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Kindfrau oder Mädchen?
Andrea Bramberger: Die Kindfrau. Lust, Provokation, Spiel. München 2000. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern.
Doch die ,Botschaft der Mädchen’ ist bis heute unverstanden. Stattdessen machen sich Literaturwissenschaftler über die literarischen Gestalten her.
Wir wollen zunächst ein Werk über die ,Kindfrau’ betrachten. Die Liebe des Mannes zum Mädchen führt dazu, dass auch Frauen sich kindlich geben, was natürlich auch einer Liebe des Mannes zum Unschuldigen und Hilfsbedürftigen, ja Hilflosen entspricht. Dass es hier zur Genüge ungute Entwicklungen oder eben Entwicklungshindernisse gab und gibt, ist zweifellos. In den hier vorliegenden Bänden geht es jedoch um das Wesentliche, die Essenzen – nicht um künstliche Unschuld, auch nicht um patriarchale Herrschaftssehnsüchte und die Verewigung männlicher Dominanz, sondern um das eigentliche Mysterium. Und dieses enthält auch die Wahrheit, dass auch eine Kindfrau natürlich kein Mädchen mehr ist. Sie kann sich dem Mädchen ähnlich machen, aber sie ist es nicht mehr.
Es geht um die Welt des Scheins und die Welt des Echten. Wo ist Unschuld echt? Und noch darüber hinausgehend: Was ist eigentlich das Mysterium der Unschuld? Warum ist sie so ein unendliches Mysterium? Sicher nicht wegen des patriarchalen Machtwillens – den viele, ja unzählige männliche Wesen überhaupt nicht mehr haben, und man darf sagen: die im besten Sinne parthenophilen Seelen am allerwenigsten.
Doch wenden wir uns Brambergers Werk über die ,Kindfrau’ zu. Auch sie verweist auf die ,Femme fatale’ und die ,Femme fragile’.[115] Die letztere entspricht in ihrer Zartheit und Unschuld wie gesagt sehr dem Mädchen. Bramberger schreibt:[113]
Während die femme fatale exaltiert Sexualität demonstriert, wird die femme fragile über ihre Negativsexualität, über ihr Entschwinden als Sexualwesen definiert und darin liegt ihr von der femme fatale kaum zu überbietender erotischer Reiz.
Worin dieser Reiz denn liege, wird von Bramberger nur mit einem Zitat von Poes Erzählung ,Ligeia’►5 angedeutet: [1]
Mein Erinnern floh [...] zu Ligeia zurück, der Geliebten, der Hehren, der Schönen, der Begrabenen! Ich schwelgte im Gedenken ihrer Reinheit und Weisheit, ihres erhabenen, ihres himmlischen Wesens, ihrer leidenschaftlichen, ihrer anbetenden Liebe.
Diese Schilderung entspricht einer tiefen Hingabe. Alle Aspekte Ligeias sind Offenbarungen einer reinen Unschuld. Unberührt von der menschlich-männlichen Selbstbezogenheit entfaltet sich die Seele zu einer geradezu überirdischen Schönheit und einer allerreinsten, innigsten Hingabe. Das – diese absolute Unschuld – ist das Anziehende, was der offenen Sexualität der ihrer selbst oft sehr bewussten ,Femme fatale’ uneinholbar überlegen ist, weil der Mann gerade dies seinerseits viel inniger liebt als das bloß Körperliche, und sei es noch so verführerisch.
Bramberger aber schreibt:[47]
Tatsächlich existiert die Kindfrau nur in der Kombination von gut und böse, und zwar deshalb, weil dieser Zwiespalt um ihre Sexualisierung die Grundlage ihrer phantasmatischen Existenz bildet. Es ist allein ihre Sexualisierung, die sie aus dem Kreis der ,normalen Mädchen’, ihre Desexualisierung, die sie aus dem Kreis der ,normalen Frauen’ löst. [2] Weil also die ,gute’ und die ,böse’ Kindfrau Wahrnehmungsformen eines Phänomens sind, erweisen sich tatsächlich beide Formen von Kindfraulichkeit als sehnsuchtsbesetzte Imaginationen [...].
