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Auf dem Staatshof (1859)
Der Erzähler beginnt mit der Stimmung der friedlichen, einsamen norddeutschen Landschaft:[1]
Die kleine Stadt, in der meine Eltern wohnten, lag hart an der Grenze der Marschlandschaft, die bis ans Meer mehrere Meilen weit ihre grasreiche Ebene ausdehnt. Aus dem Nordertor führt die Landschaft eine Viertelstunde Weges zu einem Kirchdorf, das mit seinen Bäumen und Strohdächern weithin auf der ungeheueren Wiesenfläche sichtbar ist. Seitwärts von der Straße [...] geht quer durchs Land ein Fußsteig über die Fennen, wie hier die einzelnen, fast nur zur Viehweide benutzten Landflächen genannt werden; von einem Heck zum andern, aber auf schmalem Steg über die Gräben, durch welche die Fennen voneinander geschieden sind.
Hier bin ich in meiner Jugend oft gegangen; ich mit einer andern. Ich sehe noch das Gras im Sonnenscheine funkeln und fernab um uns her die zerstreuten Gehöfte mit ihren weißen Gebäuden in der klaren Sommerluft.
Am Ende des Weges lag der ,Staatshof’, der einst einer sehr reichen Familie gehörte, der neunzig Höfe gehört haben sollen, die dann aber durch Übermut und Schicksalswendung alles nach und nach verlor. Damals lebte dort nur noch eine alte Besitzerin und ihr einziges Enkelkind, ein kaum vierjähriges Mädchen. Der Vater des damals ebenfalls erst vier Jahre alten Erzählers war der geschäftliche Beistand der alten Hofbesitzerin. Die erste Erinnerung umfasst eine Art Heuboden, auf dem das Mädchen ihn einfrig mit Stroh ,begräbt’.
Ich sehe an den aus Heu und Korngarben gebildeten Wänden empor, die um mich her zwischen vier großen Ständern in die Höhe ragen, so hoch, daß der Blick durch ein wüstes Dunkel hindurch muß, bis er aufs neue in eine matte Dämmerung gelangt, die zwischen zahllosen Spinngeweben aus einem Dachfensterchen hereinfällt.
Noch einige weitere Erinnerungsfetzen erscheinen – und auch die frühen Zeichen seiner Zuneigung: ,Mir ist, als hätte ich es mit einem besonders angenehmen Gefühl mit angesehen, wie Anne Lene von meiner Mutter auf den Schoß genommen und geküßt wurde.’
Später zieht auch die alte Frau mit ihrer Enkelin in das Städtchen, einige Häuser weiter, und gern besucht der Junge sie auf kleinen Dienstgängern für seinen Vater, jeden Sonntag aber sind die ersteren bei ihnen zum Kaffee eingeladen. In zarter Beschreibung schildert Storm eine noch ganz junge, vollkommen unschuldige Kinderliebe des Jungen zu dem Mädchen.
Etwa ein Jahr später stirbt die alte Großmutter. Noch ohne es zu wissen, betritt der Junge – er heißt Marx – das Haus, weil er ein kleines Geschenk für das Mädchen erhandelt hat:
Es war eine seltsame Einsamkeit im Zimmer; der weiße Sand[2] lag so unberührt auf der Diele, und drüben der Spiegel war mit weißen Damasttüchern zugesteckt. Während ich dies betrachtete und eine unbewußte Scheu mich hinderte, hineinzutreten, hörte ich in der Tiefe des Hauses eine Tür gehen, und bald darauf sah ich meinen Vater mit einem schwarz gekleideten Kinde an der Hand auf mich zukommen. Es war Anne Lene; ihre Augen waren vom Weinen gerötet, und über der schwarzen Florkrause erschienen das blasse Gesichtchen und die feinen goldklaren Haare noch um vieles zärtlicher als sonst. Mein Vater begrüßte mich und sagte dann, indem er seine Hand auf den Kopf des Mädchens legte: „Ihr werdet jetzt Geschwister sein [...].“
[...] Ich merkte es kaum, als Anne Lene ihre Arme um meinen Hals legte und mich küßte, während ihre Tränen mein Gesicht benetzten.
