Parthenophilie

Spieglein, Spieglein – wer ist die absurdeste...


Mit einiger Neugier wendet man sich dann einer Dissertation zu, die ganz der ,Kindfrau’ bei Storm gewidmet ist.[1]

Allerdings ist man schon vorsichtig, da es bereits auf dem Buchrücken heißt, dass Storms ,Werk von ungewöhnlich vielen, ungewöhnlich jungen Mädchen bevölkert’ sei. Bei so viel Ungewöhnlichem – suggeriert allein schon dieser Satz – ist das zu Verurteilende nicht weit, denn jede Abweichung von der Norm ist bereits zu verurteilen. Was sonst hätte diese belehrende Doppelung des Ungewöhnlichen für eine Funktion? Wohl kaum die, eine unbefangene Neugier zu erwecken!

Aber – auch die Antwort wird auf dem Buchrücken bereits mitgeliefert: Diese ,Kindfrauen’ seien ,Sehnsucht einer ganzen Epoche’. Aber auch die Deutung dieser Sehnsucht wird sogleich gegeben: Es handle sich um ein ,Symptom einer unreifen Gesellschaft’, die sich ,angesichts der einsetzenden Moderne mit dem eigenen Erwachsenwerden auseinandersetzen’ müsse – und (Subtext) daran eben zunächst scheitere, indem sie in die Regression flüchte.

Erneut also das hochmütige Urteil, die Liebe zum Mädchen sei unreif, sei nicht erwachsen. Und erneut dieser narzisstische Gebrauch des Begriffes ,Kindfrau’, wo es schlicht und einfach um Mädchen geht – wie es ja zunächst auch richtig hieß. Woher dann aber dieser affektierte Gebrauch eines intellektualistischen Fachbegriffes? Offenbar fühlt man sich nur damit selbst richtig erwachsen...

Beide Irrtümer aber hängen miteinander zusammen. Ein Mann, der ein Mädchen liebt, will eben keine ,kleine Frau’, sondern – ein Mädchen. Und gerade weil er keinen ,Ersatz’ sucht, sondern seine Liebe zum Mädchen ursprünglich ist, handelt es sich nicht um eine unreife Form, sondern um eine völlig eigene Liebe, die ebensowenig unreif ist wie das Mädchen – dem dieses ebenfalls nur unterstellt wird.

Doch wenden wir uns der Dissertation zu. Doktorvater ist nun ausgerechnet Michael Wetzel,[13] dessen eigene zwanzig Jahre ältere Dissertation zum Thema ,Kindsbraut’ wir noch kennenlernen werden. Die Arbeit von Börner reicht an diese nicht ansatzweise heran, im Gegenteil.

Schon früh wurde der von Storm immer wieder geschilderte Mädchentyp beschrieben:[18f][2]

Die jungen Mädchen Storms [...] muten mit ganz wenigen Ausnahmen wie nicht von dieser Welt an: zarte, elfenhafte Wesen mit schlanken Gliedern und blassen Gesichtern, oft still und verträumt [...].

Börner schreibt, die Dichter und Denker seien, da für den Mann die Frau als ,regressive Ganzheitsutopie’ nur ,scheinbar zum Greifen nah’, aber ,letztlich doch unerreichbar’ sei, ,auf ihrer Suche nach universeller Ursprünglichkeit schließlich auf das Kind gestoßen’.[33] Auch hier wieder wird jedes Streben nach Ganzheit erstens als Utopie und zweitens als regressive Utopie abgetan. Der moderne Intellekt gefällt sich in seiner Abgeklärtheit. Weiter heißt es:[35]

An dieser Stelle tritt nun die Kindfrau in Erscheinung, ein Konglomerat kindlicher Transzendenz und weiblicher Naturtotalität.

So kann man es natürlich auch ausdrücken! Man könnte aber auch einfach sagen: Das unschuldige Mädchen in seinem ganzen Mysterium wird entdeckt – als ,Sehnsuchtsort’ und in seiner Realität. Empfindsam, seelenvoll, weiblich – noch eine Ganzheit. Und warum? Weil es noch so ganz mit allem verbunden ist. Und warum? Durch die Fülle seines Herzens. Das Herz ist der Quell der Ganzheit. – Börner aber stellt weiter fest:[40]

Beim Begehren der Kindfrau geht es nicht um Pädophilie,[3] sondern um eine Erotik ästhetischer Perfektion [...] eine Figur vollkommener Transzendenz [...] ein Symbol der Sehnsucht [...].

Da der Mensch ein transzendentes Wesen ist – nur geleugnet von den allerdings immer zahlreicheren Materialisten – sollte es einen nicht wundern, dass dieses Wesen idealisiert, und zwar auch in Bezug auf sein erotisches Sehnsuchtsobjekt.[4]

Dann aber unterstellt Börner – und dies wird sich als Kernthese von ihr erweisen –, dass der auf diese Weise Idealisierende sein Sehnsuchtsziel gar nicht erreichen wolle:[41]

Die Verbindung mit einer Kindfrau kann, will sie eine ,glückliche’ sein, nur via Augenblick existieren. Mit ihr wird nicht die Zweisamkeit, sondern die eigene Schöpfung begehrt, und gleich einem schüchternen Jüngling liebt der Nympholept[5] somit sein (Fetisch-)Objekt allein aus der Ferne; wie bei jedem Idolkult garantiert die Distanz das Begehren und schützt so eine Phantasie, vor der keine Realität bestehen kann.

Es ist dann doch erstaunlich, dass so viele Männer reale Mädchen auch tatsächlich ansprechen... Und dass die Realität vor der Fantasie nicht bestehen könne, können nur unromantische Seelen behaupten.[6] Aber im nächsten Schritt behauptet Börner auch schon:[43]

[...] kennzeichnet die Anwesenheit der Kindfrau somit kein reales Objekt – ist sie doch selbst erwiesenermaßen jenseits der Realität positioniert [...].

Allerdings verweist sie dann auch auf die Erziehungsratgeber des 19. Jahrhunderts, die das Mädchen zu völliger Unmündigkeit, zu Gehorsam und Hingabe erziehen wollten.[7] Ab Mitte des 19. Jahrhunderts kam auch die ,Backfischliteratur’ auf.[49] Als Symptom sieht Börner zudem das mehrfach, auch mit Bildmaterial, zitierte Familienblatt ,Die Gartenlaube’, das auch laut Wikipedia nach dem Tod des Verlegers Ernst Keil ,zunehmend zu einem konservativen Unterhaltungsblatt’ wurde.[8]

Zum Jahrhundertende hin hält dann die Moderne Einzug. Die ab 1888 erscheinende Mädchenzeitschrift ,Das Kränzchen’ thematisiert bereits die wirtschaftliche Notwendigkeit weiblicher Erwerbstätigkeit,[57] Börner kommentiert: ,Die musische Nymphe erhält Einzug in den prosaischen Floristenbetrieb.’[58] Moderne’ bedeutete also auch: erbarmungslose Eingliederung auch der Frau in die anonymen, fremddominierten kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse. Doch Börner sieht nur regressive bürgerliche Fluchtbewegungen.[9] Dabei bringt sie selbst ein Zitat, wie umfassend das Ringen um die richtige Gestalt der Moderne war.[62][10]

Natürlich kann Börner auch darauf verweisen, dass genau in dem Jahre 1848, wo Deutschland seine erste Revolution erlebt, Storm seine sentimentale Erzählung ,Immensee’ schreibt.[63] Doch vielleicht ist dies gerade die eigentliche Prophetie? Nämlich auf die Tatsache, dass alle Revolutionen, ,Reformen’ und ,Fortschritte’ nichts helfen, wenn sich die wahrhaft Liebenden nicht finden – oder wenn sogar die Liebe selbst immer mehr verlorengeht? So zu lesen, dürften die heutigen Literaturwissenschaftler jedoch auf lange Zeit verlernt haben. Sie schwimmen mit auf den modernsten Narzissmen ihrer Zunft...

Börner zitiert einen anderen Kritiker, Storm werde sich im Vergleich zu den ,Größen’ der Literatur letztlich immer ,wie Husum [...] zu Paris oder London’ ausnehmen.[64][11] Aber da haben wir erneut die fatalistische Anbetung einer alternativlosen Moderne. Als wenn der Finanzstandort London etwa das Non-plus-Ultra einer Moderne wäre, die menschlich genannt zu werden verdiente! Ist es nicht so, dass man dasjenige als ,modern’ bezeichnet, was mit der größten, geballtesten technologisch-finanziellen Macht auftritt? Der absolute Gegensatz hierzu ist ... das Mädchen. Erkennt man hier nicht langsam auch noch andere Zusammenhänge?[12]

Börner verstrickt sich in geradezu abartige Widersprüche, indem sie zum einen davon spricht, dass Storm ,bisweilen trivial und nahezu stereotyp’ erscheine, ,das Inventar seiner Novellen [...] gleichermaßen mißlungen wie obsolet’ wirke;[64] fragt, wie jemand denn auch ,die Fragen und Antworten des modernen Lebens aufgreifen’ solle, dessen Schilderungen ,sich nicht in den wachsenden europäischen Metropolen, ja nicht einmal in deren Nähe abspielen’[13] – und doch muss sie zugeben, dass Storm, durchaus im Sinne des Realismus, das ,zeitlos Menschliche’ ,in den Fokus rückt’ und, indem er ,immer wieder den einzelnen Menschen’ in der ihn umgebenden ,Unzulänglichkeit des Ganzen’ in den Mittelpunkt stellt, ,genau jener Konzentration auf das Wesentliche’ gerecht werde, ,ohne dabei jedoch die Fragestellungen der Moderne zu mißachten’.[65][14]

In Bezug auf die Mädchengestalten findet sie bei Storm fünf Typen:[74]

Das Phantasma der Kindfrau definiert sich als Antizipation einer vollkommenen Transzendenz, die sich aus fünf grundlegenden Komponenten zusammensetzt: Da wäre erstens die idolatrisch-distanzierte Ästhetisierung, die zweitens ihr Objekt in dem anamorphen Fetisch einer Pseudo-Metamorphose findet und damit drittens den mehr oder weniger abstrakten Wunsch nach einer absoluten Symbiose verfolgt; dieses Streben wird wiederum viertens in einem Spiel aus latent bis manifest antizipierter Erotik inszeniert und danach fünftens und schlußendlich in die vollständige Mortfikation derselben sublimiert.

