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Zur ,Wald- und Wasserfreude’ (1879)
In der nun zuletzt zu erlebenden Erzählung – die eigentlich zwischen ,Aquis submersis’ und ,Eekenhof’ enstand – ist die Hauptperson fast das Mädchen selbst. Vielleicht ist sie deshalb so besonders seelenvoll.
Ein ,blasses Männchen’ namens Zippel hat in einer Stadt eine Bäckerei. Seine kaum dreizehnjährige Tochter, ein ,grätiges Ding mit zwei langen Zöpfen’, Kätti genannt, ist eine schlechte Schülerin, die kaum lesen kann und nur von den Geographiestunden gefesselt wird, wenn der Lehrer von der weiten Welt erzählt. In den Klavierstunden ist sie auch begabt. Fasziniert ist sie jedoch von der Gitarre des – fünf, sechs Jahre älteren – Primaners Wulf Fedders, der im Sommer für das letzte Schulhalbjahr in das Giebelzimmer gezogen ist. Eines Tages kommt heraus, dass sie eine Woche lang nachmittags die Schule geschwänzt hat – um heimlich an seiner Gitarre zu üben. Dann bittet sie ihn schüchtern, ihr Unterricht zu geben, was er tut. Der junge Mann ist gegenüber dem Mädchen auch nicht ganz unempfänglich:[1]
Wenn sie dann eintrat, hatte er oftmals Mühe, seine bewundernden Augen abzuwenden, damit – so warnte er sich selber – das Kind nicht eitel werde. Er hatte freilich nicht gesehen, wie sie kurz zuvor an ihrem aufgezogenen Schubfache kniete, um ein bestes Krägelchen oder ein andres Putzstück daraus hervorzukramen; hatte er doch nicht einmal bemerkt, daß erst seit ein paar Tagen eine rote Seidenschleife gleich einem angeflogenen Schmetterling auf ihrem schwarzen Haare saß.
Es ist also vor allem das Mädchen selbst, das zart in den so viel Älteren verliebt ist... Für ihn ist sie bei mancher Gelegenheit dann auch auf einmal ,brennend fleißig’. Und sie liebt es, ihn singen zu hören:
Der Worte dieses Liedes wurde sie sich kaum bewußt, es war ihr nur die Melodie zu der sich dunkel regenden Empfindung, mit der sie in das hübsche Jünglingsantlitz blickte.
Das Mädchen schweigt darüber ,gegen jedermann, aus unbestimmter Furcht, es könne ihr geraubt werden’, und der Primaner scheut sich seinerseits, ,seinen Verkehr mit dem eigenartigen Backfischchen der Kritik seiner Kommilitonen auszusetzen’.[2] Einmal werden sie dennoch von einem Kommilitonen überrascht, und das Mädchen fliegt an ihm vorbei aus dem Zimmer:
„Was war denn das für eine schwarze Katze?“ rief der Forsche.
„Es ist die Wirtstochter“, erwiderte Wulf nicht ohne sichtbare Verlegenheit.
Der andre klopfte ihm vertraulich auf die Schulter. „Ja so! – Du scheinst mit ihr zu schwärmen, alter Freund!“
„Sie ist ein Kind; sie hatte mir den Tee gebracht.“
Kätti stand noch hinter der offenen Stubentür und machte mit ihren kleinen Händen ein paar Krallen gegen den groben Eindringling, bevor sie ganz verschwand.
Was man hier spüren kann, ist, wie sehr ein Mädchen schon in diesem Alter lieben kann, ohne dass es von irgendjemandem verstanden wird... Wie berührend ist diese hilflose und doch mutvoll-liebende ,Krallengeste’! Als Wulf nach dem Semester auszieht, hinterlässt er dem Mädchen die Gitarre mit einem Zettel ,Für Kätti’:
Als sie die Worte auf dem Papierstreifen gelesen hatte, drückte sie ihre Lippen darauf und brach in lautes Schluchzen aus.
Nun greift die Novelle vier Jahre weiter. Ein ganzes Stück außerhalb der Stadt liegt ein Dorf, wo Zippel eine Gaststube übernommen hat, die er ,Wald- und Wasserfreude’ nennt. Er hat im Dorf auch einen kleinen hinkenden Schneider von fast vierzig Jahren entdeckt, Sträkelstrakel genannt, der leidlich Geige spielen kann und zusammen mit Kätti auf dem Klavier die auf der Veranda sitzenden Gäste unterhält. Und das Mädchen:
[...] obgleich jetzt volle siebzehn Jahre alt, glich fast noch einem halb erwachsenen Kinde; nur ihre Wangen waren jetzt sanft gerundet, und das bleiche Braun derselben war von einem roten Hauch durchbrochen. Ihr schwarzes Haar aber trug sie noch immer in zwei langen Zöpfen; sie war eigensinnig, sie wollte es nicht anders, und auch die rote Schleife an der linken Seite durfte niemals fehlen.
