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Rice: Belinda (1986)
Anne Rice ist vor allem mit dem zwölfbändigen Zyklus der ,Vampir-Chroniken’ berühmt geworden. Unter dem Namen Howard Allen O’Brien (geb. 1941) in New Orleans als Tochter irischer Einwanderer geboren, suchte sie sich mit Eintritt in eine katholische Mädchenschule den Vornamen Anne aus. Während der Collegezeit wandte sie sich vom kirchlichen Glauben ab und wurde nach dem Leukämie-Tod ihrer kleinen Tochter Atheistin, fand dann aber erneut zum Glauben zurück, kehrte sich jedoch 2010 wegen der extremen Einstellungen vieler amerikanischer Christen ganz vom institutionellen Christentum ab. 1976 erschien ihr erster Vampirband ,Interview with the Vampir’[1], 1985 bis 2016 folgten aufgrund des Erfolges nach und nach elf weitere Bände. Unter einem Pseudonym verfasste sie 1983 bis 1985 außerdem eine ,Dornröschen’-Trilogie mit sadomasochistischer Erotik, die in Deutschland indiziert wurde. 2005 und 2008 erschienen zwei Bücher über das Leben von Jesus Christus.[2]
In ihrem bereits 1986 unter dem Pseudonym Anne Rampling geschriebenen Roman ,Belinda’ geht es um eine Liebesgeschichte zwischen einem Mann und einem Mädchen.[3]
,Wer war sie?’ Das war der erste Gedanke, der mir in den Sinn kam, als ich sie in der Buchhandlung sah. [...]
Sie fotografieren, sie malen. Unter ihren kurzen karierten katholischen Schulmädchenrock fassen und die seidige Haut ihrer nackten Schenkel berühren, ja, an all das dachte ich auch, ich muss es zugeben. Ich dachte daran, sie zu küssen, um zu sehen, ob ihr Gesicht so weich war, wie es aussah [...].[3]
Jeremy Walker ist ein gefeierter Kinderbuchautor von Mitte vierzig[382], dessen bebildertes Werk – in dem es immer wieder um kleine Mädchen in geheimnisvollen Häusern geht – sogar in Galerien zu sehen ist und der nun in einer Buchhandlung eine Autogrammstunde für sein neues Werk gibt. Als er das fünfzehn-, höchstens sechzehnjährige Mädchen erblickt, das ihn anlächelt, muss er sich zwingen, sie nicht anzustarren. Kaum kann er sich auf die Lobeshymnen diverser Bewunderer konzentrieren, und er vergewissert sich immer wieder, ob sie noch dasteht. Dann aber ist sie plötzlich weg. Aber während er überall sonst ,leere Gesichter’ empfindet, war in ihren Augen ,jemand zu Hause gewesen’.[9]
Wenig später macht ihn seine Agentin Jody ein zweites Mal auf das Mädchen aufmerksam, das wieder da ist – nun mit einem seiner älteren Werke in der Hand. Und dann spricht sie ihn an.
Eine tiefe Stimme, die mich an Karamell oder geschmolzene Schokolade denken ließ [...], fast die Stimme einer Frau aus ihrem Kleinmädchenmund. Ich hielt es kaum aus.[10]
Sommersprossen auf der Nase, etwas Maskara auf ihren Wimpern, tiefblaue Augen, kaugummi-pinkfarbener Lippenstift, ,und was für ein Lächeln – atme ich noch?’[11] Bevor er weiß, was er tut, lädt er sie zu der anschließenden Presseparty ein.
Als sie mit einem Fahrstuhl die oberen Räume des Hotels erreicht haben, sagt er ihr, dass er sie malen möchte. Sie geht in ein offenes Schlafzimmer. Schließt die Tür und lehnt sich dagegen.
Ihr Gesicht war so ernst, noch so unschuldig. [...]
,Tu das nicht, Liebes’, sagte ich.
,Willst du nicht?’, fragte sie.
Mein Gott. Ich hatte gedacht, sie würde so tun, als würde sie mich nicht verstehen.
[...] Und sie kam langsam auf mich zu. Hob ihre Arme und legte sie um meinen Hals [...], ihre Brüste an meiner Brust, ihr süßer Mund öffnete sich.[16-17]
Nachdem sie miteinander geschlafen haben, ist er tatsächlich für eine halbe Stunde eingeschlafen, und das Mädchen ist weg.[4] Es war deutlich, dass sie bereits Erfahrungen hatte. ,Und doch war sie so zart, so vollkommen romantisch in der Art, wie sie geküsst, berührt, sich berühren lassen hatte.’[19]
Dann taucht sie bei ihm zu Hause auf, und er erfährt, dass sie in einer billigen Absteige mit Kakerlaken und ohne Warmwasser wohnt, mit anderen, als letzte gekommen.[24] Als er nach ihren Eltern fragt, wehrt sie diese Frage strikt ab. Er bietet ihr an, in einem Himmelbett zu schlafen – allein.
,Ich schlafe, wo du willst’, sagte sie. [...]
Sie dachte wahrscheinlich, sie sähe erwachsen aus. Aber ihr Nagellack, die Schminke und die Cocktailkleider verwandelten sie in Wirklichkeit in eine Art Kinderporno...
[...] Kinder müssen nicht nackt sein, um sexuell auszusehen. Du kannst sie versinnlichen, indem du sie einfach wie Erwachsene aussehen lässt, sie erwachsene Dinge tun lässt.
Das Problem mit dieser Theorie war, dass sie genauso sexy ausgesehen hatte, als ich sie das erste Mal in ihrer katholischen Schuluniform gesehen hatte.
,Warum schläft du nicht mit mir in dem Himmelbett?’, fragte sie.[26-27]
Er geht nicht darauf ein, aber bald darauf sagt sie direkt, dass sie wünschte, er würde sich in sie verlieben – weil er es wert sei, dass man sich in ihn verliebe. Und wenn sie sich lieben würden, würde sie sich nicht mehr herumtreiben müssen.[29]
Er sagt ihr, dass sie wunderschön sei – und als sie ihn fragt, ob er nicht eine düsterere, geheimnisvollere ältere Frau bevorzuge, erwidert er: ,Bin mit zweien verheiratet gewesen. Es war interessant. Aber du bist etwas anderes.’[30]
Trotz ihrer Lebenserfahrung – sie raucht, verträgt Alkohol – wird immer wieder deutlich, wie unschuldig das Mädchen ist:
Die Haut um die Augen ganz gestrafft, so dass nur ein kleiner Saum um ihre Wimpern lief. So etwas sah man bei den Gesichtern sehr kleiner Kinder. Gewöhnlich verliert es sich in den Teenagerjahren, wenn sich das Gesicht mehr modelliert. [...] Trotz der Schminke sah ihr Gesicht noch ganz jungfräulich aus – so, wie es nur ein blondes Gesicht tun konnte.[30]
Als er doch wieder nach ihren Eltern fragt, geht sie – so dass er sie an der Tür gerade noch aufhalten kann. Mit belegter Stimme sagt sie ihm noch einmal fast weinend, er könne sie rauswerfen, aber niemals wieder ihre Eltern erwähnen. Dann lässt sie zu, dass er sie küsst – ,und sie war von neuem reine Wärme und schmelzende Süße’.[31]
Er macht Fotos von ihr in einem Nachthemd, unter anderem auf einem Karussellpferd im Wohnzimmer – und sie posiert nicht, sondern bewegt sich mit einer wunderbaren Natürlichkeit. ,Kein Lächeln, aber sie schaute weich, empfänglich, offen.’[35][5] Und dann schläft er ein zweites Mal mit ihr.
