Parthenophilie

Nabokov: Lolita (1955)


Vladimir Nabokov (1899-1977), in St. Petersburg in einer einflussreichen Familie der westlich orientierten Oberschicht geboren, floh mit ihr 1917 vor der Oktoberrevolution über England nach Berlin, wo Nabokov als Tennislehrer sein erstes Geld verdiente. 1923 heiratet er eine Jüdin und zieht 1937 nach Frankreich. 1939 entsteht die Kurzgeschichte ,Der Zauberer’, die schon im Keim ,Lolita’ enthält.[1] 1940 geht er in die USA, als ausgewiesener Schmetterlingexperte arbeitet er zunächst am Naturkundemuseum in New York und in Harvard, ab 1948 als Literatur-Professor an der Cornell-Universität. Ab 1949 schreibt er an seinem zwölften Roman ,Lolita’, will den Entwurf zwischenzeitlich verbrennen, seine Frau rettet ihn in letzter Minute. Fünf Verlage lehnen das Manuskript ab, so dass es 1955 zunächst nur in dem auf Erotika spezialisierten Verlag Olympia Press in Paris erscheinen kann, dem nach europaweiten Diskussionen über das Werk vom Innenminsterium ein Verkaufsverbot aller Werke auferlegt wird. 1958 erscheint der Roman im angesehenen New Yorker Verlag G. P. Putnam’s Sons. Die Kritiken schwankten von ,Pornografie’ bis ,Meisterwerk’. Innerhalb von drei Wochen wurden über einhunderttausend Exemplare verkauft. 1961 zog Nabokov in die Schweiz und wohnte schließlich dauerhaft im Hotel Palace in Montreux am Genfersee.[2] Nabokov war ein ausgesprochener Mädchenliebhaber.[3]

Jeder Mensch kennt den Begriff ,Lolita’, die meisten wissen, dass es ein Roman von Nabokov ist, aber die wenigsten haben ihn wirklich gelesen.

Der Roman beginnt bereits als Erzählung vor dem Gericht, den Geschworenen – da er mit einem Mord endet. Auch die ersten Worte sind vielfach bekannt:[13][4]

Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele.

Der siebenunddreißigjährige Erzähler bekennt, dass es das Geschehen nie gegeben hätte, wenn er nicht mit dreizehn Jahren eine unschuldig-leidenschaftliche Liebesbeziehung mit einem gleichaltrigen Mädchen gehabt hätte, die aber starb, bevor sie einander wirklich angehören konnten.

Ich weiß auch, daß der Schock, den Annabels Tod mir verursachte, das darbende Verlangen jenes Alptraumsommers fixierte [...]. Das Geistige und das Körperliche hatten sich in unserer Liebe mit einer Vollkommenheit vermengt, die dem sachlichen, groben Standardgehirn heutiger Jugendlicher unbegreiflich bleiben muß. Lange nach ihrem Tod fühlte ich ihre Gedanken durch die meinen fluten. Lange bevor wir uns begegneten, hatten wir die gleichen Träume gehabt. [...] Ach, Lolita, hättest du mich so geliebt![21]

Hier wird deutlich, dass am Anfang eine große erste Liebe steht – eine Liebe zweier Menschenkinder, die füreinander bestimmt schienen und nur durch ein tragisches Ereignis auseinandergerissen wurden. Für den Erzähler hat dies aber zur Folge, dass er fortan auf Mädchen dieses Alters fixiert bleibt. Er wird sich fortan von Mädchen angezogen fühlen.
Nebenbei sei erwähnt, dass schon hier die Meisterschaft der Sprache mit allem Selbstbewusstsein und auch Sarkasmus aufscheint, die den Roman schon rein sprachlich so großartig macht. Mit leiser Verachtung blickt der Erzähler hier auf das Grobe der ,heutigen Jugend’, die die viel tieferen Empfindungen, die er damals gemeinsam mit dem Mädchen gehabt hatte, nicht einmal ansatzweise kennt. Die Empfindungen einer großen, brennenden Liebe zweier unschuldiger dreizehnjähriger Menschenkinder... Die Schilderung ihres einzigen, unterbrochenen Schäferstündchens[22] ist so erotisch und zugleich unschuldig wie nur irgendetwas.

Wenig später gibt der Erzähler eine Definition derjenigen Mädchen, die ihn von da an zeitlebens angezogen haben:[25]

Zwischen den Altersgrenzen von neun und vierzehn gibt es Mädchen, die gewissen behexten, doppelt oder vielmal so alten Wanderern ihre wahre Natur enthüllen; sie ist nicht menschlich, sondern nymphisch (das heißt dämonisch); und ich schlage vor, diese auserwählten Geschöpfe als „Nymphchen“ zu bezeichnen.

Er lässt den Zuhörer ein vom Raum in die Zeit versetztes weites dunstiges Meer als Stimmung imaginieren. Es gehe bei der Frage, ob ein Mädchen ein ,Nymphchen’ sei, nicht um ein hübsches Äußeres, sondern um eine ,Koboldgrazie’, einen ,ungreifbaren, verschmitzten, seelenzerrüttenden, heimtückischen Zauber’.[24f]

Man muss ein Künstler sein, und ein Wahnsinniger obendrein, ein Spielball unendlicher Melancholie, dem ein Bläschen heißen Gifts in den Lenden kocht und eine Flamme schärfster Wollust unablässig in der elastischen Wirbelsäule lodert (ach, wie sehr man sich zu ducken und zu verkriechen hat), um an unbeschreibbaren Anzeichen – der leichtgeschwungenen Raubtierkontur eines Backenknochens, dem Flaum an den schlanken Gliedern und anderen Merkmalen,[5] die aufzuzählen mir Verzweiflung, Scham und Tränen der Zärtlichkeit verbieten – sofort den tödlichen kleinen Dämon unter den normalen Kindern zu erkennen...[26]

Hier wird klar ausgesprochen, dass es sich um eine sexuell betonte Anziehung handelt. Die entsprechenden Mädchen haben insbesondere körperliche Merkmale, die bei dem, der diesen Zauber wahrnimmt, unmittelbar eine sexuelle Anziehung hervorrufen. Deutlich wird, dass der Erzähler sich selbst als pathologisch wahrnimmt, aber auch, dass es nicht nur um das Sexuelle geht, sondern auch um eine Art verzweifelte Liebe. Die ,Scham’ und die ,Tränen der Zärtlichkeit’ offenbaren, dass er diese Mädchen zugleich liebt. Dass er sie nicht einfach als Sexualobjekt sehen möchte, dass die Anziehung deutlich darüber hinausgeht.[6]

Aber hinzu kommt, dass die Liebe zu einem solchen Mädchen gerade von der Gesellschaft pathologisiert wird:[27]

[...] und ich wuchs heran in einer Zivilisation, die einem Fünfundzwanzigjährigen erlaubt, einer Sechzehnjährigen den Hof zu machen, aber nicht einer Zwölfjährigen.

Gerade das Mädchen aber gibt Empfindungen, die sich der gewöhnliche Mann gar nicht vorstellen kann. Dieser gibt sich mit den ,massigen Menschenweibchen’ zufrieden, Frauen ,mit Kürbissen oder Birnen als Brüste’.[28] Das ganz unbeschreibliche Wunder des Mädchens kennt er nicht:[28]

Der matteste meiner Pollutionsträume war tausendmal hinreißender als all die Ehebrecherei, die sich das virilste Schriftstellergenie oder der talentierteste Impotente ausmalen könnten.

Bis in den Anfang seiner dreißiger Jahre wehrt sich der Erzähler im Verstand entsprechend dem gesellschaftlichen Tabu – und begreift sein Leiden bis dahin nur in Momenten:[29f]

Während mein Körper wußte, wonach er sich sehnte, lehnte mein Verstand jedes Ansinnen meines Körpers ab. [...] Tabus schnürten mir die Kehle zu. [...] Zu anderen Zeiten sagte ich mir, daß [...] nichts Schlimmes dabei sei, sich bis zur Raserei zu kleinen Mädchen hingezogen zu fühlen.

Auf der nächsten Seite, wo er seinen eigenen Namen einführt, Humbert Humbert, erwähnt er Beispiele aus der Geschichte: Dante, Petrarca. Heute aber gelte: ,zehn Jahre Zuchthaus, wenn man sich nur anmerken läßt, daß man sie betrachtet.’[30]

Und er schildert zwei, drei Beispiele von unzähligen ,einseitigen Miniromanzen’, Augenblicken intensivster Anziehung durch Mädchenschönheit, Momente unschuldigster, völlig unbewusster Erotik und Verführung:[31]

Einmal stellte eine vollkommene kleine Schönheit in einem Schottenkleidchen klappernd ihren schwerbeschuhten Fuß neben mich auf die Bank, und es durchfuhr mich, als ihre nackten Arme mich streiften, um den Riemen ihres Rollschuhs festzuziehen; und ich löste mich in der Sonne auf [...], als ihr kastanienbraunes Gelock über das aufgeschundene Knie fiel, und der Blätterschatten, den wir teilten, auf ihrem strahlenden Schenkel [...] zitterte und schmolz.

Absichtslos, voller Vertrauen und unwissend stellt das schöne Mädchen seinen Schuh auf die Bank, nicht achtend, dass dadurch ihr leichtes Kleidchen, ja sie selbst, den Blick auf die junge Haut darunter freigibt – und der zitternde Blätterschatten unterstreicht die zart-ätherische Lebendigkeit und die vertrauensvolle ,Unachtsamkeit’ des Mädchens nur noch. Die Unschuld des Mädchens ist so rein wie das Pflanzenreich und das Sonnenlicht, das in den Blättern spielt. Aber sie selbst ist so wunderschön, so anziehend, ihre Haut ist so jung, so weich... Man liebt sie viel mehr als die Blätter, deren Schatten auf ihren Schenkeln spielen. Man möchte selbst diese Schatten sein...

Aber Humbert empfindet nicht nur Anziehung, er empfindet Lust und Begehren, eine sexuelle Gier lebt in seinem Blick. Dennoch zeigt sich auch hier inmitten des Gifts ein moralischer Funke – indem er sich fragt, ob selbst schon diese Art des Blickens irgendwann eine Art kausale Folgewirkung auf das Mädchen haben könnte:[31f]

Ich hatte sie besessen – und sie erfuhr es nie. Gut. Aber würde es sich nicht irgendwann doch zeigen? Hatte ich nicht irgendwie an ihrem Schicksal herumgepfuscht, indem ich ihr Bild mit meiner Lust verflocht? Ach, es war und bleibt die Quelle einer großen und schrecklichen Ungewißheit.

Er ahnt hier leise, dass auch die Empfindungen eine absolute Realität haben könnten – und sich in ihrer Finsternis um das Mädchen legen könnten, um es in Zukunft einmal irgendwie zu Fall zu bringen. Tatsache jedenfalls ist, dass es der heiligen Unschuld eines Mädchens tiefstes Unrecht antut, diese Unschuld allein schon durch den gierigen Blick zu entweihen. Ein Mädchen allein schon mit Blicken in Besitz zu nehmen, um sie ,besessen zu haben’, ist eine reale Untat, etwas, was die Unschuld und Integrität des Mädchens real antastet. Etwas davon hat Humbert gefühlt.

1939 stirbt sein Onkel in Amerika und vermacht ihm eine beträchtliche Summe, wenn er sich ein wenig um sein Geschäft kümmert – was es ihm ermöglicht, sich aus einer unglücklichen Ehe zu befreien. In den USA sucht er schließlich – wie sich später zeigt, ist es jetzt Juni 1947[65] – nach einem kleinen Ort, um sich im Sommer literarischen Studien zu widmen, und kommt über Umwege zu dem Haus einer Ms. Haze.
Während sie ihn herumführt, trifft er im Garten auf ihre Tochter – die seiner ersten Liebe offenbar unglaublich ähnelt. In einem ,Schock leidenschaftlichen Wiedererkennens’ ist er diesem Mädchen unmittelbar verfallen – und etwas später hatte dann sie, , diese Lolita, meine Lolita, ihr Urbild völlig verdunkelt.’[63]

In einer ersten Annäherung setzt sich das Mädchen neben ihn auf die Treppe und schleudert mit den Zehen Kiesel gegen eine Konservenbüchse.[65] Und selbst der ,Slang der Kleinen’, ihre ,grelle hohe Stimme’ zieht ihn magisch an.[66] Wenige Tage später nimmt sie seiner Zeitung die Comic-Beilage weg und legt sich wieder auf die Matte ins Gras:[68]

[...] und zeigte mir, zeigte den tausend weitoffenen Augen in meinem sehenden Blut ihre leicht angehobenen Schulterblätter und den hauchzarten Flaum entlang der Einbuchtung des Rückgrats und die Rundung ihres straffen, schmalen, schwarz bekleideten Gesäßes und den Strand ihrer Schulmädchenschenkel.

