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Gedanken zu einem künftigen Strafrecht
Das bisherige Strafrecht will Missbrauch verhindern. Es begeht dabei zwei Kardinalfehler: Es setzt völlig abstrakt eine feste Altersgrenze, die dem Leben niemals gerecht werden kann, in beide Richtungen nicht. Und es definiert ,Missbrauch’ überhaupt nicht, sondern kriminalisiert bestimmte Handlungen – definierend, dass genau diese Handlungen Missbrauch seien. Der zweite Kardinalfehler ist also die Behauptung, eine ,sexuelle Handlung’ sei bis zu einem gewissen Alter stets Missbrauch.
So kommt dieses mit den zwei Kardinalfehlern behaftete Strafrecht dazu, dass ein zärtliches Streicheln eines Mädchens, das von gegenseitiger Liebe getragen ist, mit Gefängnis bestraft werden kann – während dasselbe Mädchen vielleicht zwei Tage später völlig legal Geschlechtsverkehr und alles mögliche Andere (Sado-Maso-Spiele, Bonding etc.) praktizieren könnte. Diese Absurdität muss man wirklich nachempfinden – denn nur so wird die hilflose Idiotie des gegenwärtigen Strafrechts völlig evident. Was man durch die ,brutale Macht des Faktischen’ akzeptiert, erscheint normal. Erst da, wo sich das Erlebnis ,Der Kaiser ist ja nackt!’ einstellt – erst da, wo die Brutalität des sogenannten ,Rechts’ gegenüber realen Menschen, auch gegenüber dem Mädchen, völlig zutage tritt, im eigenen Erleben, ist der Punkt erreicht, wo man über ein moderneres, zukünftigeres Strafrecht nachdenken muss, weil man die gegenwärtige Absurdität gar nicht mehr aushält.
Wie aber könnte ein solches menschlicheres, auch dem Mädchen gerechter werdendes Strafrecht aussehen?
Wer Menschlichkeit und Zukunft denken will, darf und sollte erst einmal echte Visionen haben – ohne dass diese von sogenannten ,Pragmatikern’ gleich belächelt werden. Die Pragmatiker sind es doch gerade, die die gegenwärtige haltlose Situation geschaffen haben – realitätsfremde Regelungen, die Menschenleben ruinieren, statt Menschen zu schützen. Ich rede immer von den zahlreichen Ausnahmen, die das Gesetz auf dem Gewissen hat, weil es sie nicht berücksichtigt. Nicht berücksichtigen zu können meint – also schlicht und einfach als ,Kollateralschäden’ akzeptiert. Und deswegen sogar hier noch belehrend und moralisierend, einschüchternd und strafend auftritt, obwohl offensichtlich ist, dass es hier lebensfremde Fehlurteile gibt, weil der buchstäbliche Buchstabe des Gesetzes gar keine andere Möglichkeit offenlässt.
Der Buchstabe tötet. Er tötet die sexuelle Selbstbestimmung des Mädchens (und erklärt sie nach der Tötung für nicht vorhanden). Er tötet Liebesverhältnisse (und erklärt sie für nicht real). Er tötet Lebensperspektiven von Menschen (und behauptet, er würde sie gerade neu eröffnen). Verlogener als jetzt können die Verhältnisse kaum sein.
Das jetzige Strafrecht wirkt in Bezug auf echte Liebe eines Mannes zu einem Mädchen wie eine Schar gehässiger Raben, auf die eine Passage zu Beginn von Schlegels ,Lucinde’ (1799) zutrifft:[1]
Nicht der königliche Adler allein darf das Gekrächz der Raben verachten; auch der Schwan ist stolz, und nimmt es nicht wahr. Ihn kümmert nichts, als daß der Glanz seiner weißen Fittiche rein bleibe. Er sinnt nur darauf, sich an den Schoß der Leda zu schmiegen, ohne ihn zu verletzen; und alles was sterblich ist an ihm, in Gesänge auszuhauchen.
Tatsache aber ist, dass die heutigen Raben den liebenden Schwan wirklich umbringen können – und dies selbst dann, wenn das Mädchen verzweifelt um dessen Leben bitten würde...