Sie kommt so zu den Gestalten der Muse, der Undine, des Alter Ego, der ,Femme enfant sans merci’ und der ,Femme enfant morbide’.[74]

Diese hoch intelligent und natürlich literaturwissenschaftlich anmutende Typisierung verdeckt jedoch nur, dass es hier schlicht um Realitäten geht. Das geliebte Wesen wird nun einmal ästhetisiert und idealisiert, es wird erotisch begehrt, die Vereinigung wird ersehnt – aber die Sehnsucht kann auch scheitern, entweder an einem abwehrenden Gegenüber oder an den äußeren Umständen, die zum Beispiel dem Mädchen den Tod bringen. Dieses Letztere als narzisstische Bindungsunfähigkeit des Liebenden zu deuten, verkennt schlicht die teilweise scharfe Gesellschaftskritik, die Storms Novellen innewohnt!

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Die Stoßrichtung Börners wird klar, als sie als erstes die Novelle ,Immensee’ behandelt. Reinhard verliert seine Kindheitsliebe Elisabeth, weil er, bevor er sein Studium antritt, seine Liebe nicht deutlich genug auszusprechen wagt – und offenbar auch in dieser Zeit nicht. Dass beide dann später die Tragik empfinden, ist sehr, sehr deutlich. Dennoch schreibt Börner besserwisserisch:[77][15]

[...] oder ist es nicht doch viel eher eine Entscheidung des selbst wiederum poetisch orientierten Protagonisten, die ätherische Muse nicht gegen die heimische Ehefrau eintauschen zu wollen?

Und mehr noch: ,In seiner neurotischen Furcht vor Ent-Täuschung stößt Reinhard Elisabeth immer wieder von sich, um sein Ideal – und damit niemand anderen als sich selbst – vor der Realität zu bewahren.’[80] Schwach-sinniger, nämlich völlig am Sinn vorbei, geht es nicht. In Wirklichkeit liebt Reinhard dieses Mädchen zutiefst:[16]

So war sie nicht allein sein Schützling; sie war ihm auch der Ausdruck für alles Liebliche und Wunderbare seines aufgehenden Lebens.

Für Börner wird sie jedoch nur seine Muse – und indem sie diesen Satz ebenfalls zitiert, setzt sie das ,seines’ kursiv, betont dadurch den angeblichen Narzissmus und verkehrt den Sinn des Gesagten erneut völlig ins Gegenteil, pervertiert eine reine, zarte, heilige Jugendliebe in jenes Hässliche, was ihr, Börner, im abstrakten Kopf herumrumort.[17]

Wie absurd und gewalttätig dieses Vorgehen fortwährend ist, sei noch an einem kleinen Beispiel gezeigt. Bei Storm heißt es:

Als Elisabeth einmal in Reinhards Gegenwart von dem Schullehrer gescholten wurde, stieß er seine Tafel zornig auf den Tisch, um den Eifer des Mannes auf sich zu lenken. Es wurde nicht bemerkt. Aber Reinhard verlor alle Aufmerksamkeit an den geographischen Vorträgen; statt dessen verfaßte er ein langes Gedicht; darin verglich er sich selbst mit einem jungen Adler, den Schulmeister mit einer grauen Krähe, Elisabeth war die weiße Taube; der Adler gelobte, an der grauen Krähe Rache zu nehmen, sobald ihm die Flügel gewachsen sein würden. Dem jungen Dichter standen die Tränen in den Augen; er kam sich sehr erhaben vor.

Was bedeutet dies? Storm selbst deutet eine leise narzisstische Ader des Protagonisten an. Und doch erhebt er sich über ihn keine Sekunde lang, weder hier noch anderswo. Denn es handelt sich um einen edle Spur von Narzissmus – er liebt die Freundin rückhaltlos, und es ist nur die eigene Schwäche, die gegen den viel mächtigeren Lehrer nichts ausrichten kann; in der eigenen Fantasie, ja sogar dem geschaffenen Gedicht aber sehr wohl. Dies ist auch keine Regression, sondern eine künstlerische Verarbeitung des Erlebten, ein schöpferisches Umgehen damit, ein Imaginieren von Zielen und Idealen, im Grunde reale Charakterbildung. In gewisser Weise flüchtet er in die Fantasie, in gewisser Weise aber arbeitet er gerade an seinen Mutkräften. Und bei alledem diese aufrichtige Liebe – denn zuerst hat er Elisabeth real zu helfen versucht, konnte aber selbst mit allem Zorn und aller Heftigkeit die Aufmerksamkeit des Lehrers nicht auf sich selbst lenken (wie edel war dieses Vorhaben jedoch!).

Und was macht Börner aus dieser unschuldig-aufrichtigen Liebe? Sie schreibt, dass:[81][18]

[...] Reinhard nach einem halbherzigen Ablenkungsmanöver den Kummer der vom Lehrer getadelten Elisabeth als Inspirationsquelle mißbraucht.

Im Grunde ist hiermit alles über Börners Arbeit gesagt – sie ist es, die nicht anders kann, als den Text fortwährend für ihre gewaltsame Deutung zu missbrauchen und zu vergewaltigen, weil ihre Theorie unbedingt ,stimmen’ muss – und ,was nicht passt, wird passend gemacht’.[19] So arbeiten Literaturwissenschaftler heute! Immer wieder.

In dem abstrakten Fanatismus des Deutens muss dann alles für alles herhalten. Als Reinhardt aus der fernen Stadt dem geliebten Mädchen ein kleines Kreuz von roten Korallen kauft und nach Hause schickt, ist dies für Börner nur Symbol der versteinerten und damit ungefährlich gemachten Kindfrau und des geopferten Herzblutes des Mädchens.[85f][20]

Und weiter: Als Reinhard auf den Kanarienvogel seines Jugendfreundes Erich eifersüchtig ist, der bei Elisabeth seinen verstorbenen Hänfling ersetzt (worin sich die Tragik bereits ankündigt), doziert Börner, hier offenbare ,sich endgültig die unleugbare Schizophrenie seines Denkens’ – und sie vergleicht dies damit, dass er auch die ,von Elisabeth verzierten Weihnachtskuchen nicht verschenkt und sie doch selbst nicht angerührt’ habe.[87] Hier nimmt sie noch nicht einmal mehr auf den Wortlaut Rücksicht – denn Reinhard hat einen Teil des Kuchens gerade sehr wohl einem armen Bettlermädchen geschenkt!

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Als Beispiel für ihren Typus ,Alter Ego’ führt Börner die Novelle ,Von jenseit des Meeres’ an, in der Alfred das schöne Mischlingsmädchen Jenni schon seit ihrer gemeinsamen Kindheit liebt. Wenn Börner auch hier in völliger Invarianz schreibt, ,eingehüllt in seinen narzißtischen Kokon, umgeht er das Risiko, sein Ich durch ein gleichberechtigtes Gegenüber in Frage gestellt zu sehen’,[119] so dürfen wir dies auf sie selbst anwenden: Börner lässt den Protagonisten keine Chance. Sie werden stets in das längst feststehende Prokrustesbett der konstanten Deutung gepresst, ein gleichberechtigtes Gegenüber kennt sie nicht.[21]

Als ,Femme enfant sans merci’ bespricht Börner die Novelle ,Draußen im Heidehof’, in der der junge, mit einer zehn Jahre älteren, nüchternen Frau verheiratete Bauer Hinrich dem ,Slowakenmädchen’ Margret verfällt, das wiederum einem ,Femme fatale’-Schicksal verfallen scheint. Als Hinrich sich wegen ihr schließlich das Leben nimmt, ist jedoch auch sie tief bestürzt. Storm zeichnet hier in meisterhaften Versatzstücken einer nachträglichen Rekonstruktion des Geschehens die wirkliche Tragik einer zerstörerischen Leidenschaft, in der zwei Menschen nicht füreinander bestimmt sind, aber auch nicht voneinander lassen können. Statt des Lichts gegenseitiger Aufrichtigkeit brennt das Feuer heftigster Anziehung, das wieder zur Abstoßung führen muss, weil das Mädchen sich nicht binden – und auch nicht Besitz werden – will. Dies muss in die Katastrophe münden, obwohl niemand schuldig ist – und gerade das ist das Wesen von Tragik. Bei Börner findet sich von dieser eigentlichen Essenz erneut – nichts.

