6
Wharton: Die Kinder (1928)
Edith Wharton (1862-1937) wurde in eine alte New Yorker Aristokratie-Familie hineingeboren, und ihre Kindheit drehte sich um perfektes Benehmen und Repräsentation. Später kämpfte sie als Schriftstellerin sozialkritischer Romane gegen gesellschaftliche Zwänge aller Art. Als ihre erste Ehe schleichend zerbrochen war, flüchtete sie sich 1908 nach Paris und begann eine dreijährige Liebesaffaire mit dem für die ,Times’ schreibenden Journalisten und Lebemann Morton Fullerton, durch den sie sich noch Ende ihrer Vierziger zu einer sexuell befreiten Frau entwickelte. Sie reiste viel und half während des Ersten Weltkrieges Flüchtlingen. Für ihren Roman ,The Age of Innocence’ (1920), der später auch verfilmt wurde,[1] erhielt sie als erste Frau den Pulitzer-Preis.[2]
Ihr 1928 erschienener Roman ,The Children’, der nach seiner Verfilmung[3] erst 1992 in deutscher Übersetzung bei dtv erschien, ist ein Meisterwerk in Bezug auf unser Thema, die Parthenophilie. In einer Kurzinhaltsangabe zum Fernsehfilm heißt es:[4]
Zwei Jahrzehnte lang pflegten sie eine romantische Brieffreundschaft. Nun, in den 20er Jahren, kehrt Martin Boyne aus Südamerika zurück, um Rose Sellars zu heiraten. Nach einer trostlosen Ehe ist seine Herzdame endlich frei. Auf der Überfahrt bringt die 15jährige Judith Martins Gefühle schwer durcheinander – und stellt die Zukunft mit Rose in Frage.
Was für ein mutiges Thema – in den 20er Jahren!
Der Roman beginnt damit, dass der 46-jährige Hochbauingenieur Martin Boyne sich auf einem Dampfer in der Bucht von Algier befindet. Im Gegensatz zu seinem Großonkel, der so illustren Größen wie John Ruskin[5] begegnete, hatte er trotz vieler Reisen nie irgendwelche Abenteuer oder außergewöhnlichen Begegnungen gehabt.[7-9][6]
Während er – ,mit dem dumpfen Gefühl im Magen, das anhaltende Besorgnisse hervorrufen’ – daran denkt, dass er seine Jugendliebe Rose ,seit fünf Jahren nicht einmal mehr gesehen’ hat, fällt ihm ein Mädchen ins Auge, das sich rührend um ein Kleinkind auf seinem Arm kümmert:[9]
„Mein Himmel – jünger sollte man sein...“
Männer von sechsundvierzig seufzen beim Anblick eines reizenden Gesichts weniger häufig als mit zwanzig, doch wenn der Anblick wirklich trifft, geht der Eindruck tiefer. Boyne hatte nicht nach hübschen, sondern nach interessanten Gesichtern gesucht, und es beunruhigte ihn ein wenig, von seiner Suche durch etwas ihm derzeit so fern Liegendes wie übergroße Jugend und eine fast rührende Grazie abgelenkt zu werden.
Schon hier zeigt sich die Beunruhigung der männlichen Seele durch eine nicht gesellschaftskonforme Berührung...
Boyne fragt sich zunächst, welcher Schurke dieses Mädchen derart früh geheiratet und geschwängert habe, um so mehr, als bald darauf ein weiteres kleines Mädchen auftaucht. Dann entdeckt er neben seinem Liegestuhl den Namen Cliffe Wheater, ein ehemaliger Studienkollege aus Harvard, jetzt ein protziger New Yorker Millionär, der vor Jahren eine Frau, Joyce, geheiratet hatte, mit der auch er kurz nach seinem Studium ,einen fernen Winter lang getanzt und geflirtet’ hatte.[11] Als sich das Mädchen auf den Liegestuhl von ,Mrs. Wheater’ legt, denkt Boyne zunächst erneut, Cliffe habe sie geheiratet.
Dann tauchen aber auch eine Gouvernante und eine Menge weiterer Kinder auf, und nach und nach erfährt Boyne die familiären Verwicklungen: Die fünfzehnjährige Judith ist eine Art Mutterfigur für die elfjährigen[61] Zwillinge[14] Terry und Blanca, für Beatrice und Astorre (,Beechy’ und ,Bun’), Zinnie und das Baby Chipstone. – Joyce hatte sich von Cliffe getrennt[27] und dann eine Beziehung mit dem italienischen Prinzen Buondelmonte, der aus einer Ehe mit einer Zirkusartistin bereits die Kinder Beechy und Bun hatte.[29] Cliffe wiederum hatte dann eine Beziehung mit dem Filmstar Zinnia Lacrosse, aus der Zinnie hervorging. Dann kehrte Joyce zu Cliffe zurück und ,Chip’ wurde geboren.
Judith erweist sich als diejenige, die die ganze ,Familie’ zusammenhält[64] und alle übrigen Kinder ebenfalls Zuneigung zueinander lehrt. Sie war es auch, die ihre Eltern wieder zusammenbrachte.[31] Boyne hat vor lauter Trubel zunächst gar keine Zeit, festzustellen, ob ihr stets sich veränderndes Gesicht ,eigentlich hübsch oder nur seltsam liebenswert’ sei.[20]
Er schlägt einen Ausflug nach Monreale (Sizilien) vor und geht mit Judith in die dortige Kathedrale. Er will ihr die Mosaiken erklären, bemerkt jedoch bald, dass sie nicht das Geringste versteht:[38]
Ihr kleines Profil wandte sich beflissen in die angegebene Richtung, mit zurückgelehntem Kopf und geöffneten Lippen. Die langen Wimpern waren aufwärts gebogen, doch in dem Gesicht, das sonst Schauplatz verschiedenartigster Gefühle war, geschah gar nichts.
So saß sie lange. Er rührte sich nicht und sprach kein weiteres Wort. Schließlich wandte sie sich ihm zu und sagte schüchtern (es war das erstemal, daß er Schüchternheit bei ihr bemerkte): „Ich glaube, ich bin noch viel unwissender, als Sie sich vorstellen können.“
Weit entfernt davon, von ihrer Unwissenheit und ihrem schüchternen Geständnis, das eigentlich so viel Hunger nach Wissen offenbart, berührt zu sein, ist Boyne vielmehr enttäuscht:[39]
Vage verärgert über sich und sie stand er auf und kehrte dem goldenen Abgrund der Apsis den Rücken. [...]
Im Tor hielt sie einen Moment inne und blickte ein wenig wehmütig zurück auf das mächtige Gesamtbild, das sie verließen. „Eines Tages, das weiß ich, würde ich gern wieder herkommen“, sagte sie.
„Dann fahren wie wieder hierher“, antwortete er mechanisch.