Als sie wieder gegangen ist, sucht er sie in dem Bezirk, den sie genannt hatte, kann sie aber natürlich nicht finden. Um nicht fortwährend nur an sie denken zu müssen, malt er ein Bild von ihr auf dem Pferd. Und dann malt er ein zweites Bild von ihr – nackt.
Das nächste Kapitel beginnt mit Hintergründen in Zusammenhang mit seinem Freund Alex Clementine, der gerade eine Biografie veröffentlicht hat. Als Schauspieler hat er mit vielen Berühmtheiten gespielt und dann eine regelmäßige Rolle in der Serie ,Champagne Flight’ bekommen – Seite an Seite mit Bonnie, einer zweiten Brigitte Bardot und Star früherer Erotikfilme. Ihr neuer Mann Marty Moreschi war Drehbuchschreiber, Produzent und Direktor der Serie. Einige Monate zuvor hatte sie ihn schwer verletzt, als sie ihn mit einem Einbrecher verwechselt und auf ihn geschossen hatte. Der Vater ihres Kindes jedoch war der attraktive, landesweite New Yorker Hairdresser George Gallagher.[43ff]
Jeremy fragt Alex nun, warum er manche Dinge in seiner Biografie nicht geschrieben habe. Alex erwidert, es sei zu riskant, und die Leute würden die Wahrheit auch gar nicht wollen. Jeremy hält dagegen und sagt, die Stars breiteten heute ihre Skandale aus, und die Leute mögen sie trotzdem. Alex behauptet, sie würden nicht alles sagen – und verweist darauf, dass auch Walker die letzten zwei Romane seiner bereits kranken Mutter selbst geschrieben habe.[47ff]
Jeremy fotografiert Belinda erneut – wieder auf dem Pferd und diesmal tatsächlich nackt.
Fast lächelte sie. Und dann tat sie es. Vollkommen unbewusst. Einen Moment lang konnte ich es nicht fassen. Ich war von ihrem Anblick paralysiert.
Eine Ahnung hatte mich überkommen, die Vorahnung einer Katastrophe, die stärker schien als alle Furcht, die ich je gekannt hatte. Ich fühlte mich schuldig, sie anzusehen. Ich fühlte mich schuldig, bei ihr zu sein und diese Bilder von ihr zu machen.[61]
Aber zugleich erlebt er, dass die Bilder, die er von ihr gemalt hat, viel besser sind als alles, was er bisher gemacht hatte. – Als er sie ihr zeigt, findet sie sie wundervoll. Er versichert ihr, dass niemand anders sie je sehen werde. Sie erwidert, er könne sie jedem zeigen, wenn sie erwachsen sei. Als er antwortet, sie würde das später sicher nicht mehr wollen, reagiert sie geradezu heftig. Als er ihr sagt, er würde, selbst wenn er sie zeigen wollte, damit seine Karriere ruinieren, schreit sie empört, warum er die Bilder dann male, und will hinaus:[64f]
„Was denkst du, was ich bin?“, blitzte sie. „Etwas Dreckiges? Etwas, wofür du dich schämen musst? [...] Ich bin schlecht für dich – das ist es, was du sagst. Ich bin Jailbait.[6] Ich bin etwas Unerlaubtes und Schmutziges und –“
Sie bricht in Tränen aus, und trotz seiner Bitten läuft sie weg: ,Ich hasse dich.’
Jeremy befürchtet, sie verloren zu haben, da klingelt später das Telefon. Belinda nennt ihn schluchzend Daddy. Ein Mitbewohner habe seine Freundin erstochen, und die Polizei glaube nicht, dass sie schon achtzehn sei, er müsse sie bitte holen kommen. – Als er sie auf diese Weise rettet und ihr anbietet, bei ihm zu wohnen, ist sie noch immer misstrauisch und verletzt. Aber Jeremy meint es ernst.
„Ich liebe dich auch, weißt du“, sagte sie, noch immer weinend. „Ich meine, ich wollte ein amerikanisches Kind [völlig frei, H.N.] sein, ich wollte es wirklich. [...] Aber du bist wie ein Traum, weißt du [...], und –“
„Und du auch, kleines Mädchen“, sagte ich.[72]
Sie lernen einander kennen, erzählen sich voneinander und ,sie hörte in jener wunderbar verführerischen Weise zu, in der junge Frauen Männern zuhören können’.[83]
Immer wieder ist auch hier die Unschuld eines solchen Mädchens angesprochen, seine Hingabefähigkeit. Und in voller Übereinstimmung damit beklagt sich Jeremy, als er seine zwei Scheidungen erwähnt, über den sonst üblichen amerikanischen Lebensstil, in dem Freunde und Psychiater einen bei der kleinsten Unannehmlichkeit zur Trennung überreden:
Ich beobachte das jetzt fünfundzwanzig Jahre lang. Wir sind alle stolz, unsere erworbenen Lebensstile zu genießen, und beachte, das Schlüsselwort ist ,erwerben’. Wir sind gierig und egoistisch. Wir alle.
Die moderne Frau will ,sich selbst verwirklichen’ und heiratet bei Problemen den nächsten. Der Mann genauso. Aber ein junges Mädchen hört mit dieser verführerischen Hingabe zu – und der Mann würde gerade deshalb umgekehrt auch alles für sie tun. Denn er liebt die Unschuld des Mädchens...
Verführerisch ist die Hingabe im Zuhören deshalb, weil sie wunderschön ist. Das ganze Mädchen ist in seiner Hingabe wunderschön – unbeschreiblich schön. Diese unschuldige Hingabe ist zusammen mit der übrigen vollkommenen Natürlichkeit für den Mann von einer übernatürlichen Schönheit, der nichts anderes gleichkommt. Es ist das Geheimnis jugendlicher Anmut – das Geheimnis des Mädchens...
Der tiefe Zauber liegt in der Schönheit der Jugend, des jungen Weiblichen, des Mädchenleibes, und der Schönheit der Mädchenseele. Das Mädchen ist eben unendlich viel mehr als nur zarte Haut und zarte Schönheit – es ist auch zarte Hingabe und damit unbeschreibliche innere Schönheit.
