, was geschieht, und in unerschütterlicher Liebe versucht sie es noch einmal, Adam an das wirkliche Glück zu erinnern. Aber sie dringt nicht mehr zu ihm durch...
Und einen einzigen Moment lang sieht Adam nun ihre überirdische Schönheit, ihre Abstammung von den höchsten Engeln, dann muss sie, besiegt von seinem zerstörerischen Wahn und gerufen von Gott selbst, den Geliebten verlassen:
Doch kaum, daß er die Tat getan,
Starrt er voll Schrecken Lilith an:
Sie ist’s nicht mehr! Ein fremd und wild,
Ein übermenschliches Gebild,
...
Von Funken steht sie rot umsprüht,
Die Flügel spreizen sich von selber;
Verwandelt, furchtbar scheint sie ihm,
Schwester der flammenden Cherubim.
Vorbei das schreckliche Gesicht!
Sie ist es wieder, schön und licht
Wie in der Liebe Maientagen,
Nur blaß, von Weh und Angst geschlagen.
Dem Mund, der sonst ihm Wonnen schuf,
Entflieht ein jammernder Abschiedsruf:
,Adam, fahr wohl. Ein Sturmwind reißt
Mich weg. Weh, das ist Gottes Geist.
Was tatst du, ach! Es ist geschehn!
Auf Nimmer- Nimmer- Nimmersehn!’
Lang starrt Adam ihr nun plötzlich noch hinterher – und scheint zu realisieren, was er getan hat. Doch aus Reue und Scham wächst ihm neuer Zorn, und er zerstört mit dem Herdfeuer alles, was er geschaffen hat – und ,Eva hilft mit flinker Hand’. Sie fliehen vor dem Brand, bis Samael sie zufrieden willkommen heißt.
Als Adam sich am nächsten Morgen erhebt, fühlt er seine Glieder schwer wie Blei, und noch ehe er seiner selbst bewusst ist, sucht er nach Lilith... Dann fällt ihm alles ein.
Zu spät zur Reue. Öd’ und leer
Ist auch sein Herz, das ausgebrannte,
Aus dem er Liliths Bild verbannte,
Die Jugend[15] schied und kehrt ihm nie.
Und nun folgt die Verführung der Schlange und der endgültige Verlust des Paradieses:
,Woher die Frucht? Die kenn’ ich nicht.’
,Mußt du, Gebieter, alles wissen?
Die Freundin gab den seltnen Bissen.’
,Wer gab ihn dir?’
,Nun ja, die lange,
Die süßlich lispelnde – die Schlange,
Die oft mir Freundschaft schon erwies
Und mich geführt durchs Paradies,
Adams Augen werden aufgetan, er schämt sich seiner Nacktheit. Gott ruft ihn – und offenbart ihm die Folgen seiner Tat:
,...
Und hast der Menschheit Erbe mit verspielt.’
,Bist du der Herr, was ließest du’s geschehn?’
,Soll dir, Geschöpf, der Schöpfer Rede stehn?
Ich schuf dich frei, das Böse hindr’ ich nicht.
Doch wie’s geschieht, ich ruf’s vor mein Gericht.
Dir standen alle Wege offen,
Du hast die Wahl des schlechtesten getroffen.
...
Wer von der ersten Liebe ließ
Und Liliths Gaben von sich stieß,
Damit er Evas Gunst erwerbe,
Verdient, daß sein Geschlecht verderbe.
Doch Lilith hat für dich gebeten,
Drum will ich dich nicht ganz zertreten.
Dich rettend schafft dir mein Gebot
Eine neue Treiberin: die Not.
Was Adam also einst um Liliths willen getan hatte – innerlich zu streben –, dazu wird ihn zumindest im äußerlichen Sinne von nun an die Not zwingen. Mit freiem Willen wollte er der treuen Geliebten nicht folgen – nun wird er durch die Not gezwungen, zumindest nicht ganz faul zu werden.
Die folgenden Strophen schildern die sich entfaltende Katastrophe – mit dem Brudermord Kains und der Falschheit der weiblichen Wesen, die von Eva abstammen. Von Lilith bleibt Adam nur noch die Erinnerung:
Und doch geschieht’s im Traum der Nacht,
Daß ihm sein totes Glück erwacht.
Dann sieht er sie, die längst entwich,
Die holde, wie sie morgendlich
Mit Zehen biegsam wie die Hand
Auf seinen Füßen wippend stand,
Hinangedrängt zu seinen Lippen
Wie schwanke Falter, die Honig nippen.
