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Altenberg
So, wie Thomalla[1] eine Aversion gegen alles Heilige zu haben scheint und immer wieder Rilke attackiert, so kann sie auch einen anderen Schriftsteller nicht ertragen, bei dem die Verehrung der Frauen und erst recht die der Mädchenschönheit und -zartheit einen Höhepunkt erreicht: den Wiener Peter Altenberg (1859-1919).[2]
Soweit ich es überblicken kann, hat niemand die Parthenophilie so aufrichtig und tief empfunden wie er. Altenberg hat das Wesen des Mädchens tiefer verstanden und erlebt als irgendjemand vor ihm.
Ausgerechnet an ihm nun steigert sich auch Thomallas Kritik zu einem extremen Höhepunkt. Sie spricht von ,maßloser Exzentrik’ und einem ,maßlosen und infantilen Narzißmus’[62] – ohne hierfür irgendeine Begründung zu geben. Wir kommen noch darauf zurück.
Sie erwähnt dann, dass man Altenberg auch in Thomas Manns durchaus satirischer Novelle ,Tristan’ (1903) wiedererkannt haben will.[3] Wir wollen diese zunächst kennenlernen, auch weil hier noch einmal die ,Femme fragile’ und die übersteigerten Figuren eines weltfremden Verehrers und eines demgegenüber völlig empfindungslosen Mannes hervorragend erlebbar werden.
Der Schriftsteller Spinell begegnet in einem Sanatorium einer solchen ,Femme fragile’:[K2][4]
Aber diese gewichtigen und warmen Stoffe ließen die unsägliche Zartheit, Süßigkeit und Mattigkeit des Köpfchens nur noch rührender, unirdischer und lieblicher erscheinen. Ihr lichtbraunes Haar, tief im Nacken zu einem Knoten zusammengefasst, war glatt zurückgestrichen, und nur in der Nähe der rechten Schläfe fiel eine [...] Locke in die Stirn, unfern der Stelle, wo über der markant gezeichneten Braue ein kleines, seltsames Äderchen sich blassblau und kränklich in der Klarheit und Makellosigkeit dieser wie durchsichtigen Stirn verzweigte. [...] Es trat sichtbarer hervor, sobald die Frau zu sprechen begann, ja, sobald sie auch nur lächelte, und es gab alsdann dem Gesichtsausdruck etwas Angestrengtes, ja selbst Bedrängtes, was unbestimmte Befürchtungen erweckte. Dennoch sprach sie und lächelte. Sie sprach freimütig und freundlich mit ihrer leicht verschleierten Stimme, und sie lächelte mit ihren Augen, die ein wenig mühsam blickten, ja hie und da eine kleine Neigung zum Verschießen[5] zeigten, und deren Winkel, zu beiden Seiten der schmalen Nasenwurzel, in tiefem Schatten lagen, sowie mit ihrem schönen, breiten Munde, der blass war und dennoch zu leuchten schien, vielleicht, weil seine Lippen so überaus scharf und deutlich umrissen waren. Manchmal hüstelte sie. Hierbei führte sie ihr Taschentuch zum Munde und betrachtete es alsdann.
Spinell bewundert diese zarte Frau, die einem groben, nüchternen Gatten seltsamerweise liebevoll zugetan ist.[6] Auch sie fühlt sich aber zu Spinells viel verständnisvollerer Art hingezogen. Auf seine Bitten hin spielt sie in wundervollster Weise Klavier, obwohl ihr dies verboten ist. Zwei Tage später verschlechtert sich ihr Zustand deutlich. Spinell wiederum richtet einen anklagenden Brief gegen den groben Ehemann. Als eine Begegnung beide miteinander konfrontiert, stoßen die von Mann karikierten Extreme aufeinander.
Der Ehemann, mit Nachnamen Klöterjahn, hat erst in den Momenten, als seine Frau zu sterben droht, ,ein warmes, gutes, menschliches und redliches’[K11] Gefühl – aber ist schon wenige Sekunden später wieder in seine selbstgefällige Art zurückgefallen. Spinell wiederum vergeht geradezu in Verehrungsgefühlen – und ist auch der Begegnung mit Klöterjahn nicht ansatzweise gewachsen.
Bezeichnend für die ,Femme fragile’ und Spinell ist der folgende, ganz überzeichnete Dialog:[K7]
„[...] Ja, ich habe all die Jahre in lieber Erinnerung; besonders den Garten, unseren Garten, hinterm Hause. Er war jämmerlich verwildert und verwuchert und von zerbröckelten, bemoosten Mauern eingeschlossen; aber gerade das gab ihm viel Reiz. In der Mitte war ein Springbrunnen, mit einem dichten Kranz von Schwertlilien umgeben. Im Sommer verbrachte ich dort lange Stunden mit meinen Freundinnen. Wir saßen alle auf kleinen Feldsesseln rund um den Springbrunnen herum...“
„Wie schön!“, sagte Herr Spinell und zog die Schultern empor. „Saßen Sie und sangen?“
„Nein, wir häkelten meistens.“
„Immerhin ... Immerhin ...“
„Ja, wir häkelten und schwatzten, meine sechs Freundinnen und ich ...“
„Wie schön! Gott, hören Sie, wie schön!“, rief Herr Spinell, und sein Gesicht war gänzlich verzerrt.
„Was finden Sie nun hieran so besonders schön, Herr Spinell!“
„Oh, dies, dass es sechs außer Ihnen waren, dass Sie nicht in diese Zahl eingeschlossen waren, sondern dass Sie gleichsam als Königin daraus hervortraten ... [...] Eine kleine goldene Krone, ganz unscheinbar, aber bedeutungsvoll, saß in Ihrem Haar und blinkte ...“
„Nein, Unsinn, nichts von einer Krone ...“
„Doch, sie blinkte heimlich. Ich hätte sie gesehen, hätte sie deutlich in Ihrem Haar gesehen, wenn ich in einer dieser Stunden unvermerkt im Gestrüpp gestanden hätte ...“
Die Art, wie Spinell die Frauen ,anschaut’, zumindest alle übrigen, wird so beschrieben:[K6]
„Heute, auf meinem Morgenspaziergang, habe ich eine schöne Frau gesehen ... Gott, sie war schön!“, sagte er, legte den Kopf auf die Seite und spreizte die Hände.
