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Die Disziplinierung der Mädchensexualität
Mary Odem: Delinquent Daughters: Protecting and Policing Adolescent Female Sexuality in the United States, 1885-1920. Chapel Hill 1995. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern. Übersetzungen H.N.
Mit den ökonomischen Umwälzungen der Jahrhundertwende zeigte sich, dass die ,age of consent’-Gesetze vor allem der Regulierung der Sexualität junger Mädchen und Frauen dienten.
Die Historikerin Mary Odem untersuchte die Gerichtsakten zweier Gerichte der Landkreise Alameda (Hauptort Oakland) und Los Angeles zwischen 1910 und 1920[1] und fand, dass in beiden Fällen etwa drei Viertel der jungen Frauen freiwillig sexuelle Beziehungen mit jungen Männern[2] ihrer Klasse eingegangen waren.[39] Mehr noch: gewaltsame Fälle waren ganz überwiegend solche durch Verwandte, Nachbarn oder Arbeitgeber von Dienstmädchen.[58] Beides widersprach dem gängigen Bild (Verführung wehrloser Mädchen durch ältere Männer), das überhaupt zur Erhöhung der ,Altersgrenze’ geführt hatte, vollkommen!
In dieser Situation dienten die Gerichte nicht so sehr einem Schutz der Mädchen vor sexueller Gewalt, schon gar nicht in der Öffentlichkeit, sondern einer sittlich-moralischen Disziplinierung der Mädchen selbst! Odem formuliert dies mit den Worten:[5][3]
[...] dass die soziale und sexuelle Autonomie der Töchter eine größere Quelle des Konflikts in Familien der Arbeiterklasse war und viele vor Gericht führte. Reformer hatten zwar die neue Politik der sexuellen Kontrolle geschaffen, aber Eltern der Arbeiterklasse nutzten sie aktiv für ihre eigenen Bedürfnisse und Zwecke. Die Sexualkultur der städtischen Jugend kollidierte nicht nur mit der Moralität der Mittelklasse, sondern auch mit dem Moralkodex vieler Eltern der Arbeiterklasse. Als ihre traditionellen Formen sexueller Regulierung erodierten, suchten zahlreiche Eltern [...] die Intervention des Gerichts, um ihre rebellischen Töchter zu bändigen.
Bei den in Los Angeles vor Gericht stehenden Mädchen hatte in fast der Hälfte der Fälle Eltern und Verwandte das Verfahren eingeleitet, in je einem Viertel der Fälle Polizistinnen u.ä. bzw. Schulangestellte, Jugendämter oder Privatpersonen. Die Gründe reichten dabei von Ungehorsam, Schulschwänzen, Weglaufen von zuhause bis hin zu ,moralisch gefährlichem Benehmen’. In 63 % der Fälle ging es um sexuelle ,Delinquenz’, in 18 % der Fälle um Verhalten ,auf dem Weg dorthin’, etwa durch den Besuch von Tanzlokalen und Cafés ohne Begleitung, Trinken von Alkohol, spätes Nachhausekommen oder provokante Kleidung.[136][4]
Die Mädchen, die bereits in so jungem Alter oftmals hart arbeiten mussten, suchten einerseits Unabhängigkeit und Freiheit von der strikten elterlichen Überwachung.[50] Viele dieser Mädchen verdienten einen durchaus wesentlichen Anteil am Familieneinkommen – und sie forderten für sich nichts weiter als einen abendlichen Freiraum, um auch einmal leben zu können.[138] Der Lohn für weibliche Arbeiter lag bei nur etwa 60 % des männlichen Äquivalents – eine Frau konnte sich kaum selbst ernähren. So gaben andere Mädchen sexuelle Gefälligkeiten gegen einen Abend im Vergnügungspark, Restaurant oder ähnliches.[55] Wiederum andere wollten häuslichen Verhältnissen entfliehen, in denen sie geschlagen oder sexuell missbraucht wurden – und gaben sich jenen jungen Männern hin, die ihnen eine Bleibe ermöglichten:[56][5]
Runaways often relied on boyfriends or men they met along the way to pay for meals and hotel rooms. In return for such support, the young women engaged in sexual intercourse with their male companions, following an arrangement that was often unspoken.