Ihr Antlitz klar und ohne Lüge,
Aus dem wie durch der Engel Züge
Der leuchtende Gedanke schien,[16]
Mit seinem Glanz bestrahlt es ihn.
Und ihre Stimme tönt ihm nach,
Wie sie das Wörtlein ,Liebster’ sprach,
In der ein Chor von Lerchen lebte,
Der frei durch Höhen und Tiefen schwebte.
Verjüngend rinnt durch seine Glieder
Die erste Kraft und Unschuld wieder,
Ihr Schleier schwebend füllt die Luft
Und wölbt sich hoch im blauen Duft,
Darunter sie, die Jugendschönen,
Zum Spiel sich streiten und versöhnen.
Das Wesen von Lilith – anmutig, hingebungsvoll, wahr und aufrichtig, unschuldig, leichtend...
Doch noch einmal, inmitten des trostlosen und grausamen Erdenlebens, erscheint Gabriel. Adam meint, jetzt werde Gott sein Geschlecht austilgen – aber der Engel verkündet noch eine letzte Hoffnung:
Du irrst. Nicht sandt’ er mich im Zorne,
Trost bring’ ich dir aus seiner Gnaden Borne.
Siehst du den Friedensbogen hochgespannt,
Verklärend über all dein Land?
Warum fragst du nach Lilith nicht?
Adam, du schweigst und senkst dein Angesicht?
Doch les’ ich wohl der stummen Frage Spur.
Wo Lilith hinkam, weiß der Meister nur.
Die Liebliche lebt in Eden bloß als Sage,
Ein hold Erinnern erster Frühlingstage,
Denn wenn der Regenbogen scheint,
Sagen die Kleinsten: ,Lilith weint.’
Doch scheidend ließ sie noch ein Glück,
Ein unverdientes, dir zurück.
Vernimm: Gesegnet war ihr Schoß,
Draus rang sich ein holdes Knäblein los.
Adam, dein echtgeborenes Kind,
Dem die Engel des Herrn zu Willen sind.
Ich selber trug’s zum Paradiese,
...
Er bringt, was deinem Stamm entglitt,
Den Schleier Liliths wieder mit,
Der jeglich Ding, das er umwebt,
Verklärt in lichte Fernen hebt.
Und wenn die Menschheit, spät erleuchtet,
Sich näher zur Vollendung ringt,
Vom Segen ist’s, den er ihr bringt,
...
Sein Fußtritt wird der Schlange Haupt zerbrechen,
Sie aber wird ihm die Ferse stechen.
Denn Evas Kinder, die ins Joch gebeugten,
Hassen von Mutterleib den Lichtgezeugten.
Sie werden ihn fesseln, den Weg ihm sperren,
Ihn auf den Pranger, die Schlachtbank zerren.
Vergeblich doch! Weil nach dem letzten Schluß
Der Lilith Blut auf Erden herrschen muß.
...
So oft er [= Gott] will, daß der Gang der Erde
Um einen Ruck gefördert werde,
Erweckt er unterm dumpfen Troß
Einen, der Liliths Blut entsproß.
Der trägt ein kenntlich Stammeszeichen:
Daß die Lehren der Schlange ihn nicht erreichen.
Vertrauend wie ein ewiges Kind
Wird er bei seinen Brüdern stehen,
Wird nicht der Arglist Schlingen sehen,
Die seinem Fuß geflochten sind.
Einst wird also ein Erlöser kommen – einer, der genauso unschuldig sein wird wie Lilith, von ihr geboren, nur die reinsten Menschheitskräfte in seiner Seele tragend, so wie sie...
Einst wird das Blut von Christus der Beginn der Erlösung der ganzen Erdenmenschheit sein. Isolde Kurz bringt dieses Geschehen in Verbindung mit Lilith – einem weiblichen Wesen, das auch ganz von Gott erschaffen wurde, nicht vor Adam, aber heiliger als Adam. Die ewige Ruferin, die sich stets an die besten Kräfte seines Wesens wendet.
Damit stimmt innig zusammen, wenn Rudolf Steiner, mit dem eine Anthroposophie auf Erden begann, sich offenbaren zu können, beschreibt, wie Jesus – mit dem sich dann erst später, zur Jordantaufe, das Christuswesen verbindet – die reinste Menschheitsseele ist, auch der reinste Teil der Adamseele. Dieser Teil war so rein, dass er die Erdengeschicke gar nicht mitmachte.[17] Wenn man die Dichtung von Isolde Kurz erlebt, muss man meinen, dieser Teil der Adamseele sei von Gott überhaupt zurückbehalten worden, weil der von ihr geschilderte Adam eigentlich bereits von Anfang an ,gefallen’ ist. Die Genesis kennt aber zwei Schöpfungen. In diesem Sinne ist Lilith mit der ersten, noch ganz und gar reinen Schöpfung des Himmelsmenschen verbunden.[18] Man kann fast sagen, Lilith ist der Himmelsmensch – und in dieser Dichtung von Isolde Kurz wird dessen Wesen tief erlebbar.