Eine unbeschreibliche Wirkung auf die Seele des Mannes hat es, wenn dies beides zusammentrifft. Der Liebreiz der Jugend mit dem Wunder der Unschuld. Nicht umsonst ist die schon sprichwörtliche ,Unschuld vom Lande’, mag sie noch so verspottet werden, für immer begehrenswert und gehört ihr das heimliche Herz des Mannes – nicht dem erfahrenen, selbstbewussten ,Stadtkind’. Und so mag auch Belinda bereits sehr ,erfahren’ sein – was aber auf Dauer Jeremys Herz gewinnt, ist ihre trotz allem offensichtliche Unschuld, ihre Romantik, ihre Hingabefähigkeit. Dasjenige, was sie nicht zu einem bloßen ,street girl’ macht, sondern zu einem Mädchen.
Jeremy kann nicht verstehen, was sie an ihm findet – und in ihm lebt daher der Zweifel, sie glücklich machen zu können:[85]
,Belinda, was kann ich dir geben – außer schönen Klamotten und einem Dach über deinem Kopf?’, fragte ich. ,Sag es mir, Liebes. Sag es mir einfach. [...] Ich bekomme, was ich will und was ich brauche, aber du –’
,Du fühlst dich noch immer schuldig wegen mir, nicht wahr?’ Sie sah aus, als ob sie gleich weinen würde, dann aber lächelte sie in der süßesten, sanftesten Weise. ,Liebe mich einfach...’
Es ist deutlich, dass ein Mann niemals fassen kann, dass ein Mädchen ihn einfach so liebt – dass dies möglich ist. Ein Mann wird immer denken, dass er dem Mädchen zu wenig gibt – weil dieses ihm so viel gibt. Denn dies ist das Geheimnis des Mädchens. Bereits sein Mädchensein gibt dem Mann mehr, als er, aus seiner Sicht, je zurückgeben könnte. Deswegen ist die Liebe eines Mannes zu einem ihn wahrhaft liebenden Mädchen unendlich...
Das Mädchen könnte seinerseits meinen, dass es viel zu wenig gibt. Aber es besitzt unendlich viel – und weiß dies gar nicht. Und was es besitzt, das gibt es in jedem Moment, weil es von ihm ausstrahlt. Das Mädchen gibt in jedem Moment sich selbst – das ist sein Geheimnis. Und das ist auch das Geheimnis seiner Unschuld. Die Unschuld leuchtet heimlich, sie schenkt sich in jedem Moment, weil sie nichts zurückhält. Das Mädchen ist in seiner jugendlichen Anmut, die in seinem Mädchensein besteht, wie eine zarte Sonne, die gar nicht nicht sanft leuchten kann. Sie tut es immer. Und wenn sie es nicht mehr tut, ist das Mädchen kein Mädchen mehr...
Zugleich erzählt sie Jeremy aber auch vom Leben auf der Straße. Mit neun hatte sie ihre erste Periode, den ersten Sex hatte sie mit einem Jungen, der sich mit fünfzehn schon täglich rasieren musste. Und zugleich steht alles, solange man nicht erwachsen ist, unter Strafe. Man wird sozusagen mit jeder Zigarette in die Kriminalität gedrängt – und kann jahrelang nur ,spielen’, so tun als ob, bis man endlich erwachsen ist.[87]
Belinda beschreibt im Grunde das trostlose Leben unzähliger Jugendlicher, die in eine sinnlose Welt gestoßen werden, die von Erwachsenen geschaffen wurde. Eine Welt, in der die Jugend gleichsam nicht existiert – in der von dieser nur erwartet wird, sich anzupassen, nicht aufzufallen und sich im übrigen auf das Erwachsensein vorzubereiten. Um dann in einer Welt weiterzuexistieren, die nach wie vor kalt und sinnlos ist. Das Problem der Jugend, die möglichst schnell ,erwachsen’ tun will, ist zugleich die Offenbarung des Versagens der Erwachsenen, eine Welt zu schaffen, in der es sich für die Jugendlichen zu leben lohnt. In der sie zum Beispiel angenommen werden, wie sie sind, selbst wenn sie frühreif sind.
Dass Jugendliche sich mit Zigaretten, Alkohol und auf der Straße wohler fühlen als ohne und dass sie schon unglaublich früh den Sex suchen, sagt viel über die Erwachsenenwelt, ihre Verlogenheit und ihr Versagen aus. Es ist keine gute Welt, in die die Jugendlichen hineinwachsen sollen – und diese lehnen die Welt, die die Erwachsenen ihnen vorsetzen, ab. Und die Frage ist: Wie müsste eine Welt aussehen, gegen die die Jugendlichen nicht aufbegehren müssten?
„[...] Ich will, dass mein Leben anfängt. Ich will, dass dieser Mist vorbei ist.“
„Für dich ist er vorbei“, sagte ich.
Sie sah mich an.
„Weil du bei mir bist“, sagte ich. „Und jetzt bist du okay.“
„Nein“, sagte sie. „Es ist nicht vorbei. Es bedeutet, dass du und ich jetzt beide kriminell sind.“[89]
Je höher das ,age of consent’ – das Alter, in dem Mädchen (und Jungen) überhaupt die Fähigkeit zur Zustimmung auch sexueller Kontakte zugestanden wird – heraufgesetzt wird, desto mehr Mädchen (und Jungen) werden kriminalisiert. Das Gesetz behauptet, dass ein Mädchen zwar schon mit neun Jahren geschlechtsreif sein könne, aber sechs Jahre später noch immer nicht entscheiden und wirklich beurteilen könne, was es tut und möchte. So werden junge Menschen, die möglicherweise schon jahrelang miteinander schlafen, unmündig gehalten und kriminalisiert – und mit ihnen auch die Erwachsenen, die ihnen ,zu nahe’ kommen. Selbst wenn das Mädchen dies möchte.
Sie warf ihre Arme um meinen Hals, küsste mich. Sanft-heiße Kollision von Armen und Wangen. Saftig-süßer Babymund.[95]
Immer wieder fragt sich Jeremy nach ihrem Hintergrund und beauftragt schließlich seinen eng vertrauten Anwalt Dan, etwas über sie herauszubekommen:[99]
„Was für eine Verbindung hast du mit ihr?“
„Ich lebe mit ihr.“
„Du tust was!?“
„Ich will davon nichts hören. Ich will wissen, wer sie ist, wo sie herkommt –“
„– Du willst davon nichts hören! Sie ist sechzehn, und du willst davon nichts hören? [...] Weißt du, was es bedeuten kann, wenn du mit diesem Kind erwischt wirst? [...] Jeremy, erinnerst du dich, was mit Roman Polanski passiert ist?“
Der Anwalt nennt Belinda also ein Kind und vergleicht die Situation mit einer Nötigung bzw. Vergewaltigung. Dies zeigt die ganze Situation der Gesetzeslage, denn in vielerlei Hinsicht gelten die Jugendlichen längst bis zum Erwachsenenalter als ,Kind’, weil immer weniger unterschieden wird, dass es auch noch die Jugend gibt. Durch den Begriff des ,age of consent’, das wiederum immer weiter heraufgesetzt wurde, wird es letztlich gleichgültig, ob eine Vergewaltigung stattfindet oder ein beiderseitig gewünschtes zärtliches Geschehen. Das letztere existiert vor dem Gesetz schlicht nicht, weil das Mädchen noch nicht ,entscheidungsfähig’ ist – und damit wird selbst die Zärtlichkeit zur ... Vergewaltigung vor dem Gesetz.