Als ,Undine’ muss dann die einsame Kätti aus der ,Wald- und Wasserfreude’ herhalten. Dass sie als ,grätiges Ding’ eingeführt wird, bedingt laut Börner ,unweigerlich eine ,fischige’ Assoziation’, selbst der ,brennende Fleiß’ des Mädchens betone die ,Elementarität’.[182][22] Abstruser kann man die Worte nicht pressen. Aber es geht weiter: Ihre rote Haarschleife, die ,gleich einem angeflogenen Schmetterling auf ihrem schwarzen Haare saß’, wird Börner zum ,Seelentier’, das ,Kättis eigenste Natur offenbart: [...] die Seelenlosigkeit’.[183][23] Erbärmlich... Literaturwissenschaft, die – allein sie völlig seelenlos – nur noch in sich selbst kreist.[24] Im übrigen zitiert Börner sogar selbst jene Szene, wo die blonde adlige Cäcilie in der Vorstellung des Studenten Wulf wie eine Undine erscheint, während Kätti gerade treu in ihrem Zimmer lernt, um seine Liebe zu gewinnen.[207f][25] Dies zeigt, wer in der Novelle wirklich ,seelenlos’ ist – aber Börner interessiert das nicht weiter, kann eine Städterin doch eben keine Undine sein...[208][26] Und bis zuletzt hält Börner an ihrem Konstrukt fest: ,[...] während der gesamten Erzählung vermag es niemand, ihre [Kättis, H.N.] wahre Identität zu ergründen – letztlich nicht einmal sie selbst’.[214] Man kann nur sagen: Wenn ein Mädchen solche ,Freunde’ hat, braucht es keine Feinde mehr...

Die ,Enfant morbide’ findet Börner in ,Ein Fest auf Haderslevhuus’ (1885). Hier verliebt sich im 14. Jahrhundert der von seinem Vater mit der schönen, besitzergreifenden Witwe Wulfhild verheiratete Ritter Rolf Lembeck hoffnungslos in die sechzehnjährige Ritterstochter Dagmar Ravenstrupp – und sie sich in ihn. Seitdem nur sie und ihr Vater die Pest überlebten, ist sie kränklich. Wulfhild aber verrät den liebenden Ritter, Dagmars Vater lässt die Pappel fällen, über die Rolf zu ihr gelangen konnte – und sie stirbt in grenzenlosem Kummer, nicht ohne von ihrem Vater noch Gnade für Rolf zu fordern. Rolf wird zur ,Hochzeit’ geladen, findet die Tote und stürzt sich mit ihr von der Burg.[27] In dem Moment verliert sich des Vaters Hass, und er spricht: ,Herrgott, so nimm sie beide gnädig in dein Reich!’[28]

Wie sehr der Ritter und das überirdisch schöne Mädchen[29] füreinander bestimmt sind, geht gerade aus jener Szene hervor, die der Verräter, Wulfhilds ergebener Schreiber Gaspard, bereits belauscht:

[...] und sah[,] was keines Menschen Auge hätte sehen sollen. Denn in dem Ritter war alle ungestüme Liebesnot und Hoffnung aufgesprüht; „Rolf, Rolf! Du tötest mich!“ rief Dagmar, als er sie in seine Arme preßte.
Da ließ er sie plötzlich und starrte über die Mauer in den Grund hinab. „Hörtest du es, Dagmar? Da drunten lachte was!“
Sie aber wandte das süßeste Antlitz zu ihm: „Fürchtest du dich, Rolf?“ [...]
„Nimm! So nimm doch, liebster Mann!“ hauchte das Kind und bot ihm ihre roten Lippen.
Aber er drückte wie in Angst ihren Kopf an seine Brust: „Nicht mehr, o Süße, Selige!“
Da lachte sie und riß das dunkle Köpfchen wieder gegen ihn auf: „Um was? So nimm doch, was dein ist!“
Aber der Mann stöhnte, in Wonne halb und halb in Schmerz: „O Dagmar, ein Feuer ist die Minne; es soll dich nicht verbrennen!“[30]
Sie verstand ihn nicht; sie frug auch nicht, nur als seine Lippen jetzt flüchtig ihre Stirn berührten, klagte sie: „Das ist ja nicht der Weg zum Herzen! Zürnst du? Was hab' ich dir getan?“
„Du, Dagmar?“ rief er, und seine Augen leuchteten wie blaue Sterne, „du fülltest mir das Herz mit Wonne; soll ich Todesnot in deines bringen? Hör mich an, du Schöne, Unirdische! Mir ist es oft ein Wunder, daß meine Hände dich berühren können; mir ist, als seiest du mein holder Schattengeist, von dem die alten Mären sagen, zwischen Lilien aus dem Mondscheinsee zu mir emporgestiegen; mir träumt zu Nacht, daß Flügel an deinen zarten Schultern sprießen, daß du mich fortträgst, weit aus dem Wirrsal meines jungen Lebens!“
„O nein, nicht so, nicht so!“ Flehend bat sie ihn, und ihre Hände legten sich auf seinen Mund; „du täuschest dich; ich bin nur ein Erdenkind, o Rolf, die sterben vom Hauch der Luft! Ich weiß es!“
Anbetend sah der Mann sie an.
Da glitt sie ihm zu Füßen, ein gespenstischer Glanz brach aus ihren Augen. „O Liebster, kein Leben, kein Sterben ohne dich!“
Er zog sie sanft zu sich herauf: „Erst leben, Dagmar! Wir zusammen – möchtest du das nicht?“
Sie nickte nur; aber der Atem stand ihr still, als ob sie Wunder hören solle.

Storm verteidigte die tiefe Unschuld des Mädchens.[31] Doch für Börner ist dies alles nichts wert, und selbst den Liebestod pervertiert sie zum gescheiterten Ikarus: ,[...] spiegelt sich Rolfs Hybris im Höhenrausch [...], mit Dagmars Leiche im Arm selbst zu Besserem bestimmt zu sein’.[248f] Und mehr noch: ,vollendet sich das Sakrileg in dessen suizidalem Sprung; nicht der Himmel, sondern die Hölle wird seiner harren.’[250] Selbst Dagmars Vater wusste es besser...

,Wie der Tod der Femme enfant morbide bleibt auch die Lektüre ihrer Geschichte faktisch ohne Resultat – l’art pour l’art.’[251] So kann nur jemand schreiben, der das Geheimnis der Katharsis und des tiefsten Berührtseins nicht mehr kennt und für den das Heiligste tatsächlich nur noch – ,Lektüre’ ist.

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Im Rahmen weiterer, nun kürzer besprochene Novellen wiederholt Börner ihre Deutung immer wieder aufs Neue, wir werden uns auf Weniges beschränken.

Bezüglich ,Auf der Universität’, wo Philipp in zarter Scheu die unter seinem Stand stehende Leonore Beauregard liebt, behauptet Börner, sie werde ganz ,nach seinen Vorstellungen herausgeputzt’, weil er ihr vom eigenen Geld schüchtern Handschuhe kauft, um sie ihr zu schenken und ihr die Scham über ihre ,Minderwertigkeit’ (in den Augen anderer!) zu nehmen. Dass Lore sich auch selbst mit Ohrringen und ,Krägelchen’ ein wenig schön zu machen bemüht, ist für Börner jedoch der Versuch, ,in ihrer latenten Weiblichkeit anerkannt und in einen manifesten Frauenstatus überführt zu werden’.[320][32] So hat sie in ihrer narzisstischen Verbohrtheit erneut nach beiden Seiten keine Ahnung über die scheuen, zarten Empfindungen zweier so junger, einander zugetaner Seelen.[33]

Bei ,Waldwinkel’ erinnern wir uns, dass der ältere Richard das Mädchen Franziska trotz seiner Angst, dass sie ihn eines Tages verlassen könnte, mit einem Teil seines Vermögens absichert. Sie tut es dann tatsächlich, und wir wissen, wie tragisch er zuvor doch noch versucht hatte, sie an sich zu binden. Börner hat jedoch keinen Sinn für die ihn bedrückenden Ängste, stattdessen schreibt sie, die paradoxe ,Logik, mit der die Geliebte künstlich auf Distanz gehalten wird’, sei ,lediglich eine Reflexion Richards eigener, auf Franziska projizierter Untreue [...], sollte das Mädchen eines Tages den phantasmagorischen Ansprüchen [...] nicht mehr genügen’.[295] Absurder geht es endgültig nicht mehr. Die Angst vor dem Verhängnis angesichts unfassbaren, als unverdient empfundenen Glücks ist seit Urzeiten der Menschheit eigen – aber Börners Perversion der wahren Verhältnisse kennt keine Grenzen.

In ,Psyche’, der Liebe des Künstlers zu dem im stürmischen Meer fast ertrunkenen noch sehr jungen Mädchen, das diese dann ganz und gar erwidert, sieht Börner gar ,die Manifestation eines inneren Phantoms, womit die Novelle als literarischer Vorläufer der Psychoanalyse anschaulich die Entfremdung des Menschen vom eigenen Ich illustriert’.[364][34] Dass gerade hier zwei Menschen ihrem Ich näher sind als tausend andere, scheint ihr entgangen zu sein.[35]

Nur drei weitere Novellen, die bisher noch nicht besprochen wurden, seien noch berührt.

