Parthenophilie

Ein schweres Herz (1896)


Wir wollen zunächst ein wenig Altenbergs Skizze ,Ein schweres Herz’[1] miterleben, gegen die Thomalla ebenfalls polemisiert.[2]

Es steht mitten zwischen Wiesen und Obstgärten ein riesiges gelbes Haus. Es ist ein Mädchen-Institut der „Englischen Fräulein“. Es giebt viele „heilige Schwestern“ darin und viel Heimweh. [...]
Es war ein regnerischer Land-November-Sonntag. Ich sass in dem lieben kleinen warmen Cafe und rauchte und träumte – – –.
Ein schöner grosser Herr trat ein mit einem kleinen wunderbaren Mädchen.
Es war eigentlich ein Engel ohne Flügel, in einer gelbgrünen Sammt-Jacke.
Der Herr nahm an meinem Tische Platz.
„Bringen Sie ,Illustrierte Zeitungen’ für die Kleine“ sagte er zu dem Marqueur.
„Danke, Papa, ich möchte keine“ sagte der Engel ohne Flügel.
Stille.
Der Vater sagte: „Was hast Du – – –?!“
„Nichts“ sagte das Kind.
Dann sagte der Vater: „Wo seid Ihr in Mathematik?!“
Er meinte: „Sprechen wir über etwas Allgemeines. In der Wissenschaft findet man sich.“
„Capital-Rechnungen“ sagte der Engel. „Was ist es?! Was bedeutet es?! Ich habe keine Idee. Wozu braucht man Capitals-Rechnungen?! Ich verstehe das nicht – – –.“
„Lange Haare – Kurzer Verstand“ sagte der Vater lächelnd und streichelte ihre hellblonden Haare, welche wie Seide glänzten.
„Jawohl“ sagte sie.
Stille – – –.
Ich habe ein so trauriges Gesichterl nie gesehen!
Es erbebte gleichsam wie ein Strauch unter Schnee-Last.

Altenberg sieht, was andere nicht sehen – er sieht die Demütigung eines Mädchens, die zu der damaligen Zeit und auch heute noch sich hundert-, tausendfach jeden Tag ereignet haben mag und die von dem Vater nicht einmal bemerkt wird.

Erbarmungslos dekliniert der Vater mit ihr eine Rechenaufgabe durch, während sie mit den Gedanken fortwährend ganz woanders ist und das Tote dieser ganzen Rechnungen offenbart. Schließlich äußert sie ihre tiefe Sehnsucht – aber der Vater geht gar nicht darauf ein:

„Oh ja. Aber wieso trägt Geld überhaupt Zinsen?! Es ist doch nicht wie ein Birnbaum?! Es ist doch ganz todt, Geld.“
„Dummerl – – –“ sagte der Vater und dachte: „Uebrigens, es ist Sache des Institutes.“
Stille – – –.
Sie sagte leise : ,,Ich möchte nach Hause zu Euch – –.“
„No, Du bist doch ein gescheidtes Mäderl, nicht –?!“
Zwei Thränen kamen langsam die Wangen heruntergeschwommen.
Erlösung! Thränen! Schimmernde Perlen gewordenes Heimweh!!
[...]
Ich hätte dem Vater gerne gesagt: ,,Herr, schauen Sie dieses Marieen-Antlitz an! Sie hat ein brechendes kleines Herz! – – –.
Er hätte mir geantwortet: „Mein Herr, c’est la vie! So ist das Leben! Es können nicht alle Menschen im Cafehaus sitzen und vor sich hinträumen.“[3]

Und dann, als der Vater sich verabschieden will, bittet Altenberg ihn, das Mädchen am heutigen Tag von der folgenden Tanzstunde zu befreien:

Als der Herr sich erhob, um wegzugehen und mich freundlich grüsste, sagte ich: „Verzeihen Sie, mein Herr, oh verzeihen Sie mir, ich habe eine grosse, grosse Bitte an Sie – – –.“
„An mich?! Was ist es?!'“
„Oh bitte, lassen Sie heute Ihr Töchterchen von der Tanzstunde dispensiren.“
Er sah mich an – – – und drückte mir die Hand.
„Gewährt!“
„Wieso verstehst Du mich, fremder Mensch?!“ sagte der Engel zu mir mit seinen schimmernden Augen.

Man kann sich sehr genau vorstellen, was innerseelisch passiert, wenn jemand eine solche Skizze unerträglich, schwülstig, narzisstisch, egozentrisch oder wie auch immer empfindet. Es ist zum einen das eigene schlechte Gewissen – das sich schämt, nicht genauso tief wie Altenberg das Leid eines solchen Mädchens zu empfinden, sich darum zu kümmern...

