Parthenophilie

Adorno über das Tabu ,minderjährig’

Theodor Adorno: Sexualtabus und Recht heute, in: Fritz Bauer et al. (Hg.): Sexualität und Verbrechen. Beiträge zur Strafrechtsreform. Frankfurt am Main 1963, S. 299-317, erneut in: Eingriffe. Frankfurt am Main 1966, erneut in: Kulturkritik und Gesellschaft I/II. Frankfurt am Main 1977, S. 533-554. epdf.tips. Im Folgenden Seitenangaben von 1977 in hochgestellten eckigen Klammern.

In einem Aufsatz über ,Sexualtabus und Recht heute’ äußerte sich der große Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno (1903-1969) mit großer Gedankenschärfe über die Fragen des Tabus.

Zunächst stellt er radikal fest:[533]

Zumal den sexuellen Tabus gegenüber ist es schwer, irgend etwas mit der Intention von Aufklärung zu formulieren, was nicht längst, zuletzt noch in der Ära der angeblichen Frauenemanzipation, erkannt und dann wieder verdrängt worden wäre. Die Einsichten Freuds über die infantile Sexualität und die Partialtriebe, welche der überlieferten Sexualmoral die letzte Legitimation entzogen, gelten unvermindert auch in einem Zeitalter, welches die Tiefenpsychologie entschärfen möchte; und was Karl Kraus in seinem unvergleichlichen Frühwerk ,Sittlichkeit und Kriminalität’ schrieb [...], ist weder an Stringenz noch an Autorität zu überbieten.

Im weiteren entlarvt er die ,Befreiung des Sexus’ als bloß scheinbar. Er wurde ebenso wie das Proletariat integriert und so unschädlich gemacht:[534]

Die rationale Gesellschaft, die auf Beherrschung der inneren und äußeren Natur beruht und das diffuse, der Arbeitsmoral und dem herrschaftlichen Prinzip selber abträgliche Lustprinzip bändigt, bedarf nicht länger des patriarchalischen Gebots von Enthaltsamkeit, Jungfräulichkeit, Keuschheit. Sondern der an- und abgestellte, gesteuerte und in ungezählten Formen von der materiellen und kulturellen Industrie ausgebeutete Sexus wird, im Einklang mit seiner Manipulation, von der Gesellschaft geschluckt, institutionalisiert, verwaltet.

Er stellt fest, dass der Sexus neutralisiert wurde und dass ,die Sexualtabus in Wahrheit nicht fielen’, nur ,eine neue, tiefere Form von Verdrängung’ erreicht wurde. Der Sexus wird als ,sex, gleichsam eine Variante des Sports, entgiftet’, während das Nicht-Eingliederbare weiterhin ,der Gesellschaft verhaßt’ sei. Und Vorurteil und Verdrängung, die den Nazis ihre Massenbasis verschaffen halfen, würden noch immer ,das Reservoir autoritätsgebundener Charaktere speisen’, die auch dem nächsten Totalitarismus nachlaufen würden.
Der desexualisierte Sexus sei von einer genitalen Zentrierung gekennzeichnet, die hoch narzisstisch und damit immer mehr ohne echte Befriedigung sei.

Adorno verweist des Weiteren darauf, dass repressive Vorstellungen um so grausamer würden, je ausgehöhlter sie seien: ,Die Hexenprozesse blühten, als der thomistische Universalismus zerfallen war’. Wenn das Dogma wegfällt, verstärkt sich die Macht des Tabus paradoxerweise zunächst noch, weil es nun nicht einmal mehr eine Angriffsfläche bietet – es existiert gleichsam weiter, ohne sich begründen zu müssen, gottgleich.[1] Er verweist auf die Doppelmoral gegenüber den verfolgten Prostituierten, auf den ,abscheulichen Homosexuellenparagraphen’. Und dann:[543]

Das stärkste Tabu von allen jedoch ist im Augenblick jenes, dessen Stichwort „minderjährig“ lautet und das schon sich austobte, als Freud die infantile Sexualität entdeckte. [...] Allbekannt, daß Tabus um so stärker werden, je mehr der ihnen Hörige unbewußt selber begehrt, worauf die Strafe gesetzt ist. Der Grund für den Minderjährigenkomplex dürfte in ungemein mächtigen Triebregungen liegen, die er abwehrt. Man muß ihn zusammendenken damit, daß im zwanzigsten Jahrhundert [...] das erotische Ideal infantil wurde, zu dem, was man vor dreißig oder vierzig Jahren mit lüsternem Schauer Weibkind nannte. Der Erfolg der Lolita, die nicht lasziv ist und immerhin zuviel literarische Qualität für einen Beststeller hat, wäre einzig durch die Gewalt jener Imago zu erklären. Wahrscheinlich hat das verpönte Wunschbild auch seinen gesellschaftlichen Aspekt, den akkumulierten Widerwillen gegen einen Zustand, der Pubertät und Selbständigkeit des Menschen temporal auseinanderreißt.