„Wirklich, Herr Spinell? Beschreiben Sie sie mir doch!“
„Nein, das kann ich nicht. Oder ich würde Ihnen doch ein unrichtiges Bild von ihr geben. Ich habe die Dame im Vorübergehen nur mit einem halben Blicke gestreift, ich habe sie in Wirklichkeit nicht gesehen. Aber der verwischte Schatten von ihr, den ich empfing, hat genügt, meine Fantasie anzuregen und mich ein Bild mit fortnehmen zu lassen, das schön ist ... Gott, es ist schön!“
Sie lachte. „Ist das Ihre Art, sich schöne Frauen zu betrachten, Herr Spinell?“
„Ja, gnädige Frau; und es ist eine bessere Art, als wenn ich ihnen plump und wirklichkeitsgierig ins Gesicht starrte und den Eindruck einer fehlerhaften Tatsächlichkeit davontrüge ...“
Spinell flüchtet also in Wirklichkeit vor dem Anblick – und vor der Wirklichkeit. Er flieht in seine eigenen Phantasien. Sein Äußeres wiederum beschreibt Mann so:[K4]
Man vergegenwärtige sich einen Brünetten am Anfang der Dreißiger und von stattlicher Statur, dessen Haar an den Schläfen schon merklich zu ergrauen beginnt, dessen rundes, weißes, ein wenig gedunsenes Gesicht aber nicht die Spur irgendeines Bartwuchses zeigt. Es war nicht rasiert, – man hätte es gesehen; weich, verwischt und knabenhaft, war es nur hier und da mit einzelnen Flaumhärchen besetzt. [...] Der Blick seiner rehbraunen, blanken Augen war von sanftem Ausdruck, die Nase gedrungen und ein wenig zu fleischig. Ferner besaß Herr Spinell eine gewölbte, poröse Oberlippe römischen Charakters, große, kariöse Zähne und Füße von seltenem Umfange.
Gekonnt zeichnet Mann die Erscheinung eines gänzlich verweichlichten, fleischig-gedunsenen ,Mannes’, der vor fehlender Lebens- und Willenskraft bereits in den Haaren ergraut und selbst in den harten Zähnen die Substanz verliert...
Es ist sehr seltsam, dass Thomalla auf diesen Karikierungen herumreitet – denn Peter Altenberg erweist sich als das genaue Gegenteil. Sein voller Schnurrbart ist auf den Fotos legendär. Und sein Blick ist keineswegs nur über die weiblichen Gestalten, die er beschrieb, hingehuscht – er ist in ihren Anblick geradezu versunken und konnte sie beschreiben wie kein Zweiter.[7]
*
Die grobe Annäherung, ja die sexuelle Sphäre oder auch nur Koketterie hat er dagegen zumindest von seiner Seite aus abgelehnt. Und ganz auf das Andere schauend, die Anmut und den Liebreiz des Weiblichen, die darüber hinausgehen, kann er schreiben:[8]
Woher, woher nimmt der begnadete Dichter Maeterlinck diese dem Irdischen so süss entrückten Gestalten, diese allerzartesten Frauengebilde, die wie mit Libellenflügeln über dem Leben schwirren und gleichsam edleren Gesetzen gehorchen und aus einer Welt zu kommen scheinen, wo die primitiven Sexualkräfte bereits in seelisches Empfinden völlig umgesetzt und verbraucht wurden!?!
Woher nimmt er diese Gestalten, die gleichsam auf besseren Sternen wohnen als unsere alte Erde ist und im Leben des Tages ein Mysterium bilden von überschwenglichen zartheitkranken Seelen?!?
Das Wort ,zartheitkrank’ kann, ebenso wie ,liebeskrank’, durchaus positiv gelesen werden – wenn auch die gegenwärtige Welt gar nicht die Bedingungen gibt, derart empfindsam zu sein. Mit anderen Worten: In dieser Welt muss man daran zugrundegehen – in einer künftigen wird gerade dies der eigentliche Lebenszustand der Seele werden: Zartheit...
Altenberg spricht in diesem Zusammenhang ausdrücklich von ,antizipierten Entwicklungsstadien der Seele’ die ,gleichsam bereits ausserhalb des Irdischen sich befinden und wohin ausser der wissende Blick Gottes nur noch der ahnende Blick des Dichters zu dringen vermag!’
Man mag darüber denken, wie man will – für Altenberg jedoch war es klar, dass der grobe, tief materialisierte Zustand der Menschheit – sozusagen der ,Klöterjahn’-Zustand – nicht das letzte Wort der Entwicklung sein konnte. Viele Stellen in seinem Werk wiederholen diese Überzeugung: Dass die Tiefe des Empfindens, dass die wirkliche Idealisierung der Wahrnehmung die Zukunftskräfte der Seele sein werden – und er hier als empfindsamer, idealisierender und tief wahrnehmender Dichter Vorläufer ist.
In Bezug auf die Ablehnung des grob Sexuellen schreibt Altenberg weiter:[64][9]
Was nun die „sexuelle“ Seite meines Charakters betrifft, so habe ich es Gott sei Dank bald genug herausgefunden, daß der „Coitus“ ein atavistischer, historischer, gänzlich unzulänglicher, roher, seelenloser und schwächlicher Vorgang ist, der der zarten und vor allem ewig warten könnenden Frauenseele unmöglich endgültige Seligkeiten bereiten könne.[10]
An diesen Worten explodiert Thomallas Polemik geradezu. Nicht genug damit, dass sie einen Vergleich zu Otto Weininger (1880-1903) und dessen Schrift ,Geschlecht und Charakter’ (1903) zieht – der aber das genaue Gegenteil behauptet, nämlich die Frau sei durch und durch sexuell (dazu gleich mehr) –, Thomalla schreibt weiter:[64]
Altenberg kündigt forsch eine Aussage über die „sexuelle“ Seite seines Charakters an und enttäuscht darauf mit allgemeinen Verdammungen des sexuellen Aktes [...]. Er weicht gleichsam vor dem eigenen Konflikt aus, indem er seinen Widerwillen und seine Unfähigkeit durch eine Abwertung des sexuellen Aktes schlechthin sowie durch eine vorgeschobene Ablehnung von seiten des weiblichen Partners zu verschleiern sucht. Die Asexualität oder Frigidität der „zarten und vor allem ewig warten könnenden Frauenseele“ dient als Ausweg aus der eigenen Kalamität, wobei es eben bezeichnenderweise nicht Frau oder gar Weib, sondern „Frauenseele“ heißt.