In der Kathedrale hält er sie geradezu für hässlich, doch draußen, wo wieder das volle Leben in sie einkehrt, ,wurde ihr Mund zur Flamme, ihre Augen lachbereit, ihr magerer, zerbrechlicher Körper zu flimmerndem Licht’.[40]
Seine Brieffreundin Rose, zu der er auf dem Weg ist, ist unbewusst viel weiser als er, denn sie erwidert ihm auf seinen Brief:[42]
Ich bin überzeugt, wenn ich die Kleine sähe, würde ich mich in sie verlieben, wie du es ersichtlich tust. Zum Glück werdet ihr euch bald trennen, sonst würde ich darauf warten, dich mit dieser Mädchenbraut aus einem Film und ihrem Anhang [...] hier auftauchen zu sehen. [...] Natürlich ist sie wunderhübsch, sonst würdest du dir nicht solche Mühe geben, mir zu versichern, sie sei es nicht.
Rose selbst führt ein stetiges, unbeirrbares Leben – und gerade diese Konstanz hat Boyne in seinen heimatlosen Jahren immer besonders angesprochen.[43]
Terry und Judith zuliebe nimmt Boyne sich einige Tage in Venedig, weil sie hoffen, er könne als früherer Bekannter von Wheater ein gutes Wort für den bleibenden Zusammenhalt der Kinder und für mehr Konstanz ihrer Lebensumstände einlegen.[46ff] Er selbst ist von dem Einsatz des Mädchens und überhaupt den Kindern immer mehr berührt:[50]
Und Judiths Vorsatz, „ihre“ Kinder nie wieder solchen Risiken ausgesetzt zu sehen, entzückte Boyne wie die Tat einer Jungfrau von Orleans. Als er nun den Charakter jedes einzelnen Kindes deutlicher erkannte [...], wunderte es ihn, daß die Bindung durch Judith Wheaters Liebe stärker sein sollte als die Summe dieser vielen Erbanlagen. Und doch war so.
Die erste Begegnung mit den Eltern Cliffe und Joyce offenbart ihm demgegenüber eine Art High Society, in der die eigenen Egoismen und Eitelkeiten derart ausgeprägt sind, dass sich die Erwachsenen als weitaus unreifer als die Kinder erweisen – und dies wird sich später auch bei den anderen Eltern, dem Prinzen und dem Filmstar, bestätigen. Für die Kinder bedeutet dies unter anderem ein Leben in diversen Hotels ohne irgendeine Heimat.
Die zarte, sehr schwankende Beziehung zwischen Boyne und dem Mädchen zeigt sich unter anderem daran, dass er sehr gern möchte, dass auch sie einmal an sich denken kann und zur Schule gehen kann:[64]
Sie errötete leicht. „Dann möchte ich es auch.“
Als sie durchschaut, dass der für Terry angestellte Hauslehrer von ihrer Mutter vor allem deshalb ausgewählt wurde, weil diese selbst ihn attraktiv findet, und dies unverhohlen anspricht, ist Boyne davon indigniert:[65]
Mit einer abrupten Drehung des Kopfes [...] wandte er den Blick von ihr ab und schob seinen Stuhl zurück, als wolle er aufstehen. Judy lehnte sich über den Tisch und berührte schüchtern seinen Ärmel.
„Hab ich etwas gesagt, was dir nicht gefällt, Martin?“
„Du hast etwas sehr Albernes gesagt, etwas, was ich gar nicht gern hören würde, wenn du erwachsen wärst. Aber in deinem Alter ist es nur albern und daher unwichtig.“
Mit einem Sprung war sie auf den Füßen, zitternd vor Zorn. „In meinem Alter, in meinem Alter. Was weißt du von meinem Alter? Ich bin so alt wie deine Großmutter, ich bin so alt wie die Berge. Vermutlich findest du, ich sollte so etwas nicht über Mutter sagen? Aber was soll ich machen, wenn es stimmt und ich es keinem außer dir sagen kann?“
Auch Boyne selbst erweist sich als gefangen in Konventionen – und verkennt noch die Wahrhaftigkeit des Mädchens und dessen innere Nöte und Sorgen, zugleich auch dessen Vertrauen und Zuneigung.
Dennoch mag er das Mädchen ebenfalls. Als Terrys Privatlehrer ihn überreden will, sie durch die Adria noch weiter zu begleiten, kommt es zu folgender kleinen Szene:[82]
„[...] Judy, können wir ihm nicht schnell ein Mädchen herbeizaubern?“
„Ich brauche kein anderes Mädchen als dieses hier“, lachte Boyne und legte seine Hand auf die Judiths, und ein freudiges Erröten überzog ihr Gesicht. „Oh, Martin – wenn du doch – ich meine, könntest du nicht doch...“
Aber er bleibt nicht in Venedig, sondern reist nun zu seiner früheren Liebe Rose in die Schweiz. Wharton, als Erzählerin, kommentiert:[83f]
In diesem besonderen Fall hatte er sich eingeredet, es sei sein größter Wunsch, Rosa Sellars wiederzusehen. Tief innerlich wußte er, daß das nicht so war, oder doch nicht mit Bestimmtheit. Das Leben hatte ihm seitdem anderes vor Augen geführt, das er ebenso sehr wünschte, wenn nicht noch mehr. Sein Widerstreben, Venedig und die neuen Freunde zu verlassen, zeigte, daß seine Neigungen geteilt waren. Doch er gehörte zu einer Generation, die unmöglich zugeben konnte, daß nichts beständiger ist als die Unbeständigkeit. Er brauchte als moralische Stütze die Überzeugung, die Frau, die einmal genau die Richtige für ihn gewesen war, müsse es immer noch sein.
Hinzu kommt noch, dass selbst Rose die Beziehung zu ihm ganz nur auf der Ebene der Freundschaft halten möchte.[86]
Die neue Umgebung lässt ihn die Kinder jedoch dennoch zunächst für längere Zeit vergessen – bis er sich schließlich wieder des Mädchens erinnert:[88]
Einmal fiel Boyne, als er einen Band zur Hand nahm [...], Judith Wheaters sehnsüchtiges: „Du könntest mir vielleicht Bücher leihen?“ ein. Aus welcher Spalte seines Gedächtnisses tauchte die Frage, ja sogar der Klang der Mädchenstimme wieder auf?
Dann schreibt ihm das Mädchen und bittet ihn um Hilfe, weil ihre Eltern wieder Krach haben, der Prinz Buondelmonte seinen Sohn wiederhaben möchte, Terry wieder kränkelt und so weiter. Und sie endet mit: ,Deine Judith, die dich sehr vermisst.’[90]
Boyne möchte Rose möglichst bald in Paris heiraten, doch sie erwähnt eine Tante Julia, auf die (und deren Vorstellungen vom Trauerjahr) sie Rücksicht nehmen müsse, da sie wahrscheinlich ihre Erbin werde. Ebenso unsympathisch ist ihm ein von ihr öfter erwähnter Anwalt Dobree, ihr nun ein wirklicher Freund, der ihr mit dem Testament ihres verstorbenen Mannes sehr geholfen hatte. Boyne verdächtigt ihn, in Rose verliebt zu sein.[93f]
Als er Rose schließlich von Judiths Brief erzählt, hat sie durchaus Mitleid mit den Kindern.[101] Da aber seit dessen Ankunft schon über eine Woche vergangen ist, stimmt er ihr zu, dass eine neuerliche Reise nach Venedig absurd sei.[102f]
Rose erkundigt sich gleich am nächsten Tag, ob er Judith geantwortet habe, und rückt sich auch sonst in eine Rolle, die Boyne sogar als ,großzügig’ empfindet und für die er sie tief verehrt:[104]
Das freut mich, Liebster. Es wäre mir ein schrecklicher Gedanke, daß wir hier so glücklich sind und du darüber deine kleine Freundin[7] vernachlässigst.