In der frühen Novelle ,Ein grünes Blatt’ (1850) ist in einem Büchlein, das ein Kriegsteilnehmer bei sich führt, die Geschichte einer fast unirdischen Begegnung mit einem ,Naturkind’ geschildert, einem Mädchen, das sogar mit einem Rehkalb Umgang hat und einsam bei seinem Großvater lebt. Der Protagonist muss jedoch am nächsten Morgen wieder in der Stadt sein. Er ist nie wieder dort oben bei ihr gewesen und verweist den lesenden Kameraden, den Ich-Erzähler, auf ein Gedicht, das ausspricht, dass das Mädchen auch nirgendwo anders hingehört: ,Und webte auch auf jenen Matten / Noch jene Mondesmärchenpracht, / Und ständ’ sie noch im Blätterschatten / Inmitten jener Sommernacht, / Und fänd’ ich selber wie im Traume / Den Weg zurück durch Moor und Feld – / Sie schritte doch vom Waldessaume / Niemals hinunter in die Welt.’ Die Novelle endet mit der Frage des Erzählers: ,Und wenn sie doch hinunterschritte?’ und der Antwort: ,Dann wollen wir die Büchse laden! Der Wald und seine Schöne sind in Feindeshänden.’[36]

Börner und andere Interpreten sehen dies allen Ernstes – auch wenn ,nahezu ungeheuerlich’ – als ,Zerstörung des Mädchens ganz im Dienst der Bewahrung des Phantasmas’.[255] Ungeheuerlich ist nur eines – nämlich wie sehr der Moderne jede tiefere Empfindung und damit jedes Urteilsvermögen verlorengegangen ist. Denn selbstverständlich soll nicht das Mädchen (die Schöne!) umgebracht werden, sondern sie und der Wald sollen wieder befreit werden – denn ohne dass mit dem Wald etwas geschehen sein muss, würde sie ihn eben, wie schon betont, nicht verlassen haben! Nur der abstrakte Intellekt kann an dieser einzig möglichen Deutung vorbeigehen.


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Die berühmte Novelle ,Pole Poppenspäler’ (1874) ist zeitlos. Und wieder beginnt es mit der scheuen, kaum bewussten Liebe eines Jungen zu einem Mädchen – der Lisei, Tochter zweier armer Puppenspieler. Sie lässt ihn einmal heimlich die Puppen sehen, dabei beschädigt er den Kasperl. Sie wagt sich nicht nach Hause, weil die Mutter sie ,peitschen’ würde. So lassen sie sich im Theater einsperren und schlafen gemeinsam in einer Kiste. Am nächsten Morgen entdeckt, bitten sie beide füreinander. Nach wenigen Wochen des Glückes zieht Lisei mit den Eltern weiter, was dem Jungen, Paul, das Herz zerschneidet. Das Schicksal will es, dass er Lisei zwölf Jahre später wiedertrifft – sie kniet in Eiseskälte auf dem Kirchhof und betet für ihren Vater, der unschuldig ins Gefängnis gekommen ist. Nun trennen sie sich nie wieder. Aber bei einer Aufführung wird der Vater gedemütigt, und Lisei fragt Paul traurig, ob er nun noch immer den Mut habe, sich zu ihnen, den verachteten Puppenspielern, zu bekennen: ,Hast du noch die Kuraschi [Courage, H.N.]?’[37]

Für den das Puppenspiel bewundernden Paul fällt von Anfang an ein Schein dieses Wunders auch auf das Mädchen: ,[...] sah ich ein rotes Kleidchen mir entgegenkommen; und wirklich, es war die kleine Puppenspielerin; trotz ihres verschossenen Anzugs schien sie mir von einem Märchenglanz umgeben.’ Börner sieht in diesem ,märchenuntypischen’ Aufzug die ,Idealisierung gebrochen’[264] und übersieht völlig, dass gerade diese Szene ihr ganzes Gedankengebäude zum Einsturz bringt. Denn es geht nicht um eine äußere Idealisierung, sondern um das Erkennen des inneren Goldes einer jeden Mädchengestalt bei Storm. Die die Mädchen liebenden Jungen in Storms Novellen haben eben noch nie die äußeren Umstände und sozialen Hindernisse beachtet – und märchenhaft ist gerade diese bedingungslose Liebe, die immer nur das Eigentliche sieht. Eine Liebe, für die nur die Literaturwissenschaftler blind sind.[38]

Aber großzügig hält Börner Paul für erwachsener als die Protagonisten anderer Novellen – und übersieht völlig, dass auch diese so gut hätten enden können, wenn die Umstände genauso glücklich gewesen wären. Aber für diese Umstände ist die sich in die Protagonisten verbeißende Börner eben stets weitgehend blind. Und wenn sie in Bezug auf die Kindheit schreibt, Paul sei ,jenem Stadium ehrlich entwachsen’, so erweist sich, dass sie diese fast wie eine Krankheit betrachtet. Aber nochmals: Paul kann am Ende nur deshalb so erwachsen und ruhig dahinfließend lieben, weil er seine Lisei ,bekommen’ hat – denn das ist in jeder existenziellen Liebe das Entscheidende. Hätte er sie nämlich nicht bekommen und hätten seine Gedanken und Empfindungen nur immer wieder hilflos zu ihr (und damit in die Kindheit) zurückkehren müssen, so hätte Börner auch über ihn den Stab gebrochen.[39]

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In ,Eine Halligfahrt’ (1871)[40] schildert Storm ein wirkliches Zurückschrecken vor der Anziehung eines Mädchens. Der Erzähler liebt durchaus das Mädchen Susanne und besucht mit ihr und ihrer Mutter einen alten Vetter auf der Hallig. Doch hat er auch Furcht vor der Macht ihres Mädchentums.[41] Sie gehen am Strand entlang, und das Mädchen erforscht die Vogelnester: ,Die Vögel gackerten und schrien; Susanne aber, unbekümmert und mit vor Neugier leuchtenden Augen, schritt immer weiter hinaus, von Nest zu Nest.’ Das Bild des knienden, an einem Ei lauschenden Mädchens ist für ihn ,wild und doch so anmutvoll’. Doch als sie sich wegen einer attackierenden Möwe in seine Arme wirft, erstarrt er gleichsam in komplexen Zukunftsüberlegungen, und die öffentliche Meinung tötet sozusagen auf einmal seine Liebe.[42] Damit verletzt und enttäuscht er das Mädchen völlig:

„Susanne,“ sagte ich endlich resigniert, „wir werden heimgehen müssen, es wird schon spät.“
Es ist dies jedenfalls recht ungeschickt gewesen; denn ich weiß noch gar wohl, wie Susanne mich erschrocken von sich stieß und dann, bis unter ihr lockicht Stirnhaar errötend, wie hülflos vor mir stehen blieb.

Der Vetter hat die Szene zufällig durch ein Fernrohr beobachtet, aber selbst jetzt, darauf angesprochen, bekennt er sich nicht zur Liebe:

Was sollte ich auf so verfängliche Reden antworten!
„Ich verstehe Sie nicht, lieber Vetter!“ sagte ich.
„Du verstehst mich nicht? [...] Denn, leugne es nur nicht, Vetter! du hieltest sie richtig in deinen Armen, und ich sage nur: Halte fest, mein Junge, halte fest! Denn dieses Kind ist Gott und den Menschen ein Wohlgefallen!“ [...]
„Es tut mir leid,“ sagte ich, „aber bestellen Sie den Glückwunsch nur wieder ab; denn es ist nichts, Vetter!“
„Nichts?“
„Nein, nichts!“ [...]
„Erstaunlich!“ Er sah mich eine Weile zweifelnd an; dann, wie plötzlich entschlossen, drückte er mir kräftig die Hand und sagte: „Mein Herzensjunge, ich glaube, nun verstehst du die Situation nicht.“

Aber die Episode endet mit dem Absatz:

Es gibt Tage, die den Rosen gleichen; sie duften und leuchten, und alles ist vorüber; es folgt ihnen keine Frucht, aber auch keine Enttäuschung, keine von Tag zu Tag mitschreitende Sorge. – Ich habe meinen Hut und meinen Schnurrbart beibehalten, bis endlich beide zur allgemeinen Mode wurden und darin verschwanden. Es ist mir andererseits verhüllt geblieben, ob etwa im Verlaufe des Lebens der Blick jener blauen Augen neben dem Strahl des Edelsteins nicht auch die Härte desselben angenommen hat. Der Tag auf des Vetters Hallig und mitten darin Susannens süße jugendliche Gestalt steht mir [...] wohlverwahrt in dem sicheren Lande der Vergangenheit.

Die ganze Verlogenheit zeigt sich jedoch dadurch, dass es schon zu Beginn der Novelle, diese ganze Erinnerung einleitend, heißt: ,Es war noch in der Morgenfrühe; das traumhafte Gefühl der Jugend überkam mich wieder, als müsse dieser Tag was unaussprechlich Holdes mir entgegenbringen’ – was dann diese Erinnerung an die einstige Jugendliebe ist!

Doch selbst Storm schrieb in einem Brief:[329][43]

Warum soll der junge Mann [...] zugreifen? Darauf ist es ja gar nicht abgesehen, es liegt gar nicht in der Luft. Es ist die Schilderung der leichten jugendlichen Berührung zweier Herzen, „Tage, die den Rosen gleichen“. Ist denn das an sich nicht wert, geschrieben zu werden?

Hier verrät also auch er die Wahrheit seiner eigenen Novelle, obwohl er es doch sogar durch die Worte des Vetters zweifelsfrei bekundet hat, was ,in der Luft’ lag, für jeden Leser offensichtlich und sogar für den Erzähler selbst. Ein Künstler kann also wahre Tragik schildern – und dann sogar ableugnen, dass sie vorliegt!