Altenberg hat gar nichts ,forsch’ angekündigt, sondern das ,sexuell’ gerade von vornherein in Anführungszeichen gesetzt. Ferner weicht er keineswegs vor einem Konflikt aus, sondern er ist mit sich selbst völlig im Reinen, dass er den ,Koitus’ als rohen, seelenlosen Vorgang empfindet – sicher in großer Übereinstimmung mit sehr vielen Frauen, wie Thomalla geschichtsblind völlig zu übersehen scheint.[11]
Zu der Zeit, als sich die ,Femme fatale’ und die ,Femme fragile’ polar gegenüberstanden, standen sich auch überhaupt die Auffassungen über die Sexualität der Frau polar gegenüber. Krafft-Ebing sieht in seiner ,Psychopathologia sexualis’ (1886) im Mann einen mächtigen Naturtrieb, die Frau dagegen sehr asexuell:[12]
Anders das Weib. Ist es geistig normal entwickelt und wohlerzogen, so ist sein sinnliches Verlangen ein geringes. Wäre dem nicht so, so müsste die ganze Welt ein Bordell und Ehe und Familie undenkbar sein. Jedenfalls sind der Mann, welcher das Weib flieht, und das Weib, welches dem Geschlechtsgenuss nachgeht, abnorme Erscheinungen.
Das klingt zunächst ganz nach der über Jahrhunderte etablierten patriarchalischen Sittenordnung – dem Mann wird seine Sinnlichkeit nicht vorgehalten. Krafft-Ebing fährt fort:[13]
Das Weib liebt mit ganzer Seele. Liebe ist ihm Leben, dem Manne Genuss des Lebens. Unglückliche Liebe schlägt diesem eine Wunde. Dem Weibe kostet sie das Leben oder wenigstens das Lebensglück. [...]
Da dem Manne durch die Natur die Stelle des aggressiven Theils im sexuellen Leben zufällt, läuft er Gefahr, die Gränzen, welche ihm Sitte und Gesetz gezogen haben, zu überschreiten. [...]
Auch bei dem unverheiratheten Weibe ist sexueller Umgang etwas ganz Anderes als beim Manne. Die Gesellschaft verlangt vom ledigen Manne Sittsamkeit, vom Weibe zugleich Keuschheit.
Gesagt wird hier also, dass die Frau – und all dies beginnt beim Mädchen – viel seelischer ist als der Mann, dadurch viel treuer. Man könnte sagen: Der Mann folgt seiner Lust, die Frau ihrem Herzen.[14] Erst in der Emanzipation folgt auch die Frau ihrer Lust... Vor der Emanzipation aber lebt sie dem Manne durch ihr eigenes Wesen vor, was eigentlich wahre Liebe ist. Der Mann genießt mehr, die Frau liebt aufrichtig.
Letztlich ist Krafft-Ebings Diagnose eine beschämende Anklage des Mannes. Das dort Gesagte als Naturgesetz zu nehmen, ohne dass der Mann dies je ändern könnte, wäre für diesen mehr als beschämend. Es hieße, dass er zu einer halb-tierischen Lust- und Verführer-Natur verdammt wäre.
In Wirklichkeit hat Altenberg genau dies empfunden – dass dies anders werden könne und auch werden müsse, wenn die Menschheit zu ihrem Menschlichen finden wolle. Altenberg war aber gleichzeitig ganz besonders der Gestalt des Mädchens hingegeben.
Gerade das ist das heilige Mysterium des Mädchens – dass man im Angesicht seines Wesens zu einer völlig anderen Haltung finden kann: zu einer zarten Verehrung, die zum ersten Mal auch den genusshaften Selbstbezug der männlichen Seele zu durchschlagen vermag. In der Liebe zum Mädchen überwindet der Mann seine niedere Natur. Er erfüllt sich mit einer Liebe, die die Frau viel mehr in ihrem Wesen hat.
Man kann sagen: Gegenüber der Frau vermag der Mann oft kaum zu mehr als zum Genuss kommen (was zunächst sein Naturwesen ist). Gegenüber dem Mädchen jedoch, das in seiner Seele noch viel unschuldiger ist als die Frau, vermag der Mann in seiner Seele die Kräfte der Verehrung zu finden. Oder noch anders: Der Frau gegenüber hat der Mann gelernt, sich vor allem körperlich zu nähern. Die Unschuld des Mädchens jedoch besitzt eine solche Hoheit, das hier seelische Kräfte im Mann aufgeweckt werden, die bis dahin geschlafen haben. Das Mädchen verwandelt etwas im Mann. Das gerade ist sein Geheimnis...
Die zu Krafft-Ebing gegenteilige Auffassung vertrat Otto Weininger in seiner einflussreichen Schrift ,Geschlecht und Charakter’ (1903). Darin schreibt er im Kapitel ,Männliche und weibliche Sexualität’ über Weib und Mann:[15]
W ist nichts als Sexualität, M ist sexuell und noch etwas darüber. [...]
Daraus erklärt sich nun auch der eruptive Charakter des männlichen Geschlechtstriebes, der diesen so viel auffallender erscheinen läßt als den weiblichen und zu der Verbreitung des Irrtumes beigetragen hat, daß der Geschlechtstrieb des Mannes intensiver sei als der des Weibes. Der wahre Unterschied liegt hier darin, daß für M der Begattungstrieb sozusagen ein pausierendes Jucken, für W ein unaufhörlicher Kitzel ist.
[...] Grob ausgedrückt: der Mann hat den Penis, aber die Vagina hat die Frau.
Die tief frauenverachtende Schrift ist zugleich offen antijüdisch, da sie das jüdische Wesen zum Beispiel wie folgt beschreibt:[16]
Männer, die kuppeln, haben immer Judentum in sich; und damit ist der Punkt der stärksten Übereinstimmung zwischen Weiblichkeit und Judentum erreicht. Der Jude ist stets lüsterner, geiler, wenn auch [...] sexuell weniger potent, und sicherlich aller großen Lust weniger fähig als der arische Mann.
Was auch Weininger nicht leugnen kann, ist, dass die Sexualität des Mannes stark genital ausgeprägt und zentriert ist. Er leugnet jedoch alles Übrige. Bei der Frau spielt Zärtlichkeit eine viel größere Rolle – und was die Frau tut, tut sie ganz. Sie spielt nicht mit ihren Empfindungen, sie hat sie aufrichtig. Der Mann kann dem Trieb seines Penis folgen und nichts dabei empfinden, außer die baldige Lust, ihm erneut zu folgen. Die Frau ist viel aufrichtiger und moralischer – sie gibt sich einem Mann hin und hofft auch auf dessen ganze Hingabe. In ihrer Moralität und ihrem seelischen Wesen ist sie dem Mann zunächst weit überlegen.
Selbst wenn die Frau sich nach sexueller Erfüllung sehnt, kann sie im Extrem ein Leben lang darauf verzichten – während der Mann schon für den bloßen ,Genuss’ ins Bordell rennt. Die Frau hat eine Vagina – aber der Penis hat den Mann. Jene Männer, die eine Kontrolle über ihre sexuellen Regungen haben, waren schon zu Weiningers Zeiten die Ausnahme, die Frauen aber waren die Regel. Der Mann müsste dazu vor allem dem Geist die Oberhand über den Körper geben. Bei der Frau hat die Seele von vornherein die Oberhand über das bloß Körperliche.
