Parthenophilie

Der Missbrauch an Mignon


Damit kommen wir zurück zu Mignon, gewissermaßen das literarische Ur-Bild des Mädchens. Denn obwohl es die Gestalt des begehrten Mädchens schon vorher gab, etwa Manon Lescaut (1731) oder Clarissa (1748), waren diese Mädchen sechzehn oder achtzehn, die böswillig verführte Cécile in den ,Gefährlichen Liebschaften’ immerhin fünfzehn – aber Mignon ist zwölf oder dreizehn. Und sie liebt selbst.

Und nun gibt es noch einen weiteren Begriff. Neben der ,Femme gracile’ oder der ,Kindfrau’ gibt es auch die ,Kindsbraut’ – und damit sind wir endgültig beim Mädchen angelangt, denn hier ist von ,Frau’ nichts mehr enthalten. Allerdings fällt auf, dass auch dieser Begriff das Mädchen vermeidet – immer geht es um ,Kind’ oder ,Frau’, als hätte das Mädchen (und die Liebe zum Mädchen!) keine Existenzberechtigung.

Auch zur ,Kindsbraut’ gibt es nun eine ausführliche Studie, nämlich die fünfhundertseitige Habilitationsschrift ,Mignon. Die Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit’ von Michael Wetzel.[1]

Im Vorwort heißt es:[8]

Obwohl die Kindsbraut in ihrer speziellen Kombination von kindlicher Unschuld und bräutlicher Erotik also genau genommen erst im bürgerlichen Zeitalter die Phantasie der Männer zu beschäftigen beginnt, verdichten sich in ihr Motive der antiken Mythologie und des christlichen Jungfräulichkeitskultes zum Wunschbild des noch unreifen, am Anfang der Pubertät stehenden Mädchens. Andererseits handelt es sich bei der Idolisierung dieser im Übergang zwischen Kindheit und Reife stehenden Altersgruppe jedoch [...] um ein Phantasma, das reale Entwicklungen des Übergangs vom Mädchen zur Frau ebenso verleugnet wie den darin sich ausdifferenzierenden Unterschied der Geschlechter. Den Motiven dieser Männerphantasie von der kindlich reinen, knabenhaft androgynen, ewig jung bleibenden Wunschmaid nahezukommen ist Ziel dieses Buches.

Es bleibt abzuwarten, ob Wetzel tatsächlich nur ganz junge, mignon-hafte Mädchen berührt, oder ob es nicht doch auch um das eindeutige, nicht androgyne Mädchen geht, das nur insofern ,androgyn’ ist, als seine Geschlechtlichkeit noch ganz zart ist, mädchenhaft eben, unschuldig und noch mit einer Engelssphäre verbunden. Keineswegs mehr Kind, aber auch keineswegs Frau. Mädchen... Eindeutig weiblich – und in tiefem Sinne noch viel weiblicher als die Frau...

Im Folgenden stellt Wetzel dar, dass das in der Moderne idolisierte Lebensalter immer jünger werde. Dabei sei die kindliche Frau ,als Ideal der Unschuld eine Gegenbesetzung zum bedrohlich erlebten Weiblichen’, dem die Mutter-Frau entspreche. Damit einher gehe eine Desexualisierung – man vergleiche Dantes Beatrice, Petrarcas Laura und Minnesang –, eine sublimierte Erotik, die mit einem unerreichbaren Objekt verbunden sei, letztlich mit dem von der genitalen Sexualität noch unberührten Kindchenschema.[14f]

Dass es durchaus nicht mehr um das Kind geht, erwähnt Wetzel wenig später, als auch er sagt, dass die ,Kindsbräute im strengen Sinne’ , nicht mehr Kinder und noch nicht Bräute’ seien.[15] Und man muss hinzufügen: nach gesellschaftlichen Normen. Denn das begehrte Mädchen wird sehr wohl als Braut gedacht.[2]

Die Bezeichnung ,Kindsbraut’ stammt ursprünglich von Charles Dickens, so übersetzt dann 1960 von Arno Schmidt.[3] Auch Mignon bedeutet im Französischen: süß, niedlich, liebreizend, charmant, grazil/graziös.[17][4]Das Mädchen wird laut Wetzel neben der ,Femme fatale’ und der ,Femme fragile’ zu einem dritten Subjekt: der ,Femme infantile’.[21] Auch hier wieder, nur auf französisch, der Begriff ,Kindfrau’, der das Mädchen ,auslöscht’.

Wetzel sieht die ,Kindsbraut’ also als bloßes Phantom – im Kontext von ,tanzenden Puppen, Mysterien des Hymens, davonfliegenden Schmetterlingen, Entrückungen in Wunderländer, Visionen von verführenden Nymphen, [...] konstruierte[n] Feenwelten’ – und er will ,die Bauteile’ dieser Einbildungen zeigen und ,ent-täuschen’. Oder, so Wetzel weiter, mit den ,Worten eines Mannes der Aufklärung gesprochen’ – und dann zitiert er ausgerechnet Joachim Heinrich Campe, den großen Kämpfer gegen die Onanie und gegen alles, was ,wollüstigen Vorstellungen’ auch nur nahe kommt.[22] ►3

Diese Allianz ist bezeichnend. Campe als entschiedener Verfolger kindlicher Geheimnisse, der Kinder am liebsten nicht nur jeden Moment überwachen würde, sondern auch ihre Gedanken kontrollieren. Es ist klar, dass bei diesem ,Aufklärer’ schon jede Romantik ganz undenkbar ist. Pflicht, Sittlichkeit und körperliche Ertüchtigung. Denken wir daran, dass zu dieser Zeit die körperlicher Liebe meist über die ,eheliche Pflicht’ nicht hinauskam, dass sie geradezu zwanghaft vollzogen wurde, ohne irgendetwas daran zu empfinden – gar etwas wie Zärtlichkeit! Campe ging es durchaus nicht um ,Phantome’, sondern um wirkliche Mädchen, an die man nicht einmal denken durfte:[5]

Zu diesen verderblichen und auf alle Weise zu vermeidenden Spielen der Phantasie gehört überhaupt jede Erinnerung an körperliche Schönheiten und Reize eines Mädchens [...].

Die Fantasie ist aber die Schwester des Idealismus und der romantischen Verehrung. All dies existiert für den ,Aufklärer’ nicht. Er möchte nur die äußerlichen Fakten – damit es nur ja nicht zu einer Regung des Gemüts komme, etwa gar einer erotischen Empfindung. Dies aber sind keine Phantasmen, sie sind das Lebenselement der Seele, die sehr genau weiß, dass ein Mädchen mehr ist als ein Fleischbrocken.

Im Zeitalter Campes sind die Dinge klar: So etwas wie ,Liebe’ ist allenfalls christlich-menschheitlich. In der Ehe dient die körperliche Annäherung nur der Fortpflanzung. Auch wird darüber möglichst nicht gesprochen. Die kirchliche Botschaft von der Sündhaftigkeit alles Leiblichen und der Kantsche Pflichtbegriff gehen eine unheilige Allianz ein, die den Menschen von seiner ganzen Seele abtrennt und nur den Rationalismus und im übrigen das Schuldbewusstsein übrig lässt. Fantasie, Romantik, Zärtlichkeit – das alles hat darin keinen Platz. Es ist entweder Illusion, Lebensuntauglichkeit oder aber schon der direkte Weg in die Sünde.

Das erstere Verdikt kehrt in moderner Variante wieder, wenn Wetzel im Sinne einer ,Regressionsthese’ schreibt:[35]

Nympholeptiker[6] sind in diesem Sinne Männer, die nicht erwachsen werden wollen bzw. die libidinös auf einer früheren Stufe fixiert bleiben, die im Umgang mit den kleinen Mädchen wieder zu kleinen Jungen werden bzw. durch eine narzißtische Identifizierung so jung sein wollen, wie ihre Liebesobjekte.

Dies verkennt das Wesen der Parthenophilie völlig. Wer ein Mädchen um seiner unbeschreiblichen Jugend und Unschuld willen liebt, will keineswegs so jung sein wie sie – und es geht auch in keiner Weise um einen Narzissmus, sondern die Liebe zum Mädchen ist etwas Originäres.[7]

Nach Wetzel diene dieses Liebesobjekt als ,Spiegelstadium’, ,Wiedergabe eines Idealbildes, das die Reife der Vollkommenheit nicht darstellt, sondern nur antizipiert’.[35][8]Was aber ist dann die ,Reife der Vollkommenheit’? Etwa der Erwachsene, die gereifte Frau?
Um die Parthenophilie zu verstehen, muss man den Gedanken fassen können, dass ein früheres Stadium vollkommener sein kann als ein späteres. Ein Mädchen kann ein Engel sein, eine Frau nicht mehr. Das Mädchen ist umschwebt von einer Sphäre der Vollkommenheit, die später nicht gesteigert werden kann, sondern verlorengeht.
Gerade dies hat der Deutsche Idealismus so überklar und stark empfunden: dass das gewöhnliche Erwachsenwerden den Menschen vom wahren Menschentum entfernt – und dass es darum geht, eine ganz andere innere Entwicklung zu suchen, wenn man das wahre Mysterium des Menschentums finden will. Etwas, was das Mädchen einem vorlebt...

Wenn man diesen Gedanken nicht erfassen kann, dann wird man in der ,Kindsbraut’ oder im Mädchen immer nur die noch unentwickelte ,Projektionsfläche’ sehen, in die der ,Narzissmus’ alles hineinprojizieren kann. Aber darum geht es überhaupt nicht. Es geht um das, was im Mädchen real anwesend ist. Also um das genaue Gegenteil dieser in die Irre führenden Theorien.

Parthenophilie bedeutet eigentlich immer ein Sich-Verlieben in die Unschuld eines Mädchens – was seiner erotischen Schönheit gar nicht widerspricht. Weil aber das Mädchen unschuldig ist, liebt man es auch unschuldig, die Unschuld des Mädchens berührt einen und geht auf einen über. Dabei muss der betreffende Mensch gar nicht wissen, was er eigentlich liebt, er tut es aber bereits. Und so zitiert Wetzel auch Musils ,Mann ohne Eigenschaften’:[9]

Es ist auf der Straßenbahn geschehen. Da stieg ein junges Mädchen zu mir ein, vielleicht zwölf Jahre alt [...] Sie war wunderschön; braun, volle Lippen, starke Augenbrauen, eine etwas aufgebogene Nase [...] Man kann sich leidenschaftlich in eine solche Erscheinung verlieben, tödlich und eigentlich ohne Begehren.

Bei diesem heiligen Sich-Verlieben in eine solche Erscheinung könnte man statt ,tödlich’ besser ,unsterblich’ sagen. Dies ist innerlich viel wahrer...

In Bezug auf die Schönheit des Unschuldigen zitiert Wetzel einen Gynäkologen, der den Unterschied der noch mädchenhaften Vulva beschreibt. Beim Mädchen fehle noch alles Runzlige, Faltige:[10]

Auch fehlen dann noch die aus der Nähe eher unschön wirkenden Terminalhaare. So ist es nicht einmal allzu verwunderlich, wenn gerade etwas triebschwache, kultivierte, kunstliebende, ältere Männer es sind, die unreifen Mädchen [...] erotisch verfallen können.

Als ob es nur um die Vulva ginge! Auch ihre Erscheinung ist nur Ausdruck des insgesamt Unschuldigen. Und auch hier muss man statt, ,triebschwach’ etwas anderes setzen: nicht mehr von Hormonen dominiert, nicht triebgesteuert, nicht bloß auf Sex aus. Berührt von der Unschuld, auch von unschuldiger Erotik...

Wetzel macht darauf aufmerksam, dass das Kind nach Freud vor der Geschlechtsreife in der Sexualität nur die Vorlust kennt, noch nicht die ,Endlust’, die ,Triebabfuhr’ im Orgasmus.[11] Wetzel selbst stellt hier einen Bezug zwischen Vorlust und Fantasie her – dann entspräche der Endlust die aufgeklärte Nüchternheit –, und zitiert darauf Balint und seine Unterscheidung zwischen Eros und Aphrodite. Aphrodite gehöre wahrscheinlich zur Gruppe Istar-Astarte-Isis, ist also ursprünglich eine Muttergöttin. Sie entfacht stets Liebe und geht auch selbst in der Liebe auf. Eros dagegen, ihr ständiger Begleiter:[12]

[...] spielt nur, doch spielend löst er die schwersten Aufgaben. Ein Kind, das aber mächtiger ist als die großen Götter: [...] er ist als allererster Gott direkt aus dem Chaos entstanden, und ihm zu Ehren hat Platon seinen schönsten Dialog geschrieben.

Aphrodite steht für die bis in die Sexualität führende Liebe, Eros für das Mysterium der Erotik, für das heilige Geheimnis der Anziehung, der Fantasie, des Begehrens, der Vorstellung. Das Mysterium der Anziehung aber ist viel umfassender als die Vereinigung, denn es kann alles umfassen: fernste, keusche Anbetung bis leidenschaftliches Begehren. Ein junges Mädchen gehört noch nicht dem Reich der Aphrodite an – aber es kann schon eine ungeheure Anziehung besitzen. Eros ist der Begleiter der Mädchen, weil das Mädchen die unerreichbare Schönheit der aufblühenden Unschuld, des unschuldigen Aufblühens besitzt... Letztlich ist gerade dies pure (unschuldige) Erotik, weil es pure Anziehung ist.

Aphrodite möchte die Liebenden vereinigen – die Erotik spielt mit dem Mysterium der Anziehung, der tiefen, erotischen Berührung durch reine Schönheit... Und die Seele reagiert zum Beispiel mit einer Mischung aus Bewunderung und Begehren, Anbetung und Besitzwunsch, aber auch sie unschuldig unentschieden, in einer Art heiligen Schwebe, vielleicht fast so zart wie das Mädchen selbst. Und wenn sie innerlich weit entwickelt ist, kann sie das ,Besitzenwollen’ immer weiter in den Hintergrund drängen und immer tiefer von der Schönheit selbst sich berühren lassen. Diese kann dann noch immer erotisch sein – oder ganz und gar unschuldig. In jedem Fall bleibt eine Zartheit, ein Wunder, ein Mysterium, das eine Frau so nie besitzt, das nur das Mädchen besitzt.[13] Und dieses Heilige ist gerade so unaussprechlich anziehend. Und deswegen bleibt es ,Erotik’, nur nicht mehr im üblichen Sinne. Zarte, aber tiefe Anziehung, die eine sehr reine Liebe erwecken kann.

So schreibt auch Paul Klee (1879-1940), dieser spätere Ausnahme-Maler, der die Farben von der figürlichen Darstellung im bekannten Sinne befreien wird, 1901 als junger Mann:[14]

Die Ungewissheit mit Lily[15] peinigte mich immer mehr. Ich philosophiere mich krampfhaft los vom Weib; kam aber nicht los vom tiefsinnigen Anblick junger Mädchen. Im Tristan waren während des II. Aktes meine Nerven wahrhaft aufgepeitscht. Ich guckte so ein Geschöpf, das sich in meiner Nähe befand, unverwandt an und beschrieb seine Erscheinung hernach im Tagebuch bis ins kleinste. Nach ein paar Tagen traf ich dies Geschöpf bei den Propyläen[16] und versenkte, ihr folgend, mich abermals mit ganzem Willen in ihr Wesen hinein.