Sie sitzen an diesem Tag in einem großen Restaurant und beobachten amüsiert die zwar schönen, aber immer gleich aussehenden jungen Frauen, die alle einem ,Vogue’-Cover entstammen könnten und keine Individualität mehr haben. Doch dann fällt Roses Blick auf ein individuelles Gesicht – ein Mädchen, das über den Portier gerade in diesem Moment nach Boyne fragen lässt:[105]
Es war kein Irrtum. Es war Judith Wheater, die dort stand, zart und kerzengerade in ihrem knappen Reisekleid, den Hut tief in die ängstlichen Augen gezogen, so winzig, so mausgrau neben all diesen nacktarmigen, aufgetakelten Frauen, daß sie kaum zu sehen war.
Sie bittet ihn zitternd, mit ihr ungestört im Schreibzimmer zu reden. Dort wirft sie sich ihm um den Hals: ,Sag, daß du dich freust, Martin. Ich muß hören, daß du es sagst.’[106] Dann gesteht sie ihm, dass sie mit allen Kindern heimlich aus Venedig weggelaufen ist. Die Eltern haben sich wieder verkracht, und alle Kinder sollen wieder aufgeteilt werden... Boyne verspricht zu helfen.
Rose selbst ist bei seiner Rückkehr bereits nicht mehr da. Erst am nächsten Tag kommt es zu folgender Szene:[114f]
„Ich traf eine junge Freundin – Judith Wheater. Als ich wiederkam und es dir erzählen wollte, warst du weg.“
[...] „Deine berühmte Judith? Im Ernst? Hör mal, du sprichst von ihr immer wie von einem Kind – ich hätte nie gedacht...“
„Du hast selber gestern abend gesagt, wie jung sie aussieht –“
„Ja, schrecklich jung, aber immerhin erwachsen.“
„Erwachsen ist sie bestimmt nicht. Sie ist ein Kind [...]. [...] Ich brauche deine Hilfe und deinen Rat. Du ahnst ja nicht, in welcher Klemme ich bin.“
[...] „Martin, du willst doch damit nicht sagen ... du kannst doch unmöglich...“
Er starrte sie verblüfft an und fing dann schallend an zu lachen. „Du meinst, ich sei der kleinen Judith wegen in der Klemme. Du liebe Zeit, was für eine Idee! Sie ist doch kaum aus der Kinderstube heraus.“ [...] Es war doch unglaublich – zu was für abwegigen Schlüssen selbst die vernünftigsten Frauen kamen [...].
Offenbar hatte Rose durch seine Äußerung vermutet, seine ,Klemme’ bestünde in ganz anderem, gar darin, dass er das Mädchen geschwängert habe.
Judith wiederum vertraut ihm und zieht ihn sofort wieder in alles hinein. Als er sie Rose vorstellen will, die ihr besser raten könne als jeder andere, entgegnet Judith, sie wolle nur von ihm Rat, komme aber natürlich mit, wenn er es wünsche. Dann begreift sie allmählich, dass er Rose liebt, wie Blanca es schon immer vermutet hat – und hält sich auf einmal für furchtbar dumm, weil er doch sicher nur daran denke, sie alle schnell wieder loszuwerden.[120]
Das stimmt natürlich nicht, aber als Boyne erfährt, dass sie von Wheaters Geld fünftausend Dollar mitgenommen hat, verurteilen seine verinnerlichten Normen dies zutiefst, und er stellt dies über alles:[140f]
Er duldete schweigend ihre verzweifelt bittende Umklammerung, als sei der Arm, den sie umfaßt hielt, taub geworden und als brenne doch jeder Nerv darin. [...] Alle Kräfte des Mitleids und etwas der Seele noch Näheres als Mitleid stritten in ihm für sie. Dem widersetzte sich die alte Gewohnheit harter, bedingungsloser Rechtschaffenheit [...], ganz gleich, wie viel Leiden es für den Einzelnen bedeutet. [...]
„Martin, sag, was ich tun soll“, flüsterte sie mit zitternden Lippen. Sein Mund wurde schmal. [...]
„Kannst du nicht begreifen, daß mir im Moment nur eines wichtig ist? Daß du dir darüber klar wirst, was du getan hast –“
„Das mit dem Geld?“, flüsterte sie.
„Selbstverständlich das mit dem Geld.“
„Findest du das wirklich wichtiger als alles andere?“
Die unerwartete Frage nahm ihm plötzlich den Wind aus den Segeln. Sie schien aus einer anderen Erfahrungsebene zu stammen, aus Tiefen des Schmerzes und der Enttäuschung zu entspringen, die er noch nicht im entferntesten ausgelotet hatte.
Altes Testament gegen Mädchenherz...
Boyne bringt sie dazu, die Sache mit dem Geld ins Reine zu bringen, und verspricht im Gegenzug, sich für sie und die Sache der Kinder einzusetzen, so gut er kann.[142] Als er dann in Venedig vor Ort ist, erkennt er, wie wenig Wheater seine ,Moral’ bedeutet:[144]
„Zum Teufel mit dem Geld.“ Wheater wischte die Frage mit einer Handbewegung beiseite. Boyne hatte beobachtet, daß er dem armseligen kleinen, Judith abgepreßten Geständnisbrief kaum einen flüchtigen Blick geschenkt und die Banknoten so achtlos in die Tasche geschoben hatte wie einen Spielgewinn.
Im Folgenden setzt sich Boyne ausführlich für die Kinder ein, aber gegen die Haltlosigkeit der Schickeria, die sich für diese letztlich kaum interessiert und der jedes ,Event’ wichtiger ist, hat er keine Chance – es gibt nie die Ruhe zu einem wirklichen Gespräch mit allen Beteiligten. Immerhin erreicht er letztlich, dass die Kinder zunächst in der Schweiz unter seiner zeitweiligen Vormundschaft zusammenbleiben dürfen.
Rose wehrt die ganze Angelegenheit mehr und mehr ab und behauptet, Judith könne alleine darum kämpfen. Kompliziert wird die Sache noch, als Boyne die Reisemitbringsel vertauscht und Rose, bevor sie einen kostbaren Verlobungsring erhält, das Geschenk für Judith sieht: einen schönen Kristallanhänger in Emaille-Netzwerk, der viel individueller ist.[170]
Auf einem Bergspaziergang erzählt Boyne Judith, die sich unaufgefordert bei ihm eingehängt hat, dass sie vorläufig bleiben können, und sie ist überglücklich und bis zu Tränen berührt.[179] Und obwohl sie bisher die Schönheit eines Sonnenunterganges kaum von dem Eindruck eines Lido-Feuerwerkes hätte unterscheiden können:[182]
Aber etwas von dem himmlischen Glanz schien sie doch zu erreichen, vage und doch sie umhüllend wie ein schützender Flügel. „Wunderschön ist es hier“, flüsterte sie, ihre Hand in der von Boyne.