Mit anderen Worten: Die ,Kindfrau’ ist ,sexualisiertes Mädchen’ bzw. ,desexualisierte Frau’ – sie ist nicht ,Vamp’, weil sie noch Mädchen ist, und sie ist nicht mehr Kind, weil sie bereits sexuell anzieht...[3]
Bramberger weist darauf hin, dass dieses ,Bild’ spätestens zu Charlie Chaplins Zeit von jedem verstanden werden konnte – und dass die Kindfrau sich prinzipiell vom Kind und von der Frau unterscheide, da zum Beispiel Chaplins Kindfrauen in dem Moment dieser ,Status’ aberkannt wird, wo sie schwanger und damit ,Frau’ werden. [4]
Es geht eben durchaus um das Mädchen – das Mädchen, das in seinen Reizen erblüht und damit definitiv kein Kind mehr ist, aber auch keine Frau, da es tatsächlich noch die Unschuld des Kindes offenbart, zugleich aber nun eine erotische Anziehungskraft ausübt – ob es will oder nicht.
Dabei kann das Mädchen bereits sehr ,erwachsen’ tun, auch verführerisch handeln, es bleibt doch Mädchen. Oder aber es ist dem Alter nach bereits ,erwachsen’, wirkt aber auch dann noch mädchenhaft, das heißt, eine Unschuld ausstrahlend, die durchaus von einem Verführerischen nicht getrennt werden muss, sondern hier das Junge bezeichnet, mit dem immer eine gewisse Unschuld verbunden bleibt. Wenn sie diese verliert, wird das Mädchen oder die Kindfrau endgültig zur Frau. [5]
Es ist allerdings deutlich, dass der Begriff ,Kindfrau’ zugleich enger ist als der des Mädchens – denn ein Mädchen wird nur dann zur ,Kindfrau’, wenn es auch auf den ,normalen’ Mann anziehend wirkt. Ein sehr unschuldiges, stilles Mädchen kann den ,normalen’ Mann völlig gleichgültig lassen, während es in tiefster Weise eine parthenophile Liebe erwecken kann. – Noch genauer gesagt, ist der Begriff der ,Kindfrau’ gegenüber dem des Mädchens verschoben. Denn umgekehrt kann eine ältere ,Kindfrau’ den ,normalen’ Mann noch immer sehr anziehen, während die parthenophile Liebe sie unmöglich noch als Mädchen empfinden kann. Den Reiz der Kindfrau mag sie noch haben, den des Mädchens nicht mehr... [6]
Bramberger schreibt: ,Die Kindfrau existiert nur in ihrer Funktion als Sexualwesen’.[89] Auch sie verwechselt oder vermischt Sexualität und Erotik. Das Sexuelle der Kindfrau ist aber gerade zweifach gebrochen – zunächst geht es nur um die erotische Anziehung, zum anderen um das Verhältnis von Erotik und Unschuld, denn, wie Bramberger richtig schreibt, ist gerade die De-Sexualisierung im Vergleich zur Frau für die Kindfrau wesentlich. Und so schreibt sie auch folgerichtig:[89]
So unterscheiden sich in Chaplins Spielfilmen etwa die Kindfrauen nicht graduell, sondern prinzipiell von den Frauen, die sich oft überlebensgroß und bedrohlich präsentieren und neben den Kindfrauen wie gewaltige Fossile, wie Karikaturen von Weiblichkeit wirken.
Und sie gibt einen Hinweis auf ,Lolita’, wo es heißt:[89] [7]
[...] sind mir wenige physische Erscheinungen so zuwider wie das schwere hängende Gesäß, die dicken Waden und der miserable Teint der Durchschnittsstudentin (in der ich vielleicht den Sarg aus grobem Frauenfleisch sehe, in dem meine Nymphchen lebendig begraben sind) [...].