Doch er geht nun auf das Gymnasium, und seine Hausarbeiten werden vom Vater überwacht, während das Mädchen vor allem unter der Obhut der Mutter ist. Jeden Sonntag aber wandern sie zum Staatshof, der nun von der alten Wieb, einer Hausgehilfin, und ihrem Mann, dem ehemaligen Bauknecht, bewohnt wird. Storm schildert die Idylle dieser kurzen Wanderungen in wenigen schlichten Worten:
Wie oft beim Gehen wandten wir uns um und maßen die Strecke, die wir schon zurückgelegt hatten, und sahen zurück nach den Türmen der Stadt, die im Sonnendufte hinter uns lagen! Denn mir ist, als habe an jenen Sonntagnachmittagen immer die Sonne geschienen und als sei die Luft über dieser endlosen grünen Wiesenfläche immer voll von Lerchengesang gewesen.
Im Gesindezimmer trinken sie mit der alten Wieb Kaffee, dann durchstöbern sie das alte Gebäude und den verwildernden Garten, in dem man sich geradezu verirren konnte.
Unversehens wird das Mädchen dann in den Augen des Jungen ,erwachsen’ – und behält doch seine ganze Anmut und Schlichtheit:
So verging die Zeit. – Anne Lene war, ehe ich mich dessen versehen, ein erwachsenes Mädchen geworden, während ich noch kaum zu den jungen Menschen zählte. Ich bemerkte dies eigentlich erst, als sie eines Tages mit veränderter Frisur ins Zimmer trat. Seitdem sie selbst für ihre Kleidung sorgte, war diese fast noch einfacher als zuvor; besonders liebte sie die weiße Farbe,[3] so daß mir diese in der Erinnerung von der Vorstellung ihrer Persönlichkeit fast unzertrennbar geworden ist. [...] Aus dem nachgelassenen Schmuckkästchen ihrer Großmutter nahm sie an ihrem Konfirmationstage ein kleines Kreuz von Diamanten, das sie seitdem an einem schwarzen Bande um den Hals trug. Sonst habe ich niemals einen Schmuck an ihr gesehen.
Sie erscheint in ihrem zarten Wesen wie ein Gegensatz ,zu der derben und etwas schwerfälligen Art des Landes’:
[...] wenn man sie betrachtete, wie der Sommerwind ihr die kleinen goldklaren Locken von den Schläfen hob und wie ihre Füße so leicht über das Gras dahinschritten, so konnte man kaum glauben, daß sie hier zu Haus gehöre.
Als eine Bettlerin mit der alten Wieb streitet, erfährt das Mädchen einiges von den Hintergründen ihrer Familie, und von dem Tag an legt sie das kostbare Kreuz nicht mehr an...
Nach etwa einem Jahr Universitätsstudium erfährt der Erzähler durch einen Brief seines Vaters von der Verlobung des Mädchens mit einem jungen Edelmann:
Obgleich die seit meiner Knabenzeit in mir keimende Neigung für Anne Lene, da sie keine Erwiderung gefunden, niemals zur Entfaltung gekommen war, so wurde ich doch jetzt durch die Nachricht von ihrer Verbindung mit einem mir so verhaßten Manne auf das heftigste erschüttert [...].
Er erinnert sich an einen Nachmittag, an dem er und auch sie miterlebt hatten, wie dieser Mann nicht nur immer wieder lässig nach ihr geschaut hatte, sondern auch, von Storm ausführlich geschildert, eine ,Mücke’ (wohl: Schnake) eine längere Zeit gequält und schließlich getötet hatte.
Zwei Jahre später kehrt Marx mit einem Doktortitel zurück. Er hatte zuvor schon erfahren, dass sich die Verlobung allmählich aufgelöst habe und dass wegen der sinkenden Landpreise das Mädchen inzwischen sehr verarmt war und auch in ihrer Gesundheit gelitten hatte. Er sieht ihre zarte Gestalt zwischen den Fennen, sie ist sogar noch lieblicher als in seiner Erinnerung. Als er sie erreicht, wandern sie gemeinsam ein Stück, aber die Gedanken des Mädchens sind woanders. Sie begegnen dem Postboten, der wieder keinen Brief für sie hat, worauf sie umkehrt. Zurück am Hof verabschiedet sie sich mit wenigen Worten von ihm: ,Gute Nacht, Marx. Verzeih mir; ich bin müde, ich muß schlafen; nicht wahr, du kommst recht bald einmal wieder zu uns heraus!’