Meisterhaft ist hier beschrieben, wie geradezu das begierdevolle Blut selbst Augen bekommt, wie Humbert in seiner Fixiertheit auf das Mädchen wie ein Jäger mit schärfsten Sinnen die Schlüsselreize wahrnimmt, geradezu fokussiert, sie gleichsam in eine Brutkammer bringt – wo sie sein Blut zum Sieden bringen. Wie ein Raubtier saugt er diese Reize in sich hinein – und ist selbst längst Opfer seiner verzehrenden Sucht geworden. Denn der bezaubernde Anblick dieser verführerischen Schönheit reicht ihm nicht...

Humbert nähert sich dem Mädchen in ,zufälligen’ Situationen und Berührungen, und auch sie scheint ihm nicht abgeneigt zu sein, kokettiert mit ihm, lässt seine Berührungen zu... An einer Stelle beschreibt er ihr ,zwiespältiges Wesen’, ,jedes Nymphchens vielleicht; diese Mischung aus zarter, träumerischer Kindlichkeit und einer Art spukhafter Ordinärheit’[71] Bei Lolita ist diese Letztere zweifellos gegeben, resultierend aus einem nicht einfachen Verhältnis zu der alleinerziehenden Mutter, so dass sie viel eigensinniger auf die Pubertät zugeht als andere Mädchen. Und so notiert Humbert an einem Tag ins Tagebuch:[79]

Wetterwendisch, schlecht gelaunt, vergnügt, linkisch, anmutig, ein fohlenhafter Beinahe-Teenager von herber Grazie, unerträglich begehrenswert von Kopf bis Fuß [...].

Was ihn inmitten dieses teilweise vielleicht bis ins Ordinäre Gehenden anzieht, ist eben diese unverstellte, ehrliche, intensive Jugendlichkeit. Sie mag schlecht gelaunt sein, diese Lolita, sie ist selbst dann ein liebliches Fohlen, begehrenswert ohne Ende...

Und sie nähert sich auch ihm an. Etwa als sie in letzter Minute mit ins Auto springt, um ihn und seine Gastgeberin zum Einkaufen zu begleiten:[82]

Plötzlich schlüpfte ihre Hand in die meine, und ohne daß unsere Anstandsdame etwas merkte, hielt ich ihre heiße kleine Pfote, streichelte und drückte sie auf dem ganzen Weg bis zum Laden.

Es mag eine scheinbare Kleinigkeit sein, wenn er hier das Wort ,Pfote’ verwendet – aber an solchen Punkten lebt die schleichende Tendenz zur Entmenschlichung, zur Vulgarisierung und damit reinen Sexualisierung. Es mag sein, dass Humbert dies so wahrnimmt, als würde dies nur das fast provozierend Sich-Annähernde des Mädchens widerspiegeln, und das kann sogar der Fall sein – aber indem er selbst auch diese Sprache verwendet, trägt er zur Sexualisierung des Mädchens bei – ganz davon abgesehen, dass er ja von Anfang an die treibende Kraft ist. In Wirklichkeit ist seine Sprache von seiner Begierde gefärbt, diese Begierde sieht alles mit der Brille ihres eigenen lustvollen Zieles...[7]

Allerdings ist dieses Ziel zunächst so geartet, dass er es erreichen will, ,ohne die Keuschheit eines Kindes anzutasten’, so wie er ,in Parkanlagen sonnengesprenkelte Nymphchen visuell besessen’ hatte.[89] Vergessen ist hier bereits, dass er ja schon damit die Keuschheit der Unschuld angetastet hatte. Nun aber geht er weiter, denn jetzt geht es erstmals in seinem Leben um körperlichen Kontakt.
Sechs Seiten lang beschreibt er nun die Szene, wo sie sich ihm nähert, eine Zeitung wegnimmt und die beiden in einen spielerischen Kampf geraten, bis sie sich in eine Ecke des Sofas lehnt und wie selbstverständlich ihre Beine über seinen Schoß legt. Diese vertraute Geste nutzt er nun aus, um mit raffinierten Bewegungen und Geplapper sich selbst unter dem Gewicht ihrer jungen Beine so zu regen, dass er, ohne dass sie es bemerkt, schließlich einen Erguss bekommt.

Und dabei glitt meine glückliche Hand, so hoch wie der letzte Schatten von Anstand es nur irgend zuließ, ihr sonniges Bein hinauf. [...] und da sie nur sehr spärliche Unterkleidung trug, schien nichts meinen muskulösen Daumen daran zu hindern, die heiße Mulde ihrer Leiste zu erreichen [...].[98]

Sie entwindet sich ihm jedoch – während er in genau diesem Moment seinen Höhepunkt erlebt. Und er redet sich ein: ,Ich hatte mir die Süße eines Orgasmus erlistet, ohne die Moral einer Minderjährigen anzutasten. Nichts Schlimmes passiert, gar nichts.’[100] Und dennoch – trotz der ,unstillbaren Glut meines sinnlichen Verlangens’ hatte er noch immer die feste Absicht, ,die Reinheit dieses zwölfjährigen Kindes mit äußerster Willensstärke und Vorsorge zu schützen.’[101]

An einer weiteren Stelle wird deutlich, wie kurz die magische Zeit des Mädchens ist:[105f]

Am ersten Januar wäre sie dreizehn. In etwa zwei Jahren wäre sie kein Nymphchen mehr und würde ein „junges Mädchen“ und dann der schrecklichste der Schrecken – eine „College-Studentin“.

Dann muss Lolita für zwei Monate in ein Camp, aber als sie schon ins Auto steigt, rennt sie noch einmal zu ihm hoch, wirft sich in seine Arme und lässt sich von ihm küssen. Dann läuft sie wieder hinunter.[107]

Die Mutter hat ihm aber nun einen Brief hinterlassen, in dem sie ihm ihre Liebe gesteht. Wenn er diese jedoch, wovon sie ausgehe, nicht erwidere, möge er bis zu ihrer Rückkehr am Abend gehen. Humbert macht sich klar, dass sie eigentlich eine hübsche Frau ist – und dennoch unendlich grob im Vergleich zu einem Mädchen, in seinen Worten: ,im Vergleich zu Seide und Honig’[117], ja auch grob zu diesem Mädchen, nämlich mit einer oftmals ,schroffen, kalten, verachtungsvollen Haltung gegenüber einem anbetungswürdigen und nur mit Flaum bewehrten zwölfjährigen Kind’.[123][8]

Er entschließt sich natürlich, zu bleiben – und die Rolle des Liebhabers auf sich zu nehmen. Dann aber fasst Ms. Haze den Plan, Lo (die eigentlich Dolores heißt, Lolita ist nur die Verkleinerungsform) auf ein Internat mit strenger Disziplin zu schicken.[134] An diesem Punkt lässt Humbert zum ersten Mal seine Autorität als Mann spielen und fordert ein Mitentscheidungsrecht.

Bei einem Ausflug an einen See kommt ihm der Gedanke, seine ,Frau’ einfach zu ertränken. Er besinnt sich jedoch in letzter Minute – und es erweist sich, dass er dabei auch gesehen worden wäre. Zugleich aber wird deutlich, dass dieser ,Rat der Hölle’ seinem Wesen völlig widersprach:[143]

Meine Damen und Herren Geschworene, die Mehrzahl der Sexualverbrecher, die sich nach einer zuckenden, süß stöhnenden, körperlichen, doch nicht unbedingt coitalen Beziehung zu einem kleinen Mädchen sehnen, sind harmlose, zu nichts taugende, passive, schüchterne Fremdlinge, die die Gesellschaft nur um eines bitten, nämlich zuzulassen, daß sie ihrem – im allgemeinen völlig unschuldigen – sogenannten abweichenden Verhalten, ihren heißen, feuchten, privaten kleinen Akten sexueller Devianz nachgehen dürfen, ohne daß Polizei und Gesellschaft über sie herfallen. Wir sind keine Sexteufel! Wir vergewaltigen nicht, wie wackere Soldaten es tun. Wir sind unglückliche, sanfte Gentlemen mit Hundeaugen [...] bereit, Jahre um Jahre unseres Lebens für eine einzige Chance hinzugeben, ein Nymphchen zu berühren. Ich betone, wir sind keine Mörder.

Aber dann stirbt die Mutter selbst durch einen Unfall. Sie hat Humberts Notizen und damit seine wahren Empfindungen entdeckt, verlässt erregt das Haus – und wird überfahren.[157]

Humbert gibt sich nun als Lolitas Vater aus und sagt dieser zunächst auch nur, dass ihre Mutter krank sei. Als er sie im Auto abholt, sagt sie, sie sei ihm im Camp ,haarsträubend untreu’ gewesen, aber er habe ja auch aufgehört, sich für sie zu interessieren, weil er ihr noch gar keinen Kuss gegeben habe. Daraufhin fährt er auf einen Seitenstreifen, und sie küsst ihn heftig. Noch immer herrscht bei ihm geradezu Scheu:[183f]

[...] weil ich nicht wagte, sie richtig zu küssen, berührte ich ihre heißen, sich öffnenden Lippen mit äußerster Ehrfurcht [...]; sie aber preßte [...] ihren Mund so fest gegen den meinen, daß ich ihre starken Schneidezähne fühlte und an dem Pfefferminzgeschmack ihres Speichels teilhatte. Ich wußte natürlich, daß es ihrerseits nur ein unschuldiges Spiel war [...], und da [...] die Grenzen und Regeln solcher kindlichen Spiele fließend sind oder wenigstens zu kindlich subtil, als daß der erwachsene Partner sie begreifen könnte, hatte ich furchtbare Angst, ich könnte zu weit gehen und sie dazu bringen, angewidert und erschreckt zurückzufahren.

Sehnsucht, Ehrfurcht vor der Unschuld des Mädchens und Angst vor ihrer Zurückweisung. Und wieder Sehnsucht...

Dann aber vergehen Humbert fast die Ohren, als Lolita ihn fragt: ,Was meinst du, würde Mama nicht ziemlich toben, wenn sie herausbekäme, daß wir ein Liebespaar sind?’[185] Als er abwiegelt, provoziert sie ihn weiter, indem sie zum Beispiel das Wort ,Papi’ betont. Dann fragt sie auch, ob er zu Hause allein schläft oder ,auf einem Haufen mit Mutter’[187]
Als er ihr schließlich den Hals küsst, wehrt sie sich: ,,Lass dass’, sagte sie und sah mich mit ungeheuchelter Begeisterung an. ,Ich mag nicht, wenn man mich besabbert. Du Lüstling.’’ Doch als Humbert eine Entschuldigung murmelt, rückt sie ,mit zögernder weicher Stimme’ wieder näher an ihn heran.[188]

Dann kommen sie in dem ersten Hotel an, und Lolita ist erst einmal überrascht, dass sie in einem Zimmer schlafen, lässt dann aber die zunehmende Annäherung zu.
Humbert gibt ihr ein Schlafmittel, um sich der unschuldig Schlafenden ein wenig nähern zu können, ohne ihr ihre Unschuld zu rauben. Und mit Seitenhieben gegen das konventionelle Gewissen und pseudowissenschaftliche Lehrmeinungen gesteht er, von diesen besetzt noch immer nicht gesehen zu haben, dass Lolita schon viel weiter war:[202]

Indem er an konventionellen Begriffen von dem festhielt, was ein zwölfjähriges Mädchen zu sein hätte, verfehlte daher der Moralist in mir den springenden Punkt [...]. Der Kindertherapeut in mir (ein Scharlatan wie die meisten – aber egal) käute neo-freudianisches Gesums wieder und erfand eine träumende und exaltierte Dolly in der „Latenz“-Periode ihres Mädchentums.

Doch das Schlafmittel wirkt nicht vollständig. Humbert liegt neben dem betäubten Mädchen und wartet fortwährend, ob es ganz schläft, völlig angezogen von ihrem Zauber, gleichsam zentimeterweise ihr nahekommend. Dann wacht sie wieder auf und verlangt etwas zu trinken, trinkt dankbar den gereichten Pappbecher:[213]

[...] und mit einer kindlichen Bewegung, die reizender war als jede sinnliche Liebkosung, wischte die kleine Lolita ihre Lippen an meiner Schulter ab. Sie fiel auf ihr Kissen zurück [...] und schlief sofort wieder ein.

In der Berührung des Erzählers angesichts solcher Gesten offenbart sich seine eigentliche Sehnsucht, die ihm selbst kaum bewusst ist: die wirkliche Sehnsucht nach Unschuld. Im Grunde wird dies auch an folgendem Geständnis deutlich:[214]

Wenn ich so ausgiebig bei dem Zittern und Tasten jener fernen Nacht verweile, so weil ich unbedingt beweisen will, daß ich kein brutaler Schurke bin, noch es je war, noch es jemals hätte sein können. Die milden und träumerischen Regionen, durch die ich kroch, waren die Gefilde der Poesie – nicht die Jagdgründe des Verbrechens. Hätte ich mein Ziel erreicht, so wäre meine Ekstase ganz sanft gewesen, ein Fall innerer Verbrennung, dessen Hitze sie selbst dann kaum gespürt hätte, wenn sie hellwach gewesen wäre.