Mit anderen Worten: Diese Mädchen waren dankbar für die Hilfe, die sie von niemandem sonst bekamen. Wiederum andere Mädchen gaben sich hin, weil der Mann ihnen versprochen hatte, sie zu heiraten.[56] Und ganz vielfach gab es echte, beiderseitige Liebesverhältnisse. Odem stellt fest:[136]
Der Vorwurf sexueller Delinquenz trägt wenig dazu bei, die komplexen sozialen Umstände, Notwendigkeiten und Sehnsüchte zu erklären, die bei den sexuellen Beziehungen weiblicher Jugendlicher der Arbeiterklasse mitspielten. Für viele dieser Mädchen war Sex eine Form der Selbstbehauptung und Rebellion gegen rigide Konventionen, elterliche Restriktionen und ein von Armut, Vernachlässigung und Instablität geprägtes Leben.
Nun existierte aber die neue Gesetzeslage. Der Staat übernahm infolgedessen immer mehr eine aktive Rolle in der Überwachung des sexuellen Verhaltens der ,working girls’ und ihrer Partner. Odem beschreibt, wie die Entwicklung, die die Mädchen hatte ,schützen’ sollen, oftmals die Wirkung hatte, sie in ihrer Sexualität zu entmündigen und zu demütigen. Zunächst wurden sämtliche aufgegriffene Mädchen einer ausgiebigen Geschlechtsuntersuchung unterworfen, in der man feststellte, ob sie sexuell aktiv gewesen waren, und man verlangte die Denunziation ihrer Partner:[65]
Fand der Arzt Anzeichen sexueller Erfahrungen (ein gerissenes Jungfernhäutchen oder eine erweiterte Vaginalöffnung), erwartete die Mädchen eine strenge Befragung über ihre sexuellen Aktivitäten durch Bewährungshelferinnen, die sie nötigten, die Namen ihrer Sexualpartner preiszugeben, und diese dann der Polizei übergaben.
Wie entsteht Entmündigung? Es kann nicht anders sein, als dass ein Staatsapparat die Gesetze, die geschaffen wurden, umzusetzen versucht. Dann aber interessiert nicht mehr der einzelne Mensch, der abstrakt ,geschützt’ werden soll, sondern die Durchsetzung der Gesetze. Der einzelne Mensch, der sie übertritt, wird das Opfer dieser Durchsetzung. Das gilt auch für die Mädchen. Sie, die abstrakt ,geschützt’ werden sollten, werden genauso Opfer wie diejenigen, die nun ,Täter’ geworden sind – obwohl es aus Sicht des Lebens einfach nur die Arbeitermädchen und diejenigen sind, die sie sich als Partner gesucht haben.
Man kann sagen: Aber so ein siebzehn- oder vielleicht erst fünfzehnjähriges Mädchen hat doch noch gar keine Ahnung, was alles passieren kann. Nein, vielleicht nicht. Dennoch muss man davon ausgehen, dass die Mädchen, die bereits einen vollen, anstrengenden, erwachsenen Arbeitstag haben, auch mündig genug sind, für sich zu entscheiden, solange sie nichts Gegenteiliges angeben. Danach fragt die Polizei und der Staatsapparat aber nun nicht mehr. Fortan gilt jedes Mächen unterhalb des ,Schutzalters’ als Kind und ist in Bezug auf seinen Körper und seine sexuelle Aktivität rechtlos. Die Polizei fragt nicht, was das Mädchen möchte – sie nimmt es in Gewahrsam und untersucht seine Vagina... Die Demütigung der Arbeitermädchen nimmt ihren Lauf. Sie sind tatsächlich ,delinquent daughters’ geworden – Delinquententöchter, immer unter Aufsicht, immer unter Verdacht: nicht ,sittsam’ genug zu sein; an ihrem eigenen ,Ruin’ zu arbeiten, jedenfalls sexuell zu aktiv zu sein. Zu aktiv für einen Staat, der inzwischen feste Anweisungen hat, diese Mädchen zu ,schützen’ – notfalls vor sich selbst.