Dan weist darauf hin, dass, wenn die Eltern reich sind, noch der Vorwurf des Kidnapping obendrauf kommen kann. Und letztendlich sei er Kinderbuchautor und würde auch hier seinen gesamten guten Ruf zu verlieren haben. – Und all das, weil das Mädchen, um das es geht, vor dem Gesetz entmündigt ist und weil die Öffentlichkeit diejenigen Menschen, die es allein etwas anginge, nämlich den Mann und das Mädchen, ebenfalls entmündigt und mit ihrem öffentlichen Urteil vergewaltigt. ,Wer möchte schon ein Kinderbuch lesen oder für sein Kind kaufen, wenn der Autor ein sechzehnjähriges Mädchen liebt? Was für ein Perverser!’[7]
Und Dan spricht aus, wie sehr eine kriminalisierende Gesetzgebung und Öffentlichkeit inzwischen das hartherzige Heft übernommen hat:
„Das sind nicht mehr die Sechziger, Jeremy. Die Blumenkinder sind weg. Die Feministen und die ,Moral Majority’[8] tun sich heutzutage zusammen, um die Kinderschänder dranzukriegen. Dies ist keine Zeit, um –“[101]
Die hiermit verbundenen Fragen behandelt ausführlich der achte Band.
Jeremy macht weitere Fotos mit ihr – nun in einem weißen Nachthemd mit Perlen. Und plötzlich erinnert er sich an die ganze Atmosphäre der Erstkommunion... Insbesondere daran, wie die Mädchen aussahen – in ihren wunderbaren Kleidern, Haaren, Seidenbändern. ,Und die Mädchen sahen aus wie kleine Bräute, atemberaubend.’[109]
Und wiederum liegt hier das ganze Geheimnis der Unschuld. Denn hier kommt alles zusammen: Das Unschuldige, das Heilige, das Keusche, das unsagbar Schöne...
Und das Geheimnis des Mädchens ist, dass es in seiner ganzen Seele Braut ist, etwas unendlich Heiliges...
Jeremy kauft entsprechende europäische Nachthemden, die am ehesten an dieses Unschuldige herankommen. ,Die Atmosphäre der Kirche kam mit bittersüßer Macht zurück. Dinge, die völlig verloren waren, für immer fortgewesen waren.’[112]
Er schmückt das ganze Schlafzimmer mit Blumen und Kerzen, und Belinda soll ein Gebetbuch und einen Rosenkranz halten. Er ist sich klar darüber, dass es sich um eine offensichtliche Blasphemie handelt, da der religiöse Kontext nur nachgestellt ist, und trotzdem berührt ihn das Motiv und die Schönheit des Mädchens darin zutiefst. – Kann man hier nicht unmittelbar spüren, was es ist, das so sehr berührt?
Und dann haben beide, der Mann und das Mädchen, gerade hier auch körperlich wiederum ein Liebeserlebnis, das von allergrößter, intensivster Anziehung geprägt ist. Die heilige und zugleich so leidenschaftliche Anziehung zwischen dem Mann und dem Mädchen...
Glücklich schlafen sie danach ein. Als sie wieder erwachen, sieht er von neuem ihre ganze Schönheit:[118]
In ihre Augen zu schauen, ängstigte mich fast ein wenig. Sie spähte aus diesem Körper heraus, und ich glaube nicht, dass sie wusste, was für ein Wunder sie war. Wie könnte irgendein Kind das wissen?
Ebendies ist das Wunder: Ein Mädchen weiß nicht, wieviel es schenkt, jeden Moment. Und es geht eben nicht nur um den Körper – sondern unendlich stark auch um jenes Wesen, das in diesem Körper aus ihm ,herausschaut’...
Belinda bekommt dann mit, wie Jeremy einen Anruf von seinem Antwalt erhält – und spürt, dass irgendetwas ist. In einer herzzerreißenden Szene bitten sie ihn schluchzend, sie niemals zu betrügen, auch nicht in Bezug auf sein Versprechen, ihre Vergangenheit in Ruhe zu lassen. Und tief betroffen versichert Jeremy sie seiner Liebe.
,Heilige Kommunion’, sagte sie und presste ihre Augen zusammen, so dass die Tränen herunterflossen.[125]
Auf Erden ist die heilige Kommunion die Verbindung zweier Menschen, die einander mehr lieben als alles andere auf der Welt. Diese Liebe ist unendlich heilig – denn sie ist dasjenige, worin Seele und Leib die allergrößte Hingabe entfalten, derer sie fähig sind. Die tiefe Liebe zweier Menschen zueinander lebt in der Unschuld, weil sie durch die Hingabe, aus der sie besteht, immer wieder in diese Unschuld hineingetauft wird.
Und Belinda gibt ihm zuliebe, weil er es möchte, das Rauchen und den Alkohol auf – nach einem massiven Protest, weil sie sich zunächst eingeengt und bevormundet fühlt, bis sie wieder zärtlich zu ihm kommt und immer mehr den Unterschied zwischen Bevormundung und Liebe spürt. Und die Liebe in ihr wird die große Überwinderin ihrer Gewohnheiten... Am nächsten Morgen beginnt sie sogar von sich aus, auf das gewohnte Fast Food zu verzichten.[127ff]
Als nächstes macht er Fotos mit ihr – und alle Fotos werden jeweils Vorlagen für Gemälde –, wie sie Puppen im Arm hält, wiederum nackt. Als sie dann wieder seine Bilder sieht, sagt sie ihm von neuem, dass es Kunstwerke sind, die er öffentlich machen muss. Wieder entsteht eine Diskussion, in der sich seine Gewissensbisse zeigen – dass er sie vielleicht nur benutzen würde, in ihrer viel zu großen Unschuld und Unerfahrenheit:[134f]
„Du denkst, du bist erwachsen und alles, und also muss ich diejenige sein, die ausgenutzt wird? Du bist verrückt.“
„Es macht mir Angst, das ist alles. Die Art, wie ich akzeptiere, dass du sagst, es sei für dich in Ordnung, bei mir zu sein –“
„Und wessen Worte würdest du akzeptieren!“
Stille. [...]