Mit anderen Worten: Humbert wollte dem Mädchen nahe sein. Unendlich nahe – ohne ihm seine Unschuld zu nehmen.

Doch dann geschieht etwas, was er nie erwartet hatte. Er hatte gedacht, es würden Monate oder gar Jahre vergehen, bis er ,den Mut aufbrächte’ ihr seine Liebe zu gestehen, aber um sechs Uhr erwacht das Mädchen, und eine Viertelstunde später liebten sie sich. ,Ich werde Ihnen etwas sehr Sonderbares verraten. Es war sie, die mich verführte.’[215]

„Du behauptest“, beharrte sie und kniete sich über mich, „du hast es als Junge nie gemacht?“
„Nie“, antwortete ich ganz wahreitsgetreu.
„Na gut“, sagte Lolita, „dann fangen wir mal an.“
[...] Es genügt zu sagen, daß ich in diesem schönen, eben erst reifenden jungen Mädchen, das von der modernen Koedukation [...] total und unrettbar verdorben worden war, keine Spur von Schamhaftigkeit entdeckte. Sie betrachtete den schlichten Akt als festen Bestandteil der heimlichen Jugendwelt, von der Erwachsene nichts wissen.[217]

Ausführlich versucht der Erzähler zu beschreiben, was nicht zu beschreiben ist, Worte zu finden für etwas, was selbst noch das Mysterium einer ,verderbten’ Lolita ausmacht:[220f]

Um in jener schrecklichen, verrücktmachenden Welt – der der Nymphchenliebe – das Höllische vom Himmlischen zu trennen. Das Viehische und das Schöne verschmolzen an einem Punkt miteinander, und ich würde gern die Grenzlinie bestimmen und habe das Gefühl, daß es mir ganz und gar mißlingt. Warum?
Die Klausel des römischen Rechts, nach der ein Mädchen mit zwölf Jahren heiraten darf, wurde von der Kirche übernommen und gilt in manchen der Vereinigten Staaten stillschweigend noch heute. Und mit fünfzehn erlaubt das Gesetz es überall. Beide Hemisphären halten es für völlig in Ordnung, wenn ein vierzigjähriges Viech mit dem Segen des zuständigen Geistlichen und aufgeschwemmt vom Saufen seinen schweißgetränkten Staat abwirft und sich bis ans Heft in seine jugendliche Braut rammt. [...] Warum also dies Grauen, das ich nicht abschütteln kann? Habe ich sie ihrer Blüte beraubt? Feinfühlige Damen Geschworene, ich war nicht einmal ihr erster Liebhaber.[9]

Dies ist eine Schlüsselstelle des Romans. Humbert hat sehr wohl moralische Zweifel. Er ist zwar getrieben von seiner Sehnsucht und seinem Begehren, aber er ist kein Monster und kein Tier. Und hier hält er einer Gesellschaft den Spiegel vor, die unzählige Tiere in ihrer Mitte beherbergt und schützt, sogar mit ,göttlichem’ Segen. Wieviele Millionen Männer vergewaltigen ihre Frauen schlicht, weil sie darin ihr angestammtes Recht sehen? Wer aber einem Mädchen verfällt, empfindet von vornherein und von Anfang an viel zarter, denn er verfällt gerade dem Zarten, liebt gerade dieses und nichts anderes. Die Mädchenliebe ist gleichsam eine natürliche Poesie.

Und dennoch spürt die Seele, dass ihr Begehren, wenn es in die Sphäre des Sexuellen, der Besessenheit, getaucht wird, das Himmlische verlässt und in die Bereiche des Höllischen gerät. Aber wieviele Ehen bestehen aus Hölle? Während Humbert sich an dieser Stelle fragt, ob es bereits falsch war, sich verführen zu lassen. Und warum fragt er sich dies so leidvoll? Weil er die unschuldige Blüte liebt – selbst da ihre Unschuld liebt, wo sie bereits ein Stück weit verloren ist. Er spürt das Falsche daran, ein Mädchen in diesen Bereich hineinzuziehen, so früh schon. Selbst da, wo sie diesen Bereich längst von sich aus kennengelernt hat. Aber zugleich spürt er seine Sehnsucht nach diesem Mädchen, seine Liebe zu diesem Mädchen. Und hilflos steht er zwischen Himmel und Hölle und hat nichts als seine Hilflosigkeit...

Im Auto huscht dann tatsächlich ,ein Ausdruck von Schmerz’ über ihr Gesicht, und auf seine Frage, was los sei, erwidert sie ,Nichts, du Vieh’[227] und wenig später: [228]

Du widerliches Scheusal. Ich war ein frisches Gänseblümchen, und nun sieh, was du aus mir gemacht hast. Ich müßte die Polizei anrufen und sagen, daß du mich vergewaltigt hast. O du schmutziger, schmutziger alter Kerl.

Hier nun ist die Grenze überschritten. Selbst wenn sie es nicht ganz ernst meint und auch mit der Tatsache kokettiert, zeigt dies, dass nicht vollkommene Liebe waltet, sondern dass etwas Falsches in das Verhältnis eingedrungen ist – auch wenn es das Mädchen war, das zu weit gegangen ist und dies nun irgendwie spürt. Noch wäre die Zeit für eine Umkehr, eine Entschuldigung seitens des Mannes, eine Verwandlung des Verhältnisses hin zu mehr Unschuld, Reinheit, Aufrichtigkeit, Behutsamkeit. Doch real ist diese Möglichkeit nicht da. Denn Humbert ist seiner Sehnsucht nach ihr und ihrem Körper verfallen.

Er eröffnet ihr, weil es nicht mehr zu verdecken ist, dass ihre Mutter tot ist. Im nächsten Hotel nehmen sie getrennte Zimmer, ,aber mitten in der Nacht kam sie schluchzend zu mir herüber, und sehr sanft machten wir es wieder gut.’[230] Das Mädchen hat niemand anderen mehr. Die Beziehung wird sozusagen inzestuös, und das Unheil nimmt seinen Lauf. Die viel zu frühreife Lolita bräuchte jemanden, dem sie vertrauen kann, bräuchte Schutz und Umhüllung, einen Weg zurück in die Unschuld der Empfindungen – stattdessen begleitet sie ein Mann, der unrettbar ihren Körper begehrt...

                                                                                                                                       *

Und nun beginnt der zweite Teil des Romans, ihre ziellose Odyssee quer durch die Staaten, die nur dazu dient, das gewöhnliche Leben zu unterbrechen und das Mädchen in Besitz zu bekommen bzw. zu halten.[10]

Der morbide Missbrauch, der jetzt einsetzt, während er sie mit allerhand Unternehmungen bei Laune hält, offenbart sich sehr deutlich in folgender Stelle:[237]

Sehr häufig warf sie sich in der latschigen, gelangweilten Manier, die sie sich angewöhnt hatte, der Länge nach und abscheulich begehrenswert in einen roten Sprungfederstuhl oder [...] auf irgendeinen anderen Gartenstuhl, und es bedurfte stundenlanger Schmeicheleien, Drohungen und Versprechungen, damit sie mir in der Verschwiegenheit des Fünf-Dollar-Zimmers ein paar Minuten lang ihre braunen Glieder lieh, bevor sie etwas unternahm, das sie meinen armseligen Freuden vorzog.

Schon hier also gibt sie sich ihm nur noch hin, weil sie dazu fortwährend überredet wird, nicht, weil sie es möchte, sondern in einer Art beschämendem Handel oder gar unter Drohungen. Das beim ersten Mal ,aufregende Spiel’ ist einem Gefängnis gewichen, einem in Kauf zu nehmenden Übel.

Humbert auf der anderen Seite kommt immer mehr dazu, ganz und gar nur ihren lebendigen Körper zu begehren – was schon immer der Fall war, doch jetzt offenbart sich dies, indem es sich völlig kontrastiert gegen ,ihre Anfälle schlampiger Langeweile’, ,ihr fläziges, lustloses, stumpfäugiges Gehabe’[237] und seine Entdeckung, ,daß sie geistig ein ekelhaft konventionelles kleines Mädchen war’,[238] dessen Interesse auf süßlichen Jazz, Filmmagazine und so weiter beschränkt ist. – Aber auch hier ist deutlich, dass Humberts Inbesitznahme des Mädchens dessen Verhalten ebenso hervorruft, wie die ablehnende Art der Mutter es getan hatte. Nirgendwo hatte dieses Mädchen die heilige Mitte kennengelernt: echte Liebe, in der es sich geborgen fühlen kann, in Unschuld aufleben und in seinem wahren Wesen aufblühen kann, ohne eingeengt zu werden.

Humbert sieht ihr Verhalten nur unter dem Vorzeichen, wie er eine zunehmend ,fläzig-lustlose’ Lolita wieder, wenn auch nicht lust-voll, so doch zumindest willig bekommen kann. Er sieht vor lauter Begehren nicht, wie er das Mädchen völlig zugrunderichtet. Dabei geht er sogar so weit, angesichts ihres ständigen Widerstandes die Mutter ,zu verstehen’![11]

Die Blindheit Humberts für seine eigene Schuld lässt ihn sämtliche ,Begründungen’ und Drohungen anwenden, und tatsächlich hält er Lolita wiederholt lange Reden, die er – hier nur winzige Ausschnitte – wie folgt wiedergibt:[240ff]

Komm, küß deinen alten Papa [.] und laß die blödsinnigen Launen. [...] Ich will dich vor allen Schrecken behüten, Liebes, die kleinen Mädchen in Kohlenschuppen und Hintergäßchen zustoßen und leider auch [...] in Blaubeerwäldern im allerblauesten Sommer. [...] Ich bin kein krimineller Sexualpsychopath, der sich unanständige Freiheiten einem Kind gegenüber herausnimmt. Der Übeltäter war Charlie Holmes,[12] ich bin der Wohltäter [...]. [...] Sizilianer nehmen sexuelle Beziehungen zwischen Vater und Tochter als selbstverständlich hin. [...]

Zuletzt sagt er ihr, dass sie, die ,in einem anständigen Hotel einen Erwachsenen sittlich verdorben’ habe, wenn sie der Polizei sagen würde, er hätte sie verschleppt und vergewaltigt, selbst in ein finsteres Erziehungsheim kommen würde, wo sie ,unter der Aufsicht schrecklicher Hexen in einem dreckigen Schlafsaal hausen’ müsste.[243]

Wie sexualisiert das Verhältnis ist und wie sehr es das Mädchen sexualisiert, wird deutlich, als er schildert, dass sie nun, ,vielleicht infolge der dauernden Liebesgymnastik’ (!) trotz ihrer kindlichen Erscheinung ,eine unerklärliche schmachtende Glut’ ausstrahlt, die ,Tankstellenkerle’ und ,bronzebraune Idioten an blaugefärbten Pools’ ,dazu trieb, sich in Krämpfen von Begehrlichkeit zu winden’[257], zumal auch sie nun, sich ihrer Wirkung bewusst, ihnen teilweise schöne Augen macht.

In anderen Momenten, wo er ihr den Besuch eines Swimming-Pools ,mit anderen kleinen Mädchen’ gestattet, kann sie ausgelassen umhertollen, wieder fast ein unschuldig-fröhliches Mädchen wie alle anderen, freudestrahlend, während Humbert sie noch immer nur mit Begierde beobachtet: ,mit enganliegendem Satinhöschen und elastischem BH. Zwölfjähriger Schatz!’[260]

Diese Tragik muss man empfinden. Die Tragik eines moralisch und wirklich auch körperlich missbrauchten Mädchens, das in den seltenen Augenblicken einer echten Kindheit ein bereits verlorenes Paradies noch einmal für Momente zurückerobert – freudestrahlend... In dieser Szene liegt ein unendlicher Schmerz. Und selbst Humberts korrumpierte Seele muss etwas davon empfunden haben, etwas von dieser namenlosen, abgrundtiefen Schuld...

Die ergreifende Unschuld wird auch tief erlebbar in einer Szene, die sich ereignet, als er ihr das Tennisspielen beibringt – und sie dann mit einem Mädchen spielt, das Humbert ebenso anzieht, ,mit einer zarten, schwachen, wunderhübschen Gleichaltrigen’,[262] denn nun heißt es:[263]

[...] und meine ungeschickte Lo schlug nach dem Ball und verfehlte ihn, fluchte und hieb die primitive Imitation eines Aufschlags ins Netz, und der nasse, glitzernde junge Flaum ihrer Achselhöhle wurde sichtbar, wenn sie voller Verzweiflung den Schläger schwang, und ihre noch ungeschicktere Partnerin lief pflichtschuldig hinter jedem Ball her und schlug immer daneben; aber beide amüsierten sich großartig und riefen sich die ganze Zeit über mit klingenden Stimmen den genauen Stand ihres Ungeschicks zu.