Ungestüm drängt sie ihn sogar weiter hinauf, und bei der späten Rückkehr gibt er ihr ganz am Ende ihr Geschenk – die so lange schon gedacht hatte, sie müsse es entbehren:[184f]
„Hast du wirklich gedacht, ich hätte dir kein Geschenk mitgebracht?“
Sie lachte ein neugieriges kleines Lachen. „N-nein, eigentlich dachte ich, du hättest vielleicht nur –“
„Nur was?“
„Hättest nur für jemand eins vergessen und gedacht, mir macht es vielleicht weniger aus, wenn du meins dafür nimmst, weil ich schon so viel älter bin als die anderen –“
Wie viel feinen Schmerz verbirgt ein Mädchenherz in sich, ohne ihn je von sich aus auszusprechen! Aber es zeigt sich auch, wieviel das Mädchen ihm längst bedeutet, denn es war umgekehrt ebendieser Anhänger:[186]
[...] der beim venezianischen Antiquar so schwierig aufzutreiben gewesen war, daß keine Zeit mehr geblieben war, an etwas für Mrs. Sellars zu denken, den Anhänger, der rechtmäßig Judith gehörte, weil er war wie sie: merkwürdig, köstlich, unbegreiflich.
Am nächsten Tag fällt Roses Blick sofort auf den Anhänger des Mädchens und der Blick des Mädchens auf den Saphirring...[188] Und dann erwähnt Blanca auch noch ein Browning-Zitat, das eigentlich nur für Judith bestimmt war:[189]
„Sie wissen schon, das schöne, was er Judith gestern aufgesagt hat, das von den erhabenen Gipfeln. Sie ist abends heimgekommen und hat es sich immerzu vorgesagt, aus Angst, sie könnte es vergessen[,] und hat mich geweckt, damit ich es heraussuche, ehe sie ins Bett ging.“
Wieder offenbart sich ihr reines Mädchenherz...
Dann kommt es zur folgenden, fast surrealen Szene. Judith hat erkannt, dass Boyne und Rose heiraten wollen, und beglückwünscht ihn aufrichtig:[191]
„Blanca hatte doch recht. Wie wundervoll muß es sein, wenn man verliebt ist. [...] Ich weiß genau, du würdest nie nur [...] um eine alte Liaison in Ordnung zu bringen, heiraten, nicht wahr?“
„Eine alte Liaison?“ Boyne lachte, leicht verstimmt. „Was du so alles aufschnappst [...]. Und verstehst du nicht [...], daß es der vordringlichste Wunsch eines Mannes ist, die Frau, die er gern heiraten möchte, zu – zu respektieren?“
Darauf reagierte Judith mit verwundertem Stirnrunzeln. „Oh, das verstehe ich schon. Ich hab es oft gelesen und im Kino gesehen. Aber genau vorstellen kann ich es mir nicht. Ich würde meinen, sie richtig fest in die Arme zu nehmen, wäre wichtiger als alles andere.“
[...] „Was hat es für Sinn? Du bist noch ein Baby und plapperst nach, was du gehört hast, wie alle Kinder. [...]“ [...]
Er merkte, daß sich Ärger in ihm festgesetzt hatte, und wußte kaum warum. Wußte es kaum? Zutiefst regte sich bei ihm das Gefühl, daß er möglicherweise von Judiths sofort erfolgten Glückwünschen enttäuscht war.
Boyne begreift noch nicht im Geringsten, wie wenig Substanz seine ,Liebe’ zu Rose hat... Sein herabsetzender Ärger gegenüber Judith hat den einzigen Zweck, seine eigentlichen Gefühle nicht anschauen zu müssen.
Dann trifft der Anwalt Dobree ein, der seinen Besuch angekündigt hatte, ein übertrieben zurückhaltender Sechzigjähriger, dessen Zurückhaltung gerade den ganzen Raum einnimmt.[193f]
Bei einem gemeinsamen Picknick kommt Boyne seinen wahren Empfindungen näher, als ihm lieb ist:[201]
Judith, in einiger Entfernung, lag genüßlich auf ihrem Mooskissen, [...] den Kopf in die Biegung des kindlichen Armes geschmiegt. Ihr Profil hob sich klein und deutlich vom rötlichen, im Schauer der stürzenden Wasser eingerollten Farn ab. Ihre Wangen waren von lebhaftem Rosa, ihre Brauen und Wimpern wirkten dadurch dunkler. Samtige Schatten lagen unter ihren geschlossenen Lidern. Sie war eingeschlafen, und der Schlaf gab sie ungeschützt Beobachtern preis.
Sie sieht fast erwachsen aus[8] – und zum Küssen. Wieso mit einemmal? fragte sich Boyne, plötzlich beunruhigt [...].
Sein Blick fällt auf den ihm unsympathischen Anwalt:[202]
Sein sonst klarer, distanzierter Blick wirkte verschleiert und verstohlen, man sah förmlich die zarte Linie, die sich von ihm zu der liegenden Judith zog. Und diese Linie entlang galoppierten sichtlich Mr. Dobrees Gedanken, und Boyne erkannte, daß es die gleichen waren wie seine eigenen.
Das Gesicht des Anwalts färbt sich rot, und er wirkt zornig, doch:[202f]
[...] sein übriges Gesicht sah aus, als müsse er alle Muskeln anspannen, um den Blick loszureißen. Er hat Angst, hat Angst vor sich selber, dachte Boyne und erinnerte sich, wenn auch recht ungern, daran, daß auch er ein-, zweimal eine unbestimmte Furcht vor sich empfunden hatte, wenn er Judith zu lange betrachtete.[9] [...] Es war keine angenehme Vorstellung, und er mochte Dobree, der ihm als Spiegel diente, noch weniger leiden...
Unmittelbar darauf wendet Dobree sich jedoch Rose zu und lädt sie dazu ein, ,Mr. Boyne als Wächter beim schlafenden Dornröschen’ zu lassen und es den übrigen Kindern nachzutun und ein paar Walderdbeeren zu suchen.[203]
Als er mit ihr allein ist, ist Judith für ihn wieder Kind. Als sie aufwacht, fragt sie ihn aber unmittelbar, wann er heiraten werde, sie müsse es ,unbedingt sofort wissen’ – er aber empfindet die Beziehung zu Rose plötzlich wie etwas weit Entferntes, Unwirkliches.[204] Auf seine ausweichende Reaktion hin sagt Judith ihm, er müsse leidenschaftlicher sein, und manchmal komme er ihr so vor, als hätte er sein ,Leben lang ganz weit weg von der Welt gelebt’.[206] Weisheit aus Mädchenmund...