Die Liebe Aphrodites entspricht der Leidenschaft, die zarte Erotik der Anziehung aber der Zärtlichkeit. Diesen Unterschied zwischen Leidenschaft und Zärtlichkeit hatte vier Jahre zuvor bereits Balints Lehrer, der Psychoanalytiker Sandor Ferenczi (1873-1933), am Ende seines Lebens thematisiert – und als Konfliktpunkt zwischen Kind und Erwachsenem deutlich gemacht.[17]

So kann sich ein kleines Mädchen in der Fantasie zum Beispiel sogar als Braut des Vaters imaginieren (die von Freud beschriebene Ödipus-Situation) – es würde jedoch geschockt werden, wenn der Vater dieses mit seinem Verständnis von Zärtlichkeit und Erotik zu ernst nähme und nach Erwachsenenart darauf reagieren würde:[18]

So spielen denn die Kinder auch, fast ausnahmslos, mit der Idee, die Stelle des gleichgeschlechtlichen Elternteiles einzunehmen, um das Ehegemahl des gegengeschlechtlichen zu werden. Doch wohlgemerkt, bloß in der Phantasie; in der Realität möchten sie, ja können sie die Zärtlichkeit, insbesondere der Mutter, nicht missen. Wird Kindern in der Zärtlichkeitsphase mehr Liebe aufgezwungen oder Liebe andere [sic!] Art, als sie sich wünschen, so mag das ebenso pathogene Folgen nach sich ziehen wie die bisher fast immer[19] herangezogene Liebesversagung. Es würde zu weit führen, hier auf all die Neurosen und alle charakterologischen Folgen hinzuweisen, die die vorzeitige Aufpfropfung leidenschaftlicher und mit Schuldgefühlen gespickter Arten des Liebens auf ein noch unreifes, schuldloses Wesen nach sich zieht. Die Folge kann nur jene Sprachverwirrung sein, auf die ich im Titel dieses Vortrages anspiele.

Die Zärtlichkeit dagegen kann sehr wohl erotische Färbung annehmen – es richtet sich dann ganz nach dem Kind, wie weit dies gehen kann:[20]

Ein Erwachsener und ein Kind lieben sich; das Kind hat die spielerische Phantasie, mit dem Erwachsenen die Mutterrolle zu spielen. Dieses Spiel mag auch erotische Formen annehmen, bleibt aber nach wie vor auf dem Zärtlichkeitsniveau.

Uns geht es jedoch um das Phänomen der Parthenophilie – um die Liebe zu Mädchen, die keine Kinder mehr sind.

Das heißt noch nicht, dass sie innerlich schon zu sexuellen Handlungen bereit sind, aber mit der Geschlechtsreife beginnt die Möglichkeit dazu. Es sei darauf hingewiesen, dass auch diese Sphäre nicht von Leidenschaft durchdrungen sein muss, sondern ebenfalls ganz von Zärtlichkeit eingehüllt sein kann. Es gibt zutiefst zärtliche körperliche Liebe, heute oft diffamiert als ,Blümchensex – aber gerade dies ist jene Form zärtlicher Vereinigung, die dem Mädchen, wenn es selbst auch dafür bereit ist, entspricht.[21] Die meisten Menschen kennen diese Erfahrung nicht, weil sie die Zärtlichkeit nicht wirklich kennen.[22] Es ist eine Erfahrung, die ihresgleichen auf Erden nicht hat – wie auch das Mädchen nicht seinesgleichen auf Erden hat.

Als einen für die Jahrhundertwende um 1900 ,herausragendsten Repräsentanten’ des Paradigmas der Zärtlichkeit nennt Wetzel übrigens – mit vollem Recht, wie wir bereits sahen – Peter Altenberg.[63] Zärtlichkeit im wahrsten Sinne bedeutet und ist gerade Empfindsamkeit für das Bedürfnis des geliebten Anderen. Zärtlichkeit gegenüber dem Mädchen ist ein Sich-Einlassen auf das Mädchen, ein Sich-Hingeben an das Mädchen – und nicht das Betreiben eigener Befriedigung. Wir haben hier wirklich Gegenpole vor uns. Die Zärtlichkeit hat ihre Befriedigung gerade in der Hingabe, die wiederum nichts anderes als Liebe ist. Das gerade ist auch das Geheimnis der Romantik: das selbstlose, das ganz am Anderen sich orientierende Wesen der Zärtlichkeit.

Zärtlichkeit ist Liebe – und damit der Gegenpol des Egoismus, auch des Narzissmus. Die Projektion des narzisstischen Selbstbezuges besteht zum Beispiel darin, dass man im Mädchen ein Sexualobjekt sieht, das eigene Begehren in das Mädchen hineinprojiziert – und nach einer wie auch immer gearteten ,Vergewaltigung’ sagt: Sie hat es selbst gewollt. Hierbei denkt die Seele in keinem Moment an das Mädchen, sondern in jedem Moment nur an die eigene Trieberfüllung und dann an die eigene Selbst-Entschuldung. Die Schuld wird ganz auf das Mädchen projiziert – wie zuvor das eigene Begehren.

Und doch ist der Fall denkbar, dass auch das Mädchen sich nach zärtlichen Wegen der Vereinigung sehnt ... und was hier dann wahr, schön und gut ist, kann nur das Mädchen selbst entscheiden und empfinden...

                                                                                                                                       *

Damit kommen wir wieder zu Mignon, der sich auch Wetzel nun zuwendet.

Mignon, so Wetzel, stehe zwar in der Tradition von Beatrice, Laura und dann ,so vieler Mädchenfiguren des 16., 17. und frühen 18. Jahrhunderts’ – auch sie alle schon ,jungfräulich, mädchenhaft’ als ,Steigerung der weiblichen Reize in ihrer frühlingshaften Frische’. Doch Mignon wird zum Archetypus, denn sie:[72]

[...] verdichtet alle Merkmale adoleszenter Jugend im Zeichen einer androgynen Verweigerung gegenüber weiblicher Reife, d. h. [...] an der Schwelle zwischen Kind und Frau [...].

Dies ist gleichsam ein Festhalten eines Stadiums, das eigentlich nur kurze Zeit dauert. Goethe selbst schreibt:[72][23]

Der Augenblick der Pubertät ist [...] der Augenblick, in welchem die Gestalt der höchsten Schönheit fähig ist; aber man darf wohl sagen: es ist nur ein Augenblick! Die Begattung und Fortpflanzung kostet dem Schmetterling das Leben, dem Menschen die Schönheit, und hier liegt einer der größten Vorteile der Kunst, daß sie dasjenige dichterisch bilden darf, was der Natur unmöglich ist, wirklich aufzustellen. [...] ja es ist ihre Pflicht.

Festzuhalten ist, dass auch Wetzel hier deutlich ausspricht, dass die scheinbare Zurücknahme der Reize in das noch Knospenhafte, nicht voll Ausgewachsene, gerade eine reale Steigerung bedeutet. Das buchstäblich Erwachsene, das Pralle, das Reife ist eben bereits wieder eine Abnahme der Schönheit. Der Trieb stürzt sich gewissermaßen auf die volle, die große Brust, auf die sexuell erfahrene Frau, in das voll ausgebildete, sexuelle Leben. Schön ist dies nicht. Es ist triebgesteuert. Das zarte Heiligtum der Schönheit wird aber von der Gestalt des Mädchens gehütet. Hier lebt der Schmetterling in seinem leuchtenden Wesen – und nicht bereits mehrere Wochen alt, mit schon abfärbenden Flügeln.

Die Parthenophilie liebt die Unschuld, das Junge, in seiner unaussprechlichen Heiligkeit – und ätherischen Schönheit.

Mignon nun mag ein Archetypus sein, aber sicher nicht der Einzige. Wenn das Mädchenhafte im Androgynen wiederum verschwindet, dann ist dasjenige, um das es der Mädchenliebe geht, noch gar nicht in Erscheinung getreten. Im Grunde steht Mignon an der Grenze zur Pädophilie – die Parthenophilie wird gerade erst berührt. Die zarten Rundungen der Mädchengestalt gehören zu der Liebe zum Mädchen unbedingt dazu – auch ihre zart gewölbte Brust. Auch hier ist das Mädchen vom ,androgynen Archetypus’ ebensoweit entfernt wie von der reifen Frau.

Das Geheimnis der Brust des Mädchens kann gar nicht tief genug erlebt werden. Es hat damit zu tun, dass das Mädchen sogar mehr als ein Engel ist. In meinem Roman ,Wintermädchen’ erlebt es die männliche Hauptperson in der folgenden Weise:[24]

Und dann [...] war eines Abends diese ganze Frage mit einem anderen Bild zusammengeflossen – mit jenem einen Tag im Herbst, als sie ihm die Liebe zu den Tieren offenbarte. Als sie ihm für einen kurzen Moment wie ein Engel erschien, ein leuchtender, liebender Engel, der seine schützende Hand über das leidende Tier breitete. [...] Da hatte sich ihm etwas von diesem Geheimnis erschlossen. Ihre zarte Gestalt war eins mit dem, was er da gesehen hatte. Ihre ganze Gestalt war so sanft wie sie. Und ihre zarte Rundung, das, was gerade ein Mädchen ausmachte, das war wie das geheime Zentrum dieser Sanftheit – die zugleich dieses Engel-Wesen war. Sie war gleichsam sogar mehr Engel als ein bloßer Engel. Ein bloßer Engel, eine flachbrüstige, geschlechtslose Gestalt, hätte ihn nie berühren können, hätte ihm nie die Liebe zu den Tieren beibringen können. Sie hatte es getan. Ihr ganzes Wesen hatte sein Herz nach all diesen Jahren mühelos durchschlagen – und getroffen und durchbohrt floss aus ihm das Mitleid wie Blut, jenes Mitleid, das sie in jedem Augenblick hatte. Kein Engel hätte das vermocht – aber sie hatte es geschafft, sie in ihrer grenzenlosen Verletzlichkeit, Sanftheit, Zartheit, Unschuld, unschuldigen Liebe. Und ihre Gestalt war eins damit. Ihre unschuldige Rundung war das Zentrum all dessen. Ein Mädchen war mehr als ein Engel. Bei niemandem zog ihn die Brust besonders an, bei keiner Frau, keinem Mädchen. Sie war allgemein anziehend, mehr oder weniger, aber das war es dann auch. Es interessierte ihn nicht, hatte ihn schon seit Jahrzehnten nicht mehr wirklich interessiert. Aber bei Lilian war diese Sanftheit gleichsam eins mit ihrer Unschuld überhaupt. Es gab überhaupt keinen Unterschied. Nicht den geringsten. Ihre Unschuld saß gleichsam genau hier. Und dann – dann wurde ihm erschütternd klar, dass direkt darunter das Herz lag...

                                                                                                                                       *

Noch über zweihundert Jahre nach Erscheinen des ,Wilhelm Meister’ wird um Mignon gekämpft – und scheiden sich an ihr die Geister:[25]

Forscher und Belletristen scheinen zwei feindlichen Lagern anzugehören: entweder werde mit Novalis für Mignon, den Harfner und das Poetische, aber gegen Natalie und die als ökonomisch-rational-machthungrig verstandene Turmgesellschaft zu Felde gezogen, oder, im Gefolge Schillers, Körners und Morgensterns[26] erkenne man den Turm als eine positive Bildungsmacht an, in dessen Bereich allerdings die beiden Sängergestalten als „pathologisch“ erscheinen und zugrundegehen müssen.

Da Mignon und der Harfner tatsächlich zugrundegehen, ist auch Goethes Position deutlich – und erweist sich Novalis als einsamer Kämpfer für die Poesie, einsam wie Mignon...

Schiller hatte zwar, wie wir bereits sahen, geschrieben, ,Mignons Tod, so vorbereitet er ist, wirkt sehr gewaltig und tief, ja so tief, daß es manchem vorkommen wird, Sie verlassen denselben zu schnell.’[27] Aber auch für ihn ist klar, dass als Bestimmung für Wilhelm nur Natalie in Frage kommen kann, denn unmittelbar vorher schreibt er:

Eins, was ich in der Verknüpfung der Begebenheiten auch besonders bewundre, ist der große Vortheil, den Sie von jenem falschen Verhältniß Wilhelms zu Theresen zu ziehen gewußt haben, um das wahre und gewünschte Ziel, Nataliens und Wilhelms Verbindung, zu beschleunigen. Auf keinem andern Weg hätte dieses so schön und natürlich geschehen können, als gerade auf dem eingeschlagenen, der davon zu entfernen drohte. Jetzt kann es mit höchster Unschuld und Reinheit ausgesprochen werden, daß Wilhelm und Natalie für einander gehören,

Einen Tag später nennt Schiller Natalie ,heilig und menschlich zugleich’, eine ,rein ästhetische Natur’ und:[28]

Wie schön daß sie die Liebe, als einen Affect, als etwas ausschließendes und besonderes gar nicht kennt, weil die Liebe ihre Natur, ihr permanenter Charakter ist.

Der Gegensatz dazu ist dann natürlich Mignon, die sich mit einer verzehrenden Bedingungslosigkeit ihrem einstigen Retter Wilhelm zuwendet. Und auch von daher muss sie Goethe als ein ,wahnsinniges Mißverhältnis’ erscheinen.
Aber selbst Philine, die Vertreterin der sinnlich-verführerischen Liebe, darf auf Wilhelms Entwicklungsweg eine Rolle spielen[29] – während die Liebe des Mädchens Mignon in Goethes Weltbild kein Existenzrecht hat. Goethe unterschied sich darin nicht von seiner Zeit – und auch nicht von unserer. Die Liebe des Mädchens ist zum Scheitern verurteilt...

An einer Stelle der ,Lehrjahre’ sagt ein Arzt, der Medikus:[V,16][30]

Für den Menschen [...] sei nur das eine ein Unglück, wenn sich irgendeine Idee bei ihm festsetze, die keinen Einfluß ins tätige Leben habe oder ihn wohl gar vom tätigen Leben abziehe.

Was aber könnte mehr vom ,tätigen Leben’ abziehen als eine unglückliche Liebe!? Selbstverständlich ist diese ein Unglück – aber noch unglücklicher und tragischer wird es für die betroffene Seele, wenn ihr Unglück auch noch pathologisiert wird. Liebe kann man nicht heilen. Man kann nur Schwärmerei heilen und durch ein ,tätiges Leben’ vergessen machen. Wo es jedoch um aufrichtige Liebe geht, kann nur eine Abtötung des Herzens das Unglück lindern. Von ,Heilung’ kann man hier nur sprechen, wenn man zuvor die Liebe als pathologisch ansieht.

Goethes Zeitgenosse Hufeland, königlicher Leibarzt und unter anderem Begründer der Makrobiotik, schrieb in einer Fußnote zu einem entsprechenden Essay Kants:[31]

Das größte Mittel gegen Hypochondrie und alle eingebildeten Uebel ist in der That das Objectiviren seiner selbst, sowie die Hauptursache der Hypochondrie und ihr eigentliches Wesen nichts anders ist, als das Subjectiviren aller Dinge [...]. Ich habe daher immer gefunden, daß, je praktisch thätiger das Leben eines Menschen ist, das heißt, je mehr es ihn immer nach außen zieht, desto sicherer ist er vor Hypochondrie.

Dies hätte Goethe mit Sicherheit unterschrieben, sagt doch der Medikus nichts anderes. Die affektive Liebe – der Gegenpol zu Natalie – ist nun aber das Subjektivste überhaupt. Damit ist die Frage, wie sehr ihre ,Gegner’ sie zugleich in die Nähe der Hypochondrie rücken. Es ist sehr leicht, eine solche Liebe als Schwärmerei und damit als Einbildung, als Verrücktheit und was auch immer zu betiteln – und nicht zu sehen, dass auch die Seele selbst etwas Objektives ist! Und damit auch ihre Liebe.

Jemand wie Goethe oder die ,Turmgesellschaft’ kann eine unglückliche Liebe deshalb in gewisser Weise als ,pathologisch’ ansehen, weil der Mensch dazu bestimmt sei, seine Empfindungen unter Kontrolle zu haben, allseitig auszubilden und in den Dienst der Welt zu stellen. Aber wehe dem, der dies nicht tut! Er verfehlt dann den Sinn des Menschseins. Man muss ihm helfen, ihn von seiner Krankheit, seiner Einseitigkeit, seinem ,Wahnsinn des Mißverhältnisses’ heilen. In dieser Hinsicht deutet eine unglückliche Liebe immer darauf hin, dass es vom ,Schicksal’ oder aus welchen Gründen auch immer nicht gewollt, nicht möglich, nicht vorgesehen sei – und dass die Seele besser daran täte, nicht einseitig und egoistisch, subjektiv, illusionär, hypochondrisch und so weiter daran festzuhalten.

