Parthenophilie

Waldwinkel (1874)


Diese Novelle des bald sechzigjährigen Storm ist ausführlich im sechsten Band wiedergegeben, da sie eine Liebe zwischen einem älteren Mann und einem jungen Mädchen behandelt.

Der begabte Botaniker Richard kehrt mit Anfang vierzig in seine Heimat zurück und begegnet dort der siebzehnjährigen Franziska, die er bei sich aufnimmt, nachdem ihr bisheriger Vormund sich an ihr vergehen wollte. Er zieht in den ,Narrenkasten’, ein einsames Haus zwischen Heide und Wald – aber wartet zunächst vergeblich auf eine Erwiderung seiner verborgenen Zuneigung:[1]

„Aber sind Sie denn auch gern hierhergekommen?“ fragte er jetzt.
„Gewiß! Weshalb denn nicht? Bei dem Schuster roch das ganze Haus nach Leder; und Bettelleute waren es auch.“
„Bettelleute? – Weshalb sprechen Sie so hart. Franziska?“ – Es schien, als wenn er ihr zu zürnen suche; aber er vermochte es schon längst nicht mehr. Eine Weile ließ er seine Augen auf ihr ruhen, während sie eifrig an einem Blättchen fortschattierte; als keine Antwort erfolgte, sagte er: „Ich bin kein Bettelmann, aber einsam ist es hier für Sie.“
„Das hab ich gern“, erwiderte sie leise und tauchte wieder den Pinsel in die Farbe.
Neben ihr auf dem Tische lagen mehrere fertige Blättchen; er nahm eines derselben, auf dem eine Blüte der Cornus suecica gemalt war, und schrieb mit Bleistift darunter:
     Eine andre Blume hatt ich gesucht –
     Ich konnte sie nimmer finden;
     Nur da, wo zwei beisammen sind,
     Taucht sie empor aus den Gründen.
Er hatte das so beschriebene Blatt vor sie hingelegt; aber sie warf nur einen raschen Blick darauf und schob es dann, ohne aufzusehen, wieder unter die andern Blätter, indem sie sich tief auf ihre Zeichnung bückte.
Noch eine Weile stand er neben ihr, als könne er nicht fort; da sie aber schweigend in ihrer Arbeit fortfuhr, so pfiff er seinem Hunde und schritt mit diesem in den Wald hinaus.
[...] selbst der löwengelbe Hund sah es, daß sein Herr in den Bann dieses fremden Kindes geraten, daß er ihr ganz verfallen sei; denn mehr wie je drängte er sich an ihn und blickte ihn mit fast vorwurfsvollen Augen an.

Dann, als ihr neuer Vormund, ein Schuster, sie einem reichen, kinderlosen Bäckermeister ins Haus geben will, der eine Hypothek auf dessen Haus hält, kann Richard sie ,freikaufen’, indem er dem Schuster Geld leiht.

Das Mädchen hatte während dieser Verhandlung laut- und regungslos am Fenster gestanden. Als Richard jetzt den Kopf zurückwandte, sah er ihre großen grauen Augen weit geöffnet; angstvoll, in flehender Hingebung, alles Sträuben von sich werfend, blickte sie ihn an.

Als das Mädchen, das der Bäcker offenbar eher zur Frau wollte, gerettet ist, entfaltet sich ihre Erwiderung:

Da wandte er sich gegen sie. „Komm!“ sagte er leise und öffnete die Arme.
Es mußte laut genug gewesen sein; denn sie flog an seine Brust, und er preßte sie an sich, als müsse er sie zerstören, um sie sicher zu besitzen. „Franzi! Ich bin krank nach dir; wo soll ich Heilung finden?“
„Hier!“ sagte sie und gab ihm ihre jungen roten Lippen. – –

Er kauft dem armen Mädchen neue Kleidung und Malsachen, da sie gern und begabt malt. Und es entfaltet sich eine Zeit der Harmonie und echten Liebe:

Aber an jedem Morgen fast schritten jetzt die beiden miteinander in die würzige Sommerluft hinaus; Franzi in ihren hohen ledernen Waldstiefelchen, die Kleider aufgeschürzt, über der Schulter eine kleine Botanisiertrommel, die er für sie hatte anfertigen lassen. Meistens sprang auch der große Hund an ihrer Seite; mitunter aber, wenn der Himmel mit Duft bedeckt war, wenn still, wie heimlich träumend, die Luft über der Heide ruhte und der Wald wie dämmerndes Geheimnis lockte, dann wurde wohl der Löwengelbe, wenn er neben ihnen aus der Haustür stürmte, in schweigendem Einverständnis von ihnen zurückgetrieben; hastig warfen sie dann das schwere Hoftor zurück und achteten nicht des Winselns und Bellens, das von dem verschlossenen Hofe aus hinter ihnen herscholl. Eilig gingen sie fort, und endlich zwischen Busch und Heide erreichte es sie nicht mehr. Nichts unterbrach die ungeheure Stille um sie her als mitunter das Gleiten einer Schlange oder von fern das Brechen eines dürren Astes; im Laube versteckt saßen die Vögel, mit gefalteten Flügeln hingen die Schmetterlinge an den Sträuchern.
Am Waldesrande waren jetzt in seltener Fülle die tiefroten Hagerosen aufgebrochen. Wenn gar so schwül der Duft auf ihrem Wege stand, ergriffen sie sich wohl an den Händen und erhoben schweigend die glänzenden Augen gegeneinander. Sie atmeten die Luft der Wildnis, sie waren die einzigen Menschen, Mann und Weib, in dieser träumerischen Welt.

Er aber hat doch schon bald Angst, dass sie sich einst wegen seines Alters von ihm abwenden wird. Und als sie einmal Hochzeitsglocken hört und ihn fragt, warum sie einander nicht heiraten, ist er es, der dies abwehrt – denn er hatte bereits eine Frau an einen anderen Mann verloren und fürchtet offenbar, dies durch eine neuerliche Heirat erst recht heraufzubeschwören. Auch will er sie freilassen – und gibt ihr schon jetzt das Eigentum auf einen Teil seines Vermögens.

Aber gerade durch seine Furcht ruft er die Dämonen hervor, die er fürchtet. Denn noch sucht das Mädchen Festigkeit, Treue, wahre Liebe...

Bald darauf tritt ein junger Jäger in das einsame Leben der beiden – und hat eine Wirkung auf das Mädchen. Der Mann verhindert, dass sie mit ihm tanzen kann, und das Mädchen ist immer mehr hin- und hergerissen zwischen seiner Dankbarkeit und Liebe zu Richard – und dem, was sie zu dem so viel Jüngeren und überhaupt dem Leben der Jugend hinzieht. Zu spät erkennt Richard, was sie braucht. Er will mit ihr in die Stadt zurückzukehren, aber innerlich hat er sie bereits verloren. Er versucht, sie durch eine Heirat gewaltsam zu halten, aber als er alles dafür vorbereitet, flieht sie mit dem Jäger, nachdem sie seinen Hund vergiftet hat.

Die tiefe Tragik der Novelle verdoppelt sich jedoch noch, weil von dem jungen Jäger ganz deutlich gesagt wird, dass auch er nicht lange bei einem Mädchen bleiben kann.

Auch dieses Mädchen verliert sich also an den Falschen, während es von einem Anderen so unendlich geliebt wird... Diesmal ist der Grund nicht die Armut, nicht der Standesunterschied, sondern der Unterschied im Alter... Und die große Frage ist: Was wäre geschehen, wenn Richard am Ende nicht fortgezogen, sondern geblieben wäre, gewartet hätte auf das so geliebte Mädchen, das doch schon nach kurzer Zeit von dem ,Eroberer’ fallengelassen worden wäre...?
 

Fußnoten


[1]● Theodor Storm: Waldwinkel. Projekt Gutenberg. Auch für die folgenden Zitate.