Sie gesteht ihm dann, dass sich alle Kinder zusammengetan hätten, um ihm ein ,fabelhaftes Hochzeitsgeschenk’ zu machen, er aber sagt, es habe keine Eile. Besorgt erkundigt sie sich, ob hoffentlich nichts verkehrt gelaufen sei, was er ausweichend verneint.[206]
Dobree kehrt von den Erdbeeren nicht mehr zurück, laut Rose war er müde und hatte noch Briefe zu schreiben. Als sie wieder allein sind, erwähnt Rose, Judith habe ,heute besonders hübsch’ ausgesehen und Dobree sei ,ganz hingerissen von ihr’ gewesen. Er erwidert, dieser habe geschaut wie ein Hund beim Anblick eines Knochens:[210]
„Pardon! Ich habe ältere Herren, die kleine Mädchen anschauen, nie leiden können. Wenn dein Freund so verrückt nach Judith ist, soll er sie bitten, ihn zu heiraten. [...]“
Darauf eröffnet Rose ihm, dass Dobree heute sie gebeten habe, ihn zu heiraten. Nun erkennt Boyne, dass der ,Blick’ auf Judith offenbar nur abwesendes, angespanntes Nachsinnen war, das längst Rose galt.[212] Und dann kommt es zum Eklat. Rose sagt ihm, dass Dobree, über die Verlobung völlig unwissend, seinerseits überzeugt war, Boyne sei in Judith verliebt.[214] Boyne weist dies unmittelbar derart heftig und empört von sich, dass Rose erstarrt:[215]
„Aber Martin! Du bist ja tatsächlich in sie verliebt!“ rief sie aus. Nach einem kurzen Schweigen fuhr sie ruhiger fort: „Ich glaube, ich habe es immer gewußt.“ Sie sahen sich wortlos an.
Endlich erhob sich Boyne und begann um den Tisch zu wandern, an dem sie saß.
„Das ist lächerlich –“, begann er.
Die beiden stehen vor einem Scherbenhaufen... Mühsam finden sie wieder zusammen, Rose macht einen Rückzieher und nähert sich ihm erneut. Schließlich finden sie zu einem Kuss – und Boyne versucht, sich ,mit gewaltiger Willensanstrengung’ vorzustellen, was ihm dieser Kuss noch vor einem Jahr bedeutet hätte...[217]
Am nächsten Morgen erklärt sich Boyne alles mit innerer Überspanntheit und zu viel Müßiggang.[218] Und auch Rose schafft eine neue Fassade:[222]
[...] sie unterwarf sich voll Stolz. Das einzige Anzeichen einer gewissen latenten Verlegenheit lag in ihrer übertriebenen Ungezwungenheit, ihrer munteren Entschlossenheit, sie zu verleugnen.
Welche meisterhaft-kurze Beschreibung einer grandiosen Verdeckung einer Lebenslüge, eines verzweifelten Versuches, etwas zu retten, was in tiefster Hinsicht keine Wahrheit ist!
Zudem hat Rose nun ein Telegramm ihrer Tante Julia bekommen, die auf dem Weg nach Paris ist, um ihn kennenzulernen – Rose wird vorab dorthin reisen und alles für ihre Ankunft vorbereiten.[223] Nun möchte sie ihrer Tante klarmachen, dass sie Boyne so schnell wie möglich heiraten wird.[10] Sie gibt zu, dass sie ,Sklavin des Konformismus’ war, den er ihr immer vorgeworfen habe.[226] Als er erneut zögert und sie erkennt, dass er dem ,sonderbaren Experiment mit den Wheater-Kindern’ weiter verbunden ist, fordert sie ihn zu sofortiger gemeinsamer Abreise nach Paris auf.[227] Dann kommt es zu folgendem Dialog:[229]
„Ich glaube, ich habe dir die ganze Wahrheit gesagt.“
„Daß du, wenn ich dich bäte, zwischen mir und den Wheater-Kindern zu wählen, die Wheater-Kinder wählen würdest – aus purer Menschenliebe?“
„Ich habe nicht gesagt, aus Menschenliebe. Ich habe gesagt, ich weiß es nicht...“
„Wenn du es nicht weißt, ich weiß es. Du bist verliebt in Judith Wheater und versuchst dir einzureden, daß du noch immer in mich verliebt bist.“
Er bedeckte die Augen mit den Händen, wie um sich gegen eine unerträgliche, von ihr heraufbeschworene Vision zu schützen. „Bitte nicht, Rose, um Himmels willen ... wir wollen doch keine Dummheiten reden.“ [...]
„Versuch deine Gefühle zu begreifen, das ist die beste Art, die meinen zu schonen. Ich will nur die Wahrheit, das ist alles. Versuche diese Wahrheit zu erkennen und stelle dich ihr – mit mir. Mehr will ich nicht.“ [...]
„Ich schwöre dir, ich weiß nicht, was die Wahrheit, wie du es nennst, ist, aber [...] Judith ist für mich genauso ein Kind wie die anderen, ich schwöre es.“
Sie gehen ohne Lösung auseinander, um sich am nächsten Tag wiederzusehen. Gedanklich flüchtet sich Boyne zurück in seine Arbeit – sobald den Kindern geholfen ist und er Rose geheiratet hat, möchte er sie wieder aufnehmen: ,zurück in die glorreiche, befreiende Welt der Stützpfeiler, Belastbarkeiten, Krümmungen und Steigungswinkel’.[235] Zurück in die Gefühllosigkeit eines Homo faber, um nicht erkennen zu müssen, dass man sich immer mehr in ein sehr junges Mädchen verliebte...
Am nächsten Tag ist Rose um des Schutzes ihrer Beziehung willen bereits vorzeitig nach Paris vorausgereist, und er findet nur ihren Brief vor.[237] Als er mit den Kindern wieder allein ist, sind seine Gefühle für Judith wieder so brüderlich wie zu Beginn auf dem Schiff,[240] besteht er innerlich aber auch auf ihrer ,Kindlichkeit’ als einer ,ihm so notwendigen Illusion’.[242]
Als dann Briefe von Rose kommen, entwirft sie die Perspektive, die Kinder zu trennen. ,Was die bezaubernde Judith betrifft, so wird sie, auch wenn du es nicht einsehen willst, in ein, zwei Jahren erwachsen und verheiratet sein’.[244f] Er erinnert sich, dass Roses Eifersucht an dem Tag begann, wo er ihr die Wanderung mit Judith verschwiegen hatte:[247]
[...] jene andere Nacht vor wenigen Wochen, in der er den gleichen Steig hinaufgeklettert war, die Füße wie beflügelt, die Luft ein Zaubertrank, weil eine Mädchenschulter ihn streifte und er einem spontanen Lachen lauschte.