Zugleich aber ist Lilith ein engelhaftes weibliches Wesen. Und in dieser Hinsicht sind all ihre Wesenszüge die des Mädchens, wie es in diesen Bänden immer wieder angesprochen wird. Denn auch im Mädchen lebt am tiefsten das Wesen des Himmelsmenschen – unangreifbar für den Teufel, das Heiligste in der Seele ansprechend. Das Mädchen im Sinne dieser hier vorliegenden Bände ist unmittelbar eine Tochter Liliths... Es ist also deutlich, warum die Adamssöhne es lieben müssen...[19]
Zugleich gehört auch der Idealismus unmittelbar zu dieser Sphäre Liliths, die dem Menschen zugedacht war. Man muss hier an den ,magischen Idealismus’ von Novalis denken – der damit sozusagen den männlichen Pol des überirdischen ,Jugend-Impulses’ in die Welt brachte und selbst ... ein Mädchen liebte. Was Novalis als seelisch-geistige Jugendkraft brachte, hat auch ein Mädchen rein seelisch von Natur aus – wenn es wahrhaft Mädchen ist. Darum umgibt ein Mädchen so ein Zauber. Es ist derselbe Zauber, den Gott Lilith mitgegeben hatte, und hier werden Sinnliches und Übersinnliches untrennbar, wie sie es auch bei Novalis wurden, weil der magische Idealismus alles Sinnliche in ein Übersinnliches erhebt.
Von Lilith heißt es im Gespräch Gottes mit dem sich beklagenden Adam:
,Wer sagte dir’s, du seiest nackt?’
,Herr, Lilith tat mir Schimpf und Schande.
Sie nahm die rosigen Duftgewande,
Die unser waren, mit und floh.
Nie ohne diese werd’ ich froh.
Da richte du: die Hüllen Stück für Stück,
Die unersetzlichen, gebe sie zurück:
Der bunte Schein, der war das Glück.’
,Er war’s. Der Schein, der alles schön gemacht,
War ihr und ihren Kindern zugedacht.
Der Schleier, der sich hold um Lilith flicht,
Haftet auf Evas Blöße nicht. ...’
Der Schleier, der sich hold um ein Mädchen flicht, haftet auf der Frauen Blöße nicht... Was ist der Zauber eines Mädchens? Es ist das Geheimnis des Ätherischen. Es ist die Realität des Märchens, des Übersinnlichen, ein Etwas, das nicht sinnlich ist und doch nahezu sinnlich empfunden und erlebt und wahrgenommen wird. Das Mädchen macht gleichsam eine spirituelle Menschenkunde unmittelbar notwendig – denn in Wirklichkeit ist sein Zauber anders gar nicht erklärbar. Lilith und das Mädchen haben wirklich einen ,Schleier’. Wer dessen Realität versteht, der versteht das Mädchen – und auch Novalis. Denn Novalis öffnet einen höheren Sinn, dem sich das heilige Mysterium des Ätherischen wieder offenbart, damit aber auch das zarte Geheimnis des Mädchenwesens.[20]
Fußnoten
[1] Wikipedia: Isolde Kurz.
[2] Wikipedia: Gilgamesch, Enkidu und die Unterwelt.
[3],Wüstentiere treffen auf Hyänen, Bocksgeister begegnen einander. Ja, Lilit macht dort Rast und findet für sich einen Ruheplatz.’ (Jes 34,14). Die griechische Septuaginta schreibt hier ,Eselszentauren’, die lateinische Vulgata ,Lamien’, Luther ,Nachtgespenst’. In der großen Jesaja-Schriftrolle vom Toten Meer ist von ,Liliths’ in der Mehrzahl die Rede. • Auch der Talmud erwähnt sie nur einmal: ,R. Hanina sagte: Einer sollte nicht in einem Haus allein schlafen, und wer in einem Haus allein schläft, wird von Lilith geplagt.’ (Babylonischer Talmud, Traktat Schabbat 151b). Wikipedia: Lilith.
[4] Ebd.
[5] Das Alphabet des Ben Sira. www.hagalil.com.