Es zeigt sich, dass auch das kleine Schneiderlein das Mädchen heimlich liebt:
„Peter Jensen!“ sagte Kätti feierlich und nannte ihn bei seinem vollen Taufnamen; „was kann Er geigen! [...] Und ist Er auch noch niemals draußen in der Welt gewesen?“
„Draußen in der Welt? – Was soll ich da, Mamsell?“
„Ja“, sagte sie träumerisch und heftete die Augen auf das arme Körperchen des Musikanten, als wolle sie selbst das Wunder nun vollbringen; „wenn Er doch jung und hübsch wäre, Sträkelstrakel!“
Er nickte nachdenklich, als ob ihm das schon wohl gefallen mochte. „Was dann, Mamsellchen?“ frug er schüchtern.
„Dann – aber das versteht Er nicht, dann wollten wir beide miteinander in die Welt hinaus!“
Er sagte nichts; er kniff die dünnen Lippen zusammen und sah sie halb anbetend und halb traurig an.
Nach einem Jahr hat sich die Zahl der Gäste deutlich reduziert. Und das Mädchen ist sehr einsam, obwohl es nun sogar zwei Verehrer hat:
Sie musizierte wohl noch an einzelnen Abenden mit Sträkelstrakel in dem leeren Saale, sie sang und spielte auch wohl einmal, wenn Gäste unter der Veranda saßen; aber sie tat das eine mehr, um die schüchtern fragenden Augen des kleinen Musikanten zu befriedigen, das andre nach dem Willen ihres Vaters, dem sie nicht entgehen konnte. Mit den Töchtern der Bauern wußte sie nichts zu reden und diese nichts mit ihr; nur der junge Unterlehrer,[3] ein gutmütiger Mensch mit Plattfüßen und gelbblonden Haaren, saß oft stundenlang neben ihr am Klavier und blickte, gleich Sträkelstrakel, in stummer Anbetung zu ihr auf. Aber was kümmerten sie eigentlich diese beiden Menschen!
Manchmal fährt sie mit einem kleinen Boot zu einem stillen kleinen See und verbringt dort Stunden, ,auf dem Boden des Bootes hingestreckt, die schmalen Hände über dem schwarzen Haar gefaltet’. Das leise Rauschen der Binsen mit dem Gaukeln der Libellen ,versenkte sie in einen Zustand der Geborgenheit vor jener doch so nahen Welt ihres Vaterhauses, in der sie immer weniger sich zurechtzufinden wußte.’
Als der Unterlehrer ihr schüchtern Verse vorliest, dann aber die Flucht ergreift und ihr nur das Papier in die Hand drückt, erkennt sie errötend eine Liebeserklärung und einen Heiratsantrag. Sie wirft das Papier ins Feuer. – Am Abend dieses Tages finden sich drei Mitglieder einer ,versprengten Sängerbande’ ein, ein Geschwisterpaar und eine blonde Gitarrenspielerin. Diese schwärmt ihr vor, dass ihresgleichen reiche Männer bekämen und das auf sie ein schwedischer Graf warte, mit dem sie erst einmal nach Baden-Baden reisen werde.
Etwa vier Wochen später befindet sich Wulf Fedders, der inzwischen seinen Doktor iuris gemacht hat, in einer Stadt zwanzig Meilen weiter südlich und hat vor, einige Monate zur Erholung in jenem Dorf zu verbringen, an das er so schöne Erinnerungen hat. In der nahen Stadt aber, wo er damals die Schule beendet hatte, wohnt eine blonde Majorstochter, die er einmal traf und der er wiederbegegnen möchte. Unerwartet trifft er jedoch bereits in der Stadt seines jetzigen Aufenthalts in einem Gasthof auf Kätti:
„Kätti?“ rief er, als er vor ihr stand.
Sie ließ den Kopf auf ihre Brust sinken. „Ja, Kätti“, sagte sie leise.
Als sie dann die Augen langsam zu ihm aufhob, machte die eigentümliche Schönheit des Mädchens ihn fast verstummen. Erst als aus der Musikantenecke ein herrischer Ruf an sie erging, brach es hervor. „Also zu denen da gehörst du?“ rief er – und es war fast derselbe Ton, womit er einst das faule Schulkind abgekanzelt hatte –, „eine fahrende Marktsängerin ist aus dir geworden, und ich selber hab’ wohl gar noch dazu helfen müssen. Ich kann’s mir denken, du hast dich in den jungen Vagabunden da verliebt und bist mit ihm davongelaufen!“
Kätti sah ihn ganz erschrocken an und schüttelte heftig ihr dunkles Köpfchen.