„Hör auf davon zu reden, ein Kidnapper oder Kinderschänder zu sein. Ich bin kein Kind! Hergott nochmal, ich bin keines!“
„Ich weiß –“
„Nein, tust du nicht. Du fühlst dich nur dann nicht schuldig, wenn wir im Bett sind oder wenn du einen Pinsel in der Hand hast, weißt du das? Um Himmels willen – fang an, an uns zu glauben!“
An dieser Stelle zeigt sich perfekt, wie Jeremy die öffentliche Meinung internalisiert hat. Wie er selbst glaubt, dass Belinda nicht entscheiden könne, weil sie noch ein ,Kind’ sei und all das. Wie in ihm mit Sicherheit auch Angst vor der öffentlichen Meinung lebt, weil er nun einmal nicht allein mit ihr auf der Welt ist.[9] – Aber Belinda macht ihn darauf aufmerksam, dass jeglicher Zweifel dieser Art auch ein Zweifel und eine Schwächung seiner und ihrer beider Liebe ist. Was ist stärker – die öffentliche Meinung, die abstrakt und unwissend urteilt, oder die konkrete Liebe? Die Liebe zu diesem Mädchen, für die man sich nicht schämen muss und auch nicht darf, wenn man damit nicht wiederum das Mädchen selbst beschämen will...
Die öffentliche Meinung zeigt sich erneut in seinem Freund Dan, dem Anwalt, der ihn fragt, ob das Mädchen ihn verhext habe und ob er demnächst zu Schönheitschirurgie, Haarefärben, offenen Hemden und Kokain greifen wird, um sich so jung wie sie zu fühlen.[139] – Dieser sarkastische Vorwurf verkennt völlig, dass viele Männer sich zwar so verhalten mögen, auch um möglichst jung zu erscheinen, dass aber ein Mädchen einen Mann ganz unabhängig von seinem Alter lieben kann – oder sogar wegen seines Alters. So, wie Jeremy an seiner eigenen Liebe zweifelt und sich ihrer tatsächlich noch etwas schämt, so zweifelt Dan an der Liebe des Mädchens, das keineswegs einen operierten Dandy braucht, sondern genau diesen Mann mittleren Alters, so wie er ist. Aber die ganze umgebende Welt ist begraben in lauter Vorurteilen – mit denen sie am liebsten auch die Liebe dieser zwei Menschen begraben würde.
Als Jeremy fast zehn Bilder von ihr gemalt hat, drückt er ihren Wesensgehalt aus:[143]
Sie brannte wie eine Erscheinung inmitten solider Objekte. Reines Feuer, plötzlich in der klaustrophobischen Finsternis explodierend. Sie tadelte den Betrachter mit ihrer Freimütigkeit und Reinheit, das war es. In dem Erstkommunionsschleier verkündete sie: Dies ist das Sakrament, dies ist rein; du magst es nicht, das ist dein Problem. Tatsächlich sagten dies all diese Bilder.
Das Mädchen selbst also – jedenfalls dieses Mädchen – ist eine Offenbarung: die Offenbarung der Unschuld... Und man kann sagen: Selbst das nicht mehr ganz unschuldige Mädchen ist noch unendlich viel unschuldiger als jeder andere. Bei Belinda hat die ,Erfahrung’ ihrem Wesen die Unschuld überhaupt nicht nehmen können. Die Unschuld ist einfach bei ihr geblieben, mit ihrem Wesen verbunden geblieben. Und um dieses Geheimnis geht es.
Und dann erfährt Jeremy von seinem Freund Alex eher nebenbei, dass die Tochter jener Schauspielerin Bonnie aus einem Schweizer Internat weggelaufen sei – in Belindas Alter. Nun wird ihm einiges klar, auch die Filmzeitschriften, die sie besitzt. Er schaut sich jetzt heimlich auch Videos an, die ihr gehören – und entdeckt, dass sie schon als Kind in Filmen mitgespielt hatte. Im letzten Film, den er ansieht, spielt sie als Vierzehnjährige eine lesbisch-erotische Szene im Kontext einer Schmugglerbande auf einer griechischen Insel.[161ff]
Nun spitzen sich die Dinge zu. Jeremy fragt sie erneut vorsichtig nach ihrer Vergangenheit – und sie wehrt es wiederum ab und droht, ihn zu verlassen, wenn er nicht aufhört, so ernst meint sie es trotz ihrer ganzen Liebe.
Durch ältere Zeitschriften, die er sich besorgt, erfährt er weitere Hintergründe. Der letztgenannte Film hatte in Cannes stehende Ovationen bekommen. Bonnie wiederum hatte offenbar schon länger eine wacklige psychische Gesundheit und einige Suizidversuche hinter sich.
Durch falsche Angaben erschleicht er sich ein Telefonat mit Bonnies Biografin und erfährt, dass ihre Tochter sie schon als Kind wegen Medikamentenmissbrauchs in die Krankenhäuser bringen musste und Bonnie im Jahr zuvor einen Selbstmordversuch beging, obwohl ihre Tochter mit ihm Auto saß.[192]
Dann erfährt er von Alex, dass Bonnie auf ihren Mann und Produzenten Moreschi geschossen habe, als sie ihn bei einer sexuellen Belästigung ihrer Tochter erwischt habe. Danach sei diese in die Schweiz gebracht worden. Bonnie selbst sei durch den enormen Stress der Filme längst ein psychisches Wrack.[197f]
Von Dan hört er, dass Belinda nie in der Schweiz angekommen sei – und man Bonnie darüber vielleicht nie informiert habe, damit sie weiterhin ,arbeitsfähig’ bleibe. Auf ihrer Insel werde sie wie in einen Kokon eingesponnen, weil sie so labil sei.
Belinda, die er zu Hause nicht angetroffen hatte, ruft ihn an und sagt ihm, dass sie bemerkt habe, wie er ihre Sachen durchsucht habe. Weinend sagt sie ihm, dass er nachdenken und in Bezug auf sie beide sicher sein solle – und erst morgen zu ihr kommen solle.[210ff]
Als er sein Haus verlässt, fängt ihn Bonnie in einer Limousine ab. In einem Hotel sagt sie ihm, dass sie Negative aus seinem Haus habe, die ihn mit Belinda im Bett zeigen – Fotos, die er für ein letztes Gemälde gemacht hatte. Sie verspricht ihm, sie nach und nach zurückzugeben, wenn er sich um Belinda kümmere, bis sie einundzwanzig ist. Jeremy möchte sich in seiner Liebe jedoch nicht erpressen lassen und bezweifelt ihre Drohung, an die Presse zu gehen, da sie es bisher auch nicht getan hat.[215ff]
Bonnie erzählt ihm, Belinda habe ihren Mann verführt, und sie habe auf Belinda schießen wollen, aber er habe sich vor sie gestellt. Dann sei Belinda mit der Drohung gegangen, wenn sie jemand in die Schule schicke, würde sie der Polizei sagen, er habe sie belästigt. Jeremy geht am Ende, nachdem er alle Negative aus Bonnies Handtasche genommen hat.[224ff]
Am nächsten Morgen holt er Belinda ab, erzählt ihr alles, und die beiden ziehen sich in ein abgelegenes Häuschen bei New Orleans zurück. Seine Bilder von ihr werden immer erotischer – und sie ist mittlerweile schon sechzehneinhalb.
Sie stand hinter mir. Kurzes Top, so durchsichtig und kurz, dass es nicht mal mehr wirklich ein Kleidungsstück war. [...]