Am Abend findet er in seinem Zimmer das Hochzeitsgeschenk der Kinder:[249]
Lieber Martin,
wir schicken dir diese hübsche Wiege als Hochzeitsgeschenk, wir alle glauben nämlich, daß du sehr bald heiraten wirst, weil Mrs. Sellars nach Paris gefahren ist, um ihre Aussteuer zu bestellen. [...]
deine dich liebenden Judith, Terry, Blanca
Wenig später erhält er von Rose den Verlobungsring zurückgeschickt. Sie grolle nicht, und er möge ihn einer Frau geben, die ihn so glücklich machen könne, wie er sie glücklich gemacht habe... In diesem Moment kommt Judith herein, die ihn fragt, ob sie ihn ,schrecklich gestört’ habe...[255] Er verneint. Sie macht Pläne, ob nicht alle Kinder bei ihm in New York leben könnten.[258] Sie sieht ihn wirklich als Hort der Sicherheit – und Blanca und sie haben sogar auch überlegt, ob Rose sie vielleicht als Brautjungfern nehme.[261] Als er fast ungehalten reagiert, sie sogar weint und er sagt, sie solle sich nicht in Erwachsenenangelegenheiten einmischen, entfaltet sich folgende Szene:[262]
„Aber wie soll ich mich nicht einmischen, wo ich dich so lieb habe und sehe, daß nicht alles läuft, wie du möchtest, Martin?“, sprudelte sie atemlos hervor. „Du willst doch nicht sagen, daß du am Ende doch nicht heiratest?“
[...] „Ich will nur sagen, ich weiß noch nicht, wann ich heiraten werde. Das ist alles.“
„Wirklich alles?“ Er nickte.
„Ah“, seufzte sie erleichtert. [...]
Noch immer blickte sie reuig und bestürzt zu ihm auf, und mit einemmal legte er den Arm um sie und beugte sich herab zu ihren Lippen. Sie sahen voll und blühend aus und zogen die seinen unwiderstehlich an. Doch er wandte den Kopf ab, und sein Kuß traf harmlos ihre Wange, nahe den tränennassen Wimpern.
Es ist deutlich, dass er nicht nur die Frau, sondern auch das Mädchen verloren hat – das nichts weiter als sein ganzes Glück will...
Als der Sommer sich dem Ende neigt, erweist sich die Utopie des ganzen Unternehmens. Die Großmutter in Südamerika teilt mit, sie wäre bereit, die leiblichen Enkel zu sich zu nehmen, jedoch nicht die übrigen Kinder.[292] Dann zeigt sich, dass auch Joyce einen vernünftigen Freund und Berater gefunden hat, der sie verändert hat, so dass nun auch sie ihre Kinder bei sich haben will.[296]
Inmitten dessen rühren Boyne vor allem die Momente, wo er Judiths sorgenfreie, naive Kindlichkeit wahrnimmt:[298]
Ob es wohl immer so bleiben würde, fragte sich Boyne, oder ob das Leben allmählich die Tore vor dem Kinderparadies schloß, das ihr noch so nahe war? Er hätte den Großteil seiner eigenen Glücksaussichten hergegeben, wenn es ihr geholfen hätte, diese Verbindung zu ihrer Kindheit aufrechtzuhalten.
Und sogar hier wird wieder ganz deutlich, was ein Mann an einem Mädchen so tief liebt – die Unschuld, die erschütternde Reinheit des Herzens...
Als sich zeigt, dass auch die neue Frau des Prinzen Buondelmonte dessen Kinder zu sich nehmen will, bricht Judith in Tränen aus – er nimmt sie in die Arme, aber sie weint schluchzend einfach immer weiter, das Gesicht an seine Schulter pressend.[299] Und nun bricht seine Liebe zu diesem Mädchen noch einmal tief hervor:[300]
Sie lag so still an ihn gedrückt wie ein erschreckter Vogel, und schließlich neigte er den Kopf und flüsterte: „Judy –“ Warum nicht, dachte er, und sein Herz tat ungestüme Sprünge. Schließlich war er, wenn man es recht bedachte, ein freier Mann, frei, sein Leben an eine Verrücktheit wegzuwerfen [...]. Nun, er hatte für sein ganzes Leben genug Vernunft walten lassen,[11] und ein Mann war nur so alt, wie er sich fühlte... Er neigte sich so nah herab, daß seine Lippen ihr Ohr streiften. „Judy, Liebling, hör zu... Vielleicht gibt es doch noch eine Möglichkeit...“
Sie entwindet sich ihm und fragt aufgeregt, ob das wahr sei – eine Möglichkeit, sie alle zusammenzuhalten. Als er zögert, weiterzusprechen, hat sie erneut Angst, dass er sie verlasse. Er versichert ihr, immer für sie dazusein:[301]
„O Martin –“, sie hob seine Hände eine nach der anderen an ihre nassen Wangen und hielt sie dort in schweigendem Entzücken fest. „Du gehörst also nicht mehr Mrs. Sellers?“
„Ich gehöre niemandem, nur noch dir, solange du mich willst...“
Ihre Augen umfingen ihn noch immer mit ihrem Strahlen. „Liebster, Liebster...“ Dabei lehnte sie sich eng an ihn, und er wagte nicht, sich zu rühren in seiner neuen Scheu vor ihrer Nähe – auf so unmerkliche Weise hatte sie sich aus dem liebevoll-vertrauten Kind in die Frau verwandelt, die er leidenschaftlich begehrte.
„Liebster“, sagte sie dann noch einmal, und mit einem Gesicht, in dem bereits ein bräutliches Licht zu leuchten schien: „Martin, hast du wirklich vor, uns alle zu adoptieren, und wir bleiben alle für immer bei dir?“
Doch die Diskrepanz zwischen dem Erleben des Mädchens und des Mannes ist unüberwindbar. Er kann ihr nicht zeigen, dass ,jeder Nerv seines Körpers nach ihr verlangte’:[302]
Nichts hätte er mehr gefürchtet, als daß sie auch nur einen Hauch von dem erriet, was er empfand. Seine dringendste Sorge mußte jetzt sein, den Bruch in ihrer idealen Beziehung zu verbergen, die Tatsache, daß sie einen Augenblick lang für ihn die Frau gewesen war, die sie eines Tages für einen anderen sein würde, in einer Zukunft, die er nicht würde teilen können.
Er verspricht ihr, den Kampf für sie alle weiterzuführen, von einer Adoption ist nicht die Rede, sie ist sicherlich auch unmöglich:[302f]
„Ja“, sagte sie mit einer Stimme, die so klein und farblos geworden war wie ihr Gesicht.
Er stand bedrückt vor ihr. „Das verstehst du doch, Liebes, nicht wahr?“
„Ich weiß nicht...“ Sie zögerte. „Vor kurzem dachte ich es noch.“ [...]
Noch immer schien sie verwirrt. „Aber du hast doch gesagt... Ich dachte, du hättest eben gesagt, daß du einen Weg gefunden hast, wie man uns alle beisammen lassen kann. Ganz gleich, was geschieht. Du hast gesagt, du hättest einen Plan.“
Boyne hasst sich selbst für seine ,grundlose Gereiztheit’ und seine Zweifel an Judiths Unschuld – erkennt er doch selbst, dass in ihr bisher nur zwei Fähigkeiten voll ausgewachsen sind: ,die Liebe zu den Geschwistern und ihr Glaube an die wenigen Menschen, die ihr in einer unfreundlichen Welt Freundlichkeit erwiesen hatten’,[303] – mit anderen Worten, ein weiteres Mal, tiefste Unschuld und ein reines Herz...