„Nicht? Aber weshalb bist du denn fortgegangen?“
„Ich weiß nicht“, sagte sie schüchtern; „ich glaube, ich mochte nicht mehr mit Sträkelstrakel spielen.“
Als sie ihm gesteht, dass der eine Vagabund ,frech’ gegen sie gewesen sei, fragt er die Leute drohend, wie sie zu dem ,halben Kind’ gekommen seien – nur um zu erfahren, dass Kätti selbst sich ihnen mitten in der Nacht bereits außerhalb des Dorfes bettelnd und weinend aufgedrängt habe. Und zur Situation von eben berichtet derselbe Bursche:
„Ich weiß eben nicht, warum ich Euch hier Antwort steh; aber der Herr da draußen ist einer von unsern Freunden; er hatte sein Späßchen mit der neuen Mamsell, wie er’s mit der andern auch gehabt hat; aber der schwarze Fratz tat wild wie eine Katze und hat ihm seine Wange aufgerissen!“
Wulf bringt das Mädchen wieder nach Hause zurück. Der Vater hatte zwar Suchaufrufe ,in den Blättern’ gesetzt, ist aber im übrigen viel zu sehr mit dem Ausbau der Gaststätte in ein Heilbad beschäftigt, als sich groß um seine Tochter zu kümmern. Das Mädchen sucht hingebungsvoll Wulfs Nähe:
Seine Aufwartung hatte Kätti übernommen, und sie tat alles mit einer so stillen, nie nachlassenden Aufmerksamkeit, daß er dem sonst so flüchtigen Mädchen oft verwundert zusah; auch als nach einigen Tagen seine Kiste mit Büchern und Papieren anlangte, ging sie so anstellig ihm zur Hand, als wüßte sie von selbst, wohin er jegliches geordnet haben wollte.
Er selbst aber behandelt sie mit ,ihrer schmächtigen Gestalt und den herabhängenden Zöpfen’ noch immer wie ein halbes Kind – und bemerkt nicht ihre ganze Hingabe, oder empfindet daran nichts:
Bei solcher Rückkunft fand er stets einen frischen Blumenstrauß auf seinem Tische; aber obgleich er wissen mußte, daß nur Kätti ihn dahin gestellt haben konnte, so erhielt diese doch nie ein freundliches Wort darüber. Anfänglich verwunderte sie sich nur; dann aber begann es sie lebhaft zu beschäftigen, und endlich beschloß sie, ihm an solchen Tagen lieber gar nicht mehr vor Augen zu kommen; und so fand er denn künftig neben dem Blumenstrauß auch sein Abendbrot als wie von unsichtbaren Händen aufgetragen. Sie dachte nicht, daß er auch hierin nichts Besonderes fand.
Das liebende Mädchen zieht sich in scheuer Scham zurück und hofft auf ... Erwiderung. Berührt wird der junge Doktor jedoch erst, als Kätti verzweifelt ist, weil Sträkelstrakel von der Polizei aufgegriffen wurde und seine Geige versetzen musste, alles wegen ihr, wie sie fühlt, weil er den Gasthof ebenfalls verlassen hatte, als sie verschwunden war. Als sie ihm zu Füßen fallen will, sagt Wulf zu, die Geige wiederzubeschaffen.
Bis sie plötzlich fort war, blieb er wie gefangen in der Glut der stummen Dankbarkeit, die aus den dunkeln Augen ihm entgegenströmte. Bald aber, da er allein an seinem Arbeitstische saß, schalt er sich selbst darüber und suchte seine Gedanken auf den Weg zur Stadt zurückzubringen.
Er ist von der Hingabe und Seelenfülle des Mädchens berührt, aber sein nüchterner Kopf und sein standesgemäßes Denken strebt zu der blonden Majorstochter... In den folgenden Tagen meidet er Kätti, die selbst einen freundlichen Gruß von ihm entbehren muss.
Dann wird der väterliche Wachtelhund vermisst, und die Magd sagt, ,die lange Trina’ schlachte kleine fette Hunde, um das Fett an den Apotheker zu verkaufen und auch ,Sympathie’ zu machen – offenbar Liebeszauber. Der Vater gibt Kätti ein Geldstück, um ,der alten Hexe’ den Hund wieder abzukaufen. Aus Angst, sich zu verirren, meidet sie den Weg durch den Wald und umrundet diesen in weitem Bogen. Die hagere Alte leugnet, den Hund zu kennen, aber Kätti gibt ihr das Geld als Anzahlung. Die Alte sagt, sie solle den Weg nicht umsonst gemacht haben, und weist sie auf den ,Speiteufel’ hin, einen roten Pilz:
„Wenn du dir wieder ein Hündchen ziehen willst, so tupfe mit dem Finger in den roten Schaum, der auf dem Hute liegt, und netze das mit deinen Lippen! Es brennt ein wenig; aber das schadet nicht. Warte nur, es ist auch ein Spruch dabei!“ Sie zog ihre Tischschublade auf, kramte darin umher und holte endlich einen schmutzigen Zettel daraus hervor, den sie Kätti vor die Augen hielt. „Das muß dabei gesprochen werden“, sagte sie; „wenn dann das Hündchen davon frißt, so wird es nimmer von dir weichen.“
Die lange Trina rückte näher und fuhr mit ihrer harten Hand über die Wange des Mädchens. „Es hilft nicht bloß für Hündchen“, sagte sie heimlich [...].