„Ich sehe nicht mehr so unschuldig aus, oder?“, fragte sie, während sie die Leinwände betrachtete.
„Was meinst du?“
Aber ich wusste es. Es lag in den Schatten um ihre Augen, den subtilen Linien im Gesicht. Die junge Frau war reif wie ein Pfirsich unter ihrem weißen Slip, der Arm auf dem nackten Knie ruhend. Sogar die Zehen sahen sexuell aus, in die Falten der Decke gesteckt. Ich fühlte ein kleines Zittern von Furcht. Aber der Maler in mir war rücksichtslos entzückt.[245]
Immer wieder macht sie ihm Mut, die Bilder zu zeigen, weil sie spürt, dass dies, diese alle Konventionen sprengende Malerei, seine wahre Bestimmung ist.
Ich sah sie an, und das Gefühl der Nähe zu ihr, das ich in diesem Moment empfand, war größer als alles, was ich je gekannt hatte. Es war alles – alles, wofür man leben und sterben konnte. Und ich musste daran denken – als müsste ich dies für immer tun –, wie wahrhaft wunderschön sie war.[253f]
Aber dann kommen ihm Zweifel am Hergang des Geschehens, und schließlich kommt er darauf, dass sie ihrer Mutter gesagt hatte, wo sie ist, und ihr die Negative gegeben hatte.
Voller Furcht beteuert sie, dass sie es für ihn getan habe, weil er sonst immer wieder gefragt und sich schuldig gefühlt hätte. Er ist nun impulsiv voller Wut über den Vertrauensbruch: ,Get away from me!’[259] – sie rennt ängstlich auf den Flur und bricht dort aber hilflos schluchzend zusammen... Als sie sich ihm dennoch wieder flehend nähert, schlägt er ihr Gesicht, mehrfach. Dann geht die Haushälterin dazwischen und führt Belinda nach unten, und er hört die Tür...
Er versucht später, mit ihr zu sprechen, sich zu entschuldigen, aber die Worte bleiben ihm im Halse stecken, als er ihre Striemen sieht und sie nur schweigt. Mitten in der Nacht geht sie dann heimlich mit all ihren Sachen. Fünf Tage später bekommt er per Post ihr ausführliches Notizbuch: ,For Jeremy, the whole story, with love.’[262]
Und nun erfährt der Leser mit Jeremy die Vergangenheit des Mädchens, die die zweite Hälfte des Romans bildet.
Sie schreibt ihm, wie ihre Mutter immer nur auf sich selbst fixiert war, auf ihre eigenen Probleme. Es waren andere, die sich um sie gekümmert haben, nicht ihre Mutter, sondern deren Freundinnen.[265ff]
Als die extravagante Regisseurin Susan Jeremiah auf die Insel kommt, entdeckt sie auch Belindas Talent und lässt sie in ,Final Score’ diese aufsehenerregende Szene spielen. Als sich dann das Filmfestival in Cannes näherte, wurde Bonnie vor Aufregung völlig hilflos. Hier begegnen sie auch Marty Moreschi, der Bonnie für den größten Star hält, dessen männlich-dominanter Präsenz sich aber auch Belinda nicht ganz entziehen kann.[270ff]
Ihre eigene Mutter erscheint bei der Filmvorführung nicht, kündigt stattdessen bei einer Pressekonferenz ihre Mitwirkung bei der Serie ,Champagne Flight’ an – und es stellt sich heraus, dass dafür der Film fallengelassen wurde.[283ff]
Als Belinda so alles verloren hat und ganz allein in ihrem Zimmer ist, kommt Moreschi und erzählt ihr, dass er dies getan habe, weil der Film in den USA erfolglos bleiben würde, die Serie dagegen großen Erfolg haben werde, und was er für ihre Mutter tue, sei auch für sie. Aber er versteht zugleich als Einziger auch ihre Enttäuschung – und tröstet sie damit, dass auch für sie noch große Chancen warten.[286f]
Später begegnet er ihr erneut, tanzt mit ihr – und sie sprechen miteinander. Es wird der Beginn einer großen Affäre, denn sie ist es, die plötzlich nur noch daran denkt, mit ihm nachher ins Bett zu gehen. Und dann erfährt sie sogar, dass er bei der Vorstellung ihres Films dabei war, womit sie nie gerechnet hatte.[292ff]
Die Liebe zu Marty führt dazu, dass sie sich endlich von ihrer Mutter lösen kann, völlig erkennend, dass diese sich nicht mehr ändern wird.[299] Und auch Marty, ein eher einfacher Charakter, macht in dieser Liebesbeziehung eine innere Entwicklung durch. ,Zwischen uns passierten Dinge, die keiner je verstehen können wird.’[301]
Als er dann aber mit auf die Insel kommt, übernimmt Bonnie in ihrer typischen Weise die Kontrolle, gerade durch ihre ausgeprägte Hilfsbedürftigkeit. Und als sie inmitten all ihrer Medikamente einen Kuss zwischen den beiden mitbekommt, geschieht etwas in ihr – und während er sich um alles kümmert, damit ,Champagne Flight’ ein Erfolg wird, bringt Bonnie ihn dazu, auch mit ihr zu schlafen, und vereinnahmt ihn immer mehr völlig. Marty bittet Belinda verzweifelt, bei ihm zu bleiben, weil er dies ohne sie überhaupt nicht mehr durchstehe. Und dann gesteht er ihr, dass Bonnie und er sogar heiraten werden.[301ff] Zuletzt sagt Bonnie ihrer Tochter in einem Moment einfach: ,Darlin’, he was too old for you.’[318]
Belinda und Marty sind völlig verzweifelt. Dennoch ist sie entschlossen, zu gehen, weil alles andere sie kaputtmachen würde. Marty aber bittet sie, ihn nicht zu verlassen, und auch Bonnie habe nur noch sie beide. Obwohl sie weiß, dass sie nie mehr weggehen wird, wenn sie jetzt mit ihm schläft, lässt sie zu, dass er beginnt, sie auszuziehen. Und in dieser Situation nun fällt ein Schuss. Marty wirft sie unmittelbar auf den Boden, aber es folgen noch vier Schüsse, bis er Bonnie den Revolver wegnehmen kann.[323f]
Dann aber tritt Bonnies Bruder Daryl auf den Plan. Er weist Belinda an, den Reportern zu sagen, Bonnie haben Marty für einen Einbrecher gehalten. Er will sie auf eine Schweizer Schule schicken, und auch Bonnie droht ihr mit dem Jugendamt. Daraufhin droht Belinda mit blutendem Herzen, sie würde dann Marty belasten, und flieht zu ihrem Vater nach New York.