Und nun kommt es im Grunde zur vollen Tragik des Mannes. Noch einmal überlegt er, dem es noch vor ,wenigen Minuten’ wie eine ,Profanation’ vorgekommen war, ,sie mit Liebesgedanken auch nur zu streifen’, ob er es nicht vielleicht nur falsch angefangen habe. Was durch Küsse so einfach hätte ausgedrückt werden können, ,schien umständlich, ja brutal, wenn man es in Worte faßte’. Dabei schreckt er vor allem davor zurück, sie könne ihn ,unerträglich verletzen’, nämlich offenbar: seine Liebe abweisen. Er beginnt das Gespräch mit der Frage nach ihrem Alter...
Sie sagt ihm, sie werde in fünf Monaten sechzehn – und ergänzt hoffnungsvoll, dass sie aber doch viel älter aussehe. Dann erwähnt er, dass sie vermutlich bald ans Heiraten denken werde. Sie wehrt dies ab, da sie sich um die Kinder kümmern müsse. Er gibt unbeholfen zu bedenken, dass sie aber doch, wenn man ihr die Kinder wegnehmen werde, schrecklich einsam sein werde. Wiederum wehrt sie diesen Gedanken völlig ab – und die innere Tragik erreicht durch Boynes Schuld ihren Höhepunkt:[305]
„Ich weiß, es ist abscheulich. Aber angenommen, es kommt zum Schlimmsten [...]?“ Wieder räusperte er sich. „Wenn es schiefgeht, und du sehr allein wärst und jemand dich bäte, ihn zu heiraten –“
„Wer tut das schon?“
Wieder lachte er. „Ich zum Beispiel.“
Sekundenlang schaute sie verdutzt, dann leuchteten ihre Augen auf, und sie lachte zum erstenmal mit. Ihr Lachen schien frisch und ungehemmt aus den tiefsten Tiefen ihres Kleinmädchengemüts emporzuquellen. „Na, das wäre vielleicht ein Spaß!“ sagte sie.
Es entstand eine abgrundtiefe Stille.
„Ja, nicht wahr?“ Er grinste, sah sie wortlos an und nahm dann tastend wie ein Blinder Hut und Regenmantel auf [...].
Unverbindlich tastet er sich an die entscheidende Frage heran – und ist am Boden zerstört, aber noch immer nicht wahrhaftig, als sie es noch gar nicht verstehen kann, nur von einem Scherz ausgeht... Völlig vernichtet kann er die Nähe des geliebten Mädchens nicht mehr ertragen und muss sich erst einmal nach draußen retten – besiegt von seiner eigenen Angst und Unwahrhaftigkeit, verletzt von einer unsäglichen Verletzung, deren Boden er durch seinen mangelnden Ernst selbst bereitet hat... Und welche Tragik, wie er das Mädchen zurücklässt!
Er spürte, wie die kleine Jammergestalt hinter ihm allein im Regen stand, und eilte davon, wie um ihr für immer zu entfliehen.[307]
Die Kinder reisen nach Paris, weil die Mutter dazu aufgefordert hatte.[307] Er begleitet sie und spürt die Kraft des Verzichts:[308]
Jetzt war ihr Gesicht blaß und verhärmt [...], sie schien ihm ferner als je und doch seiner bedürftiger, und diese Vorstellung durchdrang ihn wie etwas Neues, Beruhigendes. Er hatte einen kurzen Blick auf ein Glück geworfen, das er niemals besitzen würde[,] und wußte, seine Augen würden davon für immer geblendet bleiben. Doch die Verpflichtung, Judith die notwendige Hilfe zu sein, begrub seinen Kummer in jenen Tiefen der Seele, in denen großer Verzicht begraben liegt.
In Paris sieht er Rose wieder. Doch sie erscheint sehr selbstständig und braucht ihn viel weniger als Judith. Noch immer hält er sich für Roses Bräutigam, aber die Begegnung offenbart erneut die Haltlosigkeit dessen.[310] Dann sagt ihm Rose, Dobree habe zufällig Mrs. Wheater am Lido getroffen und sie beraten, wie sie die Kinder zugesprochen bekommen könne.[312] Somit war er derjenige, der das Anfang vom Ende eingeleitet hatte... Die Beziehung zu Rose zerfällt in einen völligen Leerraum, und er verabschiedet sich von ihr als von der besten Freundin, die er je gehabt habe:[314]
Was er im Augenblick wollte, war nur ein Opiat, um den hartnäckigen Schmerz in Leib und Seele zu betäuben – seine Ohren gegen Judiths Lachen zu verschließen und all seine Sinne gegen ihre Nähe. Er war gefangen an Leib und Seele, das war es, und die wirkliche Liebe war keine zarte Zerstreuung, Stoff für Träume [...], sie war vielmehr [...] dieses Zerbrechen aller Knochen auf der Folterbank, das Zerreißen jedes Nervs. Und seine Lehrzeit fing erst an...
Jetzt hat sich die Liebe des Mannes zum Mädchen offenbart, und er kann sie nicht mehr verleugnen, ihr nicht mehr entfliehen. Jetzt liebt er wahrhaftig und grenzenlos...
Er telegrafiert seiner ehemaligen Firma, dass er einen Job, für den er jemanden empfehlen sollte, gerne selbst übernehmen möchte. Er sagt Judith, dass er nach London abreist, und trifft sie noch kurz in einem Teesalon. In völlig anderer Kleidung als in den Schweizer Bergen sieht sie ,reizvoll erwachsen’ aus, ,fast eine Fremde’.[320] Und doch stoßen schon der bloße Klang ihrer Stimme und ihr Blick seinen Entschluss fast wieder um.
Dann erzählt sie ihm von Dobree, der vielleicht sogar dafür sorgen könne, dass die Stiefkinder ebenfalls bei ihnen bleiben. Sie versichert ihm, ihn jedoch viel lieber zu mögen, und er müsse möglichst bald von London zurückkommen, um mit allen einen Ausflug zu machen – aber Boyne erkennt, dass er sie verloren hat, weil nicht mehr er ihr Beschützer ist...[322] An dem für das Picknick vereinbarten Tag ist Boyne an Deck eines Dampfers Richtung Südamerika...[324]
Nach drei Jahren erfolgreicher Arbeit ist er nur wegen eines Fieberanfalls für einige Wochen Europaurlaub wieder auf dem Weg zurück. Sein Kopf ist ergraut...[327] Um Judith zu entfliehen, hat er ihr nicht einmal seine Adresse gegeben. Nun flüchtet er in das anonyme Leben in Biarritz. Auf dem Weg zu einem Gala-Dinner begegnet er im Mirasol-Hotel Zinnie wieder – und es erweist sich, dass sie alle nach wie vor das haltlose Leben führen, in alle Winde zerstreut, das Baby sogar an Meningitis gestorben, und dass die Mutter letztlich Dobree geheiratet hat.[328ff]
Boyne erfährt, dass auch Judith da sei, nur an diesem Abend ,auf einem Ausflug mit irgendwelchen Peruanern’,[334] aber zum Ball wieder zurück. Er verabschiedet sich von Zinnie, will mit dem nächsten Zug erneut flüchten, geht dann aber abends erneut zum Mirasol. Als er die Terrasse erreicht, setzt Nieselregen ein, und die Tänzer gehen nach innen. Durch die Fenster erblickt er Joyce und Dobree. Aber wo war sie?