Die Alte dringt noch weiter auf sie ein und setzt sie schließlich direkt auf den Weg durch den Wald an. Und nun schildert Storm meisterhaft die ganze machtvolle Verführung, die durch die Seele des Mädchens hinzieht, und wie sie mit dieser kämpft. Sie hat längst geahnt, dass Wulfs Besuche in der Stadt einem anderen Mädchen gelten. Und vergebens versucht sie, die in ihr aufsteigende ,wilde Hoffnung’ zu verjagen:
Wie betäubt ging sie jetzt dahin auf dem einsamen Waldsteige; immer wieder schwebte der schmutzige Zettel ihr vor Augen, und mechanisch murmelten ihre Lippen die unverständlichen Worte, die sie darauf gelesen hatte.
Dann wieder sah sie jäh empor, als suche sie Zuflucht in dem reinen Ätherblau, das hoch über ihr am Himmel stand; sie schüttelte wie zornig ihr dunkles Köpfchen, als könne sie so die unheimlichen Gedanken von sich werfen; aber immer wieder und immer unabwehrbarer drang es auf sie ein. Unwillkürlich suchten ihre Blicke hin und wider, und bald folgten auch die Füße seitwärts vom Wege ab [...]. Und weiter ging sie, ohne auf den Weg zu achten, ohne aufzusehen; da, am Rande einer feuchten Lichtung, stockten ihre Schritte. [...]
Ein Laut gleich einem Stöhnen kam über ihre Lippen; sie schloß die Augen wie vor einem bösen Trugbild; aber als sie sie wieder öffnete, stand es noch immer da und bot, wie in einem Näpfchen, ihr den roten Schaum entgegen. Ohne daß sie es wollte, hatte sie sich hinabgebückt; in ihren Gedanken rief es: „Gift! Gift! Es ist Gefahr dabei!“, aber ihre stürmenden Pulse antworteten: „Es ist um desto besser!“
Ihre Lippen begannen wieder die unsinnigen Worte herzusagen, und schon hatte sie den Arm, den Finger ausgestreckt, da bewegte sich der Hut des Pilzes; ein Schauer zog durch den Wald, und die Bäume rauschten wie vom Odem eines Unsichtbaren angehaucht.
Es war nur der Abendwind, der sich erhoben hatte; aber das Mädchen war aufgesprungen; vom Schrecken der Einsamkeit erfaßt, rannte sie ohne Aufhör in den Wald hinein, ohne umzusehen, ohne zu achten, daß die Fetzen ihrer Kleider an den Büschen blieben, bis sie endlich in gutem Glücke auf den ihr bekannten Fahrweg hinauskam.
Ihr wurde plötzlich leicht ums Herz; sie atmete auf, als ob sie jetzt dem Zauberbann der argen Frau entronnen wäre. Ihr fiel nicht bei, daß noch ein andrer sie gefangenhalte, aus dem sie nicht so leicht entrinnen sollte.
Am Sonntag darauf kehrt eine Gesellschaft feiner Leute im Gasthof ein. Mehrere der jungen Damen waren mit ihr zur Schule gegangen – aber von keiner wird sie begrüßt. Und die Hübscheste ist ein schlankes blondes Mädchen: ,Gewiß, sie war die Hübscheste; aber – Kätti wußte nicht recht weshalb – auch wohl die Stolzeste!’ Auch hier deutet Storm wieder in aller Schlichtheit die ganze Unschuld Kättis an. Sie spürt den Stolz der anderen – und kann es doch nicht mit dem Kopf erklären, weil sie viel zu sehr in der noch ganz unschuldigen Empfindung lebt. Und nun wird diese tief verletzt. Denn Wulf und die junge Dame sind zusammen, und diese erkundigt sich beiläufig nach ihr – und Wulf sagt wieder: ,Es ist die Wirtstochter’. Und derselbe Satz, der noch vier Jahre zuvor für sie nichts Schlimmes gehabt hatte, beschämt sie nun zutiefst:
[...] sie wußte selbst nicht, was sie überkommen war; aber sie fühlte, wie ihr das Herz fast schmerzhaft schlug und wie ihr ganzer Körper bebte. [...] Kätti starrte auf das immer wiederkehrende Spiel des Wassers; sie hatte keinen Gedanken, sie fühlte sich nur ganz verachtet und vernichtet.