In solchen Absätzen steigert sich Nabokovs Meisterschaft der Schilderung zu etwas Großartigem. Dies aber kann nur bewusst werden, wenn man in die Worte selbst eintaucht. Erst in diesem Eintauchen erlebt man das Wesen der Mädchen. Das bloß gedankliche Nachvollziehen, ,Lesen’ genannt, hört völlig auf, und es beginnt ein Erleben des Mädchenwesens von innen, ein Zum-Mädchen-Werden der eigenen Seele, weil nur im Identischwerden der eigenen Seele, bis in die körperlichen Empfindungen hinein wirkliches Mit-Empfinden, wirkliches Verstehen möglich ist. Nur dann versteht man, was ein Mädchen ist. Und nur dann erlebt man diese unbeschreibliche Unschuld. Jene Unschuld, die Nabokov hier meisterhaft schildert, indem er unnachahmlich den Zauber der ganz in Freude, Leben und unbeschwerter Handlung gleichsam aus der Zeit herausgehobenen Mädchen erlebbar macht.

Und dann, dies erlebend, kann man nicht anders, als tief gerührt zu werden, als tief eine reine Liebe zum Mädchenwesen zu empfinden – eine Liebe, die alles heilen würde, auch die eigene, in einen Abgrund gesunkene Moral.
Zu erleben, wie diese beiden unschuldig-freudigen Mädchen gleichsam stümperhaft den Bällen hinterherrennen, sich in das erwachsene System des ,Punktezählens’ fügen und in ihrem tiefsten Wesen doch eigentlich nur spielen wollen – das hat eine Größe, die nicht in Worte zu fassen ist. Hier wird etwas Unendliches sichtbar – und dies ist die absolute Heiligkeit unschuldigen Mädchenwesens, begleitet von dem Mysterium unschuldiger Kindheit überhaupt.[13]
Es geht um die tiefe Unschuld der Seele. Um das heilige Reich der Seele überhaupt. Gerade dies kann in seiner Heiligkeit gar nicht erfasst werden, wenn man nicht zum Erleben seiner Realität durchdringt. Hier liegt das wirklich, absolut Unantastbare. Hier liegt jene Realität, vor der man nur in Ehrfurcht stehen kann, um ihr gerecht zu werden und ihr wahres Wesen wahrzunehmen.
Die Unschuld eines Mädchens... Die Unschuld seiner in ihrem wirklichen Wesen noch ganz und gar reinen Seele... Dies aber als großes, als unendliches Mysterium erlebt. Darum geht es.

Hier liegt der Ursprung der Heiligkeit des Mädchenwesens. Hier liegt der Ursprung der Parthenophilie – der absoluten Liebe zum Mädchen und seinem Wesen...

Und man könnte sogar diese unbeschreibliche Unschuld und die Erotik seines erblühenden Leibes zusammen wahrnehmen, ungetrennt, und das Eine würde die Unschuld des anderen jeweils nur vergrößern – aber Humbert geht den entgegengesetzten Weg. Die kindliche Unschuld wird bei ihm zur Nebensache, die er zwar noch am Rande wahrnimmt, die aber völlig verdrängt wird von der erotischen Wirkung des Mädchenleibes – den er sich wiederum fortwährend aneignet, ihm gerade dadurch seine Unschuld nehmend, ja diese aussaugend wie eine Spinne.

Humbert geht nicht den Weg der reinen Wahrnehmung, die einen bis zu tiefer Erschütterung berühren, wirklich rühren, kann. Sondern er geht den Weg der Handlung, der Inbesitznahme – und damit verändert er alles. Er zerstört das, was er liebt. Er unterwirft der Gier seines Leibes dasjenige, was sich in völliger Unschuld ausleben sollte...

Wie gewaltsam dies in die unbeschwerte Kindlichkeit eingreift, wird in einer anderen Szene deutlich, als sie einem anderen Mädchen (,das kleinere Nympchen’) das Seilspringen beibringt – bis er eingreift:[264f]

[...] vergrub meine väterlichen Finger von hinten tief in Los Haar, umspannte freundlich, aber fest ihren Nacken und führte meine widerstrebene Schmusekatze zu einer raschen Vereinigung vor Tisch in unser kleines Heim.

Er nimmt sich das Recht, die Unschuld der Kindheit jederzeit zu unterbrechen und das Mädchen als halbwegs willfährige Sexsklavin ins Hotelzimmer zurückzuführen – und selbst der Sex, das fortwährende Nehmen ihrer Unschuld, ist bereits herabgesunken zu einer raschen Befriedigung seiner unerschöpflichen Lust kurz vor dem Essen, während dieses Stillen seiner Lust offenbar oft ohnehin mehrmals am Tag stattfindet...
Und eine Seite später: ,Wie süß war es, ihr den Kaffee zu bringen und ihn ihr dann zu verweigern, bis sie ihre Morgenpflicht erfüllt hatte.’[266] Es ist wirklich nichts anderes mehr als Sexsklaverei – getarnt als sanfte Erpressung, in einem Rahmen, dem das Mädchen gar nicht entkommen kann. Und die Tatsache, dass kein grober Zwang notwendig ist, wiegt Humbert in der Illusion, die Moralität sei noch nicht allzusehr verlassen... Die Leichtigkeit, mit der er das Mädchen immer wieder zwingen kann, reicht aus, um alle Bedenken jederzeit von dem immer anwesenden Begehren übertönt werden zu lassen.

Und Humbert schildert das wirkliche Geschehen, ohne zur Einsicht zu kommen – stattdessen wirft er ihr vor, nicht zu erkennen, wie glücklich sie mit ihm und seiner Lust, aber auch seinen ,Fähigkeiten’ sein könnte:[268]

Mit unbesonnener Neugier war sie in meine Welt eingedrungen, das umbrafarbene und schwarze Humberland; sie hatte diese Welt mit einem Achselzucken amüsierten Widerwillens in Augenschein genommen; und nun schien sie mir bereit, sich mit ausgemachtem Abscheu von ihr abzuwenden. Nie erzitterte sie unter meiner Berührung, und ein schrilles „Was fällt dir ein!“ war der Lohn für alle meine Mühen. Dem Wunderland, das ich zu bieten hatte, zog mein Närrchen die kitschigsten Filme, die klebrigste Schokoladensauce vor.

Humbert sieht nicht, dass die ,unbesonnene Neugier’ und die darin liegende Unschuld des Mädchens ihn sofort zur Umkehr hätten bewegen müssen. Dass jedes kleine Anzeichen von ,Widerwillen’ sofort heiliger Befehl zur Umkehr hätte sein müssen. Dass all seine ,Mühen’ von Selbstbezogenheit durchtränkt sind, nämlich von dem Bemühen, das Mädchen zu etwas zu bringen, was es nicht will.

Stattdessen lebt der Lolita-Körper-Süchtige dennoch in einem Paradies, das er meisterhaft wie folgt beschreibt. Fern davon, durch ihre fortwährende Abwehr unglücklich zu sein, erklärt er, man müsse sich vor Augen halten:[269]

[...] daß sich der verzauberte Wanderer im Besitz und im Bann eines Nymphchens jenseits des Glücklichseins befindet. Denn keine Seligkeit auf Erden ist der vergleichbar, ein Nymphchen zu liebkosen. Sie [...], diese Seligkeit, sie gehört einer anderen Gattung an, einer anderen Ordnung der Gefühle. Trotz [...] der grauenvollen Hoffnungslosigkeit der ganzen Sache lebte ich tief in meinem erwählten Paradies, einem Paradies, dessen Himmel die Farbe von Höllenflammen hatte – und das dennoch ein Paradies war.

Grandioser kann dies nicht beschrieben werden. Der von dem Begehren nach dem Körper eines bestimmten Mädchens Besessene kann dem Zwang dieses Begehrens nicht mehr entgehen – und will es auch gar nicht, denn das Ziel seiner Wünsche ist einzigartige Seligkeit. Diese Seligkeit aber macht blind für das Wahnsinnige, das er dem Mädchen antut, dem dieser Körper gehört... Die Liebe zu ihrem Körper wird irgendwie unausgesprochen identifiziert mit Liebe zu ihr – und doch richtet sie dieses ,ihr’ zugrunde. Es hofft, es erwartet eine Erwiderung dieser ,Liebe’ und empfindet, wenn diese nicht auftritt, eine ,Undankbarkeit’, aber es ist unfähig zu sehen, was wirklich geschieht. Das unbezwingbare Begehren nach dem Körper lässt das eigentliche Mädchen und sein Schicksal völlig unwichtig, unsichtbar werden. Dieses Mädchen wurde nie geliebt – immer nur sein Körper. Genau das ist die tragische Schuld von Humbert.

An einer Stelle, als er mit ihr an einem viel zu kalten, nebligen Strand badet, ,der Sand körnig und klamm’, erinnert er sich: ,und Lo betand nur aus Gänsehaut und Grieß, und zum ersten Mal im Leben verlangte es mich nach ihr so wenig wie nach einer Seekuh.’[270]
Eine solche Stelle trifft unmittelbar in das Herz seiner ganzen Schuld. Wie die Szene des unschuldigen Tennisspiels der beiden Mädchen könnten einen auch diese wenigen Worte zutiefst erschüttern. Denn wie unschuldig ist auch diese Szene! Ein junger Mädchenleib, der an einem viel zu kalten Strand bis ins Innerste friert – und dennoch voller Leben ist. Natürlich, ,Gänsehaut’ ist nicht mehr erotisch – aber ihr Anblick ist doch zutiefst berührend. Hätte Humbert nicht nur den Körper geliebt, sondern das Mädchen, so hätte sich auch bei diesem Anblick seine Liebe zu diesem Mädchen nur unendlich vertieft.
Die wirkliche Liebe wäre berührt worden. Humbert aber kennt nur die entgegengesetzte Bewegung: Er will berühren, ja nehmen. Er denkt nur an sich. Seine Wahrnehmung ist nie von Liebe durchdrungen. Liebe will nicht antasten, Liebe will das Gute für das geliebte Wesen, in reinster Aufrichtigkeit und heiliger Sanftheit. Liebe wird bis ins Innerste berührt, wenn sie das Geliebte allein nur sieht. Erst recht, wenn das Geliebte in zärtlicher Hilflosigkeit friert…

Die wahre Liebe ist so unendlich zärtlich, wie Humberts Begehren in seiner wahren Gestalt unendlich grob ist...

Und es ist erschütternd, dann eine Seite später zu lesen, wie Humbert über die amerikanische Wildnis schreibt:[271]

Sie ist schön, herzzerreißend schön, diese Wildnis, sie ist von einer großäugigen, unbesungenen, unschuldigen Hingabe, die meinen lackierten, spielzeugbunten Schweizer Dörfern und ausgiebig gepriesenen Alpen nicht mehr eigen ist.

Hätte er genau dies, zutiefst und einzig und allein dies, in dem Mädchen gesehen – diese grandiosen, ersten beiden Zeilen, die bei einem Mädchen absolut wahr sind –, und hätte er sich dann von diesem Sehen, Erleben, staunenden Erkennen ... berühren und erschüttern lassen, er wäre gerettet gewesen. Erlöst hinein in die Wahrheit des Mädchens, in seine wahre, unbeschreibliche, endlose Unschuld – die er niemals wieder hätte antasten wollen, wenn sie nicht von sich aus zu ihm kommen würde. Ganz und gar von sich aus...

Und die unermessliche Schuld ist ihm sogar wirklich bewusst, wenn er – zumindest im Rückblick – sagt:[284f]

Und ich ertappe mich bei dem Gedanken, daß unsere lange Reise nur das herrliche, vertrauensvolle, träumerische, unermeßliche Land mit einer gewundenen Schleimspur besudelt hat, das Land, das, rückblickend, uns nicht mehr bedeutete als eine Sammlung abgenutzter Landkarten, zerfledderter Reiseführer, alter Autoreifen und ihrer Schluchzer in der Nacht – jeder Nacht, jeder Nacht –, sobald ich mich schlafend stellte.[14]

Er wusste also von Anfang an, dass dieses Mädchen litt – und dass ihr Wesen jenes herrliche, vertrauensvolle, unermessliche Land war, das er besudelte, zerfledderte und zugrunderichtete. Doch jedes Zugeständnis an die offen zutage liegende moralische Erkenntnis hätte bedeutet, ihren Körper zu verlieren – und dies war dem Süchtigen wichtiger als das Glück der nur scheinbar Geliebten. Dem Körper verfallen, richtete er dessen unschuldige Trägerin zugrunde...

Als sie sich in einem Ort niederlassen, wo er das Mädchen auf eine Schule gibt, hält auch regelrechte Geldbestechung Einzug – was er ganz auf das Mädchen abwälzt, als ,nackte Habgier’ und ,Lolitas entschieden sinkende Moral’:[297]

Ihr wöchentliches Taschengeld, gezahlt unter der Bedingung, daß sie ihren elementaren Verpflichtungen nachkomme, betrug zu Beginn der Beardsley-Ära einundzwanzig Cent und stieg zum Schluß auf einen Dollar fünf.

Eindrücklicher kann man die schwüle Blindheit der Humbertschen Seele und den inzestuösen Sumpf, den er erschaffen hat, nicht auf den Punkt bringen. Dass das Mädchen diese winzigen Gegenleistungen erzwingt, rechnet er ihr als ,Habgier’ an – nicht anerkennend, dass seine Habgier einem Tsunami entspricht, der das Kind längst unrettbar mitgerissen und unter sich begraben hat.