Der Schmerz, sie nicht zu sehen, war beinahe unerträglich. Er schien seine Welt zu entvölkern...[337]
Doch da erblickt er sie plötzlich, sie hat eben aufgehört zu tanzen.
Seine Angst, sie eventuell nicht wiederzuerkennen, war völig vergessen. Jetzt wußte er es, er hätte sie erkannt, auch wenn sie ihm als krummes altes Mütterchen entgegengetreten wäre.[337]
Das ist wahre Liebe... Und Boyne kommt es so vor, wie wenn ,ihre Augen größer und unnahbarer geworden’ seien, aber ihr Mund war so rot wie immer, ,wenn sie glücklich war oder sich amüsierte’. Einer der jungen Männer sagt ihr etwas, und ihre Lider senken sich ,wie früher, wenn sie einen lieblichen Eindruck zu bewahren wünschte’:[338]
Doch als sie den Fächer wieder zusammenklappte, wechselte ihr Gesichtsausdruck, sie schien mit einemmal so traurig, wie herbstliches Zwielicht.
Judith! dachte Boyne, als sei es unmöglich zu glauben, daß dies Judith war, und doch zu süß, als daß irgend etwas anderes auf der Welt daneben bestehen konnte.
Der Roman endet eine Seite später mit den Worten:[339]
Zwei Tage später lief das Schiff, das ihn nach Europa gebracht hatte, wieder nach Brasilien aus. An Deck stand Boyne, ein einsamer Mann.
*
Was hier in der Zusammenfassung dieser Seiten vielleicht schon sehr früh eindeutig zu sein scheint, ist über weite Strecken in seinem Ausgang völlig offen. Lange ist nicht klar, ob Boyne Judith jemals wirklich lieben oder sich jemals wirklich zu seiner Liebe bekennen wird – und doch mündet der Roman, der so sehr mit Konventionen, einem in Konventionen gefangenen Mann beginnt, schließlich in einer großen, bedingungslosen Liebe, der derselbe Mann sein ganzes Leben lang nicht mehr entrinnen können wird – der Liebe zu einem einzigen Mädchen...
Boyne ist vor dieser Liebe geflohen. Er hat es nie gewagt, sie dem Mädchen wirklich zu gestehen. Und er ist auch vor ihr geflohen, war nicht in ihrer Nähe geblieben, hat ihr nicht mehr beigestanden, ihr Leben begleitet, hat sie und die von ihr geliebten Kinder letztlich im Stich gelassen. Und so hatte die Liebe letztlich doch eine Bedingung: In ihr saß der Stachel der Flucht vor der eigenen Verletzung. Der eigene Stolz, die Angst, verletzt zu werden, die Flucht davor – sie haben letztlich alles scheitern lassen.
Hat Judith Boyne enttäuscht – oder hat Boyne Judith enttäuscht? Er hat sich aus ihrem Leben gestohlen, als sie ihn noch innig liebte, auf ihre mädchenhafte Art, als sie ihn noch innig gebraucht hätte, als Freund, als Vertrauten, als Begleiter. Das hat Boyne nicht ausgehalten. Angst und Konvention hielten ihn letztlich doch bis zum Ende gefangen und blieben dasjenige, was ihn scheitern ließ, mit aller Tragik, was aber auch Judith und ihre geliebten Geschwister mit scheitern ließ.
Und so sind ,Die Kinder’ nicht nur die Geschichte einer tragisch schönen, tiefen Liebe – sondern auch die einer Liebe, die noch immer nicht groß genug war...[12]
Fußnoten
[1] Erstmals 1934, danach 1993 durch Martin Scorsese unter dem Titel ,Zeit der Unschuld’ mit Michelle Pfeiffer und Winona Ryder in den weiblichen Hauptrollen. Wikipedia: Edith Wharton & Zeit der Unschuld.
[2] Wikipedia: Edith Wharton.
[3] Als Fernsehfilm in deutsch-britischer Koproduktion 1989/90 unter dem Titel ,Meine liebe Rose’ mit Ben Kingsley und Geraldine Chaplin sowie der siebzehnjährigen Siri Neal in den Hauptrollen. Ebd. & Wikipedia englisch: The Children (1990 film). • In den USA wurde der Roman schon ein Jahr nach seiner Entstehung unter dem Titel ,The Marriage Playground’ (1929) verfilmt, damals mit der 23-jährigen (!) Mary Brian in der Mädchenrolle. Wikipedia englisch: The Marriage Playground.
[4],Meine liebe Rose’, www.cinema.de.
[5] Ruskin begegnen wir im fünften Band, wo seine Liebe zu dem Mädchen Rosa La Touche ausführlich geschildert wird.
[6]● Edith Wharton: Die Kinder. München 1992. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern.
[7] Die hochmütige Abwertung aller erwachsenen Frauen gegenüber einem konkurrierenden Mädchen!
[8] Ein völliger Widerspruch zu den ,kindlichen Armen’! Tatsache ist, dass Boyne sogar vor sich selbst völlig verschleiern muss, dass er ein Mädchen liebt – und dass gerade das nicht Erwachsene in seiner Reinheit, seiner Unschuld, seiner überirdischen Schönheit so unaussprechlich anziehend ist! Siehe auch das Folgende.
[9] Eklatanter kann man das ,Verbot im eigenen Kopf’ kaum beschreiben!
[10] Vergleiche das Vorantreibenwollen einer Heirat, als es längst zu spät ist, in Storms Novelle ,Waldwinkel’!
[11] Man erinnere sich an die ,Wahlverwandtschaften’, wo laut Eduard die Unbescholtenheit das Recht gibt, sich auch einmal schelten zu lassen: ,Wer sich sein ganzes Leben als einen zuverlässigen Mann bewiesen, der macht eine Handlung zuverlässig, die bei andern zweideutig erscheinen würde.’ • Immer geht es um die geheimnisvolle Wahrheit, dass es im Grunde, ganz real, kein höheres Gesetz als die Liebe geben kann. Dass alles, was sich höher setzt als diese, nur künstliche Diktaturen sind, die die Wahrheit verleumden.
[12]Wäre sie groß genug gewesen und wäre Boyne trotz alles inneren Leides in Judiths Nähe geblieben, so wäre es überhaupt nicht ausgeschlossen gewesen, mit der Zeit auch die wirkliche, weibliche Liebe des Mädchens zu gewinnen...