In der Gerichtsverhandlung – bis zu der sie oft in Vollzugsanstalten festgehalten wurden – ging die Demütigung der Mädchen weiter. Sie waren nun die wichtigsten Zeugen ihrer eigenen ,Vergewaltigung’, die ein freiwilliger Akt und sehr oft ein Liebesakt gewesen war, während die Vergewaltigung der ,Delinquentinnen’ jetzt erst ihren Lauf nahm. Odem gibt ein Verhör wieder, wie es ein solches Mädchen dann über sich ergehen lassen musste:[66]
Staatsanwalt: Und er legte sich auf dich?
Mädchen: Ja, Sir...
Staatsanwalt: Wie lagen deine Beine, als er diesen Akt des Geschlechtsverkehrs mit dir hatte, waren sie nah beisammen oder auseinander?
Mädchen: Auseinander.
Staatsanwalt: Und wie kamen sie auseinander, du hast sie selbst geöffnet, nicht wahr?
Mädchen: Nein, Sir.
Staatsanwalt: Sicher?
Mädchen: Ja, Sir.
Staatsanwalt: Wer hat sie geöffnet?
Mädchen: Er...
Staatsanwalt: Was hast du getan, als er sie öffnete?
Mädchen: Nichts.
Staatsanwalt: Wo waren deine Hände, als er sie öffnete?
Mädchen: An der Seite.
Staatsanwalt: Was hast du gesagt, während er deine Schenkel, deine Beine öffnete?
Mädchen: Nichts.
Nach wie vor herrscht hier trotz – oder zugleich auch gerade wegen des ,Schutzalters’ die alte Logik, nach der das Mädchen begründen muss, warum es überhaupt sexuell aktiv geworden ist.
Aus Sicht einer menschlich empfindenden Seele sind diese Fragen absolut sinnlos. Sie haben keinen einzigen Zweck, als dasjenige, was das Privateste eines Menschen sein sollte und immer bleiben dürfen müsste, an das volle Licht einer kalten, gefühllosen, allenfalls lüsternen Öffentlichkeit zu zerren. Das Mädchen wird schlicht und einfach gedemütigt. Mehr ist es nicht. Es ist von nun an nur noch Objekt zur abstrakten Durchsetzung des Gesetzes. Es ist Opfer. Nachdem ihm im Gewahrsam bereits die Vagina untersucht wurde, wird nun das ganze Mädchen im Gerichtssaal nackt ausgebreitet. Sein Geschlechtsakt wird wie in einer riesigen Zeitlupe seziert, vergrößert, befragt – mit der demütigenden Botschaft, dass er verboten war und dass es ihm absolut recht geschieht, nun zwischen den Mühlen der Justiz seine Schenkel noch einmal öffnen zu müssen...
Eine Welt, in der das Gesetz wichtiger ist als das konkrete Mädchen, das im Gerichtssaal vor einem steht, muss notwendigerweise unmenschlich werden. Unmenschlich sind dann aber die Menschen, die diesem Gesetz kaltblütig dienen. Sie machen sich zum Teil eines seelenlosen Apparats. Und vor ihnen steht ein lebendes, noch sehr junges Mädchen, das sich verzweifelt in den Boden schämt – aber nicht für das, was es getan hat, sondern für das, was ihm angetan wird. Die seelenlosen menschlichen Teile dieses Apparates – sie sind die wirklichen und einzigen Vergewaltiger. Erst hier wird jedes Mädchen wirklich das, was man ihm unterstellt hat zu sein: Opfer.