In einer Szene kriecht er buchstäblich auf Knien zu ihrem Stuhl, wird aber von ihr nur ungläubig-gereizt abgewehrt (,Um Himmels willen, nicht schon wieder...’), woraus er in der Erinnerung den Vorwurf macht:[312]

Denn nie hast du zu glauben geruht, daß ich mich auch ohne bestimmte Absichten danach sehnen könnte, mein Gesicht in deinem Schottenrock zu vergraben, meine Liebste!

Und dieser eine Satz enthüllt die ganze Tragik. Denn jetzt, nachdem die Abweisung und Tragik des Mädchens immer unverhüllter zutage tritt – jetzt hat Humbert in seltenen Augenblicken offenbar auch einmal das Bedürfnis nach bloßer, nach reiner, aufrichtiger Zärtlichkeit. Jetzt, wo er sich das Mädchen unzählige Male genommen hat, wird ihm in einer leisen Ahnung deutlich, dass man es auch hätte lieben können... Doch noch immer fern von der Erkenntnis, dass er es ist, der das Leben des Mädchens zerstört hat, sieht er nur ihre Abweisung und sein Abgewiesenwerden, sieht er seine ,selbstlose, hilflose Sehnsucht nach Zärtlichkeit’ zurückgeschlagen, sieht er sich als Opfer einer mitleidlosen Abwehr, obwohl er bis dahin das Mysterium der Zärtlichkeit, die in ihrer Wahrheit identisch mit reiner, aufrichtiger Liebe ist, niemals gekannt hatte – immer war es nur Begehren und Lust nach ihrem Körper gewesen. Jetzt auf einmal, wo dieser so geschundene und missbrauchte Körper zurückschlägt, empfindet er eine erste Sehnsucht nach warmer Zärtlichkeit...

Hätte er dies von Anfang an empfunden, es hätte das ganze Verhältnis heiligen können...

In der Schule wird dann ein Theaterstück eingeprobt, mit Lolita in der Hauptrolle, das den gleichen Titel trägt wie das Hotel, in dem er sie das erste Mal vergewaltigte: ,Die verzauberten Jäger’. Später wird sich erweisen, dass Lolita hier längst Kontakt zu jenem Mann hat, der ihr dann zur Flucht verhelfen wird.

Indem sie ihm immer mehr mit Verachtung begegnet, zugleich inzwischen zwei Jahre älter geworden,

[...] gewahrte ich plötzlich mit einem beklemmenden Gefühl der Übelkeit, wie sehr sie sich [...] verändert hatte. [...] Der Mythos war jetzt zerstört. [...] Der dichte Nebel der Begierde war hinweggefegt [...]. Ihr Teint war jetzt der irgendeines gewöhnlichen unordentlichen Schulmädchens [...].[330]

Natürlich verliert sich in der Pubertät etwas von dem reinen Mädchenhaften. Aber Humbert realisiert nicht, wie sehr er dazu beigetragen hat, wieviel sich verloren hatte! Er spricht während der langen Beschreibung ihrer jetzigen Erscheinung von der ,Sackgasse ihres Gesichts’[331] – und hier liegt der Schlüssel. Er selbst hat das Mädchen bis ins Innerste ruiniert, gequält, ausgesaugt. Es ist für jeden, der nicht blind ist, vollkommen klar, warum sie ihn verachtet – und doch beschreibt er es noch immer wie ihre Schuld, dass sie keine elfenzarte Feenschönheit, kein ungestümes, lebensfreudiges Fohlen mehr ist...

In einer von dieser Atmosphäre geprägten Szene, die sich drohend zuspitzt, sagt sie ihm, dass er sie schon zu Hause mehrmals zu missbrauchen versuchte; dass sie sicher sei, er habe ihre Mutter umgebracht; und dass sie mit dem erstbesten Anderen schlafen werde, der ihr dies antrage. Sie versucht, sich aus seinem Griff zu befreien, aber:[333]

[...] ich hielt sie fest gepackt und tat ihr ziemlich weh und hoffe, daß das Herz in meiner Brust dafür verrotten wird, und ein- oder zweimal riß sie so heftig mit ihrem Arm, daß ich Angst hatte, ich könnte ihr das Gelenk ausrenken, und die ganze Zeit starrte sie mich mit diesen unvergeßlichen Augen an, in denen eisige Wut und heiße Tränen miteinander kämpften, und unsere Stimmen überschrien das Telephon, und als ich das Läuten schließlich wahrnahm, riß sie sich sofort los und floh.

Unglaublich offenbaren die heißen Tränen, was er ihr angetan hat, offenbaren die noch immer in ihr lebende Unschuld, die Trauer in der Seele des Mädchens. Und in den Worten des Rückblicks webt sich endlich die Empfindung der Reue hinein, indem der Erzähler nun selbst hofft, dass ihm das Herz in seiner Brust dafür verrotten werde, allein schon für einen einzigen, festen, brutalen Griff – der aber letztlich stellvertretend steht für alles, was in Wirklichkeit Gewalt und Unrecht gegenüber dem Mädchen war, das er nun, als er es längst in den Abgrund gestoßen hatte, lernt zu lieben, seine nicht wieder gutzumachende Schuld erkennend...

Nach dem Streit erwischt er sie auf der Straße in einer Telefonzelle. Sie aber schwindelt ihm vor, dass sie versucht habe, ihn zu erreichen, und spielt eine romantische Versöhnung – und bringt ihn dazu, mit ihr weiterzufahren, diesmal aber dahin, wo sie will. Humbert ahnt bald das Verhängnis, auch den unsichtbaren Verfolger, aber er hat keinen Ausweg mehr. Wie groß seine Eifersucht und zugleich seine geradezu pathologische Inbesitznahme inzwischen ist, zeigt eine Szene, in der er herausfinden will, ob sie kurz zuvor mit einem Nachbarjungen geschlafen hatte:[349]

Ich sagte nichts. Ich drängte ihre Weichheit ins Zimmer zurück und ging hinter ihr hinein. Ich fetzte ihr das Hemd vom Leib. Ich riß den Reißverschluß auf und zog den Rest herunter. Ich zerrte ihr die Sandalen von den Füßen. Ich unternahm eine wilde Verfolgungsjagd auf den Schatten ihrer Untreue; doch die Witterung, der ich folgte, war so schwach, daß sie von der Einbildung eines Verrückten nicht zu unterscheiden war.

Die Pathologie zeigt sich darin, dass Humbert einen schmerzhaften Griff im Rückblick bereut, nicht offensichtlich jedoch eine solche komplette Demütigung. Dass er von ihrer ,Untreue’ spricht, obwohl er sie in ein inzestuöses Verhältnis hineingezwungen hat. Wahnhaft beansprucht er etwas, was ihm nie gehörte – und verzweifelt gerade daran, dass er es nicht besitzen kann. Mit Gewalt versucht er, zu halten, was er längst verloren hat...

                                                                                                                                       *

Das Grandiose des Romans aber zeigt sich nun daran, dass er in diesem letzten Teil wirklich eine Wandlung von Humbert mit sich bringt – die den Roman in die Nähe der griechischen Tragödie rückt.

Ein zweites Mal erinnert er sich an ihr Tennisspiel, nun in der Zeit, als sie bereits die Schule in Beardsley besucht und vierzehn ist. Hier offenbart sie für Humbert eine vollendete Anmut und Grazie – und Nabokovs eigene Schilderung über mehrere Seiten ist hier einmal mehr meisterhaft. Er spricht vom ,äußersten Rand überirdischer Ordnung und Herrlichkeit’[374]. ,Sobald der Ball in ihren Herrschaftsbereich drang, wurde er irgendwie weißer’[375], und ihn überrieselt ,bei der Verarbeitung von soviel Schönheit geradezu ein fast schmerzhaftes Beben’[376]. Vor allem aber beschreibt er erneut eine geradezu unbeschreibliche Unschuld:[378f]

Sie, die im täglichen Leben so grausam und verschlagen sein konnte, legte beim Plazieren ihrer Bälle eine Unschuld, eine Offenheit, eine Gutmütigkeit an den Tag, die es einem zweitklassigen, aber entschlossenen Spieler, ganz gleich wie linkisch und unfähig, erlaubte, sich mit Ach und Krach zum Sieg durchzuwursteln. [...] Die geschliffene Glasperle ihres Stoppballs wurde von einem Gegner returniert, der vierbeinig zu sein schien und ein krummes Paddel schwang. Ihre dramatischen Drives und herrlichen Flugbälle landeten arglos zu seinen Füßen. Immer und immer wieder schlug sie einen leichten Ball ins Netz – und mimte lustige Bestürzung, indem sie sich mit einer in die Stirn hängenden Locke in Ballettpose ermattet sinken ließ.[15]

Sie will ihre Bälle nicht verschlagen, sie kennt einen heiligen Eifer, sie zu treffen und gut zu spielen – aber selbst wenn sie verschlägt, ist ihre ,Bestürzung’ von reinster Unschuld, von mädchenhafter Leichtigkeit. Ein Mädchen kennt keine Verbissenheit und keine Perfektion – es kennt nur Anmut und Grazie... Genauso ihr eigentliches Spiel gegen einen ,Gegner’. Völlig unbewusst spielt sie von sich aus perfekt, wendet aber keinerlei Augenmerk auf irgendein ,Treiben’ des Gegners, auf ,gemeine’, unerreichbare Bälle. Ein Stoppball, ein Angriff ans Netz ist technisch gesehen auf ein Gewinnen hin angelegt – aber das Mädchen in ihr achtet nicht darauf, sondern nur auf den fließend-harmonischen Spielablauf an sich. Ihre Liebe gilt dem Spiel selbst, nicht dem Gewinnen – oder eben nur dem mädchenhaften Gewinnenwollen, das zugleich noch immer unendlich freundlich ist... Der Mann in Humbert kann dies nicht begreifen.

Aber er nimmt es wahr, in großer Tiefe, und er spricht von ,der Unschuld ihres Stils, ihrer Seele und ihrer ureigenen Anmut’[379] – und kommt damit der Wahrheit so nahe wie nur irgend möglich. Im Tennisspiel offenbart das Mädchen ihm, was er immer hätte sehen sollen...

Und hier, im Tennis, als er selbst mit ihr spielt, versteht er sie für Momente von innen – denn auch er will sie nicht besiegen. Und dann zeigt sich seine ganze Liebe:[380]

Mein ziemlich stark geschnittener Aufschlag [...] hätte meine Lo in ernstliche Schwierigkeiten gebracht, hätte ich wirklich versucht, ihr Schwierigkeiten zu machen. Aber wer wollte ein liebes Mädchen mit solch strahlenden Augen ärgern? Habe ich je erwähnt, daß ihr nackter Arm die 8 der Pockenimpfung aufwies? Daß ich sie hoffnungslos liebte? Daß sie erst vierzehn war?

Hier, in diesen Momenten, nimmt selbst Humbert die Seele des Mädchens wahr – die Seele, die sich trotz ihres Geschundenseins und Missbrauchtwerdens auf einmal wieder in den strahlenden Augen eines Mädchens zeigt. Und mit diesem Blick, diesem bis ins Innere seines Herzens Getroffensein von dieser Wahrnehmung, offenbart er, dass er längst auch andere Winzigkeiten an ihr wahrgenommen hat – Details, die für sich ganz bedeutungslos sind, die aber offenbaren, wie sehr er dieses und nur dieses eine Mädchen liebt, kein einziges anderes. Wie sehr er auf einmal wahrnimmt, dass sie ,erst vierziehn’ war, noch absolut Kind...
In diesen Momenten wird Humberts Seele selbst unschuldig, denn in ihnen steigt eine ganz reine Liebe auf und löscht alles andere aus... In diesen Momenten sieht er die Wirklichkeit des Mädchens.

Und noch einmal wird ihre völlige Unschuld offenbar, als er den folgenden Ballwechsel schildert, der längst von einem weiteren Paar bewundernd verfolgt wird:[380f]

[...] einen Ballwechsel von über fünfzig Schlägen, zu dessen Gedeihen und Aufrechterhaltung Lo mir in aller Unschuld verhalf – bis es in der Serie zu einer Synkope kam, so daß ihr der Atem stockte, als ihr Schmetterball ins Aus ging, woraufhin sie sich vor fröhlichem Lachen bog, meine goldene Schmusekatze.

Doch längst ist die Möglichkeit vorbei, dieses Mädchen in Unschuld zu lieben. Und längst liegt ein Teil ihrer verbliebenen Unschuld darin, dass sie nun zugleich die Hoffnung hat, ihm endlich zu entkommen. Wenig später wird sie auf ihrer Reise so krank, dass sie ins Krankenhaus muss. Und hier endlich holt sie dann der geheimnisvolle Verfolger, der sich als Onkel ausgibt, ab – und Humbert steht vor der Tatsache ihres Verschwindens.[400]
Viereinhalb Monate lang verfolgt er nun die Spur zurück, prüft in hunderten von Hotels und Motels die Übernachtungslisten und kommt dem Fremden, der in seine wechselnden Pseudonyme raffinierte Anspielungen eingebaut hat, immer näher.