Dieser zieht sie zunächst für Monate an einem einsamen Ort aus dem Verkehr, aber als sie erkennt, dass ihm mächtige Anwälte auf der Spur sind, die seine Existenz vernichten könnten, lebt sie ihr Leben auf eigene Faust weiter.[325ff]
Das Straßenleben ist hart, aber sie entdeckt, dass man sie in einer katholischen Schuluniform gut behandelt. Dann hört sie von Walkers Buchvorstellung, dessen Bücher sie alle gelesen hat. Als sie sieht, dass er mit ihr flirtet, kauft sie sich ein Buch, um so weit wie möglich zu gehen, und verliebt sich innerhalb der ersten Tage in ihn.[346f]
Irgendjemand hat dann ihre Anrufe bei ihrem Vater zurückverfolgt, und Marty findet sie, will sie zurückholen. Als Bonnie denkt, sie seien wieder zusammen, schneidet sie sich die Pulsadern auf. Marty droht ihr, sie mit Polizei zurückzuholen, und auch sie droht ihm erneut.[348ff] Er ist es dann, der die Negative beschaffen lässt, doch nun glauben Bonnie und er selbst, Walker wolle sie mit den erotischen Bildern von Belinda erpressen.[356][10]
Marty sagt ihr, dass Bonnie sie holen werde – und sie droht ihm erneut. Und nun wird er letztlich zu einem Tier, wirft sie zu Boden, beschimpft sie und will sie vergewaltigen. Mit aller Kraft kann sie sich befreien.[358f]
Dann kam der furchtbare Streit mit Jeremy. Verzweifelt ruft Belinda ihre Mutter an und bittet sie um einen einzigen Gefallen, diesen schulde sie ihr. Es kommt zu einem Gespräch, das zeigt, wie wenig die Mutter ihre eigene Tochter begreifen kann.[361ff] Belinda hatte mit ihrer Weigerung, über ihre Eltern zu sprechen, Bonnie bis zuletzt gedeckt, sogar gegenüber Jeremy – nun gesteht sie ihm ihre Fehler und noch einmal ihre ganze Liebe.[371f]
Jeremy setzt alle Hebel in Bewegung, um sie zu finden – er ruft Marty, Bonnie, ihren Vater an. Und er entschließt sich, die Bilder durch den großen New Yorker Kunsthändler Rhinegold ausstellen zu lassen – als Zeichen an sie. Der ,San Francisco Chronicle’ bringt die Schlagzeile. Der Ausstellungskatalog sagt ausdrücklich, dass er Belindas Identität nicht kannte, sie verletzt und dadurch verloren habe und die Ausstellung ihr zu Ehren stattfinde.[375ff]
Schon vor der Eröffnung stürzt sich die Presse auf die Sensation, teils mit heftigster Kritik:[390f]
[...] und erst im Vergleich mit den früheren Abenteuern von Charlotte oder Bettina[11] kann die Obszönität voll verstanden werden. Belinda erweist sich als Walkers entkleidete Heldin. Hätte Bonnie solche Ausbeutung ihrer Tochter je erlaubt, wenn sie davon gewusst hätte? Wo ist Belinda jetzt?
Die Öffentlichkeit und gerade auch die Presse, die ,vierte Gewalt’, beansprucht wie selbstverständlich ein Urteil – jedes beliebige Urteil. Und sie merkt nicht, wie obszön ihre Urteile sind, weil sie verurteilt, was reine Schönheit ist... Und sie begreift nicht, dass der Begriff ,Ausbeutung’ (exploitation) völlig fehl am Platze ist, wo es um gegenseitige Liebe geht. Aber diese wird ja eben nicht anerkannt.
Marty und Bonnie behaupten in der ,Los Angeles Times’, von Belindas Verbleib seit einem Jahr nichts gewusst zu haben. Damit steht Walker in einem bedenklichen Licht. Die ersten Hassanrufe gehen ein:[394]
„Kinderschänder! Du magst es, kleine Mädchen nackt zu malen? Was für ein Kinderautor!“
Und:[396]
Leute wie du sollten verfolgt werden, weißt du das? Du denkst, nur weil du dich selbst Künstler nennst, kommst du damit davon, schmutzige Bilder eines jungen Mädchens zu malen?
Auch hier fragt niemand nach den Gedanken des Mädchens. Niemand nach dessen Einverständnis, ja vielleicht Bewunderung dieser Bilder. Auch hier gilt das Mädchen als nicht urteilsfähig, ja dessen Meinung als völlig irrelevant. Diese Leute meinen, ein Mädchen zu beschützen, aber sie lügen, denn was dieses Mädchen denkt oder fühlt, interessiert sie nicht im Geringsten. Sie wollen sich selbst als moralisch höherstehend inszenieren und brauchen dazu die innere Empörung. Der Mädchenschänder aber sind sie – denn sie treten das Innenleben und die Integrität des Mädchens mit Füßen. Es ist bloßes Objekt, auf dem sie ihren Hass ausleben können – Hass auf jenen Mann, dem sich dieses Mädchen freiwillig hingegeben hat.
Dann aber stellen einige berühmte Leute in großen Zeitungen und Talkshows die richtigen Fragen: Was passierte nach dem Tag der Schüsse? Warum fragt keiner, warum Belinda weggelaufen ist?[397]
Die Ausstellung wird schon vor Eröffnung ein Riesenerfolg, und die berühmtesten Sammler der Welt kündigen den Kauf der Werke an.[400]
Schließlich erfährt ein Reporter vom Fahrer der Limousine, dass Bonnie Jeremy abgepasst und mit ihm gesprochen habe.[405] Daryl hält dagegen:[418]
„Meine Schwester, Bonnie, ist in einem Kollapszustand. Das Jahr der Suche und der Sorgen fordert jetzt seinen Tribut. [...] wir sprechen von einem schwer gestörten Mann und einem ernsthaften polizeilichen Problem sowie einem vermissten, minderjährigen Mädchen [...].“
Und dann äußert sich tatsächlich eine ,Sprecherin’ der feministisch-antipornografischen Bewegung, die zugleich New Yorker Rechtsanwältin ist, in einer Weise, die zeigt, wohin das amerikanische Recht seit Jahren tendiert:[419]
„Die Ausstellung ist eine Vergewaltigung, schlicht und einfach. Wenn Belinda Blanchard überhaupt mit Walker lebte, was im übrigen nicht erwiesen ist, ist sie eines der zunehmenden Opfer von Kindesmissbrauch in diesem Land. [...] Für ein Mädchen von sechzehn Jahren ist Zustimmung zu dieser Art von Ausbeutung ausgeschlossen, ebenso wie eine Zustimmung zum Geschlechtsverkehr. Belinda Blanchard bleibt bis zum Alter von achtzehn Jahren minderjährig.“
Auf dem Rücken von jungen Menschen, die sehr wohl bereits entscheiden können, werden also politische Kämpfe ausgetragen, die ihnen per Recht und Gesetz diese Entscheidung einfach nehmen.