Für die parthenophile Liebe sind Frauen – und Studentinnen sind ja außerordentlich junge Frauen! – bereits viel zu alt. Sie mögen offen sexuell reizvoll sein, mit ihren ausgewachsenen Körperformen, Becken, Po, Brüste. Aber selbst wenn sie angesichts des modernen ,Schlankheitskults’ geradezu einen Gegensatz zu den Darstellungen von Fruchtbarkeitsgöttinnen der Menschheitsfrühzeit bilden, sind sie für den, der das Mädchen liebt, noch immer viel zu ,ausgewachsen’, viel zu grob, zu füllig, wirklich schon ein ,Sarg’ von Körper.
Vor dem Hintergrund dieses Erlebens wird deutlich, was demgegenüber ein Mädchenleib ausstrahlt... Es ist reine Jugend, zarte Blüte, das Atmen des Jungen.
Die Durchschnittsstudentin ist nicht so sehr an sich hässlich – sie wird hässlich, weil ihr Leib nicht mehr in Entwicklung ist. Das Mysterium der Parthenophilie erweist sich so als ein übersinnliches. Wahrgenommen und geliebt wird das Sich-Entwickelnde. Also gerade nicht der sexuelle Reiz, der in den ausgewachsenen Körperformen maximal ist, sondern der Reiz des noch Wachsenden an sich. Nicht das Junge nach absoluten Jahren, sondern das Junge als reale Potenz, als Noch-nicht-Fertiges, als ein noch heiliger Quellort.
Wunderbar formuliert Bramberger:[91]
Die Kindfrau sabotiert ihre Position als Frau, wenn sie in einen Diskurs um Weiblichkeit eingebunden wird. Die Kindfrau sabotiert ihre Position als Kind, wenn sie auf einen Diskurs um Kindheit und Kindlichkeit festgelegt wird. [...] Die Kindfrau führt einen grundlegenden Widerspruch ein [...]. Sie selbst ist dieser Widerspruch, dieser unmögliche Ort [...].
Sie beendet den Satz mit: ,und doch ist sie immer nur eine Idee’. Dasselbe gilt aber für die Kategorien ,Kind’ und ,Frau’ – auch sie sind nur Ideen, Schubladen, in die ein weibliches Wesen gesteckt wird, während es ganz real ,Kindfrau’ sein könnte, oder aber Mädchen – ein junges, weibliches Wesen mit einer ungeheuren Anziehung.
An dieser Stelle muss ganz deutlich ausgesprochen werden, dass jede Anziehung Idee, ideell ist, insofern der Mensch nicht instinktgesteuertes Triebwesen ist. Hätte der Mensch nicht das Ideelle, würde er unberührt an allem vorbeigehen. Eines würde ihn nicht mehr betreffen als ein anderes. – Jeglicher Unterschied ergibt sich erst in der Frage, was ein einzelner Mensch schön findet, rührend, anziehend – und diese Frage ist immer und jederzeit nur ideell zu beantworten. Wieviel davon kulturell geprägt sein mag – und selbst dies sind dann Ideen einer ganzen Kultur –, die letzte Antwort ist immer eine individuelle.
Mit anderen Worten: Das ,Kind’ und die ,Frau’ sind nicht weniger Phantasmen als die Kindfrau. Denn niemand kann definieren, wann das Kind denn zur Frau wird, aber irgendwann muss es ja offenbar geschehen – doch genau an diesem Übergang lebt die Kindfrau. Und dieser Übergang ist kein Moment, er ist ein Zeit-Raum – die Lebensperiode der Kindfrau, die genauso real ist wie das Kind und die Frau.
Die Begründung, warum die ,Kindfrau’ nicht das Mädchen sein kann, ist bei Bramberger: sie bleibe immer Kindfrau:[149]
Eine Kindfrau ist kein Kind, kein Mädchen. Sie ist auch nicht die Fortentwicklung [...], also eine Jugendliche, wie sie niemals eine erwachsene Frau werden wird. [...] Lolita ist – und das ist entscheidend – nicht entwicklungsfähig.