Schließlich meldet sich Lolita selbst nach drei Jahren mit einem Brief bei ihm. Sie ist verheiratet und bittet ihn (,Lieber Pappi!’) um Geld, damit sie und ihr Mann von einigen Schulden loskommen und neu anfangen können...[434]
Voller Hass sucht er sie auf – um ihren Mann umzubringen. Ihm wird jedoch klar, dass dieser nicht das Ziel seines Hasses ist. Lolita gesteht ihm auf seine Frage, wer sie damals wirklich gerettet hatte, und dass jener, Quilty, der Einzige gewesen sei, nach dem sie je verrückt gewesen sei.
Als Humbert fragt, ob er jemals ,gezählt’ habe, wird in einem langen Augenblick erneut die ganze Tragik erlebbar. Sie tut die Frage schließlich ab, sagt, er solle sich nicht so anstellen, und dass sie glaube, er sei immerhin ein guter Vater gewesen.[444]

Was sie von Quilty dann noch erzählt, offenbart aber eine liederliche Lebensweise mit Alkohol, Rauschgift und sexuellen Perversionen. ,Sie habe sich geweigert mitzumachen, denn sie liebte ihn ja, und er habe sie rausgeworfen.’[450] Sie war dann herumgezogen, hatte in Restaurants gejobbt, schließlich ihren Mann Dick kennengelernt und war nun schwanger.

Und jetzt offenbart sich wirklich Humberts Liebe für dieses eine Mädchen:[452]

[...] da lag sie mit ihrem ruinierten Aussehen, ihren erwachsenen schmalen Händen mit den dicken Adern, ihren weißen Gänsehautarmen, ihren flachen Ohren und unrasierten Achselhöhlen [...], hoffnungslos verbraucht mit siebzehn [...] – und ich konnte mich nicht satt sehen an ihr und so genau, wie ich wußte, daß ich sterben müsse, wußte ich auch, daß ich sie mehr liebte als alles, was ich auf Erden je gesehen oder vorgestellt oder mir irgendwo erhofft hatte. Sie war nur noch das schwache Echo – Veilchenhauch und Herbstlaub – des Nymphchens [...] aber Gott sei’s gedankt, es war nicht nur dies Echo, das ich anbetete.

In diesem Augenblick ereignet sich eigentlich die innere Umkehr Humberts, und seine Liebe wächst zu einem grandiosen, gleichsam heiligen Bekenntnis – und einer erschütternden Erkenntnis:[453]

Alles das, dies ganze sterile und selbstsüchtige Laster, ich verwarf und verfluchte es. Sie können mich verhöhnen [...]. Ich bestehe darauf, daß die Welt weiß, wie sehr ich meine Lolita liebte, diese Lolita, blaß und besudelt, mit eines anderen Kind unterm Herzen, aber immer noch grauäugig, noch rußbewimpert, noch rotbraun und mandelweiß [...]. [...] Einerlei, sogar wenn diese ihre Augen kurzsichtig wie Fische würden und ihre Brustknospen schwöllen und aufsprängen und ihr berückendes, junges, samtzartes Delta befleckt und von Geburten zerrisen wäre – auch dann noch wäre ich wahnsinnig vor Zärtlichkeiten beim bloßen Anblick deines lieben blassen Gesichts, beim bloßen Klang deiner rauhen jungen Stimme, meine Lolita.

Dies ist die völlige Abkehr von der Begierde, es ist das schmerzliche Erkennen, dass er sie liebt, mit allem. Das schmerzliche Erkennen, wie vergänglich ein Leben ist, wieviel er ihr angetan hat, aber inmitten dessen diese Erkenntnis: dass er sie liebt... Hilflos liebt...

Und dann fragt er sie – auch wenn er glaubt, dass es keinen Sinn hat –, ob sie nicht doch noch einmal mit ihm kommen würde... Sie glaubt, er meine, sie solle mit in ein Motel gehen, damit er ihnen das Geld gebe. Er widerspricht ihr und gibt ihr das Geld, und sie nimmt es unsicher, überrascht. Es ist weit mehr, als sie erbeten hatte.

Ich bedeckte mein Gesicht mit der Hand und brach in die heißesten Tränen meines Lebens aus. Ich fühlte, wie sie durch meine Finger rannen, am Kinn entlang, und wie sie brannten, und meine Nase verstopfte sich, und ich konnte nicht innehalten [...]. [454]

Dies ist die Apotheose der Liebe. ,Lolita’ ist ein Liebesroman – aber erst ganz am Ende. Und das macht ihn zur Tragödie. Die Möglichkeit ist vorbei. Das ruinierte Mädchen, Lolita, hat nicht mehr die Möglichkeit, einen Weg mit Humbert zu gehen. Sie hat jetzt Dick – und sie hat ihre bezaubernde Unschuld längst verloren. Es ist nichts mehr übrig. Und Humbert selbst ist es, der die Schuld daran trägt.
Sie verneint seine letzte Hoffnung – und nennt ihn ein erstes und einziges Mal ,Lieber’... Noch einmal fragt er sie, ob nicht eine winzige Aussicht bestehe, dass sie irgendwann, ,eines Tages, egal wann’[456] sich entschließen könnte, mit ihm zu leben – und wiederum verneint sie.

Und dann fuhr ich durch den Nieselregen des vergehenden Tages, die Scheibenwischer waren in vollem Gang, aber außerstande, mit meinen Tränen fertig zu werden.[457]

Nun erkennt er ganz und gar seine Schuld – und nimmt sie an, in unauslöschlicher Reue:[461]

[...] nichts konnte meine Lolita je die schmutzige Lust vergessen machen, die ich ihr aufgezwungen hatte. Solange mir nicht bewiesen werden kann – mir, wie ich jetzt, heute, bin [...] –, daß es im unendlichen Lauf der Dinge kein Jota ausmacht, wenn ein minderjähriges nordamerikanisches Mädchen namens Dolores Haze von einem Wahnsinnnigen ihrer Kindheit beraubt wird, solange dies nicht bewiesen werden kann (und wenn es bewiesen werden kann, dann ist das Leben ein Witz), solange sehe ich kein anderes Mittel gegen mein Elend als die schwermütige und sehr punktuelle Linderung, ihm künstlerischen Ausdruck zu geben. Einen alten Dichter zu zitieren:
     Es zahlt der Mensch mit der Moral den Preis,[16]
     Daß er soviel von Menschenschönheit weiß.

Mit anderen Worten: Jetzt erlebt Humbert seine Schuld ganz und gar, erlebt, worin sie besteht, erlebt ihr ganzes Ausmaß – eine unwiderbringliche Kindheit, für immer verloren. Und er empfindet die Realität des Moralischen, von Schuld, von Reue, weil er jetzt, jetzt, wo es zu spät ist, so viel von Menschenschönheit weiß... Weil er jetzt die ganze Schönheit von Lolitas verlorener Kindheit und Jugend sieht... Wie sie hätte sein können, wie sie sogar noch inmitten all des Missbrauchs war, und wie nun aber nichts mehr davon übrig ist, wie seine Gier all dies vernichtet hat...

Und die auferstehende Moralität erinnert in aller Deutlichkeit diejenigen Momente, die wie Schlüsselmomente der unbeschreiblichen Tragik sind – und die er damals überhaupt nicht in ihrer ganzen Tiefe erkannte.[17] So erinnert er sich an den Tag, an dem er ,zu leugnen beschloß, was doch nicht wegzuleugnen war, die Tatsache nämlich, daß ich für sie kein Geliebter war [...], sondern nichts als zwei Augen und ein Fuß[18] geschwellten Fleisches’[462] Er hatte ihr am Vorabend irgendeine unschuldige Freude versprochen, und diese dann doch widerrufen. Und nun erinnert er sich, wie er:

[...] vom Badezimmer aus durch die Zufallskombination zweier Spiegel und der halboffenen Tür ihr Gesicht erblickte, in dem ein Ausdruck lag ... ich kann ihn nicht beschreiben ... ein Ausdruck so vollkommener Hilflosigkeit [...] [462]

Und jetzt ist ihm klar, welche ,Tiefen berechnender Fleischeslust’ ihn einzig und allein davon abhielten, ,zu ihren geliebten Füßen niederzufallen’ und seine ganze Eifersucht ,jedem mir unbekannten Vergnügen zu opfern, das Lolita sich [...] in einer Außenwelt versprechen mochte, die für sie die wirkliche war.’[462f]
Dies ist die Bewegung der Liebe – der tiefen Selbstlosigkeit, weil die Liebe nicht anders kann, als zu schenken, denn sie liebt ja... Die Liebe würde nie nehmen, sie würde immer geben... Nun hat Humbert sie gefunden. Zu spät...

Und er erinnert sich an einen anderen kleinen Vorfall, der sich ereignete, als sie zusammen für ein Konzert in einer Schlange standen. Ein Junge machte eine Bemerkung, und sie gab eine Antwort, die mit dem Sterben zu tun hatte und völlig im Widerspruch zu dem stand, was er an ihr fortwährend an Oberflächlichkeiten wahrnahm. Da:[463]

[...] durchfuhr es mich, daß ich von dem, was im Kopf meiner Liebsten vor sich ging, nicht die geringste Ahnung hatte und daß es hinter den schrecklichen jugendlichen Klischees sehr wahrscheinlich einen Garten in ihr gab und ein Zwielicht und ein Palasttor – dämmrige, anbetungswürdige Regionen, zu denen mir, in meinen besudelten Lumpen und mit meinen elenden Zuckungen, der Zugang klarsichtig und unwiderruflich verwehrt war.

Anbetungswürdig – genau das trifft es. Hätte sich Humbert dem Mädchen mit dieser Haltung gegenüber ihrer Seele genähert, dann hätte er sie, ihre Seele, mit Sicherheit kennenlernen dürfen.[19] Sie hätte sich ihm in ganz anderer Weise anvertraut. Und er wäre vor der Schuld seiner Fleischeslust bewahrt geblieben. Was ihm von Anfang an fehlte, war die heilige Ehrfurcht vor dem, was in jedem Mädchen anbetungswürdig ist, weil es heilig ist, auch wenn es nicht wahrgenommen wird...

Er erkennt nun, dass alle Gespräche über das nicht Oberflächliche aus ganz anderen Gründen nicht möglich waren. Dass sie und ein älterer Freund oder ein normaler Geliebter sehr wohl über ,Kunst, Dichtung [...], Gott oder Shakespeare, alles Echte’ hätten sprechen können.

Sie kleidete ihre Verletzlichkeit in billige Unverschämtheit oder Langeweile [...].[464]

Ihre Verletzlichkeit! Ihr reales Verletztwerden. Der fortwährende Missbrauch ihrer verletzlichen Unschuld. Wie kann man mit demselben Menschen über das ,Echte’ sprechen? Aber dazu kam eben die Maske. Das Ordinäre, das Oberflächliche – es war größtenteils Schutz, Schutz einer viel tieferen, dahinterliegenden Verletzlichkeit. Und dahinter stand die unnennbar große Hoffnung, ja Bitte, nicht verletzt zu werden – aber Humbert tat es täglich von neuem.
Er erinnert sich an Zeiten, wo er wusste, wie ihr zumute war, ,und es war die Hölle, es zu wissen’[464]; an Augenblicke der Zärtlichkeit nach erfüllter Lust, an eine nahe Bereitschaft zur Reue – und an die erneuten Siege der wieder aufsteigenden Lust gegenüber der selbstlosen und reinen Zärtlichkeit.[465]

Mit anderen Worten: Humbert hatte viele Momente, in denen er deutlich sah und spürte, was er tat – und er tat es trotzdem, getrieben von seiner Fleischeslust, wegwischend, was seine reinere innere Stimme bereits so deutlich wusste.

Kurz darauf schildert er die erschütternde tiefere Unschuld des Mädchens durch die Tatsache, dass sie ,für Fremde immer ein bezauberndes Lächeln hatte, ein zartes, flauschiges Schlitzen der Augen, ein traumerisches, süßes Strahlen all ihrer Züge’[465f] – und zugleich war diese ,zarte, nektarsüße, von Grübchen übersäte Helligkeit’ gar nicht unmittelbar auf den anwesenden Fremden gerichtet, sondern ,schwebte sozusagen in ihrer eigenen, fernen, blühenden Leere’.[466]

Es ist ganz unmöglich, diese Passagen bei Nabokov aus dem Zusammenhang zu reißen – man muss sie im Grunde alle selbst lesen, um in diese einzigartige Stimmung eintauchen zu können. Aber immer und immer wieder bleibt dann das tiefere Erleben einer heiligen Unschuld zurück, die immer wieder das lesende Herz in den Mittelpunkt dessen führt, was das Wesen des Mädchens ist. Etwas, vor dem man nur in Ehrfurcht verstummen kann...