Er stellt fest, dass selbstverständlich verhindert werden müsse, dass Kindern Gewalt geschieht oder Positionen gegenüber Abhängigen missbraucht werden – dass aber eine Zeit ganz offensichtlich extreme Tabus habe, die ,am liebsten auf jeden Spielplatz hinter jedes Kind eine sittlich gereifte Polizistin stellen’ möchte und für die ein ,Herr von Ribbeck’, der kleinen Mädchen (und Jungen) Birnen schenkt, sich heute sogleich verdächtig machen würde. Ganz klar stellt er fest: ,Gerade als unverstümmelter, unverdrängter bereitet der Sexus an sich keinem Menschen etwas Übles.’ Das Üble entsteht also gerade durch die Tabus, die ihn verstümmeln. Mit Blick auf das Politische fährt Adorno fort:[545]

Angesichts der aktuellen und potentiellen Schäden, die gegenwärtig der Menschheit von ihren Verwaltern angetan werden, hat das sexuelle Schutzbedürfnis etwas Irres [...].

Man denke hier an das atomare Wettrüsten, an die Vernichtung der Natur, des Klimas, des Planeten... Und dann kommt er auf das ganz Konkrete zu sprechen:[545]

Bei den Schutzgesetzen für Minderjährige wäre zumindest zu prüfen, ob sie wirklich die Opfer sei’s von Gewalt, sei’s von abgefeimten Täuschungsmanövern sind, oder ob sie nicht selbst längst in jenem Zustand sich befinden, den das Gesetz zu verzögern sich anmaßt, und ob sie nicht ihren Mißbrauch aus Freude an der Sache, vielleicht auch nur um zu erpressen, selbst provozierten.

Bei ,Freude an der Sache’ wäre natürlich das Wort ,Missbrauch’ in klaren Anführungszeichen zu denken – denn Missbrauch und Freude sind unvereinbar. Adorno spricht für nichts Geringeres, als dafür, die Kategorie des Einverständnisses wieder ernstzunehmen. Das ,Irre’ dagegen kommt in Folgendem zum Ausdruck:[546]

Stets noch werden, wie Karl Kraus erkannte, unerlaubte Zärtlichkeiten gegen Minderjährige härter bestraft, als wenn Eltern oder Lehrherren sie halbtot prügeln.[2] [...] Prinzipiell und mit unvermeidlicher Übertreibung wäre wohl zu sagen, daß in Recht und Sitte all das Sympathie findet, worin Verhaltensweisen der gesellschaftlichen Unterdrückung – letztlich der sadistischen Gewalt – sich fortsetzen, während unerbittlich reagiert wird auf Verhaltensweisen, die dem Gewalttätigen gesellschaftlicher Ordnung selbst entgegen sind.

Mit anderen Worten: Körperliche Gewalt bis hin zum Totschlag, wird tendenziell und in vielen Fällen harmloser bestraft, als Sexualität mit Minderjährigen aus dem Bereich der Zärtlichkeit.[3] Generell gilt: Über wieviel Gewalt die Gesellschaft auch heute noch immer hinwegsieht und über wie wenig sexuelle Handlungen, ist gerade ein Beweis für das absolute Tabu – das sehr wohl für das Sexuelle gilt, nicht aber für die Gewalt. Und für das Sexuelle selbst da, wo es beiderseitig gewünscht war.

Am Ende verfasst Adorno, ganz Aufklärer und Philosoph, ein kleines ,Forschungsprogramm’, mit dem das Tabu Stück für Stück entlarvt werden würde – als haltlos und irrational. Die neun Punkte sind, zusammengefasst:[550ff]