Thomalla aber vergleicht Altenbergs ,Enthaltsamkeit’ also mit dem antijüdischen Frauenverächter Weininger, der die Frau als sexuelles Wesen schlechthin diffamiert. So grob Weininger das Weib als ,Sexualität’ klassifiziert, so grob haben unzählige Männer sich ihre Sexualität von den Frauen geholt, die sich oft genug von der männlichen Gier benutzt fühlten – nicht als Frauen behandelt, sondern als Geschlechtsobjekt.
Altenberg verhielt sich vollkommen anders – und betrachtete die Frauen vollkommen anders, mit tiefster Menschlichkeit und sogar Verehrung. Er ist mit seiner ganzen Seele den weiblichen Wesen derart zugetan, dass auch er die allergrößte Hingabe gegenüber ihnen kennt und empfindet. Hier ist ein Mensch, der den Frauen in gleicher Zartheit begegnet, wie es ihr eigenes Wesen ist. Und so kann die schon erwähnte, mit Rilke befreundete Lou Andreas-Salomé, die Altenberg bereits 1895 während eines mehrmonatigen Wien-Aufenthalts kennen- und schätzen gelernt hatte, in ihrem ,Lebensrückblick’ schreiben:[17]
Wenn man mit ihm war, dachte man weder an Mann noch Weib, sondern an ein drittes Reiches Wesen.
Man könnte auch sagen: bei Altenberg konnten sich die Frauen in ihrem ganzen Menschsein gesehen fühlen. Dies scheint nur auf den ersten Blick paradox, wenn man meint, Altenbergs verehrender Blick würde die Frau erst recht auf ihr ,Frausein’ festlegen. Das tut er auch – aber die Frau fühlt sich dadurch eben zum ersten Mal wirklich gesehen. Und sie ist ja zugleich Mensch – und auch das sieht Altenberg. In Wirklichkeit legen alle anderen Männer die Frau mehr auf ihr Frausein fest als Altenberg. Altenberg verehrt die Frau – aber zugleich den Menschen.
In der Zartheit, mit der Altenberg den Frauen begegnet, ist etwas vorgeprägt, was in einer ferneren Zukunft überhaupt den ganzen Umgang zwischen Menschen prägen soll – eine Ehrfurcht vor dem anderen Wesen. Altenberg hatte es bereits zutiefst vor den weiblichen Wesen.
Tief eindrücklich ist aber auch das, was Lou Andreas-Salomé als ihr eigenes Grundempfinden gegenüber der sie umgebenden Welt schildert. Obwohl sie den naiven Gottesglauben im Laufe ihrer Kindheit verlor, blieb etwas anderes unerschütterlich erhalten: eine Ehrfurcht gegenüber allem, was ist. Und in ihrer großartigen Art, zu schreiben, schildert sie dieses Grundgefühl:[18]
Was für mich nun vor allem daraus bewirkt wurde, ist das Positivste, davon mein Leben weiß: eine damals dunkel erwachende, nie mehr ablassende durchschlagende Grundempfindung unermeßlicher Schicksalsgenossenschaft mit allem, was ist. [...] sinnlich-überzeugende Gleichheit der Schicksalslage; und nicht einmal menschenbezogen allein, sondern in diese Bereitschaft miteinbeziehend gleichsam noch den kosmischen Staub. [...] als gebe es nichts, was extra zu rechtfertigen, zu erhöhen oder zu entwerten sei neben dem Umstand seiner Existenz als Vorhandenheit wie auch dieser Bedeutsamkeit von Jeglichem nichts angetan werden könnte gleichwie Mord, gleichwie Vernichtung, es sei denn, ihm diese letzte Ehrfurcht zu versagen vor der Wucht seiner Existenz selbst, die es mit uns teilt, indem es gleich uns „ist“.
Damit ist mir das Wort entschlüpft, woran man, wenn man will, leicht einen seelischen Restbestand aus dem alten Gottverhältnis festlegen kann. Denn wirklich ist mir lebenslang kein Verlangen unwillkürlicher gewesen als das, Ehrfurcht zu erweisen – als käme erst in einigem Abstand davon alles übrige Verhalten-zu-etwas oder -zu-wem.
Diese Grundempfindung ist wahrhaftig eine aufrichtige Religiosität der Seele, denn Religion bedeutet nichts anderes als (Wieder-)Verbindung – und könnte die Verbindung je inniger sein als dieses bedingungslose Sich-allem-verbunden fühlen? In geradezu geschwisterlicher Ehrfurcht vor dem Sein des anderen?
In ähnlicher Weise erschütternd beschreibt sie das Wesen der innerlichen Umwälzung in der Pubertät, der Geschlechtsreife, die zugleich, wie Rudolf Steiner betont, eine Erdenreife ist – in der die Seele für die Welt um sie herum vollkommen neu erwacht:[19]
In jedem Leben geschieht es noch einmal, daß es sich müht, wiederzubeginnen wie mit Neugeburt: mit Recht nennt das vielzitierte Wort die Pubertät eine zweite Geburt. Nach etlichen Jahren bereits geleisteter Anpassung an das uns umgebende Daseinsgeschehen, an dessen Ordnungen und Urteilsweisen, die unser kleines Hirn ohne weiteres überwältigten, springt, mit herannahender Körperreife, auf einmal eine Urwüchsigkeit in uns so vehement dawider an, als habe sich nun erst die Welt zu formen, in die das Kind herniederkam, – unbelehrt, unbelehrbar im Ansturm seiner Wunschvoraussetzungen.
Auch dem nüchternsten Erleben ersteht irgendwo diese Verzauberung: das Gefühl, als erstehe die Welt als eine ganz andere, neue, und als sei, was dem widerspricht, ein unfaßliches Mißverständnis gewesen. Weil wir aber bei dieser tollkühnen Behauptung nicht beharren dürfen und weil wir der Welt, wie sie ist, dann doch unterliegen, so umspinnt sich uns später alle solche „Romantik“ mit Schleiern wehmütigen Rückblicks – wie auf mondbeglänzten Waldsee oder geisterhaft winkende Ruine. Uns verwechselt sich dann, was uns im Innersten pulst, mit Gefühlsüberschüssen, die sich an irgendeinen zeitlichen Ablauf, unproportioniert und unproduktiv, verhängten. Aber faktisch stammt das zu Unrecht „romantisch“ Benannte aus dem Unzerfallbarsten in uns, dem Robustesten, Urhaftesten, der Kraft des Lebens selber, die allein es mit dem Dasein draußen aufnehmen kann, weil sie dessen inne bleibt, daß zutiefst Draußen und Drinnen denselben Boden unter sich haben.