Hier irrt Bramberger jedoch. Dass die Nymphe und damit das für Humbert zutiefst reizende Mädchen eindeutig eine endliche Zeit des Daseins hat, macht er sehr deutlich: [8]
Zwischen den Altersgrenzen von neun und vierzehn gibt es Mädchen, die gewissen behexten, doppelt oder vielmal so alten Wanderern ihre wahre Natur enthüllen; sie ist nicht menschlich, sondern nymphisch (das heißt dämonisch); und ich schlage vor, diese auserwählten Geschöpfe als „Nymphchen“ zu bezeichnen.
[...] und ich wuchs heran in einer Zivilisation, die einem Fünfundzwanzigjährigen erlaubt, einer Sechzehnjährigen [die ihn nicht mehr interessiert, H.N.] den Hof zu machen, aber nicht einer Zwölfjährigen.
Am ersten Januar wäre sie dreizehn. In etwa zwei Jahren wäre sie kein Nymphchen mehr und würde ein „junges Mädchen“ und dann der schrecklichste der Schrecken – eine „College-Studentin“.
Bramberger verweist auf Humbert, der Lolita noch am Ende liebt – aber hier erweist sich der Durchbruch einer Liebe, die selbst dann noch anhält, wenn Lolita nicht mehr ,Nymphchen’ ist; wenn sie hässlich geworden ist, gewöhnlich, das Gegenteil einer Nymphe. Es reicht, dass sie ,seine’ Nymphe war – und dass Humbert zutiefst erlebt, was er ihr in den Vergewaltigungen und dem Freiheitsentzug angetan hat. Jetzt liebt er sie existenziell – und sie braucht nicht mehr Nymphe zu sein, damit er sie liebt: [9]
[...] da lag sie mit ihrem ruinierten Aussehen, ihren erwachsenen schmalen Händen mit den dicken Adern, ihren weißen Gänsehautarmen, ihren flachen Ohren und unrasierten Achselhöhlen [...], hoffnungslos verbraucht mit siebzehn [...] – und ich konnte mich nicht satt sehen an ihr und so genau, wie ich wußte, daß ich sterben müsse, wußte ich auch, daß ich sie mehr liebte als alles, was ich auf Erden je gesehen oder vorgestellt oder mir irgendwo erhofft hatte. Sie war nur noch das schwache Echo – Veilchenhauch und Herbstlaub – des Nymphchens [...] aber Gott sei’s gedankt, es war nicht nur dies Echo, das ich anbetete.
Doch zurückkehrend zur ,Kindfrau’ schreibt Bramberger dann wieder wunderbar:[93]
Die Kindfrau kann als Idee entziffert werden, den patriarchalen Rahmen zu transzendieren [...]. [...] Jene Ambivalenz, als personifizierte Männerphantasie einerseits männlichem Begehren genüge zu leisten, andererseits aber als jene mythische Figur zugleich Eigenständigkeit zu besitzen und Idee einer Alternative zum binären Geschlechtermodell zu sein, ist wohl eine der wesentlichsten und interessantesten Bedeutungen der Kindfrau.
Hier kommt Bramberger selbst zu der Erkenntnis, dass die Kindfrau mehr ist als ein männliches Phantasma – als dass es etwa Wetzel darstellt. Oder anders gesagt: Jede Frau macht sich vom ,Mann’ ein Phantasma und umgekehrt. Die ,Kindfrau’ ist nicht mehr Phantasma als die übrigen. Sie ist zwar an einen eindeutig endlichen Zeitraum gebunden – aber auch die übrigen Phantasmen werden gewöhnlich gern als ,jung’ oder geradezu ,ewig jung’ vorgestellt, einschließlich des eigenen Selbstbildes und Phantasmas...