Einsam und mit zerbrochenem Herzen steht jedes dieser Mädchen im Gerichtssaal – und seine bloße Existenz ist bereits das Urteil über all die anderen dort Anwesenden.
Ein Mädchen wehrte sich zum Beispiel verzweifelt mit folgenden Worten: ,Really I don’t wish to tell it all. It humiliates and disgraces me and I don’t want to.’ Als der Richter drohte, sie wegen Missachtung des Gerichts ins Gefängnis zu schicken, erwiderte das Mädchen: ,You will have to send me, I can’t tell it.’[66] Mit reinem Herzen spürt man hier das tief sittliche Leid des Mädchens – und das absolute Unrecht des Gerichts.
Mehrmals verteidigten Richter aus der herrschenden Doppelmoral heraus die jungen Männer, dass sie den Reizen eines jungen Mädchens unmöglich widerstehen konnten – während ein Mädchen, das sich auf Sexualität einließ oder sich auch nur ,in Gefahr begab’, als ,moralisch verkommen’ galt – und selbst bei einer Vergewaltigung nur ,bekam, womit sie rechnen musste’.[68f][6] Während Mädchen und Frauen ihre sexuellen Aktivitäten detailliert offenlegen mussten, verboten Gerichte dieselben Befragungen von Männern, da dies eine Vorverurteilung durch die Geschworenen begünstigen würde. Nur manche Richter nahmen das ,Schutzalter’ wirklich ernst und untersagten eine solche Befragung bei minderjährigen Mädchen.[70]
Ausnahmen waren auch Richter wie Curtis D. Wilbur, der mithalf, das kalifornische ,Juvenile Court Law’ zu entwickeln und dann ab 1903 am neu eingerichteten Jugendgericht tätig war, sowie sein ab 1915 tätiger Nachfolger Sidney Reeve, der scharf feststellte, dass es keine zwei Standards gebe – und dass ein Mädchen mit beliebig vielen Männern geschlafen haben kann, ohne dass es die Schwere einer Vergewaltigung mindere.[75f]
Generell galten Mädchen, die sich sexuell betätigten, noch immer als ,ruiniert’ und nun selbst als moralische Gefahr für die Gesellschaft.[71] Noch immer konnte also ein weißes[7] Mädchen durch einen einzigen ,Fehltritt’ ,verkommen’. Das sahen auch weibliche Geschworene nicht immer anders, die 1917 nach langem Kampf in Kalifornien endlich zugelassen wurden.[75]
,Verkommene’ Mädchen konnten, da Moralisches als vererbbar galt, von eugenischen Strömungen schnell als ,schwachsinnig’ (feeble-minded) abgestempelt werden. Bis 1923 hatten 43 US-Bundesstaaten entsprechende Einrichtungen geschaffen – und 1931 hatten 31 Bundesstaaten Gesetze, die die Sterilisation solcher Personen erlaubten.[98][8]
Am Jugendgericht Los Angeles gab es 1915 die landesweit erste weibliche Gutachterin, Orfa Jean Shontz, eine Juristin, die zuvor schon als Bewährungshelferin gearbeitet hatte. Ihre Nachfolgerin wurde 1920 Miriam Van Waters.[113] Diese war ihre Freundin und Mitstreiterin, hatte einen Doktor in Anthropologie gemacht, ab 1914 eine Strafanstalt in Portland reformiert und 1919 die Mädchen-Reformschule El Retiro gegründet.[130]
Diese Frauen meinten es mit der Reform ernst. So gab es in dem Gerichtsraum von Shontz Bilder und Vorhänge statt vergitterte Fenster. Bei den Befragungen waren Männer ausgeschlossen und auf dem Tisch standen frische Blumen.[113]
Die New Yorker Bewährungshelferin Maude Miner gründete als Alternative zum Gefängnis 1908 die erste private ,Jugendvollzugsanstalt’ (detention home). Zwei Jahre später hatten schon 15 Bundesstaaten Gesetze zu deren Einrichtung.[113f]