Er spricht aber noch länger mit Wieb und sieht später einen hellen Schein in Anne Lenes Zimmer. Besorgt geht er zu ihr hinauf und sieht, wie sie mit einem Ausdruck tiefer Trostlosigkeit Briefe verbrennt:
„Sie sind kalt“, sagte sie, „sie sollen heiß werden!“
Dann aber zeigt sich endlich doch ein Zeichen ihrer tiefen Zuneigung auch zu ihm:
Ich war mittlerweile ins Zimmer getreten und hatte mich neben ihren Stuhl gestellt. Plötzlich, wie von einem raschen Entschluß getrieben, stand sie auf und legte beide Hände fest um meinen Hals; sie wollte zu mir sprechen, aber ihre Tränen brachen unaufhaltsam hervor, und so drückte sie den Kopf gegen meine Brust und weinte eine lange Zeit, in welcher ich nichts tun konnte, als sie still in meinen Armen halten. „Nein, Marx“, sagte sie endlich und mühte sich, ihrer Stimme einen festeren Klang zu geben, „ich verspreche es dir, ich will nicht länger auf ihn warten.“
Tapfer will sie sich der Armut stellen und von der alten Wieb alles lernen, was man braucht, um als Wirtschafterin sein Brot zu verdienen. Nur in die Stadt und unter Menschen will sie nicht, aber sie bittet ihn, oft zu ihnen heraus zum ,Staatshof’ zu kommen.
Im Sommer wollen einige junge Leute eine Landpartie dorthin machen, und Marx vermittelt dies bei Anne Lene. Es entsteht ein ausgelassenes Fest, bei dem sich der Sohn eines reichen Bauern, Claus Peters, hervortut, der sich schon als künftiger Besitzer des Hofes gebärdet, den ihm sein Vater später kaufen will. Als ein Mädchen sich Musik wünscht, holt er einen alten Fiedler, mit dem er bei der Ankunft gleich einige demütigende Späße treibt, die Anne Lene die Schamröte ins Gesicht treiben. Sie macht bei den Tänzen dann auch nicht mit – und Marx geht sie suchen, findet sie zunächst nicht, sondern die alte Wieb spricht mit ihm über die Armut.
Als ich aufsah, stand Anne Lene in der Tür. Sie war blaß, aber sie nickte freundlich nach uns hin und sagte: „Willst du nicht tanzen, Marx? Ich bin oben gewesen; die kleine Juliane sucht dich mit ihren braunen Augen schon in allen Ecken!“
Doch er will nur mit Anne Lene tanzen – und sie lässt es zu. Wieb warnt sie noch, dass der Doktor es verboten habe, aber sie will davon nichts hören – und auch seine Sehnsucht ist zu groß. Sie tanzen viel, und das Mädchen zerstreut seine Bedenken, bis es sich zitternd ans Herz fasst.
In der Sommernacht gehen sie in den Garten. Er spürt, dass sie noch immer von der Vergangenheit gefangengehalten wird:
Es war eine laue Nacht; [...] die Luft war ganz von jenem süßen Duft durchwürzt, den [...] die wolligen Blütenkapseln der roten Himbeere auszuströmen pflegten.
Wir sprachen nicht; ich wollte Anne Lene bitten, ihre Augen wieder nach der Welt zurückzuwenden und nicht mehr in den Schatten der Vergangenheit zu leben; aber das beunruhigende Bewußtsein einer eigennützigeren Bitte, die ich für günstigere Zeiten im Grunde meines Herzens zurückbehielt,[4] raubte mir den Atem und ließ kein Wort über meine Lippen kommen. Das Herz klopfte mir so laut, daß ich immer fürchtete, es werde auch ohne Worte meine innersten Gedanken kundmachen.
Aber das Mädchen ist nicht mehr zu retten. Bei einem kleinen Spaziergang in der Dämmerung hört er das Meer, und es überfällt ihn eine Furcht. Wieder zurück im Garten deutet Storm immer wieder den Verfall des Hofes an. Und inmitten dessen verliert sich auch das Mädchen selbst:
Der Mond schien auf Anne Lenes kleine Hand, die ruhig in der meinen lag. Ich hatte nie das Mondlicht auf einer Mädchenhand gesehen, und mich überschlich jener Schauer, der aus dem Verlangen nach Erdenlust und dem schmerzlichen Gefühl der Vergänglichkeit so wunderbar gemischt ist. Unwillkürlich schloß ich die Hand des Mädchens heftig in die meine; doch mit der Scheu, die der Jugend eigen, sah ich in demselben Augenblick zu Boden. Als aber Anne Lene ihre Hand schweigend in der meinen ließ, wagte ich es endlich, zu ihr emporzusehen. Sie hatte ihr Gesicht zu mir gewandt und sah mich traurig an; mitleidig, ich weiß noch jetzt nicht, ob mit mir oder mit sich selbst. Dann entzog sie sich mir sanft und trat auf die Schwelle des Pavillons.