Und was das Weitere des Zitats angeht, so ist doch offensichtlich, dass auch Männer sich nicht ein willenloses ,Püppchen’ wünschen, selbst wenn sie die (Idee der) Kindfrau begehren, sondern dass in ihr immer schon das Eigenständige begehrt wird, das gerade den Liebreiz ausmacht. Auch und gerade die tiefe Unschuld kann sehr eigenständig sein. Die Kindfrau ist eben gerade die Abkehr von dem Phantasma der auf eine Rolle festgelegten Hausfrau, Mutter und Gattin. Die Kindfrau ist von ihrer ganzen Idee her etwas Eigenständiges, über das niemals verfügt werden kann.
Das Wesen der Unschuld ist gerade dies: dass sie im Innersten nicht berührbar ist, dass sie sich entzieht. Dies ist die heilige Aura, die jegliches Rollenmodell nicht mehr haben kann. Das Phantasma der Kindfrau sprengt die Rollen und Schubladen. Und wieder muss man sagen: Das eigentlich Unverfügbare ist gerade die Jugend, das nicht zu fassende Sich-Entwickelnde. Es ist zugleich so unendlich verletzlich und so unendlich un-fassbar. – Selbst da, wo es scheinbar ,bezwungen’ wird, ist es ein Pyrrhussieg, gerade wegen der Unschuld, die selbst da, wo sie verlorengeht oder verlorenzugehen scheint, immer noch anwesend ist – und sei es als Anklägerin, als stumme Sirene... Das Wesen der Kindfrau ist das Unverfügbare.
Das Moment der Idealisierung und der regelrechten Phantasie, des Phantasma, wiederum kommt klassisch in Nabokovs ,Lolita’ selbst zur Sprache, nachdem er sich von ihr ,die Süße eines Orgasmus erlistet’ hatte, ohne dass sie auch nur etwas bemerkt hatte: [10]
Was ich so rasend besessen hatte, war gar nicht sie gewesen, sondern meine eigene Schöpfung, eine andere, eine Phantasie-Lolita – vielleicht wirklicher als die echte; eine, die sich mit ihr überschnitt und sie umschloß; eine, die zwischen ihr und mir schwebte, willenlos, bewußtlos, ja, ganz ohne eigenes Leben.
Bramberger geht dann darauf ein, dass Humbert andererseits sehr wohl davon überzeugt ist, die Realität einer Nymphe zu erkennen – da er auf solche intensiv reagiert, während andere Mädchen ihn recht kalt lassen.[153ff]
Diese reale Dialektik zwischen Subjektivität und Objektivität erklärt sich dadurch, dass jede Wahrnehmung subjektive und objektive Anteile hat. Humbert ist für bestimmte Wesenszüge und äußere Erscheinungen von Mädchen sehr empfindsam und erlebt diese als tief erotisch – andere Menschen lassen dieselben Wesenszüge oder Erscheinungen gleichgültig, unter anderem, weil sie deren erotisches Potenzial völlig ausblenden oder unterdrücken. Oder weil sie an deren Stelle andere Phantasmen und Schubladen setzen, etwa, ein Mädchen sei asexuell oder unerotisch (bis es mit achtzehn schlagartig auch erotisch wird, werden darf). Oder eben, weil sie Mädchen tatsächlich nicht erotisch finden.
Bramberger erwähnt auch Nabokovs Gedicht ,Lilith’ (1928),[93ff] in dem dieser hoch erotisch die nachtodliche[11] Begegnung mit einem aufreizend nackten Mädchen beschreibt, das es zu einer sexuellen Vereinigung kommen lässt – sich dann aber kurz vor dem Höhepunkt des Akteurs entzieht, während er plötzlich vor verschlossener Tür steht[12] und, während er anfangs dachte, er sei im Paradies, abrupt erkennt, dass er in der Hölle sei. Hier wollen wir nur einige Zeilen des verführerischen Mädchens zitieren:[95]
Shielding her face and to the sparkling sun
showing a russet armpit, in a doorway,
there stood a naked little girl.
She had a water lily in her curls
and was a graceful as a woman. Tenderly
her nipples bloomed, and I recalled
the springtime of my life on earth,
when through the alders on the river brink
so very closely I could watch
the miller’s youngest daugther as she stepped
out of the water, and she was all golden,
with a wet fleece between her legs.