Hier ist sie Novalis tatsächlich ganz nah – indem sie im Grunde fast mit Händen greifbar macht, dass das in der idealistischen Jugend aufbrechende Urwüchsige der wahren Wirklichkeit viel näher ist als die ,bereits geleisteten Anpassungen’. Dieses Urwüchsige ist eigentlich die nach Offenbarung drängende wahre Menschennatur selbst. Es ist der heilige Kern der Seele, der sehr wohl weiß, dass auch alles Übrige heilig ist und geheiligt werden soll – dass das Leben selbst unaussprechlich heilig ist. Und dieses Wesen, was dies empfindet, der heilige Mittelpunkt der Seele – dieses Wesen ist das in Wirklichkeit ,Unzerfallbarste’. Denn es ist wahrhaft ewig. Aus ihm heraus wird die wahre Wirklichkeit empfunden – und in der Jugend beginnt dieser heilige Mittelpunkt der Seele einmal ganz deutlich, sich zu erheben. Die Seele rührt an die Wirklichkeit – die der heiligen Welt und die ihres eigenen Wesens.
Wie sehr dies alles wiederum mit dem Mädchen zu tun hat, sollte im Lauf dieser Bände immer tiefer empfunden werden können.
Lou Andreas-Salomé schildert schließlich noch die Atmosphäre gerade von Wien:[20]
Wenn ich die Wiener Atmosphäre im Vergleich zu der anderer Großstädte schildern sollte, so erschien sie mir damals am meisten gekennzeichnet durch ein Zusammengehen von geistigem und erotischem Leben: was anderwärts etwa als Lebemannstypus sich vom Berufs- und Geistesmenschen scheidet, das fand hier eine Anmut, die das „süße Mädel“, sogar das bloß süße Mädel,[21] in erhöhte Erotik hineinhob und wiederum sogar die ernsteste Drangabe an Geistesberuf und Berufung noch in ein Verhalten löste, das dem nur zweckbezogenen Ehrgeiz etwas von seiner Schärfe nahm.
Ein Extrem ist sicherlich ein Werk wie ,Josephine Mutzenbacher – die Geschichte einer wienerischen Dirne’ –, das oft dem ,Bambi’-Schöpfer Felix Salten zugeschrieben wurde und in dem ein noch ganz junges Mädchen auf freimütigst-pornografische Weise seine Erlebnisse als ,Dirne’ schildert.
Wenn man aber das Zitat verstehen will, so muss man zu erleben versuchen, was Andreas-Salomé mit Anmut meint. Es ist in diesem Fall eine menschliche Wärme, in der das Erotische und das Geistige sich nicht voneinander trennen, sondern verbunden bleiben. Man muss sich hier eine wirklich noch menschlich durchseelte Erotik vorstellen. Der Wiener konnte niemals so nüchtern sein wie der Londoner. Und während in London die ganz jungen Mädchen von Armut bedroht zu Prostituierten wurden, hatte das Erotische in Wien einen unverlierbaren Charme, der sich in der Art auslebte, wie man einander begegnete. Man vergleiche das London von Charles Dickens und die Wiener Kaffeehaus-Atmosphäre der Jahrhundertwende – und man bekommt ein Gefühl für den tiefgreifenden Unterschied. In Wien war die Erotik noch nicht entmenschlicht – und das Menschliche nicht ent-erotisiert.[22]
Altenberg jedoch hat ganz klar den bloßen Trieb von dem eigentlichen Wesen der Liebe getrennt. Aber auch Rilke sagte in seinem Gedicht ,Von den Mädchen’ (1900): [66]
Mädchen, Dichter sind, die von euch lernen
das zu sagen, was ihr einsam seid;
und sie lernen leben an euch Fernen,
wie die Abende an großen Sternen
sich gewöhnen an die Ewigkeit.
Keine darf sich je dem Dichter schenken,
wenn sein Auge auch um Frauen bat;
denn er kann euch nur als Mädchen denken:
...
Laßt ihn einsam sein in seinem Garten,
wo er euch wie Ewige empfing
auf den Wegen, die er täglich ging,
...
Thomalla kann diese zärtliche Verehrung des Mädchens jedoch nicht begreifen. Erfüllt von Antipathie schreibt sie über Altenberg:[68]
Die ständig geübte Verdrängung und Frustation der Triebe scheint in zynischer Umkehr zwangsläufig einen psychologischen Prozeß nach sich zu ziehen, den man als Erotisierung des gesamten Lebensgefühls bezeichnen könnte.
In ungestillter Sehnsucht und zugleich in einer ausgesprochen kindlichen Unersättlichkeit umkreist die Phantasie das Phänomen ,Weiblichkeit’, ohne je es zu erreichen, ohne je es deutlicher als schemenhaft zu erblicken, aber auch ohne je diese erotischen Gefühle überzeugend sublimieren zu können. [...] Ähnlich läßt sich auch die Häufigkeit der Vokabel „Sehnsucht“ beim frühen Rilke deuten [...].
Die Autorin kann sich nicht vorstellen, dass die zarte Erotik gewollt ist – und nicht auf Verdrängung, sondern auf bewusster Ablehnung gröberer Formen des Begehrens oder der Aneignung beruht. Sie kann sich nicht vorstellen, dass es hier nicht um ,unersättliche’ und ,ungestillte’ Sehnsucht geht, sondern um eine unmittelbare Feier der Schönheit und des Lebens – in jedem Mädchen wieder. Für Altenberg war dies im besten Sinne eine tief wahrhaftiger innerer Kultus – seine ganze Seele hat die Mädchenschönheit, die Schönheit des Mädchenwesens verehrt. Der Anblick ihres anmutigen und schönen Wesens war für ihn eine Feier der Seele, es waren für ihn die schönsten Momente des Lebens: Begegnungen mit einem Mädchen...
In Thomallas Äußerungen spürt man letzlich den verborgenen Hass einer Seele, die genau dies bei Altenberg unbewusst erlebt, aber selbst nicht kennt – die selbst nicht selbstlos genug ist, um sich derart an die Schönheit hingeben zu können. Was sie in Altenberg hineinprojiziert – Narzissmus und so weiter –, ist ihre eigene Krankheit.
Statt das tiefere Erleben wirklich zu verstehen zu versuchen, schreibt sie:[69]
Ängstlich-infantile (zielgehemmte) Liebeswünsche werden auf ein weibliches Objekt gerichtet, das sich gefahrlos verehren läßt und keine männliche Aktivität fordert.