Solche rationalen, ,vernünftigen’ Gründe hat die Liebe aber nicht – sie ist, was sie ist. Und es könnte sein, dass sie in ihrer Aufrichtigkeit vor Gott gerechtfertigter ist als vor den von der Vernunft regierten Geistern der ,Turmgesellschaft’, wenn man an das Christuswort denkt: ,Ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebt’ (Lk 7,47). Mignon hat etwas, was die Männer der ,Turmgesellschaft’ nicht mehr haben: bedingungslose, aufrichtige Liebe eines Mädchens.

Man denke etwa an Jarnos verständnislose Bemerkung gegenüber Wilhelm:[III,11]

Ich versichre Sie, es ist mir bisher unbegreiflich gewesen, wie Sie sich mit solchem Volke haben gemein machen können. Ich hab es oft mit Ekel und Verdruß gesehen, wie Sie, um nur einigermaßen leben zu können, Ihr Herz an einen herumziehenden Bänkelsänger und an ein albernes, zwitterhaftes Geschöpf hängen mußten.

Wieviel hat das treue, liebende Herz einer Mignon einem solchen Geist voraus!

Mit dem gleichen Grund, mit dem eine unglückliche Liebe ,fallenzulassen’ sei, könnte man auch argumentieren, dass Trauer gegenüber dem Tod eines Geliebten ganz unvernünftig sei – subjektiv, illusionär, hypochondrisch. Oder warum soll Trauer auf einmal gestattet sein, unglückliche Liebe zu einem Lebenden jedoch nicht? Weil der Tod etwas Objektives ist, dem man begegnen muss, während man eine ,illusionäre’ Liebe jederzeit ,abstellen’ könnte? Oder weil auch die Trauer nach einer ,vernünftigen Zeit’ einmal ein Ende hat oder ,haben muss’?

Wer bestimmt, was pathologisch ist und was nicht? Ist eine unglückliche Liebe ,pathologisch’, weil sie ,egoistisch’ ist und sich aus dem Weltzusammenhang herauszieht, untätig wird und ,hypochondrisch’ nur noch leidet, vielleicht auch selbst völlig zugrundegeht – wie Mignon? Die unvernünftige Liebe eines Kindes, das noch nichts von männlich-erwachsener Entwicklung weiß? Das sich vor Wilhelm geradezu demütigt, um von ihm geliebt zu werden?

In jener Stunde traten die Jünger zu Jesus und sprachen: Wer ist denn der Größte im Reich der Himmel? Und als Jesus ein Kind herbeigerufen hatte, stellte er es in ihre Mitte und sprach: Wahrlich, ich sage euch, wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr keinesfalls in das Reich der Himmel hineinkommen. Darum, wenn jemand sich selbst erniedrigen wird wie dieses Kind, der ist der Größte im Reich der Himmel.[32]

Der ,Wahnsinn des Mißverhältnisses’ liegt gerade nicht in dem Mädchen Mignon, sondern zwischen ihr und der sie umgebenden Welt. Mignon wird nicht verstanden – weil die übrige Welt das Herz, das sie hat, nicht hat, sondern vermissen lässt. Darin liegt das Miss-verhältnis... Sie kann sich der Welt nicht anpassen – aber die übrige Welt könnte dasjenige aufnehmen, was sie in ihrem Herzen trägt. Tut sie es nicht, muss Mignon sterben...

Betrachten wir Goethes Verurteilung des ,Einseitigen’ auch noch einmal im Zusammenhang mit Mignons berühmtem ,Italienlied’:[III,1]

Melodie und Ausdruck gefielen unserm Freunde besonders, ob er gleich die Worte nicht alle verstehen konnte. Er ließ sich die Strophen wiederholen und erklären, schrieb sie auf und übersetzte sie ins Deutsche. Aber die Originalität der Wendungen konnte er nur von ferne nachahmen. Die kindliche Unschuld des Ausdrucks verschwand, indem die gebrochene Sprache übereinstimmend und das Unzusammenhängende verbunden ward. Auch konnte der Reiz der Melodie mit nichts verglichen werden. Sie fing jeden Vers feierlich und prächtig an, als ob sie auf etwas Sonderbares aufmerksam machen, als ob sie etwas Wichtiges vortragen wollte. Bei der dritten Zeile ward der Gesang dumpfer und düsterer; das „Kennst du es wohl?“ drückte sie geheimnisvoll und bedächtig aus; in dem „Dahin! Dahin!“ lag eine unwiderstehliche Sehnsucht, und ihr „Laß uns ziehn!“ wußte sie bei jeder Wiederholung dergestalt zu modifizieren, daß es bald bittend und dringend, bald treibend und vielversprechend war.

Goethe stellt das ,Übereinstimmende’, den ,Zusammenhang’ und die ,Verbindung’ seinem ganzen Charakter nach über das ,Unzusammenhängende’. Mignons ,gebrochene Sprache’ ist nicht ,harmonisch’. Und doch – jede einzelne Wendung hat eine Originalität, eine Unschuld, und ihre Melodie einen unvergleichlichen Reiz. Diese seelische Tiefe kann der Verstand nicht erfassen – und Wilhelm steht am Ende nur vor einem abstrakten Scherbenhaufen. Mignon und ihren zutiefst unschuldigen Reiz hat er nicht verstanden – ebensowenig wie ihre unschuldige Sehnsucht, die immer mehr Liebe wird.

Was sie singt und ausspricht, darin liegt ihre ganze Seele – feierlich, prächtig, aufmerksam machend, geheimnisvoll, düsterer... Mit ganzer Seele versucht sie, sich verständlich zu machen – aber sie trifft vor allem auf Wilhelms Kopf, und dieser versteht nichts.

Als Mignon vor Kummer gestorben ist, unmittelbar vor ihrer Totenfeier, gibt es eine Stelle, wo der Abbé zu Jarno von der Ausbildung seelisch-geistiger Sinnesorgane spricht:[VIII,7]

[D]er Liebhaber sucht nur einen allgemeinen, unbestimmten Genuß; das Kunstwerk soll ihm ungefähr wie ein Naturwerk behagen, und die Menschen glauben, die Organe, ein Kunstwerk zu genießen, bildeten sich ebenso von selbst aus wie die Zunge und der Gaum, man urteile über ein Kunstwerk wie über eine Speise. Sie begreifen nicht, was für einer andern Kultur es bedarf, um sich zum wahren Kunstgenusse zu erheben. Das Schwerste finde ich die Art von Absonderung, die der Mensch in sich selbst bewirken muß, wenn er sich überhaupt bilden will; deswegen finden wir so viel einseitige Kulturen, wovon doch jede sich anmaßt, über das Ganze abzusprechen. [...] Ich sage nur soviel: sobald der Mensch an mannigfaltige Tätigkeit oder mannigfaltigen Genuß Anspruch macht, so muß er auch fähig sein, mannigfaltige Organe an sich gleichsam unabhängig voneinander auszubilden. Wer alles und jedes in seiner ganzen Menschheit tun oder genießen will, wer alles außer sich zu einer solchen Art von Genuß verknüpfen will, der wird seine Zeit nur mit einem ewig unbefriedigten Streben hinbringen. Wie schwer ist es, was so natürlich scheint, eine gute Statue, ein treffliches Gemälde an und für sich zu beschauen, den Gesang um des Gesangs willen zu vernehmen, den Schauspieler im Schauspieler zu bewundern, sich eines Gebäudes um seiner eigenen Harmonie und seiner Dauer willen zu erfreuen. Nun sieht man aber meist die Menschen entschiedene Werke der Kunst geradezu behandeln, als wenn es ein weicher Ton wäre. Nach ihren Neigungen, Meinungen und Grillen soll sich der gebildete Marmor sogleich wieder ummodeln, das festgemauerte Gebäude sich ausdehnen oder zusammenziehen, ein Gemälde soll lehren, ein Schauspiel bessern, und alles soll alles werden. Eigentlich aber, weil die meisten Menschen selbst formlos sind, weil sie sich und ihrem Wesen selbst keine Gestalt geben können, so arbeiten sie, den Gegenständen ihre Gestalt zu nehmen, damit ja alles loser und lockrer Stoff werde, wozu sie auch gehören. Alles reduzieren sie zuletzt auf den sogenannten Effekt, alles ist relativ, und so wird auch alles relativ, außer dem Unsinn und der Abgeschmacktheit, die denn auch ganz absolut regiert.

In gewisser Weise muss man diese Gedanken jedoch auch Goethe und den Vertretern der ,Turmgesellschaft’ selbst zum Vorwurf machen. Denn Goethe war es ja, der Mignon ein ,wahnsinniges Mißverhältnis’ nannte und vorwarf. Er urteilt also letztlich in und aus seiner ,ganzen Menschheit’, die er in apollinischem Sinne harmonisiert hat, und fordert im Grunde, Mignon möge sich ,sogleich ummodeln’, um den Anschauungen der ,Turmgesellschaft’ und damit seinen eigenen zu entsprechen – während er nicht das Organ in sich sprechen lässt, das Mignon in dem bewundern könnte, wie sie ist. Erst ein solches empfindendes Anschauen könnte ihr Wesen in seinem Wert erfassen – und einen all das erleben lassen, was sie den sie umgebenden Menschen voraus hat.

Und was hat sie, was alle anderen nicht haben? Es ist eben gerade dieses Bedingungslose, dieses in allem schmerzlichen Schweigen absolut Aufrichtige. Es ist eine bedingungslose Liebe und Zuneigung, die noch nicht gemäßigt ist von einem allzu apollinischen Geist und seiner unerbittlichen Forderung nach ,Mäßigung’ und ,Harmonie’. Mignon ist eben mit ganzer Seele Mädchen, liebendes Mädchen, unglücklich liebendes Mädchen, das in seiner Liebe überhaupt nicht verstanden wird. Und selbst wenn diese Liebe verstanden würde, würde sie zurückgewiesen werden, als pathologisch, als nicht gesellschaftskonform...
Mignon ist der Gegensatz der männlich geprägten Turmgesellschaft – und auch der Gegensatz zu Goethe selbst. Mignon ist unschuldigste Sehnsucht und Leidenschaft. Sie ist Mädchen... Und durch ihre unglückliche Liebe, die sich zu früh auf das falsche Ziel richtet, ist sie zur Einsamkeit verurteilt – und weil sie bedingungslos liebt, zum Tode.

Die Fortsetzung ,Wilhelm Meisters Wanderjahre’ trägt den zweiten Titel ,Die Entsagenden’. Dies ist bei Goethe quasi Programm: Die sich entwickelnde Seele hat ihren Leidenschaften zu entsagen, um das ,harmonisch-apollinische’ Ideal der Turmgesellschaft zu erreichen, die sämtliche Kräfte des Menschenwesens in den selbstlosen Dienst an der Welt stellt. – Doch wie vereinbart sich dies mit Goethes eigenen vielen Liebschaften? Mit der Tatsache, dass er sich noch in hohem Alter, mit über siebzig, in die siebzehnjährige Ulrike von Levetzow verliebt und ihr seine berühmte ,Marienbader Elegie’ widmet?►5 Darf Goethe, was Mignon nicht darf?

Am Ende der ,Wanderjahre’ heißt es:[33]

Künste und Wissenschaften erreicht man durch Denken, Poesie nicht, denn diese ist Eingebung; sie war in der Seele empfangen, als sie sich zuerst regte. Man sollte sie weder Kunst noch Wissenschaft nennen, sondern Genius.

Das Gleiche gilt für die Liebe. Mignon hat sich mit ganzer Seele dafür entschieden, Wilhelm zu lieben. Mit Denken lässt sich hier nichts erreichen. Die Liebe ist ein Genius – und sie hat Mignons Herz unwiderruflich mit Wilhelm verbunden.[34] Ihre Tragik ist, dass weder Wilhelm noch sonst irgendjemand dies ernstnehmen kann.[35]

Immerhin kommt Wilhelm so weit in der ,Objektivierung’ seiner selbst, dass er an einem bestimmten Punkt erkennen kann, wie sehr er das Mädchen vernachlässigt hat:[VIII,1]

„Sind wir Männer denn“, sagte er zu sich, „so selbstisch geboren, daß wir unmöglich für ein Wesen außer uns Sorge tragen können? [...] Ich zog das liebe Kind an, seine Gegenwart ergötzte mich, und dabei hab ich es aufs grausamste vernachlässigt. Was tat ich zu seiner Bildung, nach der es so sehr strebte? Nichts! Ich überließ es sich selbst und allen Zufälligkeiten, denen es in einer ungebildeten Gesellschaft nur ausgesetzt sein konnte; [...] Es ist nicht mehr Zeit, daß du deine eigenen Jahre und die Jahre anderer vergeudest; nimm dich zusammen, und denke, was du für dich und die guten Geschöpfe zu tun hast, welche Natur und Neigung so fest an dich knüpfte.“

Jarno, der sich so abfällig über Mignon äußerte, sagt kurz vorher:[VII,9]

Wir können Sie nun so sicher als den Unsern ansehen, daß es unbillig wäre, wenn wir Sie nicht tiefer in unsere Geheimnisse einführten. Es ist gut, daß der Mensch, der erst in die Welt tritt, viel von sich halte, daß er sich viele Vorzüge zu erwerben denke, daß er alles möglich zu machen suche; aber wenn seine Bildung auf einem gewissen Grade steht, dann ist es vorteilhaft, wenn er sich in einer größern Masse verlieren lernt, wenn er lernt, um anderer willen zu leben und seiner selbst in einer pflichtmäßigen Tätigkeit zu vergessen. Da lernt er erst sich selbst kennen, denn das Handeln eigentlich vergleicht uns mit andern.

Das gilt für Männer. Mignon, das Mädchen, hat nie viel von sich gehalten – und von Anfang an um anderer willen gelebt, nämlich für Wilhelm. Als sie freigekauft wird, heißt es:[II,5]

Des andern Tages, als die Seiltänzer mit großem Geräusch abgezogen waren, fand sich Mignon sogleich wieder ein [...]. „Wo hast du gesteckt?“ fragte Wilhelm freundlich, „du hast uns viel Sorge gemacht.“ Das Kind antwortete nichts und sah ihn an. „Du bist nun unser“, rief Laertes, „wir haben dich gekauft.“ – „Was hast du bezahlt?“ fragte das Kind ganz trocken. „Hundert Dukaten“, versetzte Laertes; „wenn du sie wiedergibst, kannst du frei sein.“ – „Das ist wohl viel?“ fragte das Kind. – „O ja, du magst dich nur gut aufführen.“ – „Ich will dienen“, versetzte sie.

Und das ist von ihr nicht nur so gesagt. Wie erwähnt, schließt sie sich mit leidenschaftlicher Treue an Wilhelm an – und diese Treue wird mehr und mehr Liebe. Mignon ist als Mädchen von Anfang an so selbstlos und demütig, wie es Männer erst nach einem langen Entwicklungsweg zu werden hoffen können. Ihre Liebe ist nicht selbstbezogen, sondern von tiefer, unschuldiger Aufrichtigkeit. Und dennoch wird dies von der männlichen Ratio der ,Turmgesellschaft’ pathologisiert.

Das Problem ist nicht Mignons Liebe – das Problem ist die Oberflächlichkeit und Wankelmütigkeit der übrigen Welt. Es ist absurd, dass die treue, verzweifelte Liebe eines Mädchens pathologisiert wird, während das Gegenteil völlig normal ist. So heißt es von Laertes, er habe sich mit achtzehn Hals über Kopf in ein vierzehnjähriges Mädchen verliebt, es geheiratet, sei aber schon am nächsten Tag von diesem betrogen worden.[IV,4]

Hier zeigt sich, dass nicht einmal Mignons Alter – sie ist bereits zu Beginn zwölf, dreizehn Jahre alt – ein prinzipielles Problem ist. Viel problematischer ist, dass sie Wilhelm liebt, er aber nicht sie als Mädchen. In einer männlich dominierten Gesellschaft darf sich nur der Mann in ein Mädchen verlieben – nicht umgekehrt. Aber selbst das Flüchtige, Unernste, das Betrügende schon einen Tag nach der Hochzeit wird einfach nur als Anekdote berichtet – während die aufrichtige, treue, innige und tiefe Liebe von Mignon tendenziell als etwas Pathologisches behandelt wird.