…
Toward my Lilith I advanced.
She turned upon me a green eye
...
Without inducement, without effort,
Just with the slowness of pert glee,
like wings she gradually opened
her pretty knees in front of me.
And how enticing, and how merry,
her upturned face! ...
Im selben Jahr schuf auch Isolde Kurz ihre großartige Dichtung ,Die Kinder der Lilith’ (1928).[97ff] ►6 Hier ist Lilith kein dämonisches Wesen, sondern die erste Gefährtin Adams – aber gleichzeitig sein Genius. Sie ruft die besten Kräfte in ihm hervor, aber Adam ist völlig überfordert. Er ist träge und selbstbezogen. Lilith versucht, ihn immer wieder herauszureißen, denn sie ist gewissermaßen himmelsgeboren. Letztlich aber wird sie von Eva verdrängt.
Lilith ist gleichsam das Wesen jugendlicher Poesie und Begeisterung, der liebenden Unschuld:[13]
Um ihre wechselnden Gestalten
Kann nichts verwelken, nichts veralten.
Ob sie über Blumen sich tändelnd wiegt,
Auf Wolkenrossen jauchzend fliegt,
Wo sie erscheint, muß alles blühn,
Was sie berührt, wird frisch und grün.
Und Liliths Mund kann nimmer lügen,
Wohin sie irrt auf Fabelflügen,
Der träge Riese muß ihr nach!
In diesem Sinne hat Lilith unendlich viel gemeinsam mit dem reinen Wesen des Mädchens, das die seelische Verderbnis der Selbstbezogenheit, der Faulheit oder der Missgunst (wie sie in der Dichtung dann Eva verkörpert) nicht kennt. Lilith ist unschuldig – und halb Engel. Das Gleiche gilt für das Mädchen.
Die Macht des Mädchens zeigt sich an all jenen Punkten, wo sich ein Mann von einem Mädchen unwiderstehlich angezogen fühlt – oder wo er gleichsam das Eingreifen des Schicksals empfindet. Bramberger zitiert John Ruskin, der über Rose La Touche schrieb:[111] [14]
Ein kleines Kind legte seine Finger ans Ruder und bestimmte sich zu meinem Liebling.
Oder aus dem Roman ,Tatjana’ von Curt Goetz:[111] [15]
Ich versuchte, mich gegen die Macht, die von diesem halben Kind ausstrahlte, zu sträuben.
Oder Dante, der den Moment der Begegnung mit Beatrice beschreibt:[111] [16]
In jenem Augenblick, das sage ich wahrhaftig, fing der Geist des Lebens, der in der geheimsten Kammer des Herzens wohnt, so heftig zu zittern an, daß er sich noch in den kleinsten Pulsen schrecklich offenbarte, und bebend sprach er diese Worte: ,Ecce deus fortior me, qui veniens dominabitur mihi’ [Siehe, ein Gott, stärker als ich, der da kommt, zu herrschen über mich].
Nirgendwo geht es hier um eine ,Kindfrau’ – sondern überall geht es wirklich um das Mädchen.
Fußnoten
[1] Hier zitiert nach Projekt Gutenberg.
[2] An anderer Stelle schreibt Bramberger wunderbar treffend: ,Sie ist rein wie Rousseaus, sexuell wie Freuds Kind’.[251]
[3] Der Unterschied zur ,Femme gracile’ ist offenbar, dass die Kindfrau zugleich kindlich-unschuldiger ist und auch erotischer. Während erstere wirklich weitgehend desexualisiert ist, ist die Kindfrau vielmehr ,de-adultisiert’ (verkindlicht), ohne ihre Erotik zu verlieren.