1. Eine Repräsentativumfrage, die das Verhältnis zwischen ,sexuellen Vorurteilen und Strafphantasien’ und autoritären Veranlagungen und Neigungen ans Licht bringen könnte.
2. Eine Untersuchung von Urteilsbegründungen, ihrer Argumentation und Logik mit Hilfe der analytischen Psychologie.
3. Eine psychoanalytische Untersuchung von Inhaftierten und ein Vergleich mit den Urteilsbegründungen.
4. Eine Untersuchung der Strafgesetze auf ihre immanente Konsequenz hin.
5. Eine Untersuchung des im Vorfeld der Anklage ausgeübten Drucks auf Angeschuldigte.
6. Eine Überprüfung von Prozessen mit sexuellen Elementen auf deren Rolle bezüglich des Ablaufs und Urteils.
7. Eine kritische Analyse dogmatischer Begriffe wie ,gesundes Volksempfinden’, ,allgemein geltende Anschauung’, ,natürliche Moral’ etc.
8. Untersuchung der nachweisbaren Folgen gewisser Handlungen und Vergleich mit den behaupteten Schäden.[4]
9. Untersuchung dessen, was laut Vorschrift oder ,Selbstkontrolle’ etwa in der Filmindustrie alles ,an Liebkosungen, Exhibitionen und angeblich Obszönem eliminiert’ und andererseits an sadistischen Akten, Gewaltverbrechen etc. zugelassen wird.

Mit diesen Punkten würden die unbegründeten Tabus ganz klar aufgedeckt werden. Es ist zum Beispiel, um an den letzten Punkt anzuknüpfen, noch immer ein Tabu, in Film und Fernsehen Geschlechtsverkehr unter oder mit Minderjährigen zu zeigen. Warum? Weil es diesen nicht gibt? Nicht geben darf? Dieser nicht vor die Augen von Minderjährigen gelangen darf? Warum? Und mit welchen Begründungen? Das Tabu existiert... Und man braucht gar nicht bis zu Geschlechtsverkehr zu gehen – es reicht erotische Zärtlichkeit mit einem halbnackten Mädchen. Man stelle sich dies in der heutigen medialen Landschaft vor! Offenbar darf dies nicht sein. Und das, während halbstündlich Morde und andere Gewalttaten über Leinwände und Bildschirme flimmern – Tag für Tag.[5]

                                                                                                                                       *

Das Tabu lässt sich auch heute bis in normale Broschüren von Jugendämtern etc. verfolgen. So heißt es in einer solchen des Jugendamts Nürnberg unter Hinweis auf das Grundgesetz zunächst:[6]

Jeder Mensch hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, das heißt auch auf die Gestaltung seiner eigenen Sexualität.

Um dann sofort auf das Strafrecht (§ 176 StGB) zu verweisen:

Alle sexuellen Handlungen an, vor und mit einem Kind unter 14 Jahren gelten als Missbrauch, sind verboten und werden je nach Schwere des Falles mit nicht unerheblicher Freiheitsstrafe[7] bestraft.

Oder auch § 180 (1), der als Rest des einst berüchtigten Kuppeleiparagrafen heute nur noch dazu dient, Jugendsexualität zu verhindern, Hervorhebung von mir:

Wer sexuelle Handlungen vor oder an einem Mädchen oder Jungen unter 16 Jahren vermittelt oder dafür Gelegenheiten schafft und damit direkt unterstützt, macht sich strafbar.

Natürlich kann eine Jugendamtbroschüre nicht anders, als auf die Gesetzeslage – die das Tabu zementiert – zu verweisen. Der obige Satz suggeriert jedoch in aberwitziger Weise eine absolute Passivität der Jugendlichen. ,An’ einem Mädchen!? Der korrekte Wortlaut ist:[8]

Wer sexuellen Handlungen einer Person unter sechzehn Jahren an oder vor einem Dritten oder sexuellen Handlungen eines Dritten an einer Person unter sechzehn Jahren durch seine Vermittlung oder durch Gewähren oder Verschaffen von Gelegenheit Vorschub leistet [...].

Auch hier wird Sexualität als etwas Zärtlich-Gegenseitiges totgeschwiegen, nicht aber die Aktivität der Jugendlichen selbst.

Ebenso aberwitzig ist eine Tabelle am Ende der Broschüre, die verschiedene Altersstufen (unter 14, 14-17, volljährig) ,paart’ und mit ,Smileys’ anzeigt, was ,verboten’, ,erlaubt, jedoch mit Einschränkungen’ und ,erlaubt’ ist. Kinder ,unter 14’ sind für jeden ,verboten’ – sogar für ihresgleichen. Zwölf- oder Dreizehnjährige, geschweige denn echte Kinder, dürfen untereinander in keinster Weise sexuell zärtlich werden. Nichts da mit freier Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Tabu Nummer Eins. Dann die 14- bis 17-Jährigen: Hier ist Sexualität stets nur ,mit Einschränkungen’ erlaubt, sowohl mit Gleichaltrigen als auch mit Älteren – symbolisiert durch einen nicht lächelnden, gelben Smiley, dessen Strichmund so breit ist wie ein Stoppschild. Worin diese Einschränkungen liegen sollen, erschließt sich nicht. Der Gesetzestext gibt dann her, dass lediglich die ,Ausnutzung einer Zwangslage’ verboten ist[9] – was selbstverständlich sein sollte, in der Tabelle aber sogleich ohne weitere Erläuterung für den eher abschreckenden Smiley ausgenutzt wird. Und dann – endlich! – gibt es in der Spalte, wo ,vollährig’ auf ,volljährig’ trifft, einen blauen, richtigen, lachenden Smiley: Jetzt also darf man wirklich, ohne Angst und Einschränkungen, Sex haben.[10]