Und was impft den Raben ihren Hass ein, was macht sie zu diesen hässlichen Raben? Das Dogma, dass ein Mann und ein Mädchen sich überhaupt nicht lieben könnten! Diesem völlig fehlgeleiteten Glauben und seinen brutalen Konsequenzen kann man nur die Worte Carpenters entgegenhalten:[2]
Heisst es zu viel erwarten, dass eine vernünftige menschliche Gesellschaft imstande sein wird, diese und ähnliche Dinge zu erkennen? [...] Vielleicht wird sie erkennen, dass aufrichtige Liebe [...] ihre eigene Rechtfertigung ist, und dass, wie mannigfach, wie sonderbar oder wie ungewöhnlich die Umstände und die Kombination sein mögen, in denen sie sich offenbart, sie dennoch immer verlangen darf, von der Gesellschaft mit der äussersten Achtung und Ehrfurcht behandelt zu werden als etwas, was sich selbst Gesetz ist [...].
Entwickeln wir also visionär Elemente eines neuen Strafrechts des Mädchens.
Wenn es wirklich um den Schutz des Mädchens gehen soll; wenn wirklich vor Missbrauch geschützt werden soll und nicht vor herbeifabulierten Missbrauchstatbeständen, die nur der Gesetzgeber als Missbrauch definiert, dann ist ein Element unhintergehbar: das Mädchen selbst. Solange nicht das Mädchen ganz und gar im Zentrum des Geschehens steht, können sich die Fehlurteile nur bis in alle Ewigkeit wiederholen. Das Mädchen selbst muss also das zentrale Subjekt in dieser Frage werden.
Als nächstes wäre eine Altersspanne zu setzen, innerhalb derer die Mädchen geschützt sind, weil ihr Handeln und ihre Erlebnisse innerhalb dieser Altersspanne nicht kriminalisiert werden, sondern zum Besten der Mädchen geprüft werden. Und – noch einen Schritt weitergehend –, diese schützende Prüfung könnte sehr gut und sogar am besten ihrerseits durch Mädchen selbst geschehen. Ich habe ein solches Verfahren in meinem Roman ,Majas Magie’ angedeutet. Was ich meine, ist, dass es Mädchenrichterinnen geben könnte – denn Mädchen selbst sind am besten und sichersten in der Lage, zu erkennen, wo für ein Mädchen etwas Missbrauch war, wo etwas nicht im Geringsten Missbrauch war, wie Grenzfälle und Ambivalenzen abzuwägen wären etc. Niemand anders als Mädchen selbst sind hier in tiefster Weise urteilsfähig. Und man kann gerne an etwas ältere Mädchen denken. Aber sie alle sollten bedingungslose Anwältinnen desjenigen Mädchens sein, um dessen ,Fall’ es dann geht.
In dem genannten Roman skizziert der Mann, der hier das Mädchen Maja bedingungslos liebt, diese Idee mit folgenden Worten:[3]
Weißt du, es ist doch großartig, dass die Mädchen geschützt werden sollen, das sollen sie unbedingt! Aber man sollte sie wenigstens selbst fragen! Und wenn man dem Urteil des einzelnen Mädchens überhaupt nicht vertraut, dann sollte es eben ... Mädchenrichter geben. Kleine Gemeinschaften von Mädchen, die über solche Fälle entscheiden. Und die hören dann erst das Mädchen an. Dann den Mann. Und dann beide. Und dann entscheiden sie, ob es für das Mädchen ,gefährlich’ ist, dass die beiden sich mögen, oder ob sie es einfach dürfen!
Wieso bilden sich eigentlich erwachsene Männer ein – oder auch Frauen –, über einen anderen Mann entscheiden zu dürfen, ob er ein Mädchen lieben darf? Wenn das Mädchen geschützt werden soll, müssten doch Mädchen beurteilen, wann das Mädchen diesen Schutz wirklich braucht, weil es wirklich gefährlich wird. Die Urteile von Erwachsenen können hier doch wirklich nur von Angst, von Starrheit, von übertriebener Vorsicht, von Vorurteilen, Antipathie und sonst etwas bestimmt sein! Wer schützt den Mann – und das Mädchen! – denn vor dem allen!?