[4] Als Lita Grey ihm ihre Schwangerschaft mitteilt, soll er gesagt haben: ,Get out of my sight, you little whore!’ Lita Grey Chaplin: My life with Charlie Chaplin. Vermont 1966, p. 132.[42] • Später wird er zitiert: ,Ich dachte, sie wäre göttlich natürlich und echt – ich stellte fest, daß sie nur tölpelhaft und derb war.’ Max Eastman in Sergei Eisenstein: Charlie Chaplin. Eine Bildchronik mit Texten von Oona Chaplin, Jean Cocteau, Marcel Marceau, René Clair, Max Eastman u.a. Zürich 1961, S. 65.[47] • Andererseits schreibt Chaplin 1964 in seiner Autobiografie über den Abend der Begegnung: ,Das einzige, was mich an ihr reizte, war das Sexuelle, und es schien mir nicht der Mühe wert zu sein, deswegen einen romantischen Annäherungsversuch zu machen, denn das erwartete sie wohl von mir.’ Charlie Chaplin: Die Geschichte meines Lebens. Frankfurt 1977, S. 211.[40]
[5] So auch Bramberger: ,Verführung ist nur dann Sache der Kindfrau, wenn sie aus deren Spontaneität und Unbedarftheit erfolgt. Niemals aber ist Betrug ihre Sache.’[48] • Wiederum muss man ergänzen: Und auch schon erwachsene, kühle Bewusstheit nicht, ebensowenig überladen-schwülstige Erotik bzw. Sexualität. Die Unschuld bezieht sich auf Bewusstsein, Seele und Körperlichkeit.
[6] Der gleiche Fehler wird immer wieder begangen, Bramberger ist nur eine von vielen. • Ein anderes Beispiel: ,Der Dichter der Kindfrau ist [...] ohne Zweifel Rilke. Sein Werk ist voll von weiß gekleideten, traurigen müden Mädchen, von Unberührten und Verlassenen, von Madonnen und Heiligen. Ein typisches Merkmal dieser Mädchen-Frauen ist das unbestimmte Sehnen, von dem sie ganz erfüllt sind und das ziellos im Raum schwebt.’ Gudrun Brokoph-Mauch (1989): Salomé und Ophelia. Die Frau in der österreichischen Literatur der Jahrhundertwende. Modern Austrian Literature. Journal of the International Arthur Schnitzler Research Association 22 (3/4), 241-255, hier 248. • Da, wo Rilke von Mädchen spricht und dichtet, da meint er auch Mädchen! Und die ,Kindfrau’ mag ein Phantasma sein, das Mädchen ist es nicht...
[7] Vladimir Nabokov: Lolita. Reinbek bei Hamburg 1997, S. 283.
[8] Ebd., S. 25, 27 und 105f.
[9] Ebd., S. 452.
[10] Nabokov, Lolita, a.a.O., S. 100.
[11] Das Gedicht beginnt mit ,I died’ und erwähnt später, dass er in der vorangegangenen Nacht getötet worden war.
[12] Im Nebel und allein mit Pans obszön blökenden Faunen, die auf seine unterbrochene Lust und seinen nun folgenden Samenerguss starren. • Hier scheitert die Vereinigung ebenso alptraumartig wie in dem ,Sich-Erlisten’ eines Orgasmus an einem schlafenden Mädchen in ,Der Zauberer’ (1939), da das Mädchen dort aufwacht und sich die nicht mehr zurückzuhaltende Ejakulation vor ihren entsetzten Augen ereignet, worauf er aus dem Zimmer stürzt und sich das Leben nimmt. So bildet ,Der Zauberer’ gleichsam eine Brücke zwischen der ,erfolgreichen’ Szene in ,Lolita’ und dem sogar nachtodlichen Alptraum im Lilith-Gedicht.
[13] Isolde Kurz: Die Kinder der Lilith. Projekt Gutenberg.
[14] Wolfgang Kemp: John Ruskin. 1818-1900. Leben und Werk. München 1983, S. 261.
[15] Curt Goetz: Tatjana. Frankfurt am Main 1982, S. 187.
[16] Dante Alighieri: Vita Nova. Das Neue Leben. München 1988 (1292/ 1293), S. 7.