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Damit kommen wir zu dem Menschen Storm, den Börner am Ende ihrer Arbeit beleuchtet. Sie sieht hier in zahlreichen Studien ,einhellig das Bild eines ebenso temperamentvollen wie reizbaren, narzißtisch-neurotischen Egozentrikers’,[380] ferner ,eine rigoros apollinische Antwort des dionysisch überforderten Individuums’.[381]

An die Pflegemutter seiner ersten großen Liebe, des kleinen Mädchens Bertha von Buchan, schrieb er, er liebe ,die Kinder, weil sie die Welt u[nd] sich selbst noch im schönen Zauberspiegel ihrer Phantasie sehen.’[385][44] Bertha war noch zu jung, um seine Liebe zu erwidern. Storm schreibt, ,wäre dieß Gefühl mir erwiedert worden, es hätte nie in mir erlöschen können’.[387][45] Und doch konstatiert Börner direkt davor, das ,Phantasma der Kindfrau’ erhalte nun seine Qualität: ,Die ungelebte, aber [...] nur dadurch perfekte Liebe’ – obwohl Storm gerade betont hatte, die gelebte Liebe, wäre sie möglich gewesen, wäre ewig gewesen. [387]

In den Briefen an Constanze Esmarch ist Storm immer wieder sehr vereinnahmend: ,Constanze, Du bist so gut, so kindlich rein, meine Geliebte Constanze, verlaß mich nie, nie! Ich müßte mich tödten, wenn Du mich verließest. Du bist mein letzter Engel’.[46] Er nimmt Bezug auf den von Platon erwähnten Mythos der Kugelmenschen und getrennten Hälften: ,Hast Du früher nicht gefühlt, daß Dir die Ergänzung Deines Lebens fehle? fühlst Du jetzt nicht, daß Du sie gefunden?’[395][47] Und weiter:[393][48]

Das Wort [Liebe, H.N.] ist mir fast nicht stark genug für mein Gefühl, wenn lieben nicht heißt, daß Du ein Blut und ein Leib und eine Seele mit mir bist, mit der ich seelisch und leiblich nie genug Eins werden kann. Daß hier die Erreichung immer hinter dem sehnlichen Wunsche zurückbleiben muß, das ist zugleich der Schmerz der Liebe und ihre ewige Jugend.

Sie soll auch die gleichen Interessen haben, das Gleiche lesen und so weiter.[398][49]

So zeigt der Mensch Storm ein vielfach vereinnahmendes Wesen, das die oft scheu liebenden Protagonisten seiner Novellen gerade nicht zeigen. Damit aber kann er in seinen Novellen immer wieder eine sehr zarte, idealische Liebe gestalten und erlebbar machen, der er in seinem eigenen Leben gerade vielfach nicht gerecht wurde. Die Perversion der Deuter aber liegt darin, das, was in Storms Briefen zum Ausdruck kommt, auf seine Protagonisten zu übertragen, die aber gerade das völlig Andere zum Ausdruck bringen – im Grunde Storms besseres Ich.[50]

                                                                                                                                       *

Abschließend wollen wir die sehr kurze, frühe Novelle ,Posthuma’ (1851) kennenlernen. Sie beginnt mit der Beschreibung einer Grablegung und der nächsten Monate eines Grabes im Armenviertel. In einer Nacht geht ein Mann mit einem Kranz weißer Moosrosen zu dem Grab, und nun taucht er ein in die Erinnerung:[51]

[...] einer Stunde, die nicht mehr war, umfangen von zwei Mädchenarmen, die sich längst über einem stillen Herzen geschlossen hatten. Ein blasses Gesichtchen drängte sich an seins; zwei kinderblaue Augen sahen in die seinen.
Sie trug den Tod schon in sich; noch aber war sie jung und schön; noch reizte sie und wurde noch begehrt. Sie liebte ihn, sie tat ihm alles. Oft war sie seinetwegen gescholten worden; dann hatte sie mit ihren stillen Augen drein gesehen, es war aber deshalb nicht anders geworden. Nachts im kalten Vorfrühling, in ihrem vertragenen Kleidchen kam sie zu ihm in den Garten; er konnte sie nicht anders sehen.
Er liebte sie nicht, er begehrte sie nur und nahm achtlos das ängstliche Feuer von ihren Lippen. „Wenn ich geschwätzig wäre,“ sagte er, „so könnte ich morgen erzählen, daß mich das schönste Mädchen in der Stadt geküßt hat.“
Sie glaubte nicht, daß er sie für die Schönste halte, sie glaubte auch nicht, daß er schweigen werde.
Ein niedriger Zaun trennte den Fleck, worauf sie standen, von der Straße. Nun hörten sie Schritte in ihre Nähe kommen. Er wollte sie mit sich fortziehen; aber sie hielt ihn zurück. „Es ist einerlei,“ sagte sie.
Er machte sich von ihren Armen los und trat allein zurück.
Sie blieb stehen, regungslos; nur daß sie ihre beiden Hände an die Augen drückte. [...] „Du schämst dich!“ sagte sie leise, „ich weiß es wohl.“
Er antwortete nicht; er hatte sich auf die Bank gesetzt und zog sie schweigend zu sich nieder. Sie ließ es geschehen, sie legte ihre Lippen auf seine schönen vornehmen Hände; sie fürchtete, ihn betrübt zu haben.
Er hob sie lächelnd auf seinen Schoß und wunderte sich, daß er keine Last fühle [...]. [...] Sie sah mit glücklichen Augen zu ihm auf. „Mich friert nicht!“ sagte sie und preßte ihre Stirn fest an seine Brust.
Sie war in seiner Gewalt; sie wollte nichts mehr für sich allein.[52] – Er schonte ihrer; nicht weil es ihn ihrer erbarmte oder weil er es als Sünde empfunden hätte, sie ohne Liebe sein zu nennen; aber es war, als wehre ihm jemand, sie ganz zu besitzen. Er wußte nicht, daß das der Tod sei. – – [...]
Acht Tage nach dieser kalten Nacht vermochte sie das Bett nicht zu verlassen; zwei Monate später war sie gestorben. Er hatte sie nicht wiedergesehen; aber seit ihrem Tode ist seine Begierde erloschen; er trägt jetzt schon jahrelang ihr frisches Bild mit sich herum und ist gezwungen, eine Tote zu lieben.

Hier zeigt sich bereits der ganze Ausweg aus allen Narzissmen. Die Liebe des (vom Stande her geringeren) Mädchens ist von Anfang an tief aufrichtig. Der Mann begehrt sie nur – und das Mädchen weiß es sogar. Aber dass er sich für sie auch noch schämt, verletzt sie zuletzt tief. Doch als sie stirbt, wird die Seele des Mannes völlig geläutert – und er wird sich (zu spät) bewusst, dass er sie geliebt hat. Nun kann seine Seele nicht anders, als ihr so treu zu sein, wie sie es schon immer gewesen war. Und man weiß: Würde das Mädchen jetzt noch einmal leben können – die Liebe der beiden Menschen wäre vollkommen.

Was Storms Werk auszeichnet, sind seine Mädchengestalten. Aber diese sind kein Phantasma, es sind berührende, läuternde, Liebe entzündende, beeindruckende, bemitleidenswerte, betörende Mädchen. Und es könnten auch für die Literaturwissenschaftler belehrende Mädchen sein – wenn auch diese noch Seele besäßen.

Und was wäre die Lehre der Mädchen? ,Schau mich doch einmal richtig an. Ich bin keine Projektion. Ich bin ein Wesen aus (literarischem) Fleisch und Blut, und du musst mich nur einmal richtig erkennen. Wenn du nur ein wenig Liebe im Leib hättest, würdest du es können...’ Und dann würde man sehen, dass all diese Mädchen der Welt etwas – nein, unendlich viel – zu geben hätten. Nämlich ihre Unschuld, ihre Zartheit der Empfindungen, ihre Nöte (die auf reale gesellschaftliche Nöte hinweisen), ihre Demut, ihre Leidensfähigkeit, ihre Liebesfähigkeit. Und das letztere gilt auch für viele männliche Figuren Storms. Statt weiter Fehlurteil über Fehlurteil in die Welt zu setzen, könnte sich die Literaturwissenschaft von all diesen viele Scheiben abschneiden. Die Welt wäre ein besserer Ort.
 

Fußnoten


[1]● Mareike Börner: Mädchenknospe – Spiegelkindlein. Die Kindfrau im Werk Theodor Storms. Würzburg 2009. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern. • Das Wort ,Mädchenknospe’ kehrt in Storms Erzählung ,Psyche’ mehrfach wieder: ,[...] es war sogar ein Mädchen, ja es war nur eine Mädchenknospe [...]’. Projekt Gutenberg.

[2] Márta Aczél: Frauengestaltung bei Theodor Storm. Quakenbrück 1935, S. 36.

[3] Dieser Hinweis mag wichtig sein, da Pädophilie und Parthenophilie noch immer hoffnungslos ,in einen Topf geworfen’ werden. Doch was will Börner darüber hinaus noch sagen? Etwa, dass Pädophilie der ganz unerotische, schlichte Missbrauch wäre? Dies wäre nur ein weiteres Vorurteil!

[4] Man kann dieses Idealisieren natürlich auch viel primitiver treiben: die intelligenteste Doktorarbeit, der heißeste Sex, der billigste Flug... Jeder Mensch jagt seinen ,Idealen’ nach... Es gibt aber nur wenige wirkliche Ideale.