Die Infamität dieser jedem normalen Intelligenzquotienten spottenden, auf Smiley-Signale hinauslaufenden sexuellen Bevormundung und Beeinflussung ist geradezu unglaublich.
 

Fußnoten


[1] Man kann dies mit der Ohnmacht eines Jünglings vergleichen, der das Unrecht der väterlichen Autorität längst durchschaut hat – und sich ihr dennoch weiter beugt, weil sie zunächst unausweichlich und noch immer übermächtig erscheint.

[2] Siehe zum Beispiel: ,Hätte der Vater sie gestoßen, gepeitscht, am Familienherd geröstet, er wäre mit der Strafe der Verwarnung davongekommen. Aber weil er ihren Körper Zärtlichkeiten aussetzte, kommt er auf ein Jahr ins Zuchthaus. In diesen Grenzen des Irrsinns lebt unsere Sittlichkeit.’ Karl Kraus: Prozeß Veith, in: Die Fackel 10(263), 1-28, hier 27, 26.10.1908.

[3] Mag diese etwa vom Mädchen auch nicht immer gewollt gewesen sein, so ist körperliche Gewalt mit Sicherheit nie gewollt. Und körperliche Gewalt zielt immer auf direkte Beeinträchtigung und Schmerzen des Gegenüber – sexuelle Berührungen nie, es sei denn, das Mädchen dient nur als Sexualobjekt und wird sogar gewaltsam dazu gemacht. Das ist in allen ,Unzucht’-Fällen jedoch gerade die Ausnahme. Die Tat dient vielleicht dem Lustgewinn des Täters, aber nicht der Schädigung des Mädchens. Sehr viele Fälle dürften auf echte Gegenseitigkeit abzielen, auch wenn der Mann vielleicht nicht fähig ist, mit den möglicherweise sehr anderen Bedürfnissen des Mädchens zu rechnen oder auf diese einzugehen. Von noch intimerem Einverständnis und gegebener Gegenseitigkeit sowie ausdrücklich initiativen Mädchen ganz abgesehen.

[4] Adorno bezieht sich hier auf die Beispiele Exhibitionismus und ,Verbreitung unzüchtiger Schriften’, dies lässt sich jedoch ohne Weiteres auf weitere Handlungen ausdehnen – nicht zuletzt auch auf die Folgen der Gerichtsverfahren selbst (Stichwort Traumatisierung).

[5] Dann gibt es so seltsame Entscheidungen wie bei dem herzerwärmenden Film ,Keinohrhasen’ von und mit Til Schweiger. Nach Protesten von Eltern wurde die FSK-Freigabe schließlich auf zwölf Jahre hochgesetzt. Einer Redakteurin der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung war selbst dies noch nicht genug: ,Mit seinen dauernden Gesprächen über Sex ist er aber auch für Kinder und Jugendliche ab zwölf völlig ungeeignet.’ Florentine Fritzen: „FSK 12“ – Nichts für Kinder. FAZ.net, 3.10.2010.

[6] Jugendliche und Sexualität. Verboten oder erlaubt? Jugendamt Nürnberg 01/2011, www.bjr.de.

[7] Als wäre Freiheitsstrafe – ein Euphemismus für Gefängnis (!) – jemals unerheblich!

[8]§ 180 StGB (Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger). www.gesetze-im-internet.de.

[9] Der Gesetzgeber geht also davon aus, dass erwachsene Frauen sich auch in einer solchen selber zu helfen wissen – oder sich notfalls prostitutieren dürfen?

[10] Das alles wirkt, als hätten die Produzenten der Broschüre das Rad der Geschichte gerne wieder viele Jahrzehnte zurückgedreht. Bis hin zur allerletzten Spalte ,ab 21’, wo sich gegenüber ,volljährig’ rein gar nichts ändert, nur die Gesamtaussage der Tabelle einfach noch mehr in Richtung ,Werde erstmal ganz, ganz erwachsen’ verlagert wird.