Man könnte fast meinen, ihr wäre ein ,ordentlicher Don Juan’ lieber, dieser wäre wenigstens ein ,richtiger Mann’. Dahinter steht jedoch die Eifersucht auf die zarten, wehrlosen Mädchen, die Altenbergs Verehrung bekommen, während sie ihr, der erwachsenen Frau, versagt bleibt. – Und was meint sie mit ,Aktivität`? Dass bei den erwachsenen Frauen der Mann Verschiedenes ,tun’ muss, um ihre ,Liebe’ oder Aufmerksamkeit überhaupt zu erringen? Warum sollte er sich mit den bereits viel zu selbstbezogenen Frauen abgeben, wenn er stattdessen die reine Unschuld des Mädchens verehren kann? Das tief Erfüllende dieser Verehrung wird jemand wie Thomalla nie verstehen. Mit dem Wort ,infantil’ wertet sie zugleich das Mädchen ab – aber dieses steht haushoch über ihr, gerade weil es Altenberg nicht angreift...
Halten wir fest, dass Thomalla gegen Altenberg in zweifacher Weise polemisiert: Einerseits wirft sie ihm Verdrängung der Sexualität vor und rückt ihn, weil er bekennt, dass er den ,Koitus’ als ,atavistischen’, ,rohen’ und ,seelenlosen’ Vorgang empfindet, in die Nähe Weiningers (der ,das Weib’ als Sexualität, den Mann aber als darüber erhabenen Geist definierte),[23] andererseits wirft sie ihm eine ebenso zwanghafte ,Erotisierung des gesamten Lebensgefühls’ vor – nicht sehend, dass dies zum einen gerade die Wiener Lebensart betraf und dass zum anderen Altenberg etwas wahrnahm und beschrieb, was mit ,Erotik’ letztlich nur ganz unzureichend beschrieben ist. Altenberg sah reine Schönheit, den reinen Liebreiz des Weiblichen – und dies wäre für Thomalla wieder Verdrängung, also ein unendlicher Zirkel der Polemik...
Der Kardinalfehler, dem Thomalla unterliegt, ist ein zweifacher: Altenberg auch nur in die Nähe Weiningers zu rücken (der die Unterschiede zwischen männlich und weiblich fanatisch polarisiert) – und ihm Verdrängung vorzuwerfen. Es ist Weininger, der verdrängt, während Altenberg seine gesamte Wahrnehmung und die Qualität der Begegnung auf eine höhere Stufe hebt, ohne den erotischen Aspekt weiblicher Schönheit zu verdrängen.
Interessanterweise konnten gerade Verteidiger des weiblichen Geschlechts bestimmte Aspekte von Weiningers Schrift begrüßten – ohne sie so zu verstehen wie Weininger selbst. Männer wie Altenberg und Karl Kraus (Redakteur der scharfzüngigen ,Fackel’) bekannten die zarte Sinnlichkeit der Frauenseele, die noch viel ganzheitlicher mit dem sanften Leib verbunden ist, als es der abstrakte Männergeist und der rohe, triebhafte Männerkörper sind. Für jene Männer ist die zarte Sinnlichkeit des weiblichen Geschlechts völlig offensichtlich – ohne dass sie es (wie Weininger) zur Kupplerin oder zum Sexualwesen erniedrigen. Sinnlichkeit und Empfindsamkeit gehen Hand in Hand, die Frau hat also mehr Seele als der Mann. Nur deshalb kann sie zum Beispiel auch begnadete Tänzerin sein, kann lieben, wo der Mann nur begehrt, und noch vieles andere.
In diesem Geist konnte Kraus Weininger unmittelbar erwidern: ,Ein Frauenverehrer stimmt den Argumenten Ihrer Frauenverachtung mit Begeisterung zu.’[24] Während Weininger die Frau völlig sexualisierte, auf ihr Geschlecht, das identisch mit der Sexualität sei, reduzierte, gestanden Verteidiger der Frau wie Altenberg und Kraus ihr eine Sinnlichkeit zu, die ihr umgekehrt durch die herrschende Doppelmoral gerade genommen wurde. Die Frau war also zwischen verächtlicher Entwürdigung à la Weininger und den heuchlerischem Keuschheitsforderungen der offiziellen Moral geradezu gefangen:[25]
Die Bejahung der Sinnlichkeit der Frau durch Karl Kraus und Peter Altenberg stellt [...] eine Pionierleistung dar, die mit einer traditionsreichen Tabuisierung des weiblichen Körpers aufräumt.
Wie weit diese Pionierleistung ging, zeigt sich daran, dass nicht nur Krafft-Ebing, sondern niemand Geringeres als Sigmund Freud um 1900 in den Frauen nur kastrierte Männer ohne echte eigene Sexualität sah.[26] Mit anderen Worten: Freud sprach den Frauen eine solche ab, Weininger verachtete sie – und Kraus und Altenberg überließen sie den Frauen selbst[27] und verachteten die Männer, die sich den Frauen grob und patriarchalisch näherten:[28]
Gott nahm vom Weib die Rippe, baute aus ihr den Mann, blies ihm den lebendigen Odem aus und machte aus ihm einen Erdenkloß.
Diesem ,Erdenkloß’ steht die Seelenfülle der Frau und, mehr noch, des Mädchens gegenüber. Und diese Mädchenseele erkannt und so tief empfunden zu haben – dies gerade ist das Verdienst Altenberg. Diese Seelenfülle des Mädchens ist gerade durch ihre (halbe) Unbewusstheit geschützt, während das Bewusste des Mannes alles in Abstraktheit ertötet. Und so kann Altenberg geradezu urbildlich schreiben:[29]
Abends ging das junge Mädchen stundenlang die friedevolle einsame Dorfstrasse auf und nieder, auf und nieder.
Nichts regte sich.
Da sagte der Dichter zu dem Mädchen: „Woran denkst Du, Mädchen?!?“
„An nichts,“ erwiderte das Mädchen.
„Aus diesem Nichts machen wir unsere tiefsten Lieder,“ sagte der Dichter.
Das Mädchen ist mit seiner klaren, reinen Seele noch ganz eins mit dem Frieden der einsamen Dorfstraße und der stillen, umgebenden Natur. Es denkt eben nicht – aber es fühlt unendlich viel. Es ist ein Denken mit dem Herzen, eine Fülle des Gefühls, von der der Mann nicht einmal eine Ahnung hat, es sei denn er liebt das Wesen der Mädchen...