[5] Dieser heute abwertende Begriff entspricht dem ursprünglich griechischen Glauben, ein Mann könne von Nymphen besessen werden (auch die Epilepsie, der zweite Wortteil, galt als Besessenheit). • Über die Prägung des Begriffes heißt es: ,Nympholepsy, a term first used in 1775 by Richard Chandler in Travels in Greece [...] originates from the Greek word nymphe, meaning “bride”, “beautiful young woman”, then “semi-divine being in the form of a beautiful maiden”. Wikipedia englisch: Nympholepsy. • Wir haben es also mit in Wirklichkeit wunderschönen, kaum in Worte zu fassenden Realitäten zu tun.

[6] Siehe zum Beispiel meinen Roman ,Erinnerungen einer Volljährigen’ (2018). Natürlich kann man wieder sagen ,nur ein Roman’ – aber er zeigt, wie die Realität in einer ganz idealen Weise ,bestehen kann’.

[7] Karl von Raumer. Die Erziehung der Mädchen. Stuttgart 1853, S. 83, stellt als Ideal die Prinzessin Leonore von Este aus Goethes ,Torquato Tasso’ hin, die ,sich nur freut, verstehen zu können, was kluge Männer sprechen’..[47] • ,Es gibt nur [...] eine weibliche Tugend – die selbstlose und selbstverleugnende Hingebung [...].’ Sigismund Stern: Die häusliche Erziehung. Leipzig 1867, S. 264.[45] • ,Diesen Sinn für das echt weibliche Gefühl der Unselbständigkeit [...] zu erhalten und zu pflegen, ist [...] die höchste Aufgabe der weiblichen Erziehung. Ebd., S. 279.[48]

[8] Wikipedia: Die Gartenlaube. • Allerdings übertreibt Börner auch hier. So bildet sie ,Die kleine Lachlustige’ ab (Jg. 1881, Nr. 2, S. 37) und findet hier ,die obligatorischen Kulleraugen’,[51] obwohl einen nur die schönen Augen eines fröhlichen, liegenden Mädchens anblicken, die nichts Kulleriges haben. Siehe Wikisource: Die kleine Lachlustige.

[9] So sieht sie eben die literarische Welt ,übervölkert von kleinen Mädchen, deren Botschaft des „Nur eine Weile noch!“ symptomatisch ist für eine Epoche der Moderne, die angesichts des beschleunigten chronos die ihr aberlangte Reife nicht anerkennen will und stattdessen in einen pseudo-unschuldigen Nichtstand regrediert [...].’[58] • ,Reife’ ist für Börner also (weiblicher?) Gehorsam gegenüber diesem zwanghaften ,Voran’ in Mechanisierung, Industrialisierung und Effektivierung – und hochmütig beurteilt sie all jene, die dies in irgendeiner Weise, und sei es unbewusst, ablehnten. Als wäre diese ,Moderne’ die einzige, die sich denken ließe! • Anstatt das Ideal als Flucht vor der Realität zu deuten, könnte man auch einmal die Realität als Flucht vor dem Ideal deuten! Die Idealisten sind dann die wahren Realisten.

[10],Man suchte sie [d.i. die Ganzheit] im Naturhaft-Kosmischen, im volklich Nationalen und landschaftlich-historisch Stammestümlichen, in der Kontinuität des Geschichtlichen, in dem umbildenden Rückgriff zu dem Organismus-Denken aus der Tradition der Goethezeit und der Romantik, in der Wiederaufnahme einer geschichtlich-religiösen „ordo“-Vorstellung [...]; man suchte sie in der Moralität der bürgerlichen Gesellschaft, in der Verpflichtung zu einer humanen Ethik, die den Gemütswert der mitmenschlichen Gemeinsamkeit festhielt und als gegenseitige Lebenshilfe realisierte.’ Fritz Martin: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus 1848-1898. Stuttgart 31974,. S. 75.[62] • Wer all dies – und damit sind zahllose andere Ansätze und Strömungen noch gar nicht genannt! – schlicht unter ,Fluchtbewegungen’ subsummiert, zeigt nur ein diktatorisches Denken, das den Ist-Zustand als einzig vernünftigen anerkennt – der klassische ,naturalistische Fehlschluss’, stets möglich auf der Basis eines selbstgefällig-bequemen Hochmutes, der mit dem Status Quo mitschwimmt und sich dabei noch ,modern’ und auserwählt vorkommt. • Die wirkliche Moderne, nämlich Rudolf Steiners Dreigliederungs-Impuls, wurde bis heute nicht beachtet und wird sogar ebenfalls unter ,Organismus-Denken’ diffamiert. Siehe beispielhaft Holger Niederhausen: Unwahrheit und Wissenschaft. Helmut Zander und Rudolf Steiner. Baarle Nassau 2013, S. 304-328.

[11] Und sie stellt den Novellen Storms ,David Copperfield’, ,Madame Bovary’, ,Krieg und Frieden’, ,Dr. Jekyll and Mr. Hyde’ etc. gegenüber.[63f] Das mag ,große Literatur’ sein. Aber manches lässt sich eben nicht nach ,Größe’ vergleichen. Man will seinen Urlaub auch nicht immer am Kilimandscharo verbringen. Und in gewisser Weise hat jedes Mädchen mehr Größe als die Königin von England. Deshalb haben eben auch Storms Novellen eine einzigartige Qualität, die durch nichts anderes zu ersetzen ist.

[12] Aber selbstverständlich nimmt sich auch ein Mädchen im Vergleich zu einem knallharten Manager nur so aus wie ,Husum zu London’... Aber vielleicht ist es vor den Augen der Engel ja umgekehrt: Das Mädchen leuchtend wie die Himmelskönigin und das Neue Jerusalem, der Manager wie die Hure Babylon. Vielleicht gilt auch für Husum und London nichts anderes...

[13] Was, wenn die eigentlichen Antworten auf die Fragen der Moderne, sich tatsächlich in einem Heidedorf oder – in einem Mädchenherzen fänden?

[14] Genau diese absoluten Widersprüche zeigen die absolute Hohlheit des ,modernen Lebens’, das im Grunde alles schreiben kann – den größten Unsinn, und man kann es stets als ,modern’ und ,intelligent’ hinstellen. In Wirklichkeit ist es intellektueller Wirrwarr, und das Mädchen würde vor alledem fassungslos stehen, weil es nicht begreift, wie sehr man Aufrichtigkeit, Essenz und innere Liebe zur Wahrheit für das Linsengericht narzisstisch-intellektuellen Hochmuts verraten kann...

[15] Selbstverständlich sind tragische Geschichten meist poetischer und künstlerischer, weil gerade hier die ganze Liebe erlebbar wird. Dem Protagonisten jedoch zu unterstellen, er habe möglicherweise unterbewusst die erfolgreiche Liebe gar nicht gewollt, ist eine letztlich sehr unpsychologische Deutung, die vielmehr ohne jedes Feingefühl über die wirkliche Botschaft hinwegbügelt. Nicht anders als Elisabeths Gatte Erich, der auch kein wirkliches Empfinden hat.

[16] Theodor Storm: Immensee. Projekt Gutenberg. Auch für das folgenden Zitat.

[17] Dasselbe tut sie mit der entscheidenden Stelle nochmals, wo Reinhard das erlösende Wort vor dem langen Abschied nicht zu finden vermag, worunter er selbst leidet. Auch hier nennt sie ihn ,rein egozentrisch’.[87] Brutal weltfremde Deutungen, Seite für Seite... Auf der nächsten Seite faselt sie davon, es ginge ihm darum, den ,unbekannten Zauberspruch zu finden, der sie ihm bis in alle Ewigkeit verfügbar machen soll’.[88] • Später wirft sie ihm sogar noch vor, dass er sich nicht in ein weiteres Mädchen an seinem Studienort verliebt habe: ,Indem Reinhard sich von dem Zithermädchen und dessen Sinnlichkeit abwendet, verrät er letztlich die Kunst wie das Leben gleichermaßen und desavouiert damit seine persönlichen Vorstellungen einer poetischen Existenz.’[94] • Es ist unglaublich, wie diktatorisch hier den Protagonisten aufoktroyiert werden soll, wie sie sich zu verhalten hätten – und zwar mal so, mal so! • Nur mit Mühe gibt sie zu, dass ,letztlich auch Erich ein ichbezogener Mensch ist, der die eigene Herrlichkeit stets in den Fokus der Dinge rückt; für ihn ist Elisabeth nur ein Puzzleteilchen seiner Idee vom [...] bürgerlichen Glück.’[98] Genau das ist die Tragik der Erzählung! Von Börner wird sie in eine Fußnote verbannt...

[18] Ein weiteres Beispiel: Ein Gedicht von Reinhard, in dem es am Ende heißt: ,Sie hat die goldnen Augen / der Waldeskönigin’ wird von Börner niedergemacht: ,Erneut stehen sich Realität und Fiktion einander unvereinbar gegenüber – der kreischende Wald wird wie im Volkslied von Matthias Claudius schweigend, die verängstigte Elisabeth zu einer erhabenen Schönheit’.[83] • Elisabeth ist tatsächlich ängstlich, weil sie denkt, sie würden nicht mehr zurückfinden. Aber Reinhard versucht, ihr die Furcht zu nehmen – und in Wirklichkeit befinden sie sich in einer wahrhaft heiligen Idylle des sommerlich-friedlichen Waldes. Diese können heute offenbar nur noch wenige Menschen wirklich empfinden. Von einem ,kreischenden’ Wald ist nirgendwo die Rede, nur von dem Kreischen der Waldvögel, das man manchmal hörte. Börner hat keine Ahnung von der wirklichen Stimmung. Wie auch? Sie bewegt sich ja nur im Kopf. Storm konnte diese Stimmung in wenigen essenziellen Sätzen geradezu malen. Aber wie kann man mit Blinden über Farben sprechen?