Wie pathologisch ist eine solche Anschauung, die nicht erkennt, dass gerade in Mignons Seele, wie unbewusst auch immer, ein zutiefst zukunftsweisendes Heiligtum lebt, das die übrigen Seelen noch nicht einmal ansatzweise errungen haben?[36]
Die ,Turmgesellschaft’ betrachtet eine Liebe wie die Mignons als illusionär, unfruchtbar – und ihre Bedingungslosigkeit bis zum eigenen Dahinsterben als nutz- und sinnlos. Hätte Mignon mit etwas mehr ,Vernunft’ doch noch ihr Leben lang ein sehr ,nützliches Mitglied der Gesellschaft’ werden können... Aber diese ,apollinische Logik’ rechnet in keiner Weise mit anderen, gravierenden Realitäten der Menschheitsentwicklung! Es könnte nämlich sein, dass die heiligsten und tiefsten Liebeskräfte der Seele immer mehr verlorengehen, sogar schnell – und dass nur reine Herzen, die bis zur Verzweiflung bedingungslos lieben, diese Kräfte für die ganze Menschheit hüten und bewahren... Es könnte sein, dass gerade das ,wahnsinnige Missverhältnis’ mit seiner ungeheuren Opferkraft die eigentliche Rettung der Seele bedeutet.

                                                                                                                                       *

Noch entwürdigender für Mignon ist dann, dass ihre bis tief in ihren Leib reichende Liebe, die sie verzweifelt mit sich allein abmachen muss, auch auf andere Weisen pathologisiert wird – bis in die heutige Zeit.

Die von Goethe ausführlich geschilderte Szene wird mit folgenden Worten eingeleitet:[II,14]

Sie kam still; es schmerzte sie tief, daß er sie heute so kurz abgefertigt hatte. | Nichts ist rührender, als wenn eine Liebe, die sich im stillen genährt, eine Treue, die sich im verborgenen befestigt hat, endlich dem, der ihrer bisher nicht wert gewesen, zur rechten Stunde nahe kommt und ihm offenbar wird. Die lange und streng verschlossene Knospe war reif, und Wilhelms Herz konnte nicht empfänglicher sein.

Wilhelm war aber bereits entschlossen, sich aus den gegenwärtigen Verhältnissen herauszureißen und auch sie zurückzulassen:[II,14]

Sie stand vor ihm und sah seine Unruhe. „Herr!“ rief sie aus, „wenn du unglücklich bist, was soll aus Mignon werden?“ – „Liebes Geschöpf“, sagte er, indem er ihre Hände nahm, „du bist auch mit unter meinen Schmerzen. – Ich muß fort.“ Sie sah ihm in die Augen, die von verhaltenen Tränen blinkten, und kniete mit Heftigkeit vor ihm nieder. Er behielt ihre Hände, sie legte ihr Haupt auf seine Knie und war ganz still. Er spielte mit ihren Haaren und war freundlich. Sie blieb lange ruhig. Endlich fühlte er an ihr eine Art Zucken, das ganz sachte anfing und sich durch alle Glieder wachsend verbreitete. „Was ist dir, Mignon?“ rief er aus, „was ist dir?“ Sie richtete ihr Köpfchen auf und sah ihn an, fuhr auf einmal nach dem Herzen, wie mit einer Gebärde, welche Schmerzen verheißt. Er hob sie auf, und sie fiel auf seinen Schoß; er drückte sie an sich und küßte sie. Sie antwortete durch keinen Händedruck, durch keine Bewegung. Sie hielt ihr Herz fest, und auf einmal tat sie einen Schrei, der mit krampfigen Bewegungen des Körpers begleitet war. Sie fuhr auf und fiel auch sogleich wie an allen Gelenken gebrochen vor ihm nieder. Es war ein gräßlicher Anblick! „Mein Kind!“ rief er aus, indem er sie aufhob und fest umarmte, „mein Kind, was ist dir?“ Die Zuckung dauerte fort, die vom Herzen sich den schlotternden Gliedern mitteilte; sie hing nur in seinen Armen. Er schloß sie an sein Herz und benetzte sie mit seinen Tränen. Auf einmal schien sie wieder angespannt, wie eins, das den höchsten körperlichen Schmerz erträgt; und bald mit einer neuen Heftigkeit wurden alle ihre Glieder wieder lebendig, und sie warf sich ihm, wie ein Ressort, das zuschlägt, um den Hals, indem in ihrem Innersten wie ein gewaltiger Riß geschah, und in dem Augenblicke floß ein Strom von Tränen aus ihren geschlossenen Augen in seinen Busen. Er hielt sie fest. Sie weinte, und keine Zunge spricht die Gewalt dieser Tränen aus. Ihre langen Haare waren aufgegangen und hingen von der Weinenden nieder, und ihr ganzes Wesen schien in einen Bach von Tränen unaufhaltsam dahinzuschmelzen. Ihre starren Glieder wurden gelinde, es ergoß sich ihr Innerstes, und in der Verirrung des Augenblickes fürchtete Wilhelm, sie werde in seinen Armen zerschmelzen und er nichts von ihr übrigbehalten. Er hielt sie nur fester und fester. „Mein Kind!“ rief er aus, „mein Kind! Du bist ja mein! Wenn dich das Wort trösten kann. Du bist mein! Ich werde dich behalten, dich nicht verlassen!“ Ihre Tränen flossen noch immer. Endlich richtete sie sich auf. Eine weiche Heiterkeit glänzte von ihrem Gesichte. „Mein Vater!“ rief sie, „du willst mich nicht verlassen! willst mein Vater sein! – Ich bin dein Kind!“

Deutlich sind die negativen Aspekte, die Goethe erwähnt: ,ein gräßlicher Anblick’, ,wie ein Ressort, das zuschlägt’.

Mignons Reaktion wäre kaum so dramatisch, wenn sie für Wilhelm nur Gefühle eines Kindes hätte. Sie kann nur diese zulassen – und vor allem werden von ihrer Umwelt nur diese zugelassen. Aber schon am nächsten Morgen singt sie das ,Italienlied’, und darin ist von dem Geliebten, dem Beschützer, dem Vater die Rede – alles in einer Person. Es ist deutlich, dass Wilhelm viel mehr für sie ist als eine Vaterfigur.

Abstoßend aber ist es, das seelische Drama des Mädchens, das sich in einem leiblichen Schockzustand und unaufhörlichen Tränen äußert, als einen Orgasmus zu interpretieren, wie es immer wieder getan wird![37] Damit verewigt man Mignons Leid gleichsam – weil man das immer dekadenter werdende Unverständnis in Stein meißelt. Selbst Wetzel in seiner großen ,Mignon’-Studie zieht hier Querverbindungen, sogar zu Goethe selbst:[38]

So ist es ein feststehender Topos seit Hippokrates, den sexuellen Akt und besonders den Orgasmus mit einem epileptischen Anfall zu vergleichen, was angesichts von Goethes intensiver Beschäftigung mit Hippokrates gerade zurzeit der Niederschrift der Lehrjahre als bestimmten Interpretationen von Mignons Anfall Vorschub leistet.

Wetzel weist auch darauf hin, dass in der Urfassung ,Wilhelm Meisters theatralische Sendung’, die bis 1785 entstand, also zehn Jahre vor dem Erscheinen, Mignon noch ,lustbetonter und weniger pathologisch erscheint’ – und aber gerade in diesen Jahren eine umfangreiche Literatur erschien, die vor den schlimmen Folgen der Onanie warnte. Auch er zitiert zum Beispiel Campe:[344][39]

Bemerkst du jenes schwächliche, traurende, hinwelkende, nervenkranke Mädchen, welches in der Blüthe ihrer Jugend und in den Jahren der Freude, wie eine junge vom Wurm gestochene Pflanze, das Haupt zur Erde neigt, und zu einer Zeit, da sie für das Leben erst recht reifen sollte, schon lebenssatt und kummervoll zum frühen Grabe schwankt?

Und Johann Friedrich Oest, der ein vierzehnjähriges Mädchen beschreibt, das ,heftigste Anfälle von krampfhaften Empfindungen’ gehabt habe, die sie immer mehr schwächten, bis sie noch ,im Frühling ihres Lebens’ starb.[345][40]

Das heißt nicht, dass Goethe bei Mignon an irgendetwas in dieser Richtung auch nur dachte. Aber diese zirkulierenden Vorstellungen, die sich mit anderen Schilderungen über die generelle Nervosität des weiblichen Geschlechts vereinigten, können sehr wohl eine Wirkung auch auf Goethes Darstellung von Mignons tief eindrücklichem Leiden gehabt haben, gerade wenn sich zeigt, dass diese Darstellung gegenüber der Urfassung noch mehr ins Pathologische gerückt wurde.

Doch je mehr Mignons Leiden pathologisch aufgefasst wird – sei es bereits von Goethe selbst, sei es von den Interpreten in den beiden Jahrhunderten danach –, desto weniger wird verstanden, was Novalis erkannte: dass Mignons Liebe nicht pathologisch, sondern poetisch ist.

Mignons Liebe ist leidend (griech. ,pathos’, das Leid), weil sie unerwidert bleibt. Aber sie ist auch schaffend (griech. ,poiein’, schaffen) – weil sie da ist. Mignons Liebe ist leidenschaftlich, und doch verbirgt sie sie, so gut sie kann. Sie nimmt ihr Leiden nach innen – und stirbt daran. Aber ihre Liebe selbst ist größer und selbstloser als die der anderen.

Der Franzose Ambroise Thomas verstand dies besser – und in seiner Oper ,Mignon’ (1866) dürfen sie und Wilhelm einander finden...[41] Hier singt dieser:[42]

Wie ihre Unschuld auch sich das Gefühl verhehlte,
Das schon so lange tief in ihrem Herzen schlief;
Daß ein geliebtes Bild ihr ganzes Sein beseelte,
Ihr kindlich reines Herz zu neuem Leben rief;
Soll früh nicht die Blume enden [...]
Herz, mein Herz, gib du ihr deinen Sonnenschein!

Über die psychoanalytische Interpretationssucht schreibt ein Literaturwissenschaftler, dass auf diese Weise:[43]

[...] zumeist der literarische Text zum bloßen Anschauungsmaterial und Ersatz für klinische Fallbeschreibungen verkam [...]. | Vorbereitet wurde solche Art der Literaturpsychologie durch den Positivismus und dessen wildgewordenen Ableger, den Biographismus. Auch die ersten Studien zu Mignon folgen einem positivistisch-biographischen Wissenschaftsideal, dem die Verankerung der literarischen Figur im Seelenhaushalt des Autors alles gilt. So hat man ein Vorbild für Mignon in der Tänzerin Petronella gefunden, die im Jahre 1764 in Göttingen auftrat und um die sich schnell ein veritabler Mythos bildete, der von der vornehmen Geburt und dem Raub durch eine fahrende Truppe von Komödianten bis zur Stilisierung als „edle[n] Dulderin“ alles enthielt, was ein sensationslüsternes und empfindsames Publikum fesseln konnte. Eugen Wolff erkannte demgegenüber in Mignon das literarische Porträt der Sängerin Elisabeth Schmeling, und Fritz Lachmann hat die Mignon-Figur als literarische Verschmelzung von Frau von Stein und deren Sohn Fritz gedeutet, mittels derer Goethe sowohl die unerfüllte Liebe zu seiner Angebeteten wie auch unbewußte homoerotische Neigungen gleichsam sublimiert hätte.

Es dürfte deutlich sein, wie absurd ein solcher Ansatz ist, wenn derart beliebige ,Ergebnisse’ daraus hervorgehen. In jedem Fall führt das intellektuelle Interpretieren dazu, dass man sich auf das Wesen der Gestalt, in diesem Fall das Wesen Mignons, überhaupt nicht mehr einlässt, weil man es gar nicht mehr an seine Seele heranlässt...

Noch absurder sind sexualfixierte Deutungen in der Nachfolge Freuds, die von einem postulierten ,Penisneid’ des Mädchens ausgehen. Der Freud-Schüler Otto Fenichel ging dabei so weit, krankhafte Fälle von Frauen, die sich in irgendeiner Weise mit dem Phallus identifizieren, zu verallgemeinern und zu schreiben:[44]

Uns genügt die Erkenntnis, daß auch hier die Phantasie: „Ich bin ein Penis“ einen Ausweg aus dem Konflikt der beiden widersprechenden Tendenzen „Ich möchte einen Penis haben“ und „Ich möchte als eine Frau einen Mann lieben“ darstellte. Die Phantasie, der Penis eines Mannes (und dadurch mit ihm in untrennbarer Harmonie vereint) zu sein, diente der überkompensierenden Verdrängung der anderen Idee: Ich beraube einen Mann und muß mich deshalb vor ihm fürchten.

Fenichel versucht dann, die vielen rettenden kleinen Mädchen in Märchen und Sagen in ähnlichem Sinne zu interpretieren, was völlig absurd ist, denn dann hätten diese Märchen und Sagen alle von ,penis-neidischen’ Mädchen und Frauen ,erfunden’ werden müssen. Die sexualfixierte Psychoanalyse ist völlig blind für die so heilig-einfache Tatsache, dass das Mädchen schon immer Sinn- und Urbild für die reine Seele war, für die Unschuld – die immer wieder rettet. Als Trägerin der Unschuld ist das Mädchen außerdem mit helfend-rettenden himmlischen Kräften verbunden.

Doch nun wendet sich Fenichel auch noch Mignon zu. Zunächst weist er auf noch eine weitere Studie hin, in der Mignon als Idealisierung von Goethes Schwester Cornelia gedeutet wird.[45] Dann behauptet er in einem weiteren ,psychoanalytischen Salto’ seinerseits, Goethe habe sich auch selbst in Mignon hineinphantasiert:[46]

[...], in der er also passiv-homosexuell geliebt, bezw. bedroht werden will. Die männlichen Züge der Mignon stammen daher, daß sie den Dichter selbst darstellt, daß sie der Phantasie Ausdruck gibt: „Wie wäre der Vater zu mir, wenn ich ein Mädchen wäre wie Kornelia?“

Man sieht, wie die Absurditäten hier überhaupt keine Grenze kennen. Die hochmütige Psychoanalyse illusioniert in freiem Flug blind Deutungen herbei und erhebt dafür auch noch einen wissenschaftsautoritären Gültigkeitsanspruch – hat aber die einfachsten Wahrheiten der Märchen und Sagen längst verloren. Wie will sie sich dann in eine Gestalt wie Mignon auch nur ansatzweise einfühlen können? Selbst Goethe konnte es ja nicht – hat er Mignons Wesen doch eher verurteilt!

Aber Fenichel kennt kein Halten – erst, als er beim Endziel seiner sexuellen Anschauungen angelangt ist:[47]

Daß Mignon darüber hinaus nicht nur einen Knaben, sondern speziell dessen Penis darstellt, läßt sich zwar aus ihren hermaphroditischen Zügen heraus nicht mit Sicherheit behaupten, wird aber nach dem ganzen Zusammenhang und auch, wenn man z. B. an die Symbolik ihrer Tanzkunst denkt, wahrscheinlich.

Hier wird wirklich alles entweiht. Mignon tanzt, weil sie außer ihrem Gesang kein anderes Ausdrucksmittel kennt – denn mit der Sprache kann sie immer wieder nur schweigen. Ihr seltsam-herber Eiertanz, den sie dem von ihr geliebten Wilhelm einmal darbringt, ist ihr ferner von der Zirkustruppe, aus der Wilhelm sie befreit hat, ursprünglich aufgezwungen worden. Man darf vermuten, dass überhaupt ihre Weigerung, sich wie ein Mädchen zu verhalten, der Tatsache geschuldet ist, dass sie zu lange misshandelt wurde.