Und doch, derart zurückgewiesen, hört sie nicht auf zu kämpfen. Sie denkt an das andere Mädchen, fühlt den Unterschied, und hat nun den Wunsch, Französisch zu lernen – was die beiden kurz danach gesprochen hatten –, und alles andere auch. Und wie erschütternd deutet Storm das ganze Innenleben des Mädchens an, als es dem jungen Doktor am nächsten Morgen das Frühstück bringt:
Sie sah etwas bleich und anders aus als sonst; die dunkelrote Schleife saß zwar noch in dem glänzend schwarzen Haar; aber die langen Zöpfe waren am Hinterkopf zu einem Knoten aufgesteckt. Sie wollte nicht mehr wie ein Kind vor ihm erscheinen.
[...] „Kätti! Fräulein Rosalie!“ rief er scherzend. „Du bist ja ganz verwandelt. In welchem Zauberwinkel warst du gestern uns verschwunden?“
Sie hob den Kopf, und aus dem Spalt der halb geschlossenen Lider flog es wie ein Blick des Hasses auf ihn hin. „Ich bin krank gewesen“, sagte sie düster. Als sie aber den plötzlichen Ausdruck der Teilnahme auf seinem Antlitz sah, öffnete sie die Augen weit und blickte mit kindlicher Hilflosigkeit zu ihm auf.
Sie bittet ihn um ein Französisch-Wörterbuch und ist auch bereit, ein halb zusammengesetztes Hemd für ihn fertigstellen zu lassen. Wieder allein, wiederholt er berührt für sich die Worte, die die Majorstochter am Vortag über das Mädchen verloren hatte: ,Vraiment, une petite princesse dans son genre!’[4] – und fragt sich dann: ,nur dans son genre?’
Das Mädchen geht zum Schneider Sträkelstrakel und lässt sich von ihm helfen – um das Hemd selbst zu nähen. Abends übt sie noch Französisch, während der junge Doktor draußen im Garten von der blonden Majorstochter träumt – in seinem Rücken dann aber das noch immer erleuchtete Fenster sieht. Auch sie sieht er nun innerlich vor sich, ,das müde Köpfchen auf die Hand gestützt und gleichwohl eifrig in seinem Diktionär blätternd’ – und die Majorstochter steigt nicht mehr auf, so sehr er auch seinen Willen darauf zu richten sucht.
Am nächsten Morgen übergibt das Mädchen ihm ohne jede Bezahlung sein Hemd und bittet ihn rührend, ihr Übungsheft zu korrigieren:
Er nahm es schweigend und begann zu lesen, während sie mit beklommenem Atem vor ihm stand. Einmal zuckte sie erschreckt zusammen, da er einen Bleistift nahm und damit zwischen ihre Schrift hineinschrieb; endlich gab er ihr das Heft zurück. „Das ist auch gut!“ sagte er und sah sie voll mit seinen blauen Augen an, während ein helles Freudenrot über des Mädchens Antlitz flog.
„Aber bist du denn nicht mehr die alte Kätti; wer hätte dich früher an den Nähtisch oder an die Bücher bringen können? Und nun? – Wie geht das zu? Oder ist es am Ende gar ein Wunder?“
Ihre Augen öffneten sich weit[5] und sahen ihn an, bis sie sich mit Tränen füllten. „Ich weiß nicht“, stammelte sie verworren, „aber darf ich mit meinen Themen wiederkommen?“
Und als er ihr das zugesagt hatte, nahm sie ihr Heft und verließ eilig das Zimmer.
Dann bittet der Schneider, dem sie unterwegs begegnet, ihr einen Auftrag aus der Stadt abzunehmen, da sie doch ,zum Herrn Doktor’ komme, wobei ihre Hände ,plötzlich eiskalt’ werden. Dann erblickt sie die Trina, die in die Stadt geht und erst abends wiederkommen wird. Wieder zurück, bittet sie Wulf, sie zu deren Hütte zu begleiten, da sie glaube, jene habe den Hund getötet, und allein Angst habe:
„Ich möchte es nur wissen“, sagte sie leise. „Wollen Sie nicht mit mir gehen?“
Der Doktor zögerte; [...] als aber Kätti vor ihm stehenblieb, nur die dunkeln Augen in angstvoller Erwartung auf ihn richtend, stand er auf und packte seine Bücher fort. „Wenn es denn sein muß, Kätti!“ sagte er. „Aber was ist dir heute? Deine Wangen wetteifern ja mit deiner roten Schleife!“
Er erhielt keine Antwort; Kätti war schon draußen vor der Haustür.