Der Pavillon ist bereits brüchig, und direkt darunter befindet sich das Wasser. Ihre zarte Gestalt wird aber von dem Holz noch getragen. Sie spricht das ganze Elend der Verarmung aus:
„[...] Ich kann es nicht halten, Marx; sie haben mich ja ganz allein gelassen.“ [...]
Sie [...] ließ die Arme an ihrem Kleid herabsinken und sagte langsam: „Er hat so unrecht nicht gehabt; wer holt sich die Tochter aus einem solchen Hause!“
Ich fühlte, wie mir die Tränen in die Augen schossen. „O Anne Lene“, rief ich und trat auf die Stufen, die zu dem Pavillon führten, „ich – ich hole sie! Gib mir die Hand, ich weiß den Weg zur Welt zurück!“
Sie weist ihn in Todesangst zurück, da der Boden nicht sie beide tragen würde. Doch obwohl er zurückbleibt, geschieht das Unfassbare: Ein Brett löst sich, und die zarte Gestalt wird in die Tiefe gerissen.
Ich riß die Augen auf; der Mond schien durch den leeren Raum. Ich wollte Anne Lene sehen, aber ich sah sie nicht. Mir war, als renne in meinem Kopfe etwas davon, das ich um jeden Preis wieder einholen müßte, wenn ich nicht wahnsinnig werden wollte. Aber während meine Gedanken diesem Unding nachjagten, hörte ich plötzlich vom Hause her die Tanzmusik. Das brachte mich zur Besinnung; ich stieß einen gellenden Schrei aus und sprang neben dem Pavillon hinab ins Wasser. [...] ich tauchte unter, und meine Hände griffen zwischen dem schlüpfrigen Kraut umher, das auf dem Grunde wucherte. Ich öffnete die Augen und versuchte zu sehen; aber ich fühlte nur wie über mir ein trübes Leuchten.
Er findet das geliebte Mädchen später ertrunken etwas weiter entfernt am Ufer. Und es wird noch erwähnt, dass der Bauernsohn den Hof tatsächlich erwarb, den alten Heuboden abreißen ließ und ,die größten Mastochsen zum Transport nach England’ liefert.
Storm schildert eine tiefe Liebe zu einem Mädchen, die aber niemals Wirklichkeit werden darf – obwohl beide Menschen ihr Glück hätten finden können. Wie in vielen anderen Novellen erweist sich Storm als ein Kritiker der Verhältnisse – des kaltherzigen Hochmuts, der hochmütigen Lässigkeit und des Mangels an echter Liebe und Menschlichkeit.
Der Bauernsohn, Claus Peters, ist ein frühes Urbild des gefühllosen, egoistischen Kapitalisten. Der ,Edelmann’, dem Anne Lene sich verbunden haben mag, um sich irgendwie in sichere finanzielle Verhältnisse retten zu können, ist Beispiel für jene vielen Männer, die mit Mädchen anbändeln, um sie später doch ohne jede Empfindung fallenzulassen, und die deren wahres Wesen überhaupt nicht sehen, weil sie keinerlei Organ dafür haben. Marx jedoch ist derjenige, der dieses Mädchen innig und unsterblich geliebt hat, wie zart und vorsichtig auch immer. Diese beiden hätten zusammengehört und waren füreinander bestimmt – aber die Tragik des Lebens hat es nicht zugelassen.
Dies ist immer wieder die Botschaft so vieler Stormscher Novellen – und die Mädchen sind die Haupt-Leidtragenden, die eigentlichen Opfer. Über ihre zarte Gestalt rollt der rohe Wagen des Lebens ohne Rücksicht hinweg...
Fußnoten
[1]● Theodor Storm: Auf dem Staatshof. Projekt Gutenberg. Auch für die folgenden Zitate.
[2] Früher war es üblich, die Holzdielen immer wieder sauber zu scheuern und dann feinen Sand zu streuen, der den Schmutz der Straßen und Wege aufnahm. Er war Zeichen besonderer Sorgfalt und Reinlichkeit.
[3] Storm erwähnt weiße Kleider bei seinen Mädchengestalten öfter – mit Recht, ist Weiß doch die Farbe völliger Unschuld...
[4] Die Bitte einer Hochzeit. Und Storm erwähnt auch, dass die treue alte Wieb längst das Brautlinnen für das Mädchen gesponnen hatte, feine Leinentücher, die als Mitgift gedacht waren.