Und misshandelt wird sie von den Psychoanalytikern nun erneut und weiterhin. Man darf wohl mit vollem Recht sagen: ,Dass der Psychoanalytiker nicht nur einen gewalttätigen Mann, sondern speziell dessen Penis darstellt, ist, nach allem, was er von sich gibt, sicher, denn er vergewaltigt Mignon mit allem, was er tut.’[48]

Und letztlich vergewaltigt derselbe Psychoanalytiker auch die Liebe derer, die sich in ein solches Mädchen oder auch eine besonders zarte Frau verlieben – denn für Fenichel ist dies alles Selbstliebe:[49]

Sie verlieben sich in kleine Mädchen, in denen sie sich selbst verkörpert sehen, und denen sie zukommen lassen, was die Mutter ihnen versagte. [...]

Und weiter:[50]

[...] daß diese Frauen nicht nur den sie liebenden Mann selbst, sondern geradezu seinen Penis darstellen. In der Art, wie der Liebreiz solcher Figuren geschildert zu werden pflegt, findet man immer Andeutungen ihrer phallischen Natur. Es sind Phallusmädchen [...]

Das Zarte, Sanfte, Liebreizende wäre also immer ein Hinweis auf den Phallus? Wie absurd dies ist, zeigt allein schon die Tatsache, dass der Phallus in anderen Darstellungen gerade das Mächtige, Bedrohliche, Erschreckende ist. Die Liebe zum Mädchen ist gerade das Gegenteil! Sie hat mit der ursprünglichen Liebe und Sehnsucht nach dem Weiblichen in seiner unschuldigsten Gestalt zu tun – dem Mädchen.

Ebenso absurd ist, dass die Liebe zu dem Kleinen, Sanften, Liebreizenden Selbstliebe sei. Dann müsste das ,Kindchenschema’ geradezu ein narzisstischer Mechanismus sein. Es ist aber gerade der Impuls zu wahrhafter Selbstlosigkeit – zu einem Handeln aus tiefer Fremdliebe. Und ebenso ist es mit dem Mädchen. Die Unschuld des Mädchens ruft die reinste und unschuldigste Liebe der Seele geradezu hervor. Es ist hier gar kein Platz mehr für narzisstische Selbstliebe. Diese mag in der Liebe zwischen Erwachsenen noch ausgiebig vorhanden sein. In der Liebe zum Mädchen ist sie es gerade am wenigsten.

Und um dieses Mädchen, um Mignon, geht es gerade – nicht um Goethe. Und von Mignon sagt ein Arzt, als noch Aussicht auf ihre Rettung besteht:[VIII,3]

Die sonderbare Natur des guten Kindes [...] besteht beinah nur aus einer tiefen Sehnsucht; das Verlangen, ihr Vaterland wiederzusehen, und das Verlangen nach Ihnen, mein Freund, ist, möchte ich fast sagen, das einzige Irdische an ihr; beides greift nur in eine unendliche Ferne, beide Gegenstände liegen unerreichbar vor diesem einzigen Gemüt.[51]

Das einzige Irdische an ihr! Mignons Leiden ist also in unglaublich tiefer Form ein rein seelisches. Sie liebt Wilhelm – aber ihr Körper wird vor allem da in das Leid mit einbezogen, wo es tragisch und ihre Sehnsucht unerfüllbar wird. Mignon ist mehr Seele als alle anderen. Der Körper wird gerade deshalb so hilflos ,geschüttelt’, weil die Seele so unglaublich überwiegt.

Für diese Seelenfülle und das dennoch sehr konkrete Begehren Mignons ist aber in der von der ,Turmgesellschaft’ gelenkten Welt kein Platz:[52]

Als Paarungs-Maschine kann der Turm gefeiert werden, weil er Standesschranken auflöst (Wilhelm-Natalie), [...] Entfremdungen zwischen aus Nützlichkeitsgründen füreinander Bestimmten heilen kann (Lothario-Therese) oder schlichtweg Ersatzpartner vermittelt, wenn das eigentliche Liebesobjekt nicht zu haben ist (Jarno-Lydie). [...] Mignon wird es nicht erlaubt, ihr eigenes Begehren zu leben [...]. Sie ist ein Fremdkörper, den es einzubalsamieren gilt, nachdem man ihn vorher geschlechtslos, zum Engel, gemacht hatte.

Bei der Totenfeier spricht der Abbé über das ,Kind’:[VIII,8]

[...] nichts war deutlich an ihm, nichts offenbar als die Liebe zu dem Manne, der es aus den Händen eines Barbaren rettete. Diese zärtliche Neigung, diese lebhafte Dankbarkeit schien die Flamme zu sein, die das Öl ihres Lebens aufzehrte.

Nein. Aufgezehrt wurde das Leben Mignons, als ihre zärtliche Neigung immer konkreter wurde – und sich ihr erweisen musste, dass diese Neigung für immer unerwidert bleiben würde. Im Umkreis des Turmes wird an diese Konkretheit jender liebenden Mädchenseele kein Gedanke verschwendet. Sie muss ein ,Kind’ bleiben, das nur wie ein ,Kind’ geliebt hat und auch so begraben und erinnert wird – in voller Abwehr der Wahrheit.[53]

Die Tragik Mignons ist eine des Herzens – das Herz des Mädchens zerschellt an der ,Vernunft’ der Turmgesellschaft und von Goethes Titelheld, der sie bis zuletzt nur als ,Kind’ sehen kann und will. Urbildlich kommt diese Tragik zum Ausdruck, als Wilhelm sie vorübergehend in andere Hände geben will, weil er sie nicht mitnehmen könne:[VII,8]

Nachdem er sich viele Mühe gegeben, sie zu überzeugen [...], schien sie von alledem nichts gehört zu haben. „Du willst mich nicht bei dir?“ sagte sie. [...] Wilhelm stellte ihr die Umstände weitläufig vor und sagte: sie sei so ein vernünftiges Kind, sie möchte doch auch diesmal seinen Wünschen folgen. „Die Vernunft ist grausam“, versetzte sie, „das Herz ist besser. [...]“

Dem ist nichts hinzuzfügen...

In ,Wilhelm Meisters Wanderjahre’, der Fortsetzung, heißt ein Wort in ,Makariens Archiv’:[54]

Alle Gesetze sind von Alten und Männern gemacht. Junge und Weiber wollen die Ausnahme, Alte die Regel.

Im Sinne Goethes ist es, nach der Regel zu streben, dem Gesetz, dem Urphänomen – während die Ausnahme bloß den Einzelfall, das Subjektive gibt. Wie aber, wenn die Individualität der einzelnen Seele, das Einzigartige, die eigentliche ,Regel’ für den Menschen wäre? Was wäre, wenn sich die Turmgesellschaft gerade durch ihre Blindheit für den ,Ausnahmefall Mensch’ gegen das Gesetz versündigen würde? Wenn das Gesetz gerade hieße: Achte die Einzigartigkeit!

Im Reich des Menschlichen hat die Regel keine Gültigkeit mehr – sie wird Unterdrückerin der Individualität, die nicht in Regeln gepresst werden kann. Das Gesetz des Menschlichen ist es gerade, Ausnahme zu sein. Mignon, mit ihrer ganzen Leidenschaft als Mädchen, das der männlichen Ratio diametral gegenübersteht, empfindet dies tief. Deswegen kann sie sagen: Die Vernunft ist grausam. Denn sie verallgemeinert, sie abstrahiert, sie schert über einen Kamm, sie verlangt Unterwerfung – und nicht zuletzt ist sie oft nichts anderes als ein Euphemismus für den bequemen Eigenwillen. Das Herz dagegen verlangt niemals Unterwerfung – denn es versteht gerade den Anderen, es liebt, es verzeiht, es unterwirft sich, wenn es sein muss, vor allem aber ist es das sanfte, heilige Sinnesorgan für den Einzelfall, für das wahrhaft Konkrete. ,Das Herz ist besser...’

                                                                                                                                       *

Wilhelm hätte sich im Umkreis der Turmgesellschaft eine Liebe zu Mignon als Mädchen, selbst wenn er eine solche gehabt hätte, nie eingestehen können, weil sie von deren Ratio als ,minderwertig’ und ,nicht vernunftgemäß’ beurteilt worden wäre – so wie man auch heute noch darüber urteilt: Wer ein Mädchen liebt, sei noch nicht ,erwachsen’ genug. Als ob ein Mädchen und die Liebe zu einem Mädchen minderwertig wäre! Wer so urteilt, merkt überhaupt nicht, dass sein Urteil von der Arroganz der Psychoanalytiker nicht weit entfernt ist.

Aber es liegt auf der Hand: Wer als Mann ein achtzehn-, siebzehnjähriges Mädchen ,erobern’ kann, kann sich neidvoller Anerkennung vieler anderer Männer gewiss sein. Ist das Mädchen aber sechzehn, fünfzehn, vierzehn ... werden selbst andere Männer zunehmend den Kopf schütteln... Unter den verständnislosen Augen der Welt wird also diese Mädchenliebe mit einem schweren Minderwertigkeitskomplex belastet sein. Ein solcher Komplex geht der Mädchenliebe nicht voran – aber er wird ihr von der Welt auferlegt. Wer ein Mädchen liebt, könnte auch eine Frau lieben, aber er will es nicht. Die Welt aber straft diesen Tabubruch mit Verachtung.

In ,Wilhelm Meisters Wanderjahren’ ist diese Tatsache in der Geschichte ,Die neue Melusine’ verdeutlicht. Melusine ist eine Zwergenprinzessin, die sich in Menschengestalt in einen recht wankelmütigen und treulosen Menschen verliebt – den Barbier Rotmantel, der diese Geschichte später selbst erzählt. Er selbst verliebt sich in die Schöne sofort und vergreift sich geradezu an ihr. Sie aber entzieht sich und stellt ihn mehrfach auf die Probe. Er ist verschwenderisch, langweilt sich schnell und ist ihr eigentlich überhaupt nicht würdig – trotzdem liebt sie ihn. Er aber braucht sie nur einmal durch ein Übertreten ihrer Weisung in ihrer kleinen Gestalt zu sehen – und verliert bereits den größten Teil seiner Liebe:[55]

Wie erstaunt, ja erschrocken ich war, läßt sich begreifen. [...] Darüber schlief ich ein, und als ich erwachte, glaubte ich eben nur geträumt zu haben; doch fühlte ich mich von meiner Schönen einigermaßen entfremdet.

Der schwache Mann, der nur von der äußeren Schönheit angezogen wurde, versucht sich dann noch mit folgendem Gedanken zu beruhigen: ,Wäre es nicht viel schlimmer, wenn sie zur Riesin würde und ihren Mann in den Kasten steckte?’ Aber es ist längst zu spät: ,Wenn ich es jetzt recht bedenke, so liebte ich nach jener unglücklichen Entdeckung meine Schönheit viel weniger, und nun ward ich eifersüchtig auf sie, was mir vorher gar nicht eingefallen war.’[56]

Die Prinzessin mag noch so schön sein – als Zwergin ist sie keine vollgültige Frau mehr, und damit fühlt sich Rotmantel schon nicht mehr als vollgültiger Mann. Das ist der eigentliche Punkt. Er fühlt sich betrogen, weil er keine ,richtige’ Frau mehr ,besitzt’. – Ebenso hätte Wilhelm sich fühlen müssen, denn selbst wenn es nicht sein Gefühl gewesen wäre, so hätte doch seine ganze Umwelt ihm fortwährend zu verstehen gegeben: Das ist keine richtige Frau, das ist nichts für dich.

Damals wie heute überlässt die Welt es nicht den Liebenden, ob und warum sie sich lieben. Sie möchte selbst mitsprechen, sie möchte ihr Urteil fällen. Lieben darf sich nicht, was sich liebt – sondern nur, was die Welt gnädig gestattet. Was sie verurteilt, das wird gnadenlos verfolgt. Nicht nur die Ehebrecherin (diese heute gar nicht mehr), sondern auch die Mädchenliebe. Sogar wenn das Mädchen zuerst liebt – wie Mignon. Die Schranke ist aufgerichtet. Mignon ist ein ,Kind’, keine ,echte Frau’. Sie darf nicht lieben – nicht in den Augen der Turmgesellschaft, nicht in den Augen der heutigen Welt. Und Wilhelm dürfte es auch nicht.

Dass ein Mädchen bereits ein Begehren haben kann – und es dafür überhaupt noch nicht ,richtige Frau’ sein muss, das wird heute noch immer nicht anerkannt, es sei denn, das Mädchen liebt seinesgleichen, andere Jugendliche, also Jungen, die auch noch ,keine richtigen Männer’ sind. Würde das Mädchen aber einen Menschen lieben, der die Grenze ,Mann’ bereits überschritten hat (wie Wilhelm), so schreitet die Gesellschaft sogleich ein, weil es auch von ihr aus (dem Mädchen) ein Tabubruch wäre.

Möglicherweise würde das Mädchen vor allem von den Frauen zurechtgewiesen werden. Zunächst würde es als ,Kind’ diszipliniert werden – man würde dem Mädchen ,gut zureden’, dass es doch noch ,viel zu früh’ sei, dass es doch erstmal noch seine ,Kindheit’ genießen solle oder sich allenfalls mit Gleichaltrigen vergnügen solle. Wenn das aber nichts hilft, würde man das Mädchen als Delinquentin betrachten – als unbotmäßigen Eindringling in die allein den ,richtigen Frauen’ vorbehaltene Sphäre. Unbewusst würde man das sehr junge Mädchen als gefährliche Nebenbuhlerin betrachten und sie fortan mit der unbewussten oder auch ganz bewussten Antipathie der sich gegen die Jugend zusammenschließenden Altersgenossinnen der ,echten Frauen’ abwehren und verurteilen.

Mignon darf nur Kind oder Patientin sein. In ihrer Hilflosigkeit wurde sie auch keiner anderen Frau gefährlich. Wäre dies nur ein wenig anders gewesen, wäre sie Kind oder Delinquentin, Nebenbuhlerin, gewesen.[57] Wie Melusine ,klein’ ist, so wird auch Mignon auf ihre ,Kleinheit’ fixiert – doch:[58]

Rotmantel besitzt kein Augenmaß und keinen Sinn für Verhältnisse. Ihm fehlt die tiefere Einsicht in die Kategorie der „Größe“. Sie bleibt für ihn, obwohl ihn der Umgang mit Melusine eines besseren hätte belehren können, ein rein äußerlicher Begriff, eine Angelegenheit des Scheins und nicht des Seins. Insofern muß sich Melusine in ihm getäuscht sehen und die Unverhältnismäßigkeit ihrer Beziehung kann auf Dauer nicht überwunden werden.

Auch Mignon muss sich und ihre Liebe getäuscht sehen. Denn niemand sieht ihr Wesen und die Größe ihres Herzens. Dessen wahre Größe zeigt sich aber gerade daran, dass sie niemandem auch nur einen Moment lang einen Vorwurf macht, sondern vor Leid stirbt – eine Welt verlassend, die mit ganz anderem Maß maß, das nicht ihr Maß war... Für die übrige Welt, die mit rein äußerlichem Maß maß, war sie trotz allem ,nur ein Kind’. Ein wirkliches Sein hat man ihr nie zugestanden.

Sie selbst singt: ,So laßt mich scheinen, bis ich werde’,[59] als sie die Engelsflügel trägt. Dass sie bereits real unschuldig wie ein Engel geliebt hat, das hat man nicht gesehen. Es war die Welt, die von ihr nur den Schein – das ,Kind’ – sehen wollte. In dieser Welt durfte sie nicht werden, was sie bereits war – Liebende. Sie durfte nur den Schein wahren: als Kind und Engel. Und doch singt sie: ,Vor Kummer altert ich zu frühe’. Dies zeigt ganz klar, dass sie tatsächlich nur scheinbar noch ein Kind ist. In Wirklichkeit hat das Bestehen auf diesem Schein sie in den Tod getrieben, weil niemand das liebende Mädchen zugelassen hat.