Und in diesen Skizzen Altenbergs, die das Wesen der Mädchen erfassen, ist nichts von Erotisierung – gar nichts. Altenberg liebt diese Mädchen auch zart erotisch, aber würde man auch diese ätherische Ebene noch fortnehmen, so würde man gerade das Wesen des Mädchens auflösen. Es gibt auch eine Erotik der Unschuld – und Altenberg war der Genius, diese zu erfassen: so rein, so zart, so unschuldig, wie Mädchen sind.
Fußnoten
[1]● Ariane Thomalla: Die ,femme fragile’. Ein literarischer Frauentypus der Jahrhundertwende. Düsseldorf 1972. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern.
[2] Zu Altenberg siehe sehr ausführlich den fünften und elften Band.
[3] Jost Hermand (1964): Peter Spinell. Modern Language Notes 74, 439-447. • Der Schriftsteller in Manns Novelle heißt richtig jedoch Detlev. Ganz anders heißt es daher in einem Buch über Altenberg: ,Es ist bekannt, daß das Eintreten dieses Dichters für ein neues, verstehendes Verhältnis des Mannes zur Frau auf Thomas Mann eingewirkt hat und besonders in dessen Novelle „Tristan“ (1902) sichtbar wird. Hans Bisanz: Peter Altenberg: Mein äußerstes Ideal. Wien 1987, S. 27, dort zitiert Wolfdietrich Rasch: Thomas Manns ,Tristan’, in: Jost Hermand (Hg.): Jugendstil. Darmstadt 1971, S. 427.
[4]● Tristan. annotext.dartmouth.edu. Im Folgenden Kapitelangaben mit ,K’ in hochgestellten eckigen Klammern.
[5] Offenbar eine leichte Blickabweichung (,Silberblick’), hier sicherlich das ,Naiv-Weltfremde’ betonend.
[6] Spinell klagt: ,Nein, es sind rätselvolle Tatsachen, die Frauen [...]. Da ist ein wunderbares Geschöpf, eine Sylphe, ein Duftgebild, ein Märchentraum von einem Wesen. Was tut sie? Sie geht hin und ergibt sich einem Jahrmarktsherkules oder Schlächterburschen.’[K7]
[7] Das ,Nur-mit-einem-halben-Blicke-Streifen’ charakterisiert dagegen in völligem Kontrast zu Altenberg zwei Typen von Menschen, die zu echter Begegnung gar nicht fähig sind. Da ist zum einen der ängstlich-selbstunsichere Pseudo-Romantikers und Pseudo-Idealist, der sich in seine eigenen Ideen, Träume und Illusionen einspinnt, die Begegnung mit einem wirklichen Mädchen aber nie wagen würde. Und auf der anderen Seite – und dies ist mehr der ,ein wenig gedunsene’ Spinell – jener Typus des geradezu masochistischen ,Verehrers’, der aber in seine eigenen Vorstellungen stets unendlich mehr verliebt ist als in die angeblich so verehrten Frauen, die er eben gar nicht wirklich sieht. • Altenberg hingegen hatte unzählige Begegnungen und Freundschaften, und die Mädchen und Frauen fühlten sich von ihm gerade tief gesehen und verstanden.
[8] Peter Altenberg: Pròdrŏmŏs. Berlin 21906, S. 136f, ,Die Quelle’. Wikisource. • Er sieht die Quelle dieser Gestalten in Maeterlincks Buch ,Das Leben der Bienen’ bzw. im Wesen der Bienen selbst – keusch, selbstlos, geheimnisvoll, noch ganz mit den tieferen Gesetzen des Lebens verbunden. Ebd.
[9] Brief von 1917 an Julius Muhr, in: Egon Friedell: Das Altenbergbuch. Leipzig/Wien/Zürich 1921, S. 283.
[10] Altenberg leugnet also keineswegs, dass Geschlechtsverkehr auch der Frau Lust und Befriedigung verschaffen könne – doch er sieht, dass das Eigentliche gerade der Frau auf einer viel seelischeren, viel umfassenderen Ebene liegt, und dass dieses Geheimnis – einer viel heiligeren und innigeren Begegnung und Kommunion zweier Seelen – von der Menschheit noch nicht einmal ansatzweise erfasst ist.
[11] Tatsächlich wurde dieser von unzähligen Männern auch nur zur reinen Selbstbefriedigung oder, fast entgegengesetzt dazu, puritanistisch als gefühllose ,Ehepflicht’ ,vollzogen’. Eine Rücksicht auf die Empfindungen der Frau oder gar ein tief zärtlicher Sex dürfte erst seit weniger Jahrzehnten überhaupt größere Verbreitung gefunden haben. • Wie zu Altenbergs Zeiten Männer mit (oder: an) Frauen ganz vielfach Sex hatten, will man lieber nicht so genau wissen. Heute kann vielleicht auch jede Frau leichter den Sex haben, den sie haben will – doch das Geheimnis des Seelischen geht trotzdem immer weiter verloren. Altenberg war noch ein Verkünder dessen.
[12] Richard von Krafft-Ebing: Psychopathologia sexualis. Eine klinisch-forensische Studie. Stuttgart 1886, S. 10. Archive.org.
[13] Ebd., S. 10f.
[14] Dies wird ganz durch eine so außergewöhnliche und selbstständige Frau wie Lou Andreas-Salomé bestätigt, die unter anderem mit Nietzsche und Rilke verkehrte, den jungen Dichter sehr prägte und die sich nach der Begegnung mit Freud ab 1911 in die Psychoanalyse vertiefte. 1899 in einem Aufsatz ,Der Mensch als Weib’: ,Aber deshalb tritt das geschlechtliche Leben im Weibe mehr im ganzen physischen Sein, wie als isolierter Einzeltrieb auf, es durchdringt und durchseelt es total, es ist mit der Gesamterscheinung des Weibes identischer und gerade daher braucht es sich nicht so lokalisiert, spezialisiert ins Bewusstsein zu drängen wie es beim Manne der Fall ist. So gelangt man zum scheinbaren Paradoxon, daß das Weib vermöge seiner geschlechtlichen Veranlagung das weniger sinnliche Geschlecht dem engeren Wortbegriff nach ist. [...] Im Weibe müssen tiefer greifende Veränderungen vorgehen, als in ihm, um sie zum Beispiel eine so lose, kaum noch vorhandene, Verknüpfung zwischen sexueller Befriedigung und derjenigen ihres übrigen ganzen Menschen zu lehren, wie sie dem Manne geläufig ist. Der Mann, der zu einer rohen Momentbefriedigung seiner Sinnlichkeit ohne nennenswerte Mitleidenschaft seiner übrigen Regungen fähig ist, benutzt dazu – oder mißbraucht, wenn man durchaus will – seine höher differenzierte körperliche Veranlagung, die es ihm möglich macht, eine Betätigung zu isolieren, daß alles Übrige wie ausgeschaltet erscheint. Dies Mechanistische, fast Automatenhafte, gerade da, wo unserm Gefühl nach gerade das Intimste, Beseelteste, einzusetzen hat, gibt dem Vorgang sein Häßliches [...]. Das undifferenziertere Wesen der Frau, der in ihr noch nicht gebrochene Drang nach intimer und intensiver Wechselwirkung aller Triebe untereinander, sichert der weiblichen Erotik die tiefere Schönheit [...].’ Zitiert nach Birgit Wernz: Sub-Versionen: Weiblichkeitsentwürfe in den Erzähltexten Lou Andreas-Salomés. Pfaffenweiler 1997 (Frauen in der Literaturgeschichte, Band 9), S. 100. • Mit anderen Worten: Der Mann kann seine sexuelle Lust ohne weiteres von seiner Seele trennen – die Frau nicht, und sie will es auch gar nicht. Sie ist mit sich selbst eins, und keine ihrer Regungen isoliert sich von den anderen. So ist die Liebe, aber auch die Erotik der Frau ganzheitlich – während der Mann im wesentlichen die mechanistische Sexualität kennt. • Man kann hinzufügen: Selbst da, wo er in Leidenschaft zu einer Frau ergriffen ist, will er in ihrer Eroberung seine Lust spüren, auch das narzisstische Gefühl, sie ,zu beglücken’ – während die Frau viel reiner lieben kann, weil sie die Hingabe kennt.