[19] Man spürt förmlich zum einen den ,Ergebnis-Zwang’, zum anderen aber auch das offenbar Erregende einer gefundenen Deutung, einer angeblichen ,Entdeckung’. Diese wird dann so rigoros weiterverfolgt und weiterentwickelt, dass die Wahrheitsliebe nach und nach völlig auf der Strecke bleibt. Man spinnt sich völlig in die eigene Deutung ein und sieht zuletzt nichts anderes mehr. Wahrscheinlich sind auch viele Vergewaltiger im Moment ihres Handelns vollkommen von dem Berechtigten ihres Tuns überzeugt – auch sie haben das Entscheidende in sich völlig betäubt...

[20] Und zwar jenes Herzblut, dass er ,egoistisch „für alles Liebliche und Wunderbare seines aufgehenden Lebens“ zu opfern bereit’ sei.[86] • Hier missbraucht sie die wunderbare Passage erneut, noch brutaler als beim ersten Mal. Denn Elisabeth ist gerade der Ausdruck, der Inbegriff all dieses Wunderbaren!

[21] Völlig unbegründet wirft Börner ihm nach einem ,Gefühlsausbruch’ Jennis (sie hatte bei der Wiederbegegnung Alfreds mit seiner Mutter eine Schale fallengelassen, da sie ihre eigene Mutter unendlich vermisst), eine ,bornierte Reaktion’ vor,[125] obwohl er vorsichtig fragt, ob der Zusammenhang ihrer Kindheit noch bestehe und Jenni dies aufrichtig bejaht: ,Ich faßte die Hand des Mädchens. „Glaubst du mich noch zu kennen, Jenni?“ fragte ich. „Ja, Alfred; und mir ist das wie ein Glück.“’ Projekt Gutenberg. • Aber auch Jenni unterwirft sie zuletzt ihrer (immergleichen) Deutungsgewalt: ,Es wird deutlich, daß auch Jennis Bindungsstreben narzißtisch bestimmt ist. Während Alfred sein Symbioseideal in der Kindfrau imaginiert, verfährt diese gleicherart mit ihrer Mutter [...].’[138] • Von den wirklichen Seelennöten der Menschen und ihrer Liebe hat Börner keine Ahnung – es interessiert sie auch nicht.

[22] Sogar, dass die Reden eines in sie verliebten Unterlehrers ,wie leeres Wellengeräusch an ihrem Ohr vorübergingen’, deutet sie mit Kursivdruck auf ein Undinen-Wesen.[194] Dabei müsste für eine Undine das Wellengeräusch gerade Bedeutung haben und nicht völlig leer sein! Börner klammert sich einfach nur an Worte. • Und selbst, dass Kätti sich vor einer Gewissensentscheidung unbewusst selbst den kleinen Finger blutig beißt, erinnert Börner an Fouqués Undine, die aber ihren Geliebten beißt, um ihn von Gedanken an die Nebenbuhlerin abzulenken.[196] Die absolute Willkür der Assoziationen ist geradezu erschreckend.

[23] Gleichzeitig seien ,die wunden „Fingerchen“ [...] als Anspielung auf ihre Menarche zu verstehen’.[189] • Seit wann hat eine Undine eine Menarche? Dabei ist von wunden Fingerchen überhaupt nicht die Rede, sie sind nur vom Gitarrespielen etwas strapaziert, und Kätti haucht einmal kurz ,auf ihre Fingerchen’, das ist alles. Aber die geradezu pathologisch fixierte ,Deuterin’ weiß ja alles besser... Noch die harmloseste Bewegung und Geste wird hier sexualisiert, undinisiert und pervertiert. • Dasselbe wiederholt sich da, wo Kätti dem ,Speiteufel’ begegnet, jenem Pilz, dessen Saft den von ihr geliebten Studenten Fedders in einem Liebeszauber an sie binden könnte. Doch davon keine Rede, Börner will es anders interpretiert wissen: Zunächst verweise er ,als vermeintliche Blume’ auf deren Allegorie ,fleischlicher Lust’ sowie auf ,die in ihrer Reife zur Blüte vergehende Kindfrau’. Und der Pilz beschere ihr ,gleichermaßen Lust wie Leid [...], veräußert in ihrem Stöhnen’.[192] Dass dies Stöhnen einzig und allein Kättis Gewissensqual ausdrückt, in der sie sich letztlich gegen den bösen Zauber entscheidet, unterschlägt bzw. entgeht Börner völlig. • Für sie bricht Kätti durch die Verweigerung der schwarzen Magie gerade ,das ,Projekt’ ihrer Menschwerdung’ ab! Und dies obwohl selbst die ,Natur sie auf ihre zukünftige Seelenhaftigkeit vorzubereiten’ scheine, streife doch ein Zweig die Schleife aus ihrem Haar...[196] Alles muss für die vergewaltigende Deutung herhalten. • Der Zweig tut dies aber erst viel später, und als Wulf die Schleife wieder in Kättis Haar befestigt, erteilt er laut Börner ,Kättis Hoffnung, von ihm als vermeintliche Frau anerkannt zu werden und so eine echte ,Seele’ zu erhalten, eine dezidierte Absage’.[204] • Letztlich wird Kätti, die dem Wunsch Börners selbst auch nicht gehorcht, wie üblich ebenfalls pathologisiert: ,Neben ihren Wahnvorstellungen wird Kätti zunehmend von starken Herzschmerzen gequält, die ihre Liebe zu Wulf in ein ernstzunehmendes Übel pervertieren’.[196] – Dabei hat das Mädchen sogar in der sie geradezu ohnmächtig machenden Begegnung mit dem Pilz keinerlei Wahnvorstellungen, und sie fährt auch nur einmal ,mit der Hand nach ihrem Herzen’, als sie am Ende Wulf und die siegreiche Nebenbuhlerin in einem Boot sieht. • Aber die Perversität lässt sich immer noch weiter steigern: Kättis panische Angst vor der Kreuzotter wird als ,Phallus-Furcht’ gedeutet.[197]

[24] Die Sexualisierung und Kontextblindheit zeigt sich auch da, wo in ,Auf dem Staatshof’ die arme Lene in dem durch die langjährige Verarmung ihrer adligen Familie marode gewordenen Pavillon einbricht und ertrinkt: Für Börner ist der Pavillon ,zernagt durch die unleugbare, selbstredend auch sexuell konnotierte Natur des Mädchens’, also nur Bild für das ,phantasmagorische Konstrukt’ des Mannes.[357] Besser gesagt für Börners eigenes Konstrukt. • Selbst der armen Phia in ,Der Herr Etatsrat’ unterstellt Börner, sie habe sich auf der ,Suche nach Liebe’ selbst in die Arme des fürchterlichen Gehilfen ,Käfer’ gestürzt.[366] Schlimmer kann man Missbrauch nicht bemänteln.

[25],Wie traumredend durch die weite Stille rauschte der Fluß in seinen Ufern, und in dem silbernen Lichte des Sternenhimmels tauchte die Gestalt des blonden blauäugigen Mädchens wie Anadyomene aus der Flut. Er sah sie deutlich vor sich; nur der Saum ihres weißen Gewandes verlor sich in den Wellen [...]. [...] | Als er unwillkürlich den Kopf nach dem Lande zurückwandte, wo droben über dem Gebüsch der Giebel des Haupthauses sich gegen den Nachthimmel abhob, sah er zu seiner Verwunderung noch ein Licht durch die Zweige schimmern, und bald auch, daß es aus dem Fenster strahlte, hinter welchem, wie er wußte, Kättis Kammer war.’

[26] Sie sagt sogar, beide weibliche Wesen würden in Wulfs Fantasie ,vollständig die Rollen’ tauschen, da Kättis Zimmer plötzlich wie ein ,Leuchtturm’ den Zauber durchbricht.[209] Aber so ist es eben wirklich! Kätti wäre Wulfs Leuchtturm – aber er geht an ihr vorbei...

[27],O Dagmar! [...] Süße, Selige! Breit deine Flügel nun und nimm mich mit dir!’

[28] Theodor Storm: Ein Fest auf Haderslevhuus. Projekt Gutenberg. Auch für das folgende Zitat.

[29],Einer, der sie noch selber sah, soll einst geäußert haben, ihr Körper sei gewesen, als habe ihre anima candida [= weiße, reine Seele, H.N.] ihn selber sich geschaffen.’

[30] Börner kommentiert hier nur völlig kontextverloren, die Stelle zeige, ,was Rolf doch nicht wahrhaben will: Liebe und Sex gehören zusammen’.[239] • Literaturwissenschaft als primitives Baukastenprinzip!