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Kehren wir noch einmal zu Freud zurück – dessen Entdeckungen teilweise bahnbrechend gewesen sein mögen, dessen Postulate aber teilweise einfach nur abwegig und grotesk waren, erst recht in ihrer Verallgemeinerung, die bei Freud immer wieder auftritt. In seiner Schrift über den Narzissmus kommt er zum Beispiel letztlich dazu, eigentlich überall nur noch Narzissmus zu sehen:[60]

Die Sexualtriebe lehnen sich zunächst an die Befriedigung der Ichtriebe an, machen sich erst später von den letzteren selbständig; die Anlehnung zeigt sich aber noch darin, daß die Personen, welche mit der Ernährung, Pflege, dem Schutz des Kindes zu tun haben, zu den ersten Sexualobjekten werden, also zunächst die Mutter oder ihr Ersatz. Neben diesem Typus und dieser Quelle der Objektwahl, den man den Anlehnungstypus heißen kann, hat uns aber die analytische Forschung einen zweiten kennen gelehrt, den zu finden wir nicht vorbereitet waren. Wir haben, besonders deutlich bei Personen, deren Libidoentwicklung eine Störung erfahren hat, wie bei Perversen und Homosexuellen, gefunden, daß sie ihr späteres Liebesobjekt nicht nach dem Vorbild der Mutter wählen, sondern nach dem ihrer eigenen Person. Sie suchen offenkundigerweise sich selbst als Liebesobjekt, zeigen den narzißtisch zu nennenden Typus der Objektwahl. [...] [...] Wir sagen, der Mensch habe zwei ursprüngliche Sexualobjekte: sich selbst und das pflegende Weib, und setzen dabei den primären Narzißmus jedes Menschen voraus, der eventuell in seiner Objektwahl dominierend zum Ausdruck kommen kann. [...] Die volle Objektliebe nach dem Anlehnungstypus ist eigentlich für den Mann charakteristisch. Sie zeigt die auffällige Sexualüberschätzung,[61] welche wohl dem ursprünglichen Narzißmus des Kindes entstammt und somit einer Übertragung desselben auf das Sexualobjekt entspricht. Diese Sexualüberschätzung gestattet die Entstehung des eigentümlichen, an neurotischen Zwang[62] mahnenden Zustandes der Verliebtheit, der sich so auf eine Verarmung des Ichs an Libido zugunsten des Objektes zurückführt.[63] Anders gestaltet sich die Entwicklung bei dem häufigsten, wahrscheinlich reinsten und echtesten Typus des Weibes. Hier scheint mit der Pubertätsentwicklung durch die Ausbildung der bis dahin latenten weiblichen Sexualorgane eine Steigerung des ursprünglichen Narzißmus aufzutreten, welche der Gestaltung einer ordentlichen, mit Sexualüberschätzung ausgestatteten Objektliebe ungünstig ist. Es stellt sich besonders im Falle der Entwicklung zur Schönheit eine Selbstgenügsamkeit des Weibes her, welche das Weib für die ihm sozial verkümmerte Freiheit der Objektwahl entschädigt.[64] Solche Frauen lieben, strenggenommen, nur sich selbst mit ähnlicher Intensität, wie der Mann sie liebt. Ihr Bedürfnis geht auch nicht dahin zu lieben, sondern geliebt zu werden, und sie lassen sich den Mann gefallen, welcher diese Bedingung erfüllt. Die Bedeutung dieses Frauentypus für das Liebesleben der Menschen ist sehr hoch einzuschätzen. Solche Frauen üben den größten Reiz auf die Männer aus, nicht nur aus ästhetischen Gründen, weil sie gewöhnlich die schönsten sind, sondern auch infolge interessanter psychologischer Konstellationen. Es erscheint nämlich deutlich erkennbar, daß der Narzißmus einer Person eine große Anziehung auf diejenigen anderen entfaltet, welche sich des vollen Ausmaßes ihres eigenen Narzißmus begeben haben und sich in der Werbung um die Objektliebe befinden; der Reiz des Kindes beruht zum guten Teil auf dessen Narzißmus, seiner Selbstgenügsamkeit und Unzugänglichkeit, ebenso der Reiz gewisser Tiere, die sich um uns nicht zu kümmern scheinen, wie der Katzen und großen Raubtiere

Freud sagt also nichts anderes, als dass jeder Mensch im Grunde entweder das ,pflegende Weib’ (die Mutter) oder aber sich selbst liebe. In Bezug auf die Geschlechter liebe der Mann vor allem die Mutter, die Frau vor allem sich selbst.

Dass hier vor allem eine kulturelle Prägung wirksam sein könnte, kommt Freud nicht in den Sinn – nämlich die Tatsache, dass es Männer neugierig macht und erregt, wenn die Frau sich ihnen entzieht und vor allem ,selbstgenügsam’ tut und erst in zweiter Linie dadurch vielleicht sogar auch ist. Im Laufe der Zeit haben sich die Frauen daran gewöhnt, von den Männern umworben zu werden – und sind gerade dadurch selbstgenügsam und teilweise sogar ,narzisstisch’ geworden. Die entsprechende Erziehung der Frau: ,Du musst die Männer anziehen und gleichzeitig auf Distanz halten’ und: ,Du musst so tun, als interessierten dich die Männer gar nicht’ hat im Laufe der Zeit genau das bewirkt, was Freud hier wie eine Naturkonstante hinstellt.

Demgegenüber aber gibt es jene vielen anderen Frauen, die diesen ,Narzissmus’ gerade nicht mitmachen, sondern sich voller Hingabe einem Mann zuwenden und ganz und gar um seine Aufmerksamkeit ringen. Wenn etwas das Wesen der Frau ist, dann dieses: Hingabe, nicht Narzissmus.[65]

Wesentlich ist auch die Erkenntnis, dass Selbstgenügsamkeit keineswegs immer Narzissmus sein muss. Ein Mädchen, das ganz verträumt summend durch eine Blumenwiese wandelt, voller Gedanken, ist harmonisch mit sich und der Welt im Einklang – es ruht unendlich innig in sich. Aber das bedeutet nicht Narzissmus. Freud kennt hier einfach keine anderen Kategorien, die es aber bräuchte, um das Seelische wirklich zu erfassen. Denn dasselbe Mädchen könnte sich im nächsten Augenblick voller Hingabe einer schönen Blüte, einem verletzten Vogel oder einem um Hilfe bittenden Menschen zuwenden. Die Hingabe an seine Träumereien ist keine andere als die an die es umgebende Welt, wann immer diese Hingabe aufgerufen wird.

Das Wesen des Mädchens ist Hingabe – an die eigene Innenwelt wie auch an die Außenwelt. Das gerade ist das heilige, berührende Wesen des Mädchens. Die Seele des Mädchens ist wie reines Wasser. Auch das Wasser passt sich allem an. Es ist das Gegenteil von Narzissmus.

Freud jedoch kommt dann noch zu folgender Auflistung:[66]

Man liebt:
1) Nach dem narzißtischen Typus:
     a) was man selbst ist (sich selbst),
     b) was man selbst war,
     c) was man selbst sein möchte,
     d) die Person, die ein Teil des eigenen Selbst war.
2) Nach dem Anlehnungstypus:
     a) die nährende Frau,
     b) den schützenden Mann
und die in Reihen von ihnen ausgehenden Ersatzpersonen.

Das erste Problem hierbei ist, dass Freud nahezu keine Variante auslässt – und man ganz vieles dann unter ,Narzissmus’ fassen müsste. Aber eine wesentliche Frage ist doch bereits, warum es narzisstisch sein sollte, zu lieben, was man auch selbst sein möchte. Gerade hier verweist Freud auf ,später folgende Ausführungen’.

Nehmen wir an, ein egoistischer Mann liebt ein selbstloses Mädchen. In dem Mädchen liebt er zugleich genau das, was er als Gegenteil insgeheim an sich selbst hasst. Auch er möchte mit einem Teil seiner Seele so selbstlos sein wie das Mädchen. Er hätte keinen Grund, es zu lieben, wenn ihn nicht irgendetwas an ihm berühren würde – und ihn berührt genau das, was er nicht hat. Würde er an dem Mädchen lieben, was er selbst auch hat, wäre seine Liebe möglicherweise narzisstisch – aber er liebt gerade das, was er nicht hat. Und der größte Teil seiner Seele möchte sich auch durchaus nicht verändern. Aber das selbstlose Mädchen, das das völlige Gegenteil von ihm ist – das liebt er dennoch innig. Das Mysterium, das hier vorliegt, ist nicht Narzissmus, sondern gerade ein völliges Aufbrechen dieses Selbstbezuges. Das Mädchen zerbricht mit seiner Unschuld den Narzissmus des Mannes – und erweckt in ihm zum ersten Mal andere Gefühle.

Das Faszinierende ist, dass in Freuds Aufzählung gerade das Mädchen nicht auftaucht. Denn weder ist es die nährende Frau noch der schützende Mann. Weder ist oder war ein Mann selbst ein Mädchen, noch möchte er eines sein. Die Wahrheit ist, dass der Mann im Mädchen dasjenige liebt, was er nicht ist, das volle Gegenteil seiner selbst. Das Mädchen sprengt Freuds Liste der Narzissmen genau an dem Ort, wo sie sich nicht finden.[67]

Interessanterweise kann die Theorie von der angeblichen ,Selbstgenügsamkeit des Weibes’ auch nicht erkären, wieso dann ebendieses Weib von Kindheit an vom ,Penisneid’ zerfressen sein sollte. Dieser Theorie nach müsste es ja tagaus, tagein um den Mann bemüht sein, um sich irgendwie halbwegs vollständig zu fühlen... Und tatsächlich hat Freud seine Theorie von der weiblichen Selbstgenügsamkeit später stillschweigend wieder fallengelassen, um am ,Penisneid’ festzuhalten! Hier sieht man, wie beliebig die Freudsche Psychoanalyse zwischen Gegensätzen herumspringt und mal dies, mal jenes als ,wissenschaftliche Wahrheit’ behauptet und beansprucht.

Die Wahrheit der Liebe ist, dass sie wahrhaft selbstlos machen kann, wo immer sie aufrichtig ist. So sagt schon Wilhelm in seiner ersten Liebe zu der Theaterschauspielerin Mariane:[I,16]

[...] so gewiß mir an deinem Busen Freuden gewährt waren, die immer himmlisch genennt werden müssen, weil wir uns in jenen Augenblicken aus uns selbst gerückt, über uns selbst erhaben fühlen.

Aus dem Selbst also gerade heraus – über uns selbst erhaben: Gegenteil von Narzissmus.

In der kleinsten Abwesenheit ergriff ihn ihr Andenken. War sie ihm sonst notwendig gewesen, so war sie ihm jetzt unentbehrlich, da er mit allen Banden der Menschheit an sie geknüpft war. Seine reine Seele fühlte, daß sie die Hälfte, mehr als die Hälfte seiner selbst sei. Er war dankbar und hingegeben ohne Grenzen.[I,9][68]

Die Liebe ist Hingabe. Die ,Hälfte seiner selbst’ könnte wieder an Narzissmus denken lassen, aber hier zeigt sich die Verwirrung aller Begriffe, denn irgendwie muss die Liebe ja aus der eigenen Seele entspringen – aber hier gilt sie nicht mehr sich selbst, sondern dem Anderen. So sehr, dass er sogar als die andere Hälfte, ja mehr als das, empfunden wird. Das bedeutet gerade, man liebt nicht mehr sich selbst, sondern den Anderen, ohne den man sich nicht einmal mehr vollständig fühlt. Der Narzissmus würde sich in seiner Selbstgenügsamkeit allein gerade sehr vollständig fühlen. Die Liebe kann dies nicht mehr... Die reine Seele fühlt in ihrer aufrichtigen Liebe, dass der Andere ihr noch viel wesentlicher ist als sie sich selbst. Das ist das Wesen der wahren Liebe.

Der Liebende denkt an die Geliebte, fühlt zu ihr hin, will bei ihr sein – und die Liebe verbindet ihn gleichsam sogar mit der Harmonie des Kosmos selbst:[I,17]

Dann saß er wieder eine Weile stille und dachte sie hinter ihren Vorhängen, im weißen Nachtkleide mit dem roten Band um den Kopf, in süßer Ruhe und dachte sich selbst so nahe zu ihr hin, daß ihm vorkam, sie müßte nun von ihm träumen. Seine Gedanken waren lieblich wie die Geister der Dämmerung [...]; die Liebe lief mit schaudernder Hand tausendfältig über alle Saiten seiner Seele; es war, als wenn der Gesang der Sphären über ihm stille stünde, um die leisen Melodien seines Herzens zu belauschen.

Teilweise wird dann gesagt, dass die beiden Liebenden eine neue Dyade der ,narzisstischen’ Selbstgenügsamkeit bilden – und das letztere ist in gewisser Weise wahr, denn wo die Liebe bedingungs- und grenzenlos ist, wie könnte sie noch etwas neben sich haben? Umgekehrt ist jene Liebe lau, die ein Geliebtes nur so ,nebenbei’ liebt, sich aber ,narzisstisch’ zugleich noch mit allem möglichen Anderen beschäftigt.

Aber da die wahre Liebe grenzenlos ist, wird sie sich auch in den innig Liebenden schließlich gemeinsam außerdem noch der Welt zuwenden:[1,16][69]

Wie ich an deinem Herzen habe fühlen können, daß du in Liebe bist, so [...] hoffen will ich, daß wir einst als ein Paar gute Geister den Menschen erscheinen werden, ihre Herzen aufzuschließen, ihre Gemüter zu berühren und ihnen himmlische Genüsse zu bereiten [...].

Und den ,Psycho-Analytikern’, die überall nur Narzissmus zu sehen wähnen, möchte man zurufen:[I,14]

Du fühlst nicht das zusammenbrennende, zusammentreffende Ganze [...]; du fühlst nicht, daß in den Menschen ein besserer Funke lebt, der, wenn er keine Nahrung erhält, wenn er nicht geregt wird, von der Asche täglicher Bedürfnisse und Gleichgültigkeit tiefer bedeckt und doch so spät und fast nie erstickt wird. Du fühlst in deiner Seele keine Kraft, ihn aufzublasen, in deinem eignen Herzen keinen Reichtum, um dem erweckten Nahrung zu geben.

Und wenn es an einer Stelle heißt:[VI][70]

Alles außer uns ist nur Element, ja ich darf wohl sagen, auch alles an uns; aber tief in uns liegt diese schöpferische Kraft, die das zu erschaffen vermag, was sein soll, und uns nicht ruhen und rasten läßt, bis wir es außer uns oder an uns, auf eine oder die andere Weise, dargestellt haben.

– so hat auch Mignon nicht geruht und gerastet, sondern während ihres ganzen, kurzen Lebens in Wilhelms Nähe das ihre dargestellt und offenbart: Liebe, Treue, Demut, Dienen, Sehnen – und wieder Liebe...

Und wenn derselbe Mensch, der Oheim der ,schönen Seele’, der Stiftsdame, kurz darauf sagt:[71]

[...] und unter denen, die wir gebildete Menschen nennen, ist eigentlich wenig Ernst zu finden [...]; man lebt, wie man ein Pack Zeitungen liest [...]. Man will mancherlei wissen und kennen, und gerade das, was einen am wenigsten angeht, und man bemerkt nicht, daß kein Hunger dadurch gestillt wird, wenn man nach der Luft schnappt. Wenn ich einen Menschen kennenlerne, frage ich sogleich: womit beschäftigt er sich? und wie?

– so kann man nur sagen, dass Mignon ihr kurzes Leben nicht unernst gelebt hat, und sobald Wilhelm in ihr Leben getreten war, den sie fortan als ihren Retter und Beschützer betrachtete, jeden Tag ihres Lebens dem gewidmet hat, was fortan ihr Herz erfüllte: ihm zu dienen, ihn zu lieben...