Allerdings wurden auch hier die Mädchen ausführlichen körperlichen und geistigen Untersuchungen unterzogen, wurden ihre Verwandten, Lehrer und Nachbarn nach ihrem Verhalten befragt – und dies alles an das Gericht weitergeleitet.[114]
Auch hier wieder wurde Delinquenz bei Jungen oft nur als ,dumme Phase’ gewertet, die etwas Beobachtung bräuchte, während sie bei Mädchen als unmittelbare Gefahr für ihr ganzes Leben galt – wogegen nur helfe, sie den ,schädlichen Einflüssen’ ganz zu entziehen, bis die ,kritischen Jahre’ vorbei seien.[9] So wurden am Jugendgericht Chicago im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts 59 % der Jungen auf Bewährung freigelassen und 21 % an Institutionen überwiesen, dagegen bekamen nur 38 % der Mädchen eine Bewährung und 51 % kamen in Institutionen.[115][10]
Die auch von den Reformerinnen im Namen des ,Schutzes’ ausgeübte Disziplinierung junger Frauen und Mädchen insbesondere der Arbeiterschicht zeigt sich etwa an folgendem, von Odem beschriebenen Fall von 1920: Ein achtzehnjähriges Mädchen aus Los Angeles hatte in einem Hotel, wo beide arbeiteten, einen jungen Ungarn kennengelernt, und sie hatten bereits über eine Heirat gesprochen. Die Bewährungshelferin entdeckte später, dass der Mann schon Frau und Kind in seiner Heimat hatte und diese Ehe beenden wollte. Das Gericht verurteilte ihn zu neunzig Tagen Haft, das Mädchen wurde jedoch zwei Monate in eine Besserungsanstalt eingewiesen und dann zu Verwandten nach Kansas geschickt. Während der gerichtlichen Anhörung hielt Van Waters ihr folgende Standpauke:[129]
If you care for anyone enough to marry him, you better find out if he is married already and you better not have intercourse with him until you are married, understand that?
Auch hier wurde also ein liebendes Paar getrennt, ja mehr noch, gerade das Mädchen dauerhaft aus seiner eigenen Umgebung und Heimat herausgerissen. Dennoch hatten Reformerinnen wie Van Waters den ernsthaften eigenen Anspruch der ,Besserung’ im Interesse der Mädchen und nicht einer simplen Bestrafung. Auch durchbrachen sie die Anschauung, dass ein einmal eingetretener anatomischer Umstand ein Mädchen dauerhaft von den ,guten Frauen’ trenne. Damit wurde immer mehr der objektive Blick auf die Ursachen und Lebensumstände möglich.[131]
Ethel Sturges Dummers, eine wichtige Reformerin aus Chicago, die das von Van Waters gegründete ,El Retiro’ besucht hatte, war davon so begeistert, dass sie diese mit einer landesweiten Untersuchung von Mädchen-Besserungsanstalten beauftragte, um die neuen Methoden zu verbreiten. Van Waters diskutierte ihre Ergebnisse in einem Artikel ,Where Girls Go Right’ (1922), woraufhin jedoch viele männliche Beamte die ,milden’ Disziplinarmethoden und die ,freien Manieren’ (free and easy manners) der El-Retiro-Mädchen ablehnten. Überhaupt waren diese Reformerinnen an allen Ecken und Enden den Gegenschlägen des alten, repressiven Systems ausgesetzt, dem es nicht um die Mädchen ging, sondern um Dogmen und die Vorherrschaft einer doppelten Moral.[133][11]