Wieder geht sie mit ihm um den Wald herum. Bei der Kate der Alten stehen sie vor verschlosener Tür. Dann ist wieder ein Moment, wo sich der junge Doktor der Lieblichkeit des Mädchens bewusst werden könnte:
Sie stand seitwärts unter einer einzelnen Tanne und schien auf das Moor hinauszublicken, das sich hier vor der Hütte der Alten in unerkennbare Ferne hinausstreckte, mit der einen Hand hatte sie über sich einen Ast ergriffen, so daß ihr Köpfchen an dem eignen Arme ruhte.
Als Wulf Fedders die schlanke Mädchengestalt so fast wie schwebend gegen den schon goldig angehauchten Himmel sah, zögerte er einen Augenblick; dann rief er noch einmal, aber leise, ihren Namen; da wandte sie sich und kam langsam zu ihm.
Unter den aufgehängten Fellen ist der Hund nicht zu entdecken. Der junge Mann schlägt den Rückweg durch den Wald ein. Und er ist von dem Mädchen berührt:
Er folgte ihr in einiger Entfernung, doch nicht weiter, als daß er um so besser die anmutige Gestalt betrachten konnte; und seine Augen sahen bald nichts andres als sie. Im Gehen streifte ein überhängender Zweig die rote Schleife aus ihrem Haar; sie hatte es nicht bemerkt; aber er hob sie auf und zeigte sie ihr. „Warte!“ sagte er; „ich weiß wohl, wie sie sitzen soll!“
Sie neigte demütig das Haupt und duldete es, daß seine ungeschickten Finger sich mit dem Bande mühten.
„Habe ich es recht gemacht?“ frug er leise; noch einen Augenblick ruhte seine Hand auf ihrem Haar.
Sie nickte nur; es kam kein Hauch von ihrem Munde. Dann gingen sie aufs neue weiter; das Rauschen in den Wipfeln hatte aufgehört, es wurde immer stiller um sie her.
Sie kommen auf eine Lichtung, auf der das Gold des Abendhimmels liegt. Da schreit das Mädchen auf, weil vor ihr auf einmal eine Kreuzotter liegt:
„Da, da!“ stammelte Kätti und erhob mühsam wie im Traume ihre Hand.
Ein wütender Biß der Schlange zuckte nach ihr hin; aber Wulf Fedders hatte sie schon auf seinen Arm gehoben und trug sie fort, immer weiter, er wußte selber nicht, wohin; aus dem Tannen- in den Buchenschlag und aus den Buchen endlich an den Rand des Waldes; sie hatte die Arme um seinen Hals geschlungen und ruhte wie ein Kind mit ihrer Wange an der seinen.
Nun ließ er sie sanft zur Erde nieder; allein sie blieb noch mit geschlossenen Augen an ihm ruhen.
„Kätti“, sagte er sanft; „besinne dich, die Gefahr ist jetzt vorüber.“
Das Mädchen ist noch immer wie abwesend, tritt von ihm zurück.
„Nicht wahr“, fuhr er fort, „sie ist weit, ganz weit von uns entfernt; du fürchtest sie nun nicht mehr?“
Sie schüttelte den Kopf und sah ihn dennoch angstvoll an.
„Kätti“, rief er bittend, „mach nicht so heimatlose Augen!“
Und da sie noch immer stumm blieb, streckte er in heftiger Bewegung beide Arme ihr entgegen.
Einen Augenblick neigte auch sie sich gegen ihn; dann aber richtete sie sich jäh empor. „Nein, nein“, schrie sie, und ihre kleinen Hände stießen ihn zurück; „ich kann nicht, ich bin falsch gewesen!“
Wulf ist sich sicher, dass das Mädchen gar nicht das sein könne, was sie behauptet – bis sie ihr Leid gesteht:
„Falsch? Du, Kätti? Du kannst ja gar nicht falsch sein!“
„Doch“, sagte sie und nickte ein paarmal wie zur Beteuerung ihrer Schuld; „das Weib hat unseren Fidél gar nicht getötet; ich wußte das, denn sie fanden ihn heute in der Trinkgrube neben unserm Garten.“
Wulf Fedders schüttelte den Kopf. „Aber weshalb sind wir dann hier hinausgewandert?“
„Es war eine Gesellschaft aus der Stadt“, entgegnete sie stockend; „sie wollten in unsrer Wirtschaft vorfahren; ich sollte es an Sie bestellen.“
„Und das wolltest du nicht?“
„Nein, ich wollte es nicht.“
„Und weshalb?“ frug er gespannt.
Sie schwieg eine Weile; dann sah sie ihn fest mit ihren schwarzen Augensternen an und sagte: „Weil auch die blonde Dame mit in der Gesellschaft ist.“
„Darum also – die Tochter der Majorin meinst du?“ Es klang plötzlich ein kühler Ton aus diesen Worten; die blonde Dame war auf einmal wieder in der Welt.