Der Roman endet dann damit, dass er jenen Quilty in seinem Haus aufsucht, mit ihm redet und ihn schließlich langsam, schrittweise erschießt – obwohl dieser ihm sagt, dass Lolita ihn selber gebeten hatte, ihn ,in ein glücklicheres Heim zu bringen’,[491] und er ihr nichts angetan hatte.

Nach der Tat hält Humbert an einem Aussichtspunkt, von dem aus er weiter unten ,die Melodie spielender Kinder’ hören konnte. Er kann sich daran nicht satt hören, bis ihm auf einmal auch hier klar wird, was es wirklich ist, das ihn so sehr an diese Melodie bindet:[502]

[...] und dann wußte ich, daß es nicht das Fehlen Lolitas an meiner Seite war, was diesen hoffnungslosen Schmerz verursachte, sondern das Fehlen ihrer Stimme in diesem Chor.

Mit dieser Empfindung geht dieser großartige Roman zu Ende. Mit einem heiligen, unauslöschlichen Schmerz, der doch nichts wiedergutmachen kann. Der nur einen einzigen Trost bietet: dass der Erzähler doch endlich die wahre, unschuldige Liebe gefunden hat...[20]

                                                                                                                                       *

Auf Wikipedia findet man Hinweise auf den Streit der ,Gelehrten’, was ,Lolita’ denn nun für ein Roman sei. Ein vielbachteter Essay von Trilling[21] deutet ihn als Liebesroman. Lolita bleibe wie in der höfischen Minnelyrik die grausame Geliebte. Humbert zeige am Ende seine wahre Liebe und sei insofern ,der letzte Liebhaber’. Dieter E. Zimmer[22] dagegen wirft Trilling vor, auf Humberts eigene Darstellung hereingefallen zu sein, mit der er die Geschworenen gewinnen wolle. Humbert erfülle keine der drei Bedingungen wirkliche Liebe: dass sie nicht nur auf einen Typus gerichtet sei, dass sie ihrem Ziel keinen Schaden zufügen wolle und dass dieses Ziel die Chance haben müsse, einwilligen zu können.[23] Zimmer resümiert:[24]

Ein Etwas, das Liebe sein könnte und möchte, zerstört das Geliebte und sich selbst. Amüsant zu lesen, konfrontiert uns Lolita mit der tragischen Möglichkeit, dass Liebe und Sex sich ausschließen können.

Es ist im Grunde erschütternd, mit welcher Abstraktheit die Literaturkritiker sich einem solchen Werk zuwenden – und es theoretisch tot-diskutieren. Trilling bleibt dabei völlig in der Theorie, indem er Minnesang und ,Lolita’ parallelisiert und das Mädchen als die grausam Abwehrende interpretiert. Falscher kann man wohl nicht liegen! Aber auch Zimmer bleibt in der bequemen Welt der Theorie und erhebt sich haushoch über den Roman, indem er kommentiert: ,amüsant zu lesen’ – als ob es um keinerlei dramatische, zutiefst berührende Realitäten ginge!

Dass ,Liebe und Sex sich ausschließen können’, ist eine absolute Binsenweisheit – und war es auch schon zu Nabokovs Zeiten. Es macht dabei keinen Unterschied, ob das weibliche Wesen eine Frau oder ein Mädchen ist. Doch Humbert ist eben gerade nicht jener Typus, der auf der bloßen Suche nach Sex seinen Körper rücksichtslos ,bis ans Heft in seine jugendliche Braut rammt’. Und das hängt damit zusammen, dass seine Liebe oder sein Begehren sich nicht einfach auf irgendein Sexualobjekt richten, sondern auf ein Mädchen, auf ,eine Nymphe’ – was Zimmer in seinen allgemeinen Betrachtungen völlig unberücksichtigt lässt.

Der große Unterschied zum ,lieblosen Sex’ ist, dass Humbert dem Objekt seiner Begierde ja selbst verfallen ist – und dass er zunächst ausdrücklich ihre ganze Unschuld bewahren will, dass er zunächst sehr wohl Ehrfurcht vor dieser hat. Er liebt den Körper dieses Mädchens – und ist hilfloses Opfer seines eigenen Begehrens. Dennoch will er dem Mädchen niemals wehtun oder sich einfach nur befriedigen. Die Mädchenliebe – auch seine – hat eine viel tiefere Dimension.

Die drei von Zimmer genannten Bedingungen der Liebe könnte man auch nennen: Individualität, Zärtlichkeit, Freilassen. Natürlich ist es wahr, dass Humbert am Anfang einen Typus liebt, dass er in seinem Begehren nur an sich denkt und dass er dem Mädchen letztlich keine Chance gibt. Wahr ist aber auch, dass all dies am Ende – zu spät – völlig umschlägt: dass er ganz und gar sie liebt, dass er im Grunde nur noch selbstlose Sehnsucht hat und eigentlich alles aufzugeben vermag, und dass er sie um eine letzte Chance bittet. Es ist erstaunlich, wie wenig diese Kritiker in Zwischentönen denken können oder sich von dem wirklichen Inhalt dieses Romans berühren lassen.

Auch der Gedanke, Humbert wolle die Geschworenen überzeugen und auf seine Seite ziehen, ist ganz hinfällig, denn er schildert vollkommen ehrlich seine eigene dunkle Seite, macht keinerlei Versuch, den Leser dazu zu bewegen, ihm in seinen eigenen Deutungen von der ,Schuld’ Lolitas zu folgen – und bekennt am Ende voll und ganz, wie sehr er in diesen Jahren in einem schrecklichen Irrtum befangen war. Der Roman ist durch und durch ehrlich und beschönigt nichts. Er ist keine Verteidigungsrede, sondern ein Geständnis. Aber eben auch: ein Geständnis der späten, viel zu späten, wahren Liebe gegenüber dem zugrunde gerichteten Mädchen. Und dass dies ernst genommen wird, dieses Recht hat Humbert – denn es ist das Einzige, mit dem er ein Winziges an seiner Schuld wiedergutmachen kann: wenn wenigstens der Leser versteht, dass er das Mädchen am Ende wirklich geliebt hat, voller Reue.
Zimmer will Humbert bis zum Ende als Schuldigen dastehen lassen – und bestraft Lolita so im Grunde ein zweites Mal, nämlich mit der Behauptung, sie wäre Opfer eines Menschen gewesen, der bis zum Ende nur ein Lustmensch geblieben sei. Das aber ist nicht wahr. Es ist abgrundtief unwahr.

Der Einzige, den Humbert zunächst betrügt, ist er selbst – sich lügt er etwas vor, um seiner Lust folgen zu können. Den Geschworenen gegenüber schildert er aber auch dies unverhüllt. Er lässt letztlich kein gutes Haar an sich – denn dies würde auch seiner Liebe zu Lolita widersprechen. Er hat nichts zu beschönigen. Wenn er am Anfang schildert, wie sie ,Schuld’ hat, dann nur, um entlarvend deutlich zu machen, wie er damals dachte. All diese Irrtümer fallen auf ihn zurück – denn der Leser und Geschworene erlebt natürlich den Irrtum, und Humbert weiß ihn selbst auch längst.
Es wäre gänzlich sinnlos, wenn Humbert nach jener Läuterung, die das grandiose Ende des Romans bildet, die Geschworenen noch irgendwie belügen wollte; sinnlos und falsch, was seine gefundene Liebe zu Lolita betrifft, denn diese besteht gerade in der vollen Anerkennung der Schuld.

Zugleich macht der Roman bzw. Humberts Schilderung aber auch deutlich, wie sehr sich die ,Nymphchenliebe’ von gewöhnlicher Sexsucht unterscheidet. Dem Sexbesessenen geht es allein um diesen: um Sex. Dem von einem Nymphchen Besessenen geht es um die Nähe zu diesem. Der Erstere könnte letztlich mit jeder Prostituierten oder sogar Plastikpuppe Vorlieb nehmen. Der Letztere braucht die lebendige Nähe des Nymphchens – und muss sie nicht einmal selbst belästigen, wenn sie ihn nur in ihrem bloßen Dasein erregt und beglückt.
Der ,Sex’ von Humbert bindet das Mädchen zunächst nur ganz unbemerkt ein – und seine Seligkeit besteht bereits in jeglicher Berührung ihres zarten Mädchenkörpers.
Damit aber unterscheidet sich die ,Nymphophilie’ von der Sexsucht als bloßer Triebabfuhr deutlich und wesenhaft. Dass auch die ,Nymphophilie’ natürlich, wenn die Möglichkeit besteht, in einer sexuellen Vereinigung mündet, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie keine Sucht nach Sex, sondern ein Begehren von Nymphen ist – ein grundlegender Unterschied. Ein Humbert würde, vor die Wahl gestellt, ohne zu zweifeln auf den Sex verzichten, nicht aber auf die Nymphe...

Humberts Tragik war, dass er durch Lolitas Initiative glaubte, beides haben zu können – und als dies einmal geschehen war, das Mädchen dazu brachte, es immer wieder zu tun, weil er nun auch dieser ,Seligkeit’ verfallen war. Ursprünglich jedoch hatte er geglaubt, Jahre zu brauchen, um sich ihr vorsichtig annähern zu können. Das ist keine Sexsucht. Es ist eine wahnsinnige Sehnsucht nach der Nymphe als solcher.

Dann gibt es da noch den Pornografie-Vorwurf damaliger Kritiker. Nabokov selbst äußert sich in seinem Nachwort dahingehend, dass der Begriff in der Moderne ganz zu banaler Obszönität herabgesunken ist und ,jede Art ästhetischen Genusses von primitiver sexueller Stimulierung ersetzt werden muß’.[511] Vor diesem Hintergrund ist aber die Frage, was dieser Vorwurf in Bezug auf seinen Roman eigentlich soll. Mancher Leser, so Nabokov, erwartete nach den ersten Kapiteln eine zunehmende Folge schlüpfriger Szenen, was aber gar nicht der Fall ist. Den Verlegern, die das Manuskript nicht zu Ende lasen, bescheinigt er vielmehr einen anderen Ablehnungsgrund:[512]

[...] denn wenigstens drei Themen gibt es, die für die meisten amerikanischen Verleger absolut tabu sind. Die beiden anderen sind: eine Heirat zwischen Schwarz und Weiß, die zu einer glücklichen Ehe mit einer Unzahl von Kindern und Enkelkindern führt; und der absolute Atheist, der ein glückliches und nutzbringendes Leben führt und mit hundertsechs Jahren sanft entschläft.

Er weist damit auf den Rassismus und religiösen Fanatismus als jene zwei Tendenzen hin, die die amerikanische Gesellschaft bis heute durchziehen. Und das dritte Tabu ist eben – die Nymphophilie. Die Liebe zum Mädchen (Parthenophilie) oder, das Alter vor die Geschlechtsteife legend, zum Kindmädchen (Pädophilie).
Das bedeutet: Rassismus, Mord, Gewalt in der Ehe, Grausamkeit und so weiter – all das darf problemlos in literarischen Werken bis hin zur Schundliteratur behandelt werden, Krimis etwa sind ein unüberschaubarer Literaturzweig mit einem vor Gewalt triefenden Bücherberg. Rassismus in der Realität, Gewalt in der Ehe und so weiter, dies alles ist ebenfalls Normalität. Aber was nicht behandelt werden darf, nicht einmal als Literatur, das ist die Liebe zum Mädchen – oder, im Falle Humberts, die Besessenheit vom Mädchenleib. Dies ist ein Tabu, das Morde, Rassismen und alle übrigen Grausamkeiten angeblich in den Schatten stellt.

Verleger X [...] hatte die Naivität, mir zu schreiben, der zweite Teil sei zu lang geraten. Verleger Y wiederum bedauerte, daß in dem Buch keine guten Menschen vorkämen. Verleger Z meinte, wenn er Lolita drucke, kämen er und ich ins Gefängnis.[513]

Und verächtlich blickt Nabokov auf die modernen Pharisäer:[514]

[...] kann ich nur die Akkuratesse des Urteils jener bewundern, die schöne junge Säugetiere für Illustriertenphotos posieren lassen, auf denen der Ausschnitt gerade tief genug ist, um den Philister zu ergötzen, und gerade hoch genug, um nicht das Stirnrunzeln des Zensors zu erregen.

,Lolita’ schildert eine existenzielle Begegnung, die in Tragik endet – und diese Tragik liegt auf dem sexuellen Gebiet, das nun einmal zu den verletzlichsten, aber auch begehrtesten Bereichen des Menschenwesens gehört. Jede Furcht vor dem Roman, aber auch jede Zensur, kann nur eine grundlegende Scheinheiligkeit offenbaren. Denn der Roman schildert in einer schonungslosen Ehrlichkeit eine psychische Realität, und er hat die Größe einer griechischen Tragödie. Dies gerade – der Lebensbezug und die existenzielle Tiefe – ist es, was ihn, zusammen mit seiner sprachlichen Meisterschaft, zu einem Meisterwerk erhebt.

,Lolita’ zeigt einen Aspekt der Mädchenliebe in einer tief wahren Gestalt, in künstlerisch genialer Umsetzung.