Der erschütternde Ernst des Mädchens wird schon in jener frühen Szene im ,Ur-Meister’ deutlich, wo sie Wilhelm bittet, sie ganz zu ,erwerben’, nachdem sie zunächst von der Leiterin seiner Truppe losgekauft worden war und er sie dann nochmals vor der Zudringlichkeit eines Fremden bewahrt hatte:[72]

Herr ich bin dein Sklave, kaufe mich von meiner Frau, daß ich dir alleine zu[ge]höre. Sie nahm hierauf das Kästchen von dem Boden und erklärte ihm so gut sie konnte, daß dieses ihr Erspartes sei um sich los zu kaufen, sie bat ihn, es anzunehmen, und weil er reich sei, das was an hundert Dukaten fehlte, zuzulegen, sie wollte es ihm reichlich wieder einbringen und ihn bis an seinen Tod nicht verlassen. Sie brachte das alles mit großer Feierlichkeit, Ernst und Ehrfurcht vor, so daß Wilhelm bis in das Innerste seiner Seele bewegt ward und ihr nicht antworten konnte. Sie kramte darauf ihre Barschaft aus, deren Anblick Wilhelm ein freundliches Lächeln abzwang. Alle Sorten waren abgesondert und in Röllchen und Papierchen verteilt. Sie hatte sich für Silber und Kupfer besondere Kerbhölzchen gemacht und auf die verschiedenen Seiten die verschiedenen Sorten mit abwechselnden Zeichen eingeschnitten. Unbekannte und einzelne Münzen hatte sie am untersten Ende der Stäbchen wieder besonders angemerkt, und legte nach diesem wunderbaren Sortenzettel ihrem Herrn und Beschützer ihre Schätze vor.

Rührend wird ihre verborgene Seelenfülle – die sich aber gar nicht äußern kann, außer im Gesang – und ihre scheue Anhänglichkeit auch in folgender Szene deutlich:[73]

Man hatte bei dieser Gelegenheit [...] auch von Mignon und von der Ungeschicklichkeit des Kindes irgend etwas zu repräsentieren gesprochen. Wilhelm hatte sie in einigen Stücken gesehen, wo sie kleine Rollen so trocken, so steif und wenn man sagen soll eigentlich gar nicht spielte. Sie sagte ihre Lektion her und machte, daß sie fortkam. [...] Wenn er sie bat sich anzugreifen,[74] so war ihr Ausdruck auf gemeinen und bedeutenden Stellen gleich angespannt, sie sprach alles mit einer phantastischen Erhebung, und wenn er das Natürliche von ihr verlangte, wenn er sie bat ihm nur nachzusprechen, begriff sie niemals was und wie er es wollte. [...] Nachts setzte sie sich auf Wilhelms Schwelle, oder auf den Ast eines Baumes der unter seinem Fenster stand, und sang auf das anmutigste. Wenn er sich hinter den Scheiben blicken ließ, oder sich in der Stube bewegte, war sie weg.

Doch Wilhelm hat keinen Sinn für dieses seelische Juwel unmittelbar vor seinen Augen. Mignon stirbt schließlich an zerbrochenem Herzen. Wilhelm hat sich längst zuvor seinem leiblichen Sohn Felix zugewandt, hat durch die Annäherung an die äußerst vernünftige Therese und die Fragen seines Sohnes mehr und mehr Interesse an der Außenwelt und den Anfang eines ,praktischen Sinnes’ erworben und war ganz auf dem Weg, zu einem solchen Menschen zu werden, den Goethe ,komplett’ genannt hätte. In dieser ,vernünftigen’, die Empfindungen stets in ,harmonischer’ Kontrolle haltenden Welt, in der selbst die Liebe gleichsam nur die Gestalt einer tiefen, aber ruhigen, ,gezähmten’ Achtung des ebenfalls ausgeglichen-tätigen Wesens des Anderen hat, ist für Mignon kein Platz.[75]

Und wenn Therese von Wilhelm an Natalie, die schließlich das edle Ziel seiner Reise sein wird, schreibt:[VIII,4]

Auch meinen Freund verehre ich in ebendemselben Sinn; seine Lebensbeschreibung ist ein ewiges Suchen und Nichtfinden; aber nicht das leere Suchen, sondern das wunderbare, gutmütige Suchen begabt ihn,

– so hat Mignon ewig schon gefunden, zumindest sofern es sich auf einen Menschen bezieht – aber dies ,nützt’ ihr nichts, denn ihre Liebe wird nicht erwidert werden. Sie hat gefunden, aber wird nie ,bekommen’. Im darauffolgenden Kapitel wird sie den Tod finden...
 

Fußnoten


[1]● Michael Wetzel: Mignon. Die Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit. München 1999. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern.

[2] Natürlich nicht im Sinne einer brutalen ,Kinder-Ehe’, sondern im Gegenteil, im Sinne zärtlichster und tiefster gegenseitiger Zuneigung, die der Mann sich seitens des Mädchens überhaupt erst erwerben muss, indem er ihrer würdig wird...

[3] Im ,David Copperfield’ sagt die junge Dora an einer Stelle: ,Wenn du mir bös bist, sage dir: ,Es ist nur mein Child-wife!’ [...] Wenn du an mir vermißt, was ich gern sein möchte und vielleicht nie werden kann, sage nur: ,Mein Child-wife liebt mich doch!’’ Charles Dickens (1850): Lebensgeschichte und gesammelte Erfahrungen David Copperfields des Jüngeren, Band 2, Frankfurt am Main 1980, S. 287.[16] • Arno Schmidt verwendet ,Kindsbraut’ in seinem Dickens-Essay ,Tom All Alone’s’,[16] im Radio unter dem Titel ,Bericht vom Nichtmörder’. Bargfelder Ausgabe II, 2: Der Bogen des Odysseus. Zürich 1990, S. 367-401. www.asml.de.

[4] Zur Zeit des päderatisch veranlagten französischen Königs Heinrich III. (1551-1589) war es die Bezeichnung von dessen Günstlingen. Wikipedia: Mignon (Geschichte).

[5] Johann Friedrich Oest: Für Eltern, Erzieher und Jugendfreunde über die gefährlichste und verderblichste Jugendseuche. Wolfenbüttel 1787, S. 216, Ergänzung Campe als Herausgeber.

[6] Schon dieser Begriff bedeutet eine Pathologisierung!

[7] Seltsamerweise würde die Sinnlosigkeit dieser Unterstellung in jedem anderen Zusammenhang sofort eingesehen. So will man bei der Liebe zu Älteren keineswegs narzisstisch ,so alt sein’ wie das ,Liebesobjekt’, bei der Liebe zu einer Frau keineswegs selbst eine Frau, zu einem Hund keineswegs selbst ein Hund und so weiter.

[8] Vergleiche Jacques Lacan (1949): Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, in: Schriften 1. Frankfurt am Main 1975, S. 67.[35] • Siehe auch Wikipedia: Spiegelstadium.

[9] Robert Musil (1930-1942): Der Mann ohne Eigenschaften, in: Gesammelte Werke, Band 3, hg. Adolf Frisé. Hamburg 1978, S. 943.[41]

[10] Richard Huber: Sexualität und Bewußtsein. Frankfurt am Main 1971, S. 55f.[44]

[11] Sigmund Freud (1905): Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, III. Die Umgestaltung der Pubertät, Abschnitt 1 ,Das Primat der Genitalzonen und die Vorlust’. Projekt Gutenberg. • Den Orgasmus selbst kann das Kind sehr wohl bereits erleben, auch wenn es ihn als Endpunkt noch nicht anstrebt.

[12] Michael Balint (1936): Eros und Aphrodite, in: Die Urformen der Liebe und die Technik der Psychoanalyse. Frankfurt am Main 1969, S. 69-82, hier 69.[50]

[13] Dass das Mädchen eine unendlich eigene Erotik hat, die sich von der der Frau völlig unterscheidet, wird insbesondere auch in meinen Büchern ,Der Kapitalismus und das Mädchen’ (2022) und ,Mädchenland’ (2022) umfassend erlebbar.

[14] Paul Klee. Tagebücher 1898-1918, hg. Paul-Klee-Stiftung, bearb. Wolfgang Kersten. Stuttgart 1988, S. 64, Eintrag Nr. 150. • Wetzel zitiert nur einen Satz.[52]

[15] Klee hatte die drei Jahre ältere Pianistin Lily Stumpf 1899 kennengelernt. Die Verlobung erfolgte 1901 nach mehreren Liebschaften Klees mit anderen Frauen, die Heirat im September 1906. Wikipedia: Lily Klee.

[16] Die Ortsangabe bleibt unklar. Klee war im Winter 1901/2 nach Italien gereist.

[17] In einem im September 1932 gehaltenen Vortrag, der dann in der von Freud herausgegebenen Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse erschien. Sandor Ferenczi (1933): Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind (Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft). Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 19 (1/2), 5-15. • Hier entwickelt Ferenczi auch den Gedanken, dass die noch schwache Persönlichkeit des Kindes auf plötzliche sexuelle Ansprüche o. ä. statt mit Abwehr ,mit ängstlicher Identifizierung und Introjektion des Bedrohenden oder Angreifers antwortet’,[61] das heißt mit einer ungewollten Hingabe. Die eigenen Bedürfnisse bzw. Nichtbedürfnisse werden völlig verdrängt und die Forderungen, aber auch die Schuldgefühle des Angreifers sozusagen ,übernommen’. • Auch in anderen Situationen ist zu beobachten, dass das Kind immer wieder die Schuld auf sich nimmt, weil die Erwachsenen ja immer Recht haben. Es ist eine Art hilfloser ,Überlebensstrategie’ und gleichsam der Gegenpol zur Projektion. Werden bei dieser unangenehme Anteile des eigenen Selbst nach außen projiziert, werden bei der Introjektion unangenehme Anteile der Außenwelt nach innen genommen, um ihnen nicht einfach nur wehrlos ausgesetzt zu sein (,Identifikation mit dem Aggressor’).

[18] Ferenczi, op. cit., S. 12. Archive.org.

[19] Gemeint: zur Erklärung pathogener Folgen.

[20] Ferenczi, op. cit., S. 10. • Das Abgleiten in rücksichtsloses Verhalten gegenüber dem Kind beschreibt er in den nächsten Sätzen: ,[...] bei pathologisch veranlagten Erwachsenen, besonders wenn sie durch sonstiges Unglück oder durch den Genuß betäubender Mittel [Alkohol etc., H.N.] in ihrem Gleichgewicht und ihrer Selbstkontrolle gestört sind. Sie verwechseln die Spielereien der Kinder mit den Wünschen einer sexuell reifen Person oder lassen sich, ohne Rücksicht auf die Folgen, zu Sexualakten hinreißen. Tatsächliche Vergewaltigungen von Mädchen, die kaum dem Säuglingsalter entwachsen sind, ähnliche Sexualakte erwachsener Frauen mit Knaben, [...] gehören zur Tagesordnung.’ Ebd.

[21] In diesem Sinne ist also Ferenczi nicht zuzustimmen, wenn er seinen sonst höchst wertvollen Aufsatzes mit den Worten beendet, es sei wichtig, den ,Unterschied zwischen kindlich erotischen Befriedigungen und dem haßdurchtränkten Lieben bei der Begattung’ zu würdigen. Ebd., S. 15. • Es wäre grauenvoll, wenn es so wäre. Es ist möglich, dass Sex auch zum Gewaltsamen neigt, aber das Ideal ist die liebende Vereinigung. Der Orgasmus wird auch als ,kleiner Tod’ bezeichnet, aber er ist kein Mord, sondern ein zutiefst süßer ,Tod’, eine Seligkeit, die man sich gegenseitig schenkt... Im Grunde ist es ein Hineinsterben in den Anderen, gerade dies ist die so tief empfundene Vereinigung. Solange es nicht nur um die eigene Triebabfuhr geht, hat Hass hier nicht den geringsten Platz, ja es ist eine Sphäre, die den Hass völlig verbannt, um reine Liebe an seine Stelle zu setzen. Dies gilt zumindest für den hier gemeinten zärtlichen Blümchensex, der nichts anderes ist als bis in die Körperlichkeit hineinreichende Liebe.

[22] Siehe hierzu auch meinen Roman ,Blümchensex’ (2020), in dem es bei aller ausgesprochenen Erotik der Rahmenhandlung letzlich um das Geheimnis der Zärtlichkeit geht, das die junge, provokante und ,aufgeklärte’ Protagonistin ebenfalls nicht kennt.

[23] Johann Wolfgang Goethe: Diderots Versuch über die Malerei, in: Sämtliche Werke, Band 7, hg. Norbert Miller & John Neubauer. München 1991, S. 532.[72]

[24] Holger Niederhausen: Wintermädchen. Berlin 2018, S. 127.

[25] Hellmut Ammerlahn: ,Poesy–Poetry–Poetology’: Wilhelm ,Meister’, Hamlet und die mittleren Metamorphosen Mignons, in: Gerhart Hoffmeister: Goethes Mignon und ihre Schwestern. Interpretationen und Rezeption. New York u.a. 1993, S. 1-25, hier 1.

[26] Karl Morgenstern (1770-1852), der den Begriff ,Bildungsroman’ prägte. Wikipedia: Karl Morgenstern.

[27] Brief vom 2.7.1796, Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, Band 1. Stuttgart 41881. Projekt Gutenberg. Auch für das folgende Zitat.

[28] Brief vom 3.7.1796. Ebd.

[29] Ammerlahn, a.a.O., S. 7f, weist darauf hin, dass ihre Verführung zum Eros und gegenwärtigen Leben Wilhelm helfe, sich vom Verhaftetsein an zwei vergangenheitsbezogene Gelübde zu befreien: gegenüber sich selbst durch Marianes scheinbaren Treuebruch (,sich vor der zusammenschlagenden Falle einer weiblichen Umarmung zu hüten, das treulose Geschlecht zu meiden’) und gegenüber Aurelie (,Jeder flüchtigen Neigung will ich widerstehen und selbst die ernstlichsten in meinem Busen bewahren; kein weibliches Geschöpf soll ein Bekenntnis der Liebe von meinen Lippen vernehmen, dem ich nicht mein ganzes Leben widmen kann!’).

[30]● Wilhelm Meisters Lehrjahre. Projekt Gutenberg. Im Folgenden Buch und Kapitel in hochgestellten eckigen Klammern.

[31] Immanuel Kant: Von der Macht des Gemüthes durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein, hg. Christoph Wilhelm Hufeland. Leipzig 1824, S. 27f, zit. nach Robert Tobin: The Medicinalization of Mignon, in: Gerhart Hoffmeister: Goethes Mignon und ihre Schwestern. Interpretationen und Rezeption. New York u.a. 1993, S. 43-60, hier 52.

[32] Mt 18,1-4. • Man denke auch an den Hochmut der Jünger: ,Dann wurden Kinder zu ihm gebracht, damit er ihnen die Hände auflege und bete. Die Jünger aber fuhren sie an. Jesus aber sprach: Lasst die Kinder, und wehrt ihnen nicht, zu mir zu kommen! Denn solchen gehört das Reich der Himmel.’ Mt 19,13-14. • Mignon dagegen macht die Christusbotschaft tief wahr. Nach ihrem Tod sagt der Abbé: ,Mit einem heiligen Vertrauen war auch dieses gute, gegen die Menschen so verschlossene Herz beständig zu seinem Gott gewendet. Die Demut, ja eine Neigung, sich äußerlich zu erniedrigen, schien ihm angeboren.’[VIII,8]

[33] Wilhelm Meisters Wanderjahre, Aus Makariens Archiv. Projekt Gutenberg.

[34] Oder man könnte auch formulieren: Mignon ist ein Genius der Liebe und Treue. In jedem Fall schrieb selbst Goethe am 3. April 1801 an Schiller: ,Ich glaube, daß alles, was das Genie, als Genie, tut, unbewußt geschehe.’ Hamburger Ausgabe in vier Bänden, Band 2, Nachdruck der 2. Aufl., München 2013, S. 415.