Da Kätti keine Antwort gab, so schwiegen beide und gingen langsam nebeneinander auf dem Wege hin. Als sie sich dem Tore des Geheges näherten, hörten sie wieder die Geige aus dem Walde tönen. Kättis weiße Zähnchen gruben sich in ihre Lippen; aber Wulf Fedders schritt, als habe er nichts gehört, vorüber.
„Wollen Sie nicht hineingehen?“ sagte sie leise. „Sie treffen die Gesellschaft noch beisammen.“
Er schüttelte den Kopf. „Ein andermal, Kätti.“ – Und stumm wie vorhin gingen sie auf dem fast dunkeln Wege fort. Als sie das Dorf erreicht hatten, bogen sie von der Straße ab und schritten unten am Flußufer entlang. An der Felstreppe, die zur „Wald- und Wasserfreude“ hinaufführte, blieb der Doktor stehen. „Gute Nacht, Kätti!“
„Gute Nacht“, hauchte sie; sie gaben sich nicht die Hände; wie ein gescheuchter Vogel flog sie die Stufen hinauf, bis er sie oben in der Dämmerung verschwinden sah.
Der junge Mann hätte das arme, unschuldige, von Liebe getriebene Mädchen jetzt lieben müssen – wenn er ein Herz gehabt hätte. Aber Storm beschreibt ausdrücklich, warum dies nicht geschah:
An diesem Abend saß der Doktor noch lange auf dem großen Stein vor seiner Haustür und blickte auf den Fluß hinaus, der ruhig im Sternenlicht dahinzog; aber aus seinen Wellen wollte heute kein anmutiges Mädchenbild emporsteigen. [...] die nüchternen Gedanken hatten allein jetzt die Gewalt. – –
Wulf Fedders war der Sohn eines höheren Beamten, den [...] eine Dame alten Geschlechts geehelicht hatte; und es geschah wie meist in solchen Ehen: da die Frau nicht umhin konnte, ihres Mannes bürgerlichen Stand zu teilen, so suchte sie wenigstens von der früheren „Exklusivität“ noch so viel festzuhalten, als ihre kleinen Hände es vermochten. Die damit durchsetzte Luft des Hauses war auf den Sohn [...] nicht ohne Einfluß geblieben; trotz guten Willens wurde es ihm meistens schwer, ja fast unmöglich, den Menschen ohne Rücksicht auf seinen Ursprung oder die ihm angeborene Vergangenheit zu schätzen.
Mit anderen Worten: Er schätzte nicht Herz und Wesen des Mädchens – sondern ihren sozialen Stand. Und doch war er dem Mädchen fast verfallen gewesen:
Nun saß er in der Einsamkeit der Nacht, in sich erschrocken über die Vorgänge dieses Nachmittages, die mit zudringlicher Deutlichkeit vor seinen Augen standen. Nur Kätti selber hatte ihn zurückgehalten, sich ihr für immer zu geloben; und Wulf Fedders war nicht der Mann, eine deutlich eingegangene Verpflichtung nicht auch mit allen Opfern zu erfüllen. Aber der gefährliche Augenblick war vorüber und konnte niemals wiederkehren. „Hermann Tobias Zippels Schwiegersohn!“ Er schüttelte sich ein wenig [...]; dann stand er langsam auf und ging in seine Kammer.
Wenige Tage später wird Kätti Erbin unter anderem eines Beutels von Silber- und Goldmünzen einer verstorbenen Patin. Dann wirbt der Unterlehrer erneut um sie – und Fedders wird hier kurz sogar eifersüchtig:
[...] war ihm im ersten Augenblick, als ob ein Dorftölpel in seinen Blumengarten steigen wolle, und schon saß ein überlegenes Wort gegen den jungen Menschen auf seinen Lippen. Aber er besann sich; was kümmerte es ihn? Er wollte ja kein Recht an dieser Blume haben. Er ging fort, und Kätti sah ihm mit großen Augen nach, während die Reden des Schulmeisters wie leeres Wellengeräusch an ihrem Ohr vorübergingen.[6]
Die ganze Tragik des Geschehens ist nicht zu übersehen.
Als wieder die junge Gesellschaft aus der Stadt kommt und mit einem Boot auf das Wasser fährt, fährt sie heimlich hinterher. Sie sieht, wie sich die blonde Dame an Land den Fuß verstaucht und mit Fedders zurückrudert. Als sie sich zwischen Binsen versteckt, wird sie Zeugin, wie das andere Mädchen in seinen Armen liegt und die beiden sich offenbar einander versprochen haben. Und nun ist ein Mädchenherz endgültig vernichtet:
Aber ungesehen hinter der dunkeln Binsenwand war in diesem Augenblick ein verbleichendes junges Antlitz auf den Rand des Bootes hingesunken. – Das Abendrot überglänzte den Himmel und verging, der Tau versilberte das schwarze Haar des schönen Mädchenkopfes, und fern [...] schimmerte der Stern der Liebe. Da erst richtete sich Kätti wieder auf.