Bei Altenberg spürt man, wenn man aufrichtig genug ist, und sei es unbewusst, wie unempfindsam man selbst ist. Und genau dies kann sich rasend schnell, ohne dass man es bemerkt, in dieses schlechte Gewissen und dann sofort in tiefe Antipathie gegen den Dichter umsetzen.

Man hasst es dann, dass er etwas zum Thema macht, was an die eigene und sogar an eine gesellschaftliche Wunde rührt. Denn hier ist es nicht so einfach wie mit dem ,Missbrauch’ – dass es immer ,die anderen’ sind und dass man das ganze ,Thema’ sehr sachlich behandeln kann. Was Altenberg beschreibt, sind alltägliche Szenen, die sich jederzeit ereignen können – und es auch tun. Jederzeit werden kleine Mädchen gedemütigt, wie ,kleine Mädchen’ behandelt – und alle sehen darüber hinweg, finden es normal, schauen weg, stehen nicht den Mädchen bei, sondern stehen, allein schon durch ihr Schweigen, auf Seiten der Erwachsenen. Altenberg thematisiert dies – und er steht bedingungslos auf Seiten der Mädchen. So macht er sich Feinde. Denn er hält uns allen einen Spiegel vor. Wir schauen hinein – und sehen unsere eigene Empfindungslosigkeit.

Das Andere ist dann sein Subjekt – das kleine Mädchen selbst. Was heißt klein? Vielleicht ist sie elf oder zwölf Jahre alt. Kapital- und Zinsrechnung hat man nicht in den Grundschuljahren. Das Mädchen steht also an der Schwelle zur Jugend – jener Zeit, die diese Bände behandeln.

Die moderne Seele, geeicht von all den Missbrauchsmeldungen, reagiert auch bereits mit Antipathie, wenn jemand sich derart intensiv für so kleine Mädchen interessiert. Aber auch dies ist ein bequemes Mittel gegen das eigene schlechte Gewissen. Denn wie absurd ist dies? Weil es Missbrauch gibt, irgendwo, darf man sich nicht mehr für kleine Mädchen interessieren? Sie gar liebhaben, ihnen ganz offen tief zugeneigt sein? Stattdessen dürfen sie von ihren Eltern stündlich gedemütigt werden? Ohne einen Fürsprecher? Ohne einen Einzigen, der sie versteht?

Das ist die Schizophrenie der Moderne. Man meint, bildet sich ein, alles für die Mädchen zu tun. ,Missbrauch’ ist in aller Munde, überall wird etwas ,dagegen getan’. Und vor lauter Agitation und Selbst-Gewissensberuhigung rückt sogar einer, der den Mädchen wohlgesonnener ist als jeder andere, in einen gewissen Verdacht. In der heutigen Zeit dürfen Mädchen nicht mehr liebgehabt werden. Nicht so. Nicht so speziell. Sie dürfen niemanden haben, der sie so sehr versteht. So sehr liebt auch. Ganz unschuldig. Niemand ist unschuldig, der so liebt. Welche Schizophrenie!
 

Fußnoten


[1]● Ein schweres Herz, in: Peter Altenberg: Wie ich es sehe. Berlin 4.1904, S. 196-201. Archive.org.

[2] Hier setzt sie Altenberg als ,Frauenversteher’ herab: ,Er allein versteht in einem Café den Kummer, das Heimweh und die mühsam unterdrückten Tränen einer kleinen Pensionärin, die dem unsensiblen Vater Rede und Antwort stehen muß. „Ich hätte dem Vater gerne gesagt: Herr schauen Sie dieses Marieen-Antlitz [!] an! Sie hat ein brechendes kleines Herz!“ Er bittet, die Kleine heute „von der Tanzstunde dispensieren“ zu lassen und ist zutiefst beglückt, denn das Mädchen schaut ihn an als ,Verstandene’.[67]

[3] Das ist genau die Antwort, die auch Thomalla gegeben hätte. Altenberg ist keineswegs so narzisstisch, wie sie ihn darstellt. Er weiß sogar, was andere Leute von ihm denken. Er nimmt diesen Schmerz auf sich – und widmet sein Leben weiter der Beschreibung dessen, an dem alle anderen kalt und ohne Gefühlsregung vorübergehen. Seelenleid einsamer Mädchen... Altenberg sieht und versteht es zumindest. Ändern kann er daran nichts. Das könnten nur die Väter selbst... Wenn man ihn aber Frauen- oder Mädchenversteher schimpft, demütigt man auch die Mädchen ein weiteres Mal. Doch der Narzissmus der Literaturwissenschaftler kann offenbar nicht anders... Thomalla hasst es, dass Altenberg diese Mädchen geliebt hat – und tiefer verstanden als jeder andere.