Vor den weiblichen Gutachtern musste ein Mädchen oft genauso detailliert sein Sexualleben ausbreiten wie früher – zwar stand dies jetzt unter dem Vorzeichen von ,Schutz und Heilung’, war aber oftmals für das Mädchen selbst sicherlich kaum weniger demütigend.[144] Weiterhin wurde von den Mädchen vor einer Bewährungsstrafe gefordert, sich von ihrem Partner zu trennen – und sie blieben auch danach mehrere Jahre unter Beobachtung, oft bis sie einundzwanzig waren. Fast die Hälfte der Mädchen jedoch durften nicht nach Hause zurückkehren – ein Drittel dieser letzteren wurde als Hausbedienstete in private Haushalte geschickt, was den Staat weniger kostete als die eigenen Einrichtungen.[146]
Was die letzteren betraf, so überwies das Gericht in Los Angeles nur ein Viertel der Mädchen in das vorbildliche ,El Retiro’, den Rest in kirchlich getragene Einrichtungen, wo die älteren Mädchen oft achtundvierzig Stunden in der Woche arbeiten mussten.[148] Aber selbst die Mädchen aus ,El Retiro’ sprachen aufrichtig aus, dass sie das Herausnehmen aus ihrer eigenen Familie als ein Verbrechen empfanden, als etwas, was nicht sein dürfte. Mehrere Mädchen hatten dabei auch tiefes Mitleid mit ihrer allein zurückbleibenden Mutter, die nun ohne alles dastand.[148][12] Die Gerichte standen vor realen Problemen – aber sie verschärften sie meistens.[150]
Die Mädchen, die ohnehin schon von der Ungerechtigkeit einer ganzen Gesellschaft und vom Schicksal an die unterste Stufe gestellt worden waren, wurden nun ein zweites Mal sogar dafür noch bestraft. Es ist, wie wenn die beanspruchte ,Besserung’ (correction!) der ,delinquent working girls’ das kollektive Gewissen sehr erfolgreich davon ablenkte, dass es diese ,working girls’ überhaupt gab. Man hinterfragte nicht, dass schon junge Mädchen Geld verdienen mussten[13] – aber sobald sie sexuell aktiv wurden, um das Leben auch einmal zu genießen und um die Liebe zu erleben, sprang die ganze staatliche Maschinerie an...
Und während in Los Angeles jedes dritte Mädchen für lange Zeit in eine Einrichtung eingewiesen wurde, galt dies nur für jeden fünften Jungen, bei Anklage wegen ,statutory rape’ sogar nur für 9 % aller Jungen, über 80 % dagegen erhielten eine Bewährung![156]
In ihrer Zusammenfassung stellt Odem fest, dass in den 20er Jahren dann zwar Psychologen, Ärzte und andere Experten Sexualität immer mehr als etwas Positives erkannten und betonten, aber:[189]
Das extensive System aus Gerichten, Spezialpolizei, Vollzugs- und Besserungsanstalten, das von Sittlichkeitsreformern etabliert worden war, fuhr den größten Teil des zwanzigsten Jahrhunderts fort, die Sexualität junger Frauen und Mädchen zu überwachen und zu regulieren.
Fußnoten
[1] Alameda County Superior Court 1910 und 1920 (112 Fälle) und Los Angeles County Juvenile Court 1910 bis 1920 (31 Fälle). Während dies die Fälle von ,statutory rape’ (sexueller Kontakt trotz Schutzalter) waren, gab es in Los Angeles insgesamt 316 Fälle von ,delinquent girls’.[191]
[2] Interessanterweise waren die Männer in Alameda überwiegend 18 bis 24, in Los Angeles dagegen 15 bis 17 Jahre alt.[53]
[3] Und auch D’Emilio/Freedman stellen fest: ,Thus the social purity movement [...] effectively limited the sexual choices of working-class women as much as it protected them.’ John D’Emilio & Estelle B. Freedman: Intimate Matters. A History of Sexuality in America. New York 1989, p. 153.