Am nächsten Morgen findet der Doktor sein Wörterbuch auf der Fensterbank, darin ein Zettel mit der Nachricht, dass sie ihren Geldbeutel mit sich genommen habe, das übrige Erbe aber ihr Vater haben solle, wovon er hundert Taler dem Sträkelstrakel geben solle. Und nun offenbart sich noch einmal die ganze zerrissene Seele des jungen Doktors:
Eine heftige Sehnsucht nach dem Mädchen wallte in ihm auf; aber er sagte sich mit Nachdruck, daß das nur Mitleid sei.
Meisterhafter als Storm mit diesem einen einzigen Satz kann man nicht zum Ausdruck bringen, wie der von Standesbewusstsein beherrschte Gedanke das Herz besiegt und unterdrückt – so vollständig, dass der Betreffende sich nicht einmal Mühe geben muss, ein Mädchen nicht zu lieben, denn seine Liebe kommt ihm überhaupt nicht zu Bewusstsein. Sie wird von den internalisierten Gedankenprägungen schon im Herzen selbst erstickt.[7] Und doch nicht ganz. Die volle Demütigung des Mädchens ereignet sich dann durch ihre standesmäßig weit überlegene Rivalin:
Einige Tage später saß drüben in der Stadt Wulf Fedders neben seiner hübschen blonden Braut. Sie plauderte schon lange und schien eifriger zu fragen, als er zu antworten. [...]
„Und ihr habt keine Spur von ihr gefunden, gar keine?“
Er schüttelte den Kopf. „Nicht weiter als bis unten an der Flußmündung, wo auch das Boot gefunden wurde.“
„Du Ärmster, wie hast du dich wohl abgemüht.“
„Du übertreibst, Cäcilie; ich habe mich nicht abgemüht.“
Sie neigte den Kopf und sah ihn von unten auf mit ihren blauen Augen an. „Leugne es nur nicht! Und – weißt du? – wäre es eine andre gewesen, ich hätte eifersüchtig werden können!“
Ein leichtes Rot überflog sein Antlitz. [...]
Wulf Fedders sah sie düster an. „Wollen wir nicht lieber von etwas anderm reden als immer nur von jenem armen Mädchen?“
Die junge Dame strich sich sorgsam ihre Kleider glatt [...]. „Weißt du?“ sagte sie. „Sie interessierte mich doch; ich wußte nur nicht, wo ich sie hintun sollte; nach dieser Geschichte aber bin ich ganz im reinen! Nicht wahr, sie hatte so ruhelose Augen? Es war ein echtes Vagabundenangesicht!“
Diese Novelle offenbarte nicht die Liebe eines Mannes zu einem Mädchen, sondern die eines Mädchens. Aber sie offenbarte zugleich in aller Tiefe, was ein Mädchen so unendlich, so zutiefst liebenswert macht. So ist auch sie ein Zeugnis aufrichtiger Parthenophilie – und zugleich jener Seelenhaltung, die das reine, unschuldige Wesen eines Mädchens nicht zu sehen vermag.
Fußnoten
[1]● Theodor Storm: Zur ,Wald- und Wasserfreude’. Projekt Gutenberg. Auch für die folgenden Zitate.
[2] Hätte er gewusst, dass einst auch die Literaturwissenschaftler über diese Liebe ,herfallen’ würden...
[3] Hilfslehrer oder aber niederer Lehrer an einer Volksschule.
[4],Wirklich eine Prinzessin in ihrer Art’. Es ist aber deutlich gemeint, dass das ,genre’, die Art oder Gattung, eben auch eine soziale ist. Dann ist Kätti im Gasthofmilieu zwar eine Prinzessin, die aber dem gehobenen Bürgerstand natürlich dennoch niemals das Wasser reichen kann.
[5] Diese fortwährende tiefste Aufrichtigkeit und abgrundtief ehrliche Liebe werden heute nur noch ganz wenige Seelen überhaupt ertragen können... Man wird ,feministisch’ von ,patriarchalem Klischee’ sprechen und nicht das Geringste begreifen...
[6] Dann wirbt sogar der kleine Schneider für eine Verbindung mit dem Lehrer – aber sie erkennt, dass er von diesem für eine solche Werbung beauftragt wurde.
[7] Heute wird sie dagegen nicht von internalisierten Standesgedanken erstickt, sondern von dem durch den ,Missbrauchsdiskurs’ angereicherten Tabu. Der Standesdünkel war immerhin noch ehrlich – der Gedanke, man könne ein Mädchen auch dann missbrauchen, wenn man es liebt und vor allem: wenn man geliebt wird, ist einfach nur völlige Dummheit, ja Wahnsinn. Die heutige Anschauung gegenüber der Parthenophilie ist dem Wahnsinn verfallen.