[15] Otto Weininger: Geschlecht und Charakter, Wien/Leipzig 101908, S. 113, 115, 116. Archive.org.►2
[16] Ebd., S. 423.
[17] Lou Andreas-Salomé: Lebensrückblick. Grundriß einiger Lebenserinnerungen. Leipzig 1974, Kapitel ,Unter Menschen’. Projekt Gutenberg. • In Wien begegnete sie auch Arthur Schnitzler, Richard Beer-Hofmann, Hugo von Hofmannsthal, Felix Salten und anderen. Das volle Zitat zu Altenberg lautet: ,Peter Altenberg stand ein wenig abseits – wenn auch nicht in der Befreundung. Wenn man mit ihm war, dachte man dabei weder an Mann noch Weib, sondern an eines dritten Reiches Wesen. [...] das Neue und Reizvolle in Peter Altenbergs kleinen Gestaltungen beruht auf dem Rätselhaften, wie er gleichsam beide Geschlechter am innern Erwachsensein verhindert, indem er ihr Infantilbleiben dichterisch zu einer Spezialität verarbeitet, die sich auch in seiner personellsten Besonderheit voll ausdrückte.’ • Man setze hier an die Stelle von ,ihr Infantilbleiben’ ,das Unschuldige’ – und man wird Altenberg noch viel tiefer erfassen. Das noch ganz Zukünftig-Unschuldige ist derart ungewohnt, dass es selbst in den Augen der Wohlmeinensten noch als ,infantil’ erscheinen kann. Man denke auch an Novalis, der in seinen Dichtungen von so vielen Menschen absolut nicht verstanden wird.
[18] Ebd., Kapitel ,Das Erlebnis Gott’.
[19] Ebd., Kapitel ,Liebeserleben’.
[20] Ebd., Kapitel ,Unter Freunden’.
[21] Das sprichwörtliche ,süße Mädel’ war ,eine sexuell zugängliche junge Frau niedrigen Standes aus der Wiener Vorstadt’. Wikipedia: Süßes Mädel. • Demgegenüber meint Andreas-Salomé mit dem , bloß süßen Mädel’ offenbar nicht das sprichwörtliche, sondern jegliches Mädchen.
[22] Vielleicht ähnelten die Wiener Verhältnisse in gewisser Weise den idealisierteren Aspekten des Bordellmilieus in dem Film ,Pretty Baby’ (1978) mit Brooke Shields – nicht was das Verhalten der Männer angeht, aber in Bezug auf den Zusammenhalt der Frauen.
[23] Thomalla schreibt wörtlich, Altenbergs Äußerungen scheinen ,der heute abstrus anmutenden, aber vom zeitgenössischen Publikum akklamierten Sexualmoral Otto Weiningers verpflichtet’.[64]
[24] Die Fackel 229 vom 2.7.1907, 14. • Kraus schrieb ihm dies, als er ,das Werk am Tage nach seinem Erscheinen las’. Die Fackel 169 vom 23.11.1904, 7, Fußnote im Artikel ,Der Fall Otto Weininger’ von dessen Vater. fackel.oeaw.ac.at.
[25] Hans Bisanz: Peter Altenberg: Mein äußerstes Ideal. Wien 1987, S. 24. • In der Auslassung heißt es ,trotz der merkwürdigen Abkunft’ – aber Kraus und Altenberg brauchten beileibe keinen Weininger, um die Frau in ihrem ganzheitlichen Wesen, einschließlich ihrer Erotik und Sexualität, zu bejahen und ihre Rechte zu verteidigen.
[26] Ebd., dort zitiert Erich Fromm: Sigmund Freud. Seine Persönlichkeit und seine Wirkung. Frankfurt/Berlin/Wien 1981, S. 25.
[27] In den Kreis um Altenberg und Kraus gehört geistig auch Arthur Schnitzler (1862-1931), als Schriftsteller einer der bedeutendsten Vertreter der Wiener Moderne. Seine Sympathien gehören immer wieder den Frauen. • Im Schauspiel ,Das Märchen’ (1891) muss sich die junge Schauspielerin Fanny gegen das Vorurteil wehren, dass eine Frau, die bereits eine Beziehung hatte, eine ,Gefallene’ sei, die nicht mehr zur Ehe tauge. Wikipedia: Das Märchen (Schnitzler). • Der Roman ,Frau Bertha Garlan’ (1901) handelt ebenfalls von der Doppelmoral, in der der Mann, den sie liebt, sie nur als Affäre behandelt. Er schließt mit den Worten: ,Und sie ahnte das ungeheure Unrecht in der Welt, daß die Sehnsucht nach Wonne ebenso in die Frau gelegt ward als in den Mann; und daß es bei den Frauen Sünde wird und Sühne fordert, wenn die Sehnsucht nach Wonne nicht zugleich die Sehnsucht nach dem Kinde ist.’ Wikipedia: Frau Bertha Garlan.
[28] Karl Kraus: Pro domo et mundo. Die Fackel 315 vom 26.1.1911, 31-37, hier 37.
[29] Dorfstraße, in: Peter Altenberg: Was der Tag mir zuträgt. Berlin 12–131924, S. 276f. Zeno.org.