[6] Wikipedia englisch: Alphabet of Sirach. Auch für den folgenden Absatz.
[7] Die Legende von Adam und Lilith wird so auch auf Anthrowiki geschildert (Quellenangabe: Die Sagen der Juden I, S. 323f). Das ,unten liegen’ ist dort nicht erwähnt. • Eine Variante der Sage ist, dass Gott Lilith gesagt habe, sie solle Adam untertan sein – dies wird teilweise auf den Geschlechtsakt gedeutet –, was sie aber nicht akzeptiert habe, da der Lehm, aus dem sie erschaffen wurde, durch den Speichel des verstoßenen Engels Samael verunreinigt worden war. Anthrowiki: Lilith. • Unabhängig ist dort erwähnt, dass Lilith in der Einöde täglich mit tausend Mischwesen verkehre und tausend Kinder gebäre; ebenso eine weitere Legende aus den ,Sagen der Juden’, in der Lilith mit Samael zusammen erschaffen wurde, sehr wohl Sehnsucht nach Erlösung hat, von Gott aber Gewalt bekommt, an den Kindern die Sünden der Väter heimzusuchen. Ebd.
[8] Wikipedia: Lilith. • Genauer siehe Anthrowiki: Lilith.
[9] Wikipedia: Lilith, hier Verweis auf Martin Bocian: Lexikon der biblischen Personen. Mit ihrem Fortleben in Judentum, Christentum, Islam, Dichtung, Musik und Kunst. Stuttgart 2004, 2. erw. Aufl.
[10] Mephisto warnt Faust vor ihr: ,Adams erste Frau. / Nimm dich in Acht vor ihren schönen Haaren, vor diesem Schmuck, mit dem sie einzig prangt. / Wenn sie damit den jungen Mann erlangt, / So läßt sie ihn so bald nicht wieder fahren.’ Faust I, Walpurgisnacht. Zeno.org. • Auch dies zeigt wieder nur die Ebenbürtigkeit, ja heilige Macht Liliths – der volle Gegensatz zu einer patriarchalen Welt, die letztlich auch Mephisto mit seiner ganz unheiligen Macht widerspiegelt.
[11]● Projekt Gutenberg. Auch für die folgenden Zitate.
[12] Also auch das schlechte Gewissen plagt ihn noch narzisstisch!
[13],In Trümmer schlagen möcht' ich, was mich quält, / Uns drei zu einem Untergang vermählt.’
[14] Was das sein sollte, bleibt schleierhaft.
[15] Die Jugend! Lilith ist das ewige Jugendgeheimnis des Menschen – seine Unschuld, seine Liebe, seine Begeisterung, seine Gottesnähe. So ist Lilith ihrem Wesen nach wahrhaft – das Mädchen...
[16] Lilith hat also auch innige Beziehung zu den himmlischen Gedanken, zur göttlichen Weisheit, Sophia.
[17] Siehe insbesondere Vortrag vom 12.10.1911, GA 131.
[18] Die jüdische Esoterik kennt den Adam Kadmon, den kosmischen Menschen. In Lilith lebt sozusagen ein weiblicher Aspekt dieses heiligen Ur-Menschenwesens. Die erste Schöpfung schildert die Erschaffung des Menschen wörtlich männlich-weiblich (Gen 1,27). Und so schreibt auch Bramberger, die die Dichtung ausführlich behandelt: ,Das Zusammenleben von Adam und Lilith im Paradies kann als ein Versuch der Beschreibung der Idee der Existenz eines Zustandes der Geschlechter vor ihrer Aufspaltung in zwei gelesen werden.’ Andrea Bramberger: Die Kindfrau. Lust, Provokation, Spiel. München 2000, S. 98. Wegen des höchst unvollkommenen Adam gilt dies kaum, aber zumindest vom Prinzip her.
[19] Siehe zu dem ganzen Zusammenhang auch meinen Roman ,Christi Schwester’ (2022), der in der Gestalt eines Evangeliums von einer Mädchengestalt als Erlöserin zeugt.
[20] Das lichtleuchtende Wesen des engelhaften Mädchens, wie auch Lilith es verkörpert, aber gesteigert zu einer wirklichen Erlöserin, habe ich in dem ,Evangelien-Roman’ ,Christi Schwester’ (2022) Zeugnis offenbart. • Der ätherische Schleier, der zugleich heiliges Eros-Geheimnis ist, wird auch tief in meinem Roman ,Die heilige Eros’ (2022) erlebbar, der zum zweihundertsten Geburtstag von Novalis erschien.