[35] Und dies, obwohl Mignon in gewisser Weise sogar Wilhelms Genius ist, nicht zuletzt rettet sie sogar dessen leiblichen Sohn Felix, indem sie ihrem Vater, dem Harfner, ein Messer aus der Hand reißt und Wilhelm auf den von jenem gelegten Brand hinweist.[V,13] Zuvor hatte sie bereits mutig an seiner Seite gegen die Räuber gekämpft, nach seiner Verwundung mit ihrem eigenen Haar versucht, die Wunde zu stillen, und schließlich weinend zu seinen Füßen gekniet.[IV,5] Nach ihrem Lied ,Nur wer die Sehnsucht kennt...’ nennt Goethe Mignon einmal den ,lieben Schutzgeist’.[V,12] Man fühlt sich hier unmittelbar an Sophie und Novalis erinnert.

[36] Mignon ist so recht der Gegenpol zur leicht-sinnigen, offen erotischen, oberflächlichen Philine. Philine ist blond, Mignon hat bräunlich-südländische Haut und schwarze Haare. Philine mit ihren ,frevelhaften Reizen’ begrüßt Wilhelm bereits bei der ersten Begegnung in einem weißen Negligé, Mignon öffnet ihr Herz nur sehr scheu und zögernd. Philine ist durchaus nachlässig und unreinlich, Mignon hält ihre Kleidung, obwohl vielfach geflickt, äußerst sauber. Philine ist in ihrer Erotik emanzipiert-selbstständig, Mignon ist selbstlos-hingebungsvoll dienend und wahrhaft unschuldig. Philine geht ohne weiteres in Wilhelms Bett, um eine Liebesnacht mit ihm zu haben – und kommt Mignon zuvor, die das keusche Beisammensein mit ihrem geliebten Retter dadurch verliert. • Bald darauf verliebt sich Wilhelm in die Gräfin, in ihrem reichen Putz ein anderer Gegenpol zur bescheiden-armen Mignon: ,Sooft er die Gräfin anblickte, schien es ihm, als wenn ein elektrischer Funke sich vor seinen Augen zeigte; er wußte zuletzt nicht mehr, wo er Atem zu seiner Rezitation hernehmen solle. Die schöne Dame hatte ihm immer gefallen; aber jetzt schien es ihm, als ob er nie etwas Vollkommneres gesehen hätte, und von den tausenderlei Gedanken, die sich in seiner Seele kreuzten, mochte ungefähr folgendes der Inhalt sein: Wie töricht lehnen sich doch so viele Dichter und sogenannte gefühlvolle Menschen gegen Putz und Pracht auf und verlangen nur in einfachen, der Natur angemessenen Kleidern die Frauen alles Standes zu sehen.’[III,12] • Dann rettet das Studium Shakespeares Wilhelm aus der höfischen Veräußerlichung, und er begeistert sich für dessen Gestalten, an denen man wie an einem ,Räder- und Federwerk’ erkennen könne, was sie treibt. Als Wilhelm in höchsten Tönen die Treue preist, ist Mignon es, die sie verwirklicht: ,Mignon hatte sich ihm unter diesen Worten genähert, schlang ihre zarten Arme um ihn und blieb mit dem Köpfchen an seine Brust gelehnt stehen.’[IV,2] Gerade sie aber wird am Ende von ebenjenem Räderwerk des Schicksals und der sie umgebenden Welt unerbittlich ausgeschieden, und diese läuft sehr bald weiter, als wäre nichts geschehen...

[37] So schon Kurt R. Eissler: Goethe. Eine Psychoanalytische Studie, Band 2, Basel/Frankfurt 1985, S. 870, für den die Szene eine meisterhafte, äußerst realistische Beschreibung des Orgasmus eines Mädchens ist. Robert Tobin: The Medicinalization of Mignon, in: Hoffmeister, a.a.O., S. 43-60, hier 48. • Freud formulierte: ,Der hysterische Krampfanfall ist ein Koitusäquivalent.’ Sigmund Freud: Allgemeines über den hysterischen Anfall (1909). Projekt Gutenberg. • Orgasmus und Epilepsie wurden schon in der Antike sehr verwandt gesehen, etwa bei Galen (De usu partium, IV,10). Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit, Band 3: Die Sorge um sich, in: Die Hauptwerke. Frankfurt am Main 32013, S. 1467.

[38] Michael Wetzel: Mignon. Die Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit. München 1999, S. 337.

[39] Johann Heinrich Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron, der erwachsenen weiblichen Jugend gewidmet. Frankfurt/Leipzig 1790, S. 149.[344]

[40] Versuch einer Belehrung für die männliche und weibliche Jugend..., in: Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens, Band 6. Wolfenbüttel 1786, S. 443.[345]

[41] Wikipedia: Mignon (Oper). • In einer anderen Fassung erleidet Mignon bei der Wiederbegegnung mit Philine allerdings auch hier einen Zusammenbruch und stirbt in seinen Armen. Ebd.

[42] Ambroise Thomas: Mignon. Leipzig o. J. [1932], S. 49f. • Und bald darauf gesteht er ihr: ,Nur dein mein ganzes Herz, Du allein, die ich liebe!’ Ebd., S. 63.

[43] Thomas Kniesche: Die psychoanalytische Rezeption von Mignon, in: Gerhart Hoffmeister: Goethes Mignon und ihre Schwestern. Interpretationen und Rezeption. New York u.a. 1993, S. 61-81, hier 63. • Zitierte Quellen: Zu Petronella: Richard Rosenbaum (1897): Mignon. Preußische Jahrbücher 87, 298-318. – Eugen Wolff: Mignon. Ein Beitrag zur Geschichte des Wilhelm Meister. München 1909. – Fritz R. Lachmann (1927): Goethes Mignon. Entstehung, Name, Gestaltung. Germanisch-Romanische Monatsschrift 15, 100-116.

[44] Otto Fenichel (1936): Die symbolische Gleichung: Mädchen = Phallus. Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 22, 299-314, hier 303. Archive.org.

[45] Philipp Sarasin (1929): Goethes Mignon. Imago 15, 349-399.

[46] Fenichel, a.a.O., S. 305.

[47] Ebd., S. 306.

[48] Wir gehen hier nicht weiter darauf ein, dass Kurt Eissler, a.a.O., S. 879, Mignons Anfall sogar als frühe Erinnerung Goethes an einen Orgasmus seiner ein Jahr älteren Schwester Cornelia deutet, zitiert nach Kniesche, a.a.O., S. 66; während Sarasin in Mignon eine ,Fixierung auf der analsadistischen Stufe’ (Kniesche, ebd.) sieht und einen Tuberkulose-Krampfanfall Cornelias als Vorbild von Mignons Anfall postuliert. Auch hier gilt: Die Absurdität und die damit verbundene Gewalt Mignon gegenüber ist und bleibt grenzenlos... • Geradezu wohltuend gemäßigt deutet Kniesche selbst, dass Mignon in dem Moment stirbt, wo ihr nicht nur Wilhelm, sondern auch die gleichgeschlechtliche Natalie als einzige andere Bezugsperson genommen wird, da sie bereits ahne, dass nicht Therese, sondern Natalie Wilhelms Frau werde, wodurch ,sowohl ihr männliches wie auch ihr weibliches Begehren negiert wird’. Ebd., S. 70ff, Zitat S. 74. • Er zitiert aber auch Freud: ,Man kann es häufig beobachten, daß gerade Mädchen, die bis in die Jahre der Vorpubertät bubenhaftes Wesen und Neigungen zeigten, von der Pubertät an hysterisch werden.’ Allgemeines über den hysterischen Anfall (1909). Projekt Gutenberg. • Und: ,Diese männlichen oder, wie man besser sagt, gynäkophilen Gefühlsströmungen sind für das unbewußte Liebesleben der hysterischen Mädchen als typisch zu betrachten.’, Bruchstück einer Hysterie-Analyse, in: Gesammelte Schriften VIII, Leipzig/Wien/Zürich 1924, S. 64. Archive.org. • Einzig richtig wäre, zu sagen, dass Mignon in diesem Moment einen ,Orgasmus des Herzens’ hatte, wenn hiermit die größtmögliche Erschütterung, ein Geschütteltwerden und ein existenzielles Sein-Herz-Ausschütten verstanden werden könnte. ,The essence of this scene [...] lies in the underlying contradiction of heart and nature which can only be expressed as an orgasm of the heart [...].’ David Roberts: The Indirections of Desire. Hamlet in Goethes „Wilhelm Meister“. Heidelberg 1980, S. 81, zitiert nach Monika Fick: Das Scheitern des Genius. Mignon und die Symbolik der Liebesgeschichten in Wilhelm Meisters Lehrjahren. Würzburg 1987, S. 95.

[49] Fenichel, a.a.O., S. 306.

[50] Ebd., S. 306f.

[51] Die tiefe Liebe Mignons ist so offensichtlich, dass Eugen Wolff: Mignon. Ein Beitrag zur Geschichte des Wilhelm Meister. München 1909, spekulierte, Goethe habe in der Urfassung (die erst 1910 gefunden wurde) geplant, Wilhelm mit einer zur Frau gewordenen Mignon nach Italien gehen zu lassen. Sabine Groß: Diskursregelung und Weiblichkeit: Mignon und ihre Schwestern, in: Hoffmeister, a.a.O., S. 83-99, hier 98, Anm. 15.

[52] Kniesche, Psychoanalytische Rezeption Mignons, a.a.O., S. 75.

[53] Ausführlich beleuchtet dies auch Sabine Groß: Diskursregelung und Weiblichkeit: Mignon und ihre Schwestern, in: Hoffmeister, a.a.O., S. 83-99. • ,Mignon darf Kind oder Patientin sein – als Geliebte verleugnet sie der Text.’ Ebd., S. 92. • Groß weist auch darauf hin, dass im ,Wilhelm Meister’ überhaupt der weibliche Körper ,im Verlauf der Reihe Mariane–Philine–Mignon–Gräfin–Aurelie–Therese–Natalie zum Verschwinden gebracht wird’. Ebd. S. 95. • Mariane und Philine sind noch ganz sinnlich, Natalie schließlich im Sinne der Turmgesellschaft ganz vergeistigt. Und: ,Während die Disziplinierung des männlichen Begehrens erfolgreich durchgeführt werden kann, wird das weibliche Begehren – verkörpert in Marianne und Mignon – mit dem Tod bestraft.’ Ebd., S. 96.

[54] Wilhelm Meisters Wanderjahre, nach III, 18. Projekt Gutenberg.

[55] Wilhelm Meisters Wanderjahre, III, 6. Projekt Gutenberg.

[56] Mit anderen Worten: Da sie ihm nun im Grunde weniger ,wert’ erscheint, verlangt er ihre uneingeschränkte Hingabe, während er sehr wohl vergnügt mit anderen Frauen sein darf.

[57] In einem Moment war dies auch so, als auf dem Weg zu Wilhelms Bett Philine ihr zuvorkommt: ,Mignon war im Begriff, sich zu Ihnen zu schleichen, und mußte aus einem Winkel mit Entsetzen sehen, daß eine Nebenbuhlerin ihr zuvorkam.’ Wanderjahre, VIII, 3.

[58] Konstanze Bäumer: Wiederholte Spiegelungen – Goethes „Mignon“ und die „Neue Melusine“, in: Hoffmeister, a.a.O., S. 113-133, hier 117.

[59] Mit der Konnotation: Das Leben auf Erden ist nur Schein, erst im Himmel zeigt sich die wahre Gestalt, das den Engeln so verwandte Sein. Mignon deutet hier bereits traurig auf ihren Tod hin, den sie vielleicht längst ersehnt. • Aber die andere Konnotation ist eben auch: ,So seht mich eben als Scheinwesen, bis sich nach meinem Tod meine wahre Seele zeigt, auch wenn ihr diese nicht mehr sehen werdet, wie ihr sie auch jetzt nicht seht...’ Siehe das Folgende.

[60] Zur Einführung des Narzißmus (1914). Projekt Gutenberg. • Freud übernahm den Begriff von Paul Näcke, der ihn 1899 gebrauchte, um eine Arbeit von Havelock Ellis zu kommentieren, der 1898 als Erster autoerotisches Verhalten mit der Narziss-Sage in Verbindung brachte. Wolfgang Schmidbauer: Vom Es zum Ich. Evolution und Psychoanalyse. München 1978, S. 186.

[61] Freud meint damit die Überschätzung des begehrten Anderen. • Vor allem überschätzt also der Mann die Frau. Er legt ihr sozusagen unbewusst einen hohen ,Sexualwert’ bei und fühlt sich dann von ihr als ,Sexualobjekt’ unglaublich angezogen.

[62] Freud betrachtet die ,Verliebtheit’ hier also als hoch pathologischen Zustand (oder diesem zumindest eng verwandt), ähnlich wie die alten griechischen Philosophen – oder wie es Goethes ,Turmgesellschaft’ weitgehend getan hätte.

[63] Mit anderen Worten: Die zunächst ganz auf das eigene Selbst gerichtete Libido wird nun für den Anderen ,verwendet’ und auf ihn gerichtet.

[64] Mit anderen Worten: Da das Weib durch die soziale Norm ohnehin nicht aktive Partnerwahl betreiben darf, liebt es eben ersatzweise sich.

[65] Interessanterweise verliert Freud kein Wort darüber, wieviel und welch tiefer Narzissmus darin liegt, eine schöne Frau zu ,erobern’ und dann zu ,besitzen’. Die Libido mag sich auf die Frau richten – aber die Tatsache ihres Besitzes strömt dann mit Zins und Zinseszins zu ihrem Besitzer zurück... Die Libido und Selbstliebe dieses Typs von Männern wird gerade nicht geschwächt, sondern im Gegenteil gestärkt, geradezu aufgeblasen: Der buchstäblich aufgeblasene ,Frauenheld’...

[66] Zur Einführung des Narzißmus (1914). Projekt Gutenberg.

[67] Aber selbst dafür hat die Freudsche Schule eine Lösung: Sie erklärt mit Fenichel das Mädchen einfach zum ,Phallus-Mädchen’, und schon liebt der Mann im Mädchen wieder nur ,einen Teil seiner selbst’. Damit ist wirklich jede Lücke geschlossen. Das ganz Andere, das absolut Nicht-Männliche, das Mädchen, wird zum zentralen Teil des Mannes umdefiniert. Welch eine Vergewaltigung! • Und welch ein Hinweis auf das eigene narzisstische Innenleben der Psychoanalytiker: Es muss partout alles zum Männlich-Phallischen umgedeutet werden!

[68] Ebenso auch Mariane: ,Dieses ganze Mein will ich dem geben, der mich liebt und den ich liebe.’[I,1]

[69] Dieser Halbsatz geht unmittelbar dem zuvor zitierten (,so gewiß mir...’) voran. Die Selbstlosigkeit, die sich der Welt zuwendet, ist dieselbe, mit der die Liebe zur Geliebten die Seele bereits über sich selbst hinausgehoben hat.

[70] Bekenntnisse einer schönen Seele, hier der Oheim.

[71] Ebd.

[72] Wilhelm Meisters theatralische Sendung, III, 8. Projekt Gutenberg.

[73] Ebd., III, 10.

[74] Gemeint etwa: mit mehr Emotion und innerer Beteiligung zu sprechen.

[75] Mignons aufrichtige Liebe muss, wie auch immer, als eine Art inneres Feuer, eine stille Flamme, angesehen werden. Das Ideal der ,Turmgesellschaft’ dagegen ist eine Art still-gleichmäßig dahinströmende Wärme, die sich hauptsächlich in Tätigkeit auslebt. Es ist eine Liebe ohne alle Leidenschaft. Die Vernunft lässt keinen Platz für irgendetwas Subjektives, Affektives, Persönliches. Die geläuterte Persönlichkeit ist ... letztlich unpersönlich, zumindest in dem allgemeinen Gesetz der Bezähmung der Empfindungen. Sie dürfen nicht mehr das Wesen von Feuer haben. Sie müssen ruhig sein wie Wasser. • Natalie äußert zu Wilhelm ,mit ihrer ruhigen, sanften, unbeschreiblichen Hoheit’, dass ,alles, was uns so manches Buch, was uns die Welt als Liebe nennt und zeigt, mir immer nur als ein Märchen erschienen sei.’ ,Sie haben nicht geliebt?’ rief Wilhelm aus. ,Nie oder immer!’ versetzte Natalie.[VIII,4]