[4] Männliche Jugendliche wurden dagegen nur zu kaum 5 % aus moralischen Gründen verhaftet, überwiegend dagegen wegen Diebstahl und Überfall.[155]
[5] All dies zeigt, wie heuchlerisch das Sexualstrafrecht oft an Stellen straft, wo es gar nichts zu suchen hätte – während echte gesellschaftliche Missstände vor sich hinschwelen, ohne Änderung zu erfahren! • Die Fabrik zum Beispiel war gewiss nicht der ideale Platz für ein fünfzehnjähriges Mädchen! Doch nur wenige Studien gingen so weit, die mögliche ,Delinquenz’ dieser Mädchen mit diesen schlimmen und ungerechten sozial-ökonomischen Verhältnissen zu verknüpfen und anstelle der Mädchen letztere zu kritisieren.[103]
[6] Das ging so weit, das zum Beispiel ein 22-jähriger Hausmeister (janitor), der ein 14-jähriges portugiesisches Mädchen in einem Büroraum vergewaltigt hatte, auf Bewährung freikam, weil ihm das Mädchen auf seine Aufforderung ja ohne Begleitung gefolgt sei und dies den Täter besonderer Versuchung aussetzte.[69] • Das unschuldige Vertrauen des Mädchens wird zum Quasi-Freispruch des Mannes. Mit anderen Worten: Es hätte wissen müssen, dass man einem Mann niemals vertrauen darf...
[7] Andere ,Rassen’ galten von vornherein als ,entartet’ bzw. die Diskriminierung der Farbigen zeigte sich auch hier. Als am Alamada Bezirksgericht ein Fall verhandelt wurde, wo ein fünfzehnjähriges Mädchen zu einem jungen Mann – beide schwarz – gezogen war, wurde dieser, obwohl beide heiraten wollten und er einen Job als Friseur hatte, zu zehn Jahren Haft im Staatsgefängnis San Quentin verurteilt.[80f]
[8] In den folgenden acht Jahren wurden hier fast 2.200 Verurteilungen erreicht. D’Emilio/Freedman, Intimate Matters, a.a.O., p. 210.
[9] So selbst Breckinridge/Abbott, The Delinquent Child, a.a.O., p. 27, 41. Entsprechend blieben vom Jugendgericht Los Angeles verurteilte Mädchen im Schnitt 2,6 Jahre in einer Besserungsanstalt, anfangs vierzehnjährige Mädchen sogar 3,7 Jahre.[118]
[10] Ebd., p. 40.
[11] Und sie wehrten sich mutig. Als Van Waters im von ihr gegründeten ,El Retiro’, wo sie aber keine offizielle Funktion hatte, 1923 einen Mitarbeiter entließ, der Mädchen geschlagen hatte, wurde sie vor weiteren Eingriffen gewarnt, doch sie behauptete kämpferisch ihr Recht, die besondere Tradition der Einrichtung zu wahren und sicherzustellen, dass die Mädchen gut behandelt würden: ,If they deny that right they ust prove that I do not possess it. They must challenge it!’ Schon 1920 hatte sie den Mädchen erlaubt, sich an der lokalen Oberschule anzumelden. Einige Männer des öffentlichen Lebens stellten dies als moralische Gefahr für andere Schüler hin – aber Van Waters sprach mit Müttern, Eltern-Lehrer-Organisationen und Beamten und überzeugte diese mit ihren Argumenten.[133f]
[12] Die von Odem aufgeführten Aussagen der Mädchen berühren unmittelbar: ,And when she has a home and parents I think it is a crime’. ,Why must we be taken away. My own mother has suffered hell and no doubt many others have.’[149] Hier werden Biografien unterworfen und vernichtet, statt zu helfen...
[13] Auch dies versuchte man durch Gesetz einfach zu ,verbieten’: Ab 1913 war in Kalifornien die Beschäftigung von Minderjährigen unter sechzehn verboten, bei großer familiärer Notwendigkeit konnten Beamte Arbeitserlaubnisse für Kinder ab zwölf erteilen.[171f]