Schließlich führt die Polizei bei Jeremy eine Hausdurchsuchung durch, ermittelt gar wegen Mordverdacht, und Daryl beschafft sich das offizielle Sorgerecht.[419ff] Dann greifen die Hassbotschaften auch auf Belinda über, was die Perversität der öffentlichen Meinung um so mehr entlarvt:[433]
Die beiden Konzepte von Belinda – Kriminelle auf der Flucht und Mordopfer – waren nicht im Widerstreit miteinander. Im Gegenteil, sie verschmolzen miteinander, und das Ganze gewann neue Stärke.
Belinda war ein böses Mädchen, das dafür getötet wurde. Belinda war eine kleine Sexkönigin, die genau das bekam, was sie verdiente.
So funktionierten die Hexenverfolgungen, so funkioniert Mobbing, so funktioniert alles, was auf einem sich immer weiter steigernden Hass beruht. Zunächst wird das Opfer kritisiert, dann verurteilt, dann gerichtet... Die alltäglichen Vergewaltigungen der öffentlichen Meinung. Der Hass als Lebenselixier, das Emporpeitschen der eigenen dunklen und verdrängten Seiten. Hier offenbart sich das hässliche Herz der Vielen. – Und sein Freund Alex weist Jeremy darauf hin, dass es geradezu eine amerikanische ,Formel’ sei, dass es für diese Art von ,verbotenem’ Sex – verboten, weil die puritanistische ,Moral’ ihn als verboten definiert – stets ein Opfer geben müsse. ,Verbotener’ Sex müsse mit Tod und Unglück enden – diese Verbindung sei ,so amerikanisch wie Apple Pie’.[434]
Doch die Serie ,Champagne Flight’ wird abgesetzt, während ,Final Score’ in New Yorks größtem Kino anläuft und Belinda großartige Kritiken bekommt.[436ff]
Und dann taucht Belinda auf der Premiere in San Francisco heimlich und für Polizei und Öffentlichkeit unerkannt auf.[455ff] Seit sie erfuhr, dass Jeremy die Bilder veröffentlicht hatte, hatte sie Angst um ihn, da überall im Land seine Bücher verbrannt werden.[468]
Er bedauert die Kritik, die auch über Bonnie hereingebrochen ist, aber Belinda erzählt ihm, dass sie ihre Mutter im Krankenhaus anrief und diese nur sagte, dies sei nicht ihre Tochter.[468f]
Um dem Haftbefehl gegen Jeremy und dem möglichen Entzug Belindas entgegenzuwirken, heiraten sie heimlich:[473]
„Heilige Kommunion, Jeremy“, flüsterte sie. Und dann sagte ich: „Heilige Kommunion, Belinda.“ Und als sie ihre Augen schloss, und ich sah, wie ihre Lippen sich öffneten, und fühlte, wie sie sich auf ihre Zehenspitzen erhob, um mich zu küssen, nahm ich sie in meine Arme [...] und die ganze Welt war verschwunden. Einfach verschwunden.
Und gegenüber allen kleinen Mädchen, die bisher seine Bücher geliebt haben, hofft er aufrichtig, sie mögen sich nicht verletzt, betrogen und unbehaglich fühlen, sondern zu der Erkenntnis kommen können, dass die Bilder von Belinda von Liebe und Licht handeln.[477]
*
So endet ein großartig geschriebener Roman, der beweist, dass ein Mädchen und ein Mann einander aufrichtig lieben können und dass dieses Mädchen eine größere Reife besitzen kann als die Erwachsenen, ihre eigenen Verwandten und eine in Vorurteilen und Verurteilungen befangene Öffentlichkeit. Rice hat mit ihrem Roman die Doppelmoral einer Gesellschaft entlarvt, die unschuldiges Glück nur zerstören kann, weil sie sich selbstherrlich in Dinge einmischt, die sie nichts angehen – ohne Interesse für die innere Wahrheit der Liebe.
Fußnoten
[1]1994 als ,Interview mit einem Vampir’ mit Tom Cruise, Brad Pitt und Kirsten Dunst verfilmt. Wikipedia: Interview mit einem Vampir.
[2]2005 ,Out of Egypt’ (dt. ,Jesus Christus. Rückkehr ins Heilige Land’, 2007), 2008 ,The Road to Cana’ (dt. ,Jesus Christus. Die Straße nach Kanaa’, 2008). • Der gesamte Abschnitt nach Wikipedia: Anne Rice.
[3]● Anne Rice: Belinda. New York 1988. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern. Übersetzungen H.N.
[4] Wie realistisch das ist, sei hier dahingestellt. Man kann auch dem Unwahrscheinlichen bereitwillig folgen und sich vorstellen, es wäre tatsächlich so gewesen.
[5] Der Erzähler nimmt im Folgenden Bezug auf den Fall des Regisseurs Roman Polanski, der einige Jahre zuvor (1977) ein dreizehnjähriges Mädchen mit Hilfe betäubender Mittel zum Sex gebracht hatte. Damals sei ein Witz kursiert, sie sei vielleicht dreizehn gewesen, habe aber den Körper einer Sechsjährigen gehabt. Und Walker fügt hinzu: ,Bei Belinda war es das Gesicht, das sechs Jahre alt war.’[35]
[6] Jailbait = ,Knastköder’, ein zu junges Mädchen, für das man bei einem sexuellen Kontakt ins Gefängnis kommt.
[7] Entsprechend sagt Dan auch: ,Schau mich an, Jer! Du wirst den ,Lewis-Carroll-Perverser-Alter-Mann-des-Jahres-Preis’ kriegen. Bist du scharf darauf? Sie werden deine Bücher aus den Bibliotheken nehmen und verbrennen.’[101] • In einer in diesem Punkt hysterisch gewordenen Welt wird die Tatsache der Liebe zu einem jungen Mädchen überhaupt nicht mehr verstanden. Und so wird alles als ,pervers’ betrachtet, was sich auf ein junges Mädchen oder gar ein Kind richten würde. Auch die Liebe von Lewis Carroll zu Alice Liddell wird auf diese Weise unendlich beschmutzt. Nicht nur von Dan, sondern von Unzähligen.
[8] Eine in den 80er Jahren tätig gewesene, einflussreiche politische Organisation der religiösen Rechten, die aus ihrer Sicht die ,moralische Mehrheit’ vertrat. Sie trat unter anderem gegen die Akzeptanz der Homosexualität und gegen jede Abtreibung (auch z.B. bei Vergewaltigung) ein. Wikipedia: Moral Majority.
[9] Etwa, wenn er die Schlagzeile vorwegnimmt: ,Children’s Autor Takes Teenage Bride’.[155] • Diese Befürchtungen sind angesichts der Skandale etwa um Jerry Lee Lewis, der sogar als ,Wiegenräuber’ bezeichnet wurde, sehr naheliegend.►5
[10],Das haben sie gefunden, Belinda – dreihundertsechzig-Grad-Winkel-Rundumblick im Hauptquartier von Kinderporno West. Dieses Zeug lässt Susan Jeremiahs Film wie Disney aussehen. Es könnte Humbert Humbert von den Toten auferstehen lassen.’
[11] Die Heldinnen aus Jeremys Kinderbüchern.