[31],Die Dagmar ist nicht kindlicher, als es ein so einsam aufgewachsenes Mädchen mit 16 Jahren sein kann.’ Brief vom 12.12.1885 an Wilhelm Petersen.[219] • Nach dem Tod der geliebten Frau und des Sohnes hatte ihr Vater das anfangs elfjährige Mädchen etwa ein Jahr lang überhaupt nicht beachtet, dann spricht er die ersten Worte mit ihr und sie fleht weinend um Erbarmen. Sein Herz wird gerührt, und auch er erlebt ihre ganze Unschuld: ,Dann hob er sein Töchterchen auf seine Arme und trug sie in sein Gemach. „Dagmar, mein Kind“, sprach er, indem er sie sanft zu Boden ließ, „es ist so hell hier heute, und scheint doch keine Sonne von dem grauen Himmel!“’ • Börner unterschlägt völlig den bald darauf folgenden Zeitsprung und meint, der Vater trage sie ,noch mit fast sechzehn Jahren’ auf den Armen,[218] sie ist aber erst zwölf. • Als die alte Base ihr den ,Armen Heinrich’ von Hartmann von Aue vorliest, zeigt sich Dagmar mit dem dort erwähnten Mädchen, das bereit ist, sein Leben zu geben, seelenverwandt: ,Ein schwerer Seufzer rang sich aus Dagmars Brust [...]. Dann aber brach ein so erhabenes Leuchten aus des Kindes Augen, daß die Base die Schriftrolle hinwarf und sie mit Hast in ihre Arme zog: „Kind, Kind! Ich glaube fürwahr, du wärst zu solchem auch imstande!“’ • Paul Heyse kritisierte Storm in einem Brief vom 20.10.1885, mit dem Wort ,süß’ treibe er ,zu viel Getändel’ und: ,Von ihrer Seele weiß er ja so gut wie Nichts [...]. Daher wirkt die jähe gewaltsame Leidenschaft nicht recht überzeugend.’[232] • Heyse übersieht, dass Unschuld auf den ersten Blick berührt und erkannt wird – daher ist Storms Schilderung sehr überzeugend.

[32] Eines von unzähligen Beispielen für die völlige Abwertung des Mädchens und seines Eigenseins!

[33] Weiter behauptet sie, Lore sei für Philippe ein ,Fetisch’ und könne sich ,fortan nur noch in einem bestimmten, durch die Tanzschritte versinnbildlichten Radius bewegen’.[320] • Erneut zeigt sich hier die ganze Kontextblindheit der ,Literaturwissenschaftlerin’ – denn Lore ist glücklich, dass sie überhaupt tanzen darf! Dies wäre ihrem Stand normalerweise nie möglich, und hier liegt der eingeengte Radius des Mädchens, den Philippe gerade aufbricht, um ihr auf diese Weise ein kleines Glück zu schenken. Die wahren Verhältnisse und damit auch die Mädchen selbst werden von Börner schlicht immer nur vergewaltigt. • Und schon eine Seite später behauptet sie denn auch, Lore sei ,im Tanz liquide wie ihr Element’, wodurch sie bereits wieder eine halbe Undine wird.[321] Die Freiheit des Tanzes ist zwar näher an der Wahrheit – nur widerspricht sich Börner damit eben unmittelbar selbst. • Zuletzt nennt sie den scheuen Philippe gar den ,eigentliche[n] Aggressor’![324]

[34] Die Bezeichnung ,inneres Phantom’ bleibt völlig unklar, aber mit der Behauptung der ,Entfremdung vom eigenen Ich’ scheint Börner hier von ihrer im übrigen stereotyp vorgetragenen These des ,Narzissmus’ diametral abzuweichen. Gründe hierfür erschließen sich nicht einmal im Ansatz.

[35] Und es sei betont: Ein Mädchen kann sowohl Muse sein als auch in seinem ureigensten Wesen tief ernstgenommen werden. Dies ist sogar fast die Voraussetzung für jenes. Das Mädchen ist fortan sowohl seine Psyche als auch Maria... Und auch für das Mädchen ist der Künstler fortan ihr Retter und ihr Geliebter.

[36] Projekt Gutenberg.

[37] Projekt Gutenberg. Auch für die folgenden Zitate.

[38] Dennoch hält Börner unbeirrt an ihren völlig irrelevanten Deutungen fest. Als Paul bei Tag die Rückseite des ,Wundertempels’ sehen darf und sich dieser nur als ,ein Gerüst aus Latten und Brettern’ erweist, doziert sie: ,Von der vollkommenen Illusion zu einer Trümmer-Ansammlung defragmentiert, kündigt sich hier der Zusammenfall des eigenen narzißtischen Universums an.’[265f] • Sie begreift nicht, dass Storm hier nichts anderes beschreibt als die Kräfte des Staunens, die zu seiner Zeit noch in manchen Kinderseelen kräftig lebten (jedoch nicht in den kaltherzigen Schmidt-Jungen, die aber Ähnlichkeit mit Börner haben) – und die auch die Bretter und Latten und alles hinnehmen können und sich mit der gleichen Unschuld diesem zauberhaften Mädchen zuwenden, das wiederum völlig real ist. Hier erweist sich, dass der ,Märchenglanz’, in dem Paul Lisei sah, von Anfang an ihr eigener war. Denn er verging überhaupt nicht, als die Puppen ihre anfängliche Magie ein wenig verloren hatten.

[39] Das gnädigere Urteil über Paul ist also in Wirklichkeit nichts weiter als ein neuerlicherer Beweis der Blindheit ihres Ansatzes. Das Gleiche gilt für ihre Bewertung, dass Paul ,ein altruistisches Herz’ besitze, weil er sich aufgrund seiner offensichtlichen Schuld, aufgrund derer ihr eine schwere Strafe droht, mit ihr einschließen lässt.[266] • Aber eben dasselbe hätten auch die von Börner als narzisstisch abgeurteilten Protagonisten der anderen Novellen getan!

[40] Theodor Storm: Eine Halligfahrt. Projekt Gutenberg. Auch für die folgenden Zitate.

[41] Als er sie zu einer Bootsfahrt einlädt: ,Sie sah mich an; es war etwas von dem blauen Strahl eines Edelsteins in diesem Blicke, und es überfiel mich, ob mir nicht doch von diesen Augen Leids geschehen könne. Ich mag sie dabei wohl seltsam angestarrt haben; denn, als wandle eine Furcht sie an, zog sie langsam ihren Fuß zurück.’

[42],Ich war ein junger Advokat und längst von wohlmeinender Seite mir bedeutet worden, wenn ich [...] „prosperieren“ wolle, so müsse ich nicht nur meinen grauen Heckerhut bei Seite legen, sondern mir auch den Schnurrbart abrasieren. Beides hatte ich unterlassen, bisher leichtsinnig und wohlgemut; jetzt aber fiel es mir zentnerschwer aufs Herz [da er bei einer Ehe finanziell erfolgreich sein muss, H.N.], und, seltsam, während die Brandung eintönig vor meinen Ohren rauschte und der blonde Mädchenkopf noch immer an meiner Schulter ruhte, konnte ich meine Gedanken zu nichts Besserem bewegen, als sich gegen diese Tyrannei der öffentlichen Meinung immer von neuem in Schlachtordnung aufzustellen; ja, der Heckerhut und der Schnurrbart selbst begannen zuletzt wie zwei feindliche Gespenster gegen mich aufzustehen.’ • Er entscheidet sich für seine Unabhängigkeit gegenüber der Diktatur der öffentlichen Meinung – damit aber gegen das Mädchen. Eine dritte Möglichkeit kommt ihm nicht in den Sinn!

[43] Brief an Ludwig Pietzsch, undatiert (1873).

[44] Brief von Anfang 1838 an Therese Rowohl. Gerd Eversberg (Hg.): Storms erste große Liebe. Theodor Storm und Bertha von Buchan in Gedichten und Dokumenten. Heide 1995, S. 102.

[45] Brief vom 9.-12.5.1844. Regina Fasold (Hg.): Theodor Storm – Constanze Esmarch: Briefwechsel (1844-1846), Teil 1. Kritische Ausgabe. Berlin 2002, S. 64. • Allerdings trifft Storm die ältere Bertha wieder und sieht in ihr dann ,die fromme, selbstgerechte alte Jungfer’ – worin Börner wiederum nur das ,fragile Ego eines gekränkten Narzißten’ sieht.[389]

[46] Brief vom 14.-17.4.1844. Ebd., S. 29.

[47] Brief vom 11.-13.6.1844. Ebd., S. 109.

[48] Brief vom 20.-23.7.1845. Ebd., S. 158.

[49],Wenn Du erst meine kleine Frau bist, will ich all diese schönen Sachen mit Dir lesen; es ist mir so sehr Bedürfniß jede Freude und so auch diese mit Dir zu theilen; damit Du aber mit mir genießen kannst, mußt Du noch vieles lesen und Deinen Geschmack und Dein Urtheil etwas ausbilden [...]. [...] Willst Du nun, meine liebe Constanze, nach meiner Anleitung lesen, so wirst Du gewiß die geistige Genußfähigkeit erlangen und Dir und mir später große Freude dadurch bereiten. Du begreifst ein wie großes es für mich sein muß, mit meiner liebsten Freundin mein Lieblingsthema behandeln zu können [...].’ Brief vom 23.-25.5.1844. Ebd., S. 86.

[50] Die selbsternannten Deuter seiner Novellengestalten sind dagegen noch vereinnahmender und narzisstischer, als es der reale Storm je sein konnte.

[51] Theodor Storm: Posthuma. Projekt Gutenberg.

[52] Das heißt, sie hätte in dieser Nacht mit ihm geschlafen. Posthuma (1851). Literaturlexikon online.