Hätte Humbert von Anfang an gewusst, was Liebe ist, so hätte er einen Weg gehen können, jene Geschöpfe, die er so sehr liebte – und dann jenes eine –, auch wirklich zu lieben, so, wie er es erst am Ende vermochte. Hätte er am Anfang jene Liebe gehabt – jene heilige Empfindung, die ihn auch mit seiner ersten Liebe verbunden hatte –, so hätte es auch mit Lolita einen Weg geben können, den man den Weg der Liebe hätte nennen können. So aber ging Humbert den Weg der Lust – der erst am Ende, als er das Geschöpf seiner Liebe seiner Lust geopfert hatte –, ein Weg der Liebe wurde und dieses Geschöpf lieben lernte.

Für Humbert war es zu spät. Dennoch kann gerade sein Schicksal ein Licht auf das Wesen von Liebe überhaupt werfen – auch auf das Wesen der Liebe zu einem Mädchen. Heute wird eine solche Liebe noch immer als Tabu betrachtet – weil man jedem Erwachsenen dann sofort unterstellt, ein potenzieller Humbert zu sein. Aber dann wäre auch jeder Ehemann ein potenzieller Frauenvergewaltiger. Und real ist vielleicht auch jeder Mensch ein potenzieller Mörder. Aber gerade deshalb kommt es darauf an, das Gebiet der Seele wirklich kennenzulernen und in eine wie auch immer geartete Pflege zu nehmen. Und hierbei kommt, das ist meine unerschütterliche Überzeugung, den Mädchen eine auf ewig nur zu unterschätzende Aufgabe zu.
Ohne Begegnung mit dem Mädchen wird diese Welt untergehen. Wenn die Welt aber die Begegnung mit dem Mädchen unterbindet, ist sie bereits auf dem besten Wege dazu. Denn das Mädchen kann einen die Liebe lehren – die wirkliche Liebe. Es ist ihre große Lehrerin – weil sein Wesen so sehr aus Unschuld besteht.

Und nicht jeder Mann ist ein potenzieller Humbert – aber jeder Mann ist nicht nur potenziell, sondern in seiner Tiefe erfüllt von Liebe zum Mädchen...[25] Nur sind wir dabei, dies zu vergessen.
 

Fußnoten


[1] Siehe Seite 336-342. • Die Hauptperson Arthur beobachtet in einem Park ein Mädchen, zu dem er sich hingezogen fühlt, und heiratet bald darauf die verwitwete Mutter, die später an den Folgen einer Operation stirbt. Als die Annäherung an das Mädchen in einem Hotelzimmer eklatant scheitert, wirft er sich vor einen Lastwagen. Wikipedia: Der Zauberer. • Noch immer fast unbekannt ist, dass bereits 1916 eine kleine Erzählung ,Lolita’ in einem Erzählband von Heinz von Lichberg erschien, die Nabokov auch aufgrund ihrer sonstigen Ähnlichkeit gekannt haben muss.►7

[2] Wikipedia: Vladimir Nabokov.

[3] Zu den vielen Aspekten in seinem Werk vergleiche www.nabokovsnympholepsy.com.

[4]● Vladimir Nabokov: Lolita. Reinbek bei Hamburg 1997. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern.

[5] Vergleiche: ,Sein honigfarbenes Haar schmiegte sich in Ringeln an die Schläfen und in den Nacken, die Sonne erleuchtete den Flaum des oberen Rückgrats, die feine Zeichnung der Rippen, das Gleichmass der Brust traten durch die knappe Umhüllung des Rumpfes hervor, seine Achselhöhlen waren noch glatt wie bei einer Statue, seine Kniekehlen glänzten, und ihr bläuliches Geäder ließ seinen Körper wie aus klarerem Stoffe gebildet erscheinen.’ Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Frankfurt am Main 1954, S. 38.

[6],Lolita is not about sex, but about love. Almost every page sets forth some explicit erotic emotion or some overt erotic action and still it is not about sex. It is about love.’ Lionel Trilling: The Last Lover. Vladimir Nabokov’s Lolita, in: Harold Bloom (Ed.): Vladimir Nabokov’s Lolita. New York 1987, p. 5-11, hier 5. Ebenso schon mit selbem Titel in: Encounter 11/1958. Zitiert nach Andrea Bramberger: Die Kindfrau. Lust, Provokation, Spiel. München 2000, S. 28.

[7] Vergleiche auch: ,Ihre kleinen Äpfelchen scheinen schon ganz gut entwickelt. Frühreifer Schatz!’[79] • Dies mag einerseits noch so ,liebevoll’ gemeint sein. Es ist auf der anderen Seite degradierend. Auch hier wird das Mädchen zum Objekt – angeschaut nur unter dem Aspekt des begierdevollen Zieles.

[8] Etwas später vergleicht er beide wie folgt: ,Wie anders waren ihre Bewegungen als die meiner Lolita, wenn sie in ihren geliebten schmutzigen Bluejeans, nach Nymphchenlands Obstgärten riechend, zu mir hereinschaute: verlegen und koboldig, und ein wenig verderbt, die unteren Knöpfe ihres Knabenhemds nicht geschlossen.’[149]

[9] Lolita erzählt ihm, wie im Camp der frühreife dreizehnjährige Sohn der Campleiterin erst mit einer fünfzehnjährigen Blondine geschlafen habe, während sie Wache halten musste, und wie sie dann auch dazu gebracht wurde, es ,mal auszuprobieren’, woraufhin sie es dann abwechselnd getrieben hätten.[222f] • Man darf sich aber, zurückkommend auf Humberts Frage, ob bereits ein Blick das Schicksal eines Mädchens verändert, mit vollem Recht fragen, ob Lolita sich dem Jungen nicht doch verweigert hätte – oder sogar vermuten, sie hätte dies getan –, wenn es nicht die Wochen davor gegeben hätte: Wochen sexuell-erotischer Aufladung, in denen der begehrende Mann fortwährend ihre Nähe suchte, bis auch sie sich auf dieses ,Spiel mit dem Feuer’ einließ.

[10] Hier dürfte Nabokov von einem realen Fall inspiriert worden sein, auf den er am Ende sogar Bezug nimmt: ,hatte ich etwa Dolly angetan, was Frank Lasalle [...] der elfjährigen Sally Horner angetan hatte?’[472] • Der 52-jährige arbeitslose Mechaniker La Salle hatte 1948 Florence Sally Horner beobachtet, wie sie als Mutprobe einen billiges Notizblock stahl, gab sich als FBI-Agent aus und entführte sie. Fast zwei Jahre lang fuhr er mit ihr durch die USA und missbrauchte sie regelmäßig, bis er im März 1950 festgenommen wurde. Zweieinhalb Jahre später starb das Mädchen bei einem Verkehrsunfall. Wikipedia: Lolita & Wikipedia englisch: Florence Sally Horner. • Die Irrfahrt Humberts liegt zeitlich unmittelbar vorher: ,August 1947 bis August 1948’.[247]

[11],Charlotte, ich fing an, dich zu verstehen!’[239]

[12] Dies war der Sohn der Camp-Leiterin, an den Lolita ihre Unschuld verlor. Zuerst hatte sie immer nur ,Wache’ gehalten, während er mit einem anderen Mädchen ,kopulierte’,[222] und sich geweigert, ,es mal auszuprobieren’, aber ,Neugier und Kameraderie überwogen’.[223]

[13] Und man überlese nicht, sondern erlebe zutiefst auch die ,klingenden Stimmen’ der beiden ins Spiel versunkenen Mädchen, die sich mit dieser himmlischen Unschuld einer Mädchenstimme zurufen, ,wie es steht’, obwohl es sie letztlich überhaupt nicht interessiert, wer ,zurückliegt’ oder ,vorne liegt’, weil jede Konkurrenz der Erwachsenenwelt hier völlig irrelevant ist! Klingende Stimmen... • Gerade diese Stelle offenbart dasjenige, was ich zuvor erlebbar zu machen versuchte, es ist der Höhepunkt der Schilderung, an der die Unschuld der Mädchen so offenbar wird wie eine Engelserscheinung.

[14] Bramberger verweist auch auf die eindringlich dargestellten ,Stummen Schreie’ von Sue Lyon in Kubricks Verfilmung. Und Kafka: ,Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen. Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, daß sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiß nicht. Franz Kafka: Das Schweigen der Sirenen, in: Gesammelte Erzählungen. Frankfurt 1986, S. 304-305, hier 305, zitiert nach Andrea Bramberger: Die Kindfrau. Lust, Provokation, Spiel. München 2000, S. 58.

[15] Dieses unglaublich reine, mädchenhafte Phänomen, gar nicht gewinnen zu wollen, schreibt er ganz offensichtlich fälschlicherweise der Tatsache zu, dass ,etwas in ihr durch mich gebrochen worden’ war.[377] • Letzteres ist zwar wahr, hat aber nichts mit jener Unschuld zu tun, die sich gerade hier, in ihrem Tennisspiel, noch ganz ungebrochen offenbarte! Er schreibt, sonst hätte sie zu ihrem vollendeten Stil auch den ,Willen zum Sieg’ gehabt – und erkennt nicht, dass das Wesen des Mädchens gerade darin besteht, diesen Willen nicht zu haben. • Ein Mädchen verwirklicht so in Vollkommenheit den zentralen Satz aus Schillers ,Ästhetischen Briefen’: ,Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt’. Das Mädchenwesen ist frei von jedem Zwang – auch von dem des Ehrgeizes, der einen Verlierer braucht. In reiner Anmut und Schönheit taucht es nur in das Spiel als solches ein – absolut unschuldig.

[16] Das Wissen um Menschenschönheit wird also damit ,erkauft’, fortan auch ,Moral’ zu haben – eine ungeheure Last der Verantwortung, die das Leben aber überhaupt erst wahrhaft menschlich macht. ,Preis’ ist sie nur für den, der sie manchmal am liebsten abwerfen würde – doch die wirkliche Moral will dies natürlich niemals ernsthaft. Sie ist nicht ein ,Kostenfaktor’, sondern im Gegenteil ... kostbar. Der höchste Preis, den ein Mensch erringen kann: seine Seele immer mehr in das heilige Reich des Moralischen einzutauchen... Auch dazu bringt ein Mädchen eigentlich unmittelbar – in dem Moment, wo man von seinem Wesen berührt wird... • Das Moralische ist nicht Last am Bein, sondern Krone, Himmelsgeschenk, das wahre Wesen des Menschen. Das Mädchen zieht zu dieser Sphäre ,hinan’ (Goethe), weil seine Unschuld selbst aus diesen Höhen stammt.

[17] Die selbstlose Liebe erinnert sich an alles, selbst scheinbar winzigste Momente, in denen aber gerade alles liegt, was die andere Seele in dem Moment so tief und berührend erlebte. Noch unendlich gesteigert besteht aus solchen Erinnerungen die sogenannte ,Lebensrückschau’ nach dem Tod, wo ja die Seele wirklich selbstlos wird. Was andere Menschen durch die eigenen Taten erlebt haben, wird nun wirklich mit deren Augen gesehen und erlebt.

[18] Längenmaß, rund 30 Zentimeter – eine groteske Übertreibung für die Länge eines Penis, aber, mit den Augen von Lolita gesehen, nur deren ganzer Abscheu entsprechend.

[19] Humbert fand immer nur ihren Körper anbetungswürdig – und dies stand für ihn nie im Widerspruch zu seinem Begehren, war vielmehr eins damit. Wenn aber ,anbetungswürdig’ nicht viel mehr bedeutet als ,wert in Besitz genommen zu werden’, ist die Sphäre heiligen Berührtwerdens völlig verlassen und die breite Straße des Missbrauchs betreten... Es ist der Unterschied und die Polarität von Sehnsucht und Gier, von Verehrung und Sich-Nehmen, von echter Anbetung und Unterwerfung.

[20] Und an seine Liebe selbst richtet er dann noch gedanklich die Worte: ,Sei deinem Dick treu. Laß keinen anderen dich berühren. Sprich nicht mit Fremden. Ich hoffe, du wirst dein Baby liebhaben.’[504]

[21] Lionel Trilling (1958): The last lover. Vladimir Nabokov’s ,Lolita’. Encounter 11, 9-19.

[22] Dieter E. Zimmer: Wirbelsturm Lolita. Auskünfte zu einem epochalen Roman. Reinbek bei Hamburg 2008.

[23] Wikipedia: Lolita (Roman).

[24] Zimmer, a.a.O., S. 56, zitiert nach Wikipedia.

[25] Und dies gilt schon für das Begehren: ,Quite often it is a thinly veiled line which separates the Humbert from the normal adult male. Perhaps the difference between them is as minute as the provocation and proximity of an attractive Lolita.’ Russell Trainer: The Lolita Complex. New York 1966, p. 63. • Mit anderen Worten: Nur der bisherige Mangel eines entsprechenden Erlebnisses führt zu der scheinheiligen – aber eben oft auch selbst geglaubten Behauptung –, man habe für eine Lolita rein gar nichts übrig...