Wie hochmütig kann man denn sein, zu behaupten, dass man ,Mädchenschutz’ betreibe, in Wirklichkeit aber nur ein abstraktes, starr gewordenes Prinzip durchsetzt, dessen Durchsetzung von Abneigung, Vorurteilen, Verurteilung und natürlich Selbstgerechtigkeit nur so trieft!? Wie kann man denn nur wirklich glauben, man täte da noch das Gute? Man hat sich für dieses Gute doch völlig blind gemacht! [...]
Nur erklär das mal all den Erwachsenen, die es ja ach! so viel besser wissen. Erklär ihnen mal, dass es Mädchenrichterinnen geben sollte! Die würden dich doch auslachen! Denn, so sagen sie dann, Mädchen können diese Dinge doch per Definition noch nicht beurteilen! Es sind natürlich Erwachsenendefinitionen! Sie können es per Definition noch überhaupt nicht beurteilen – und jetzt kommen sie mit so einem süßen, törichten, naiven Vorschlag! Der beweist ja gerade, wie sehr sie noch geschützt werden müssen! Und dass der Mann mit so einem Vorschlag kommt, war ja klar! Der will ja die ,naiven Dinger’ nur dazu kriegen, dass er ihnen die Ohren vollsäuseln kann und nicht einem erwachsenen Mann, der sofort durchschaut, worauf dieser werte Herr aus ist! Nein – kein Mitleid mit niemandem! Jeder Mann, der an ein Mädchen heranwill und gar noch ,Mädchenrichterinnen’ fordert, ist ein Perverser! Und immer und immer wieder dreht sich das Karussell im Kreis, Maja – die Gebetsmühle: Männer sind Schweine, Mädchen sind naive Dummchen, die noch den vollen Schutz brauchen. Das ist die Logik der Erwachsenen. Sie hat es bis hierhin geschafft, im einundzwanzigsten Jahrhundert! Was für eine Leistung...’
Wenn sich das erstarrte Rechtssystem nicht dazu bequemen kann, Mädchenrichterinnen (möglichst immer eine Gruppe von drei bis fünf Mädchen) auch nur zuzulassen, dann könnten solche Mädchen Beisitzerinnen sein – wenn möglich aber auch hier nach Art einer Jury wie im amerikanischen System, an deren Urteil der Richter selbst nur schwer vorbeikann.
Sinnvoll wäre es auch, wenn sämtliche Fälle, deren Missbrauchscharakter unklar ist, allein schon zum Schutz des Mädchens zunächst dem Gerichtswesen entzogen werden und in einen niederschwelligeren Umkreis der Sozialarbeit (Jugendamt, freie Träger etc.) verlagert werden, um erst bei einer Feststellung von Missbrauch vor Gericht zu kommen. In der vorgelagerten Sphäre wäre dann aber ebenfalls der Prüfung des Falles durch Mädchen größtes Gewicht zu geben.
Indem jeder Einzelfall nicht nach festen, lebensfremden und damit Unrechts-Kategorien, sondern real und individuell in Augenschein genommen wird, wird das Recht menschlich. Nicht voreingenommene Richter, die im Grunde primär danach urteilen, ob das Mädchen schon vierzehn war oder nicht, urteilen über den Fall, der so schon von vornherein ,eindeutig’ wäre (was eben gerade die Unwahrheit und Lüge ist), sondern die Mädchenrichterinnen eines solchen Falles würden das Mädchen, den Mann und beide gemeinsam befragen – bis sie sich sicher darüber sind, wie über diesen Fall zu urteilen wäre.
Zu den Fragen, die in diesem Zusammenhang zu stellen wären, könnten insbesondere solche wie die folgenden gehören – die sich zunächst an das Mädchen richten (nachfolgend dann jeweils eine Auswahl möglicher Antworten):
Was habt ihr gemacht?
Wir waren miteinander zärtlich / Wir haben miteinander geschlafen / Er hat mich befriedigt / Ich musste ihn befriedigen / Das will ich nicht sagen / Warum muss ich das hier sagen?
Welche Handlungen waren dabei beteiligt?
Warum wollt ihr das so genau wissen? / Er hat mich gestreichelt / etc.
Wie fandest du es / Wie hast du dich gefühlt?
Wunderschön / schön / es geht / weiß nicht / schlecht / sehr schlecht / eklig / schrecklich.
Würdest du es wieder machen (wollen)?
Ja, unbedingt / ja / wahrscheinlich / ich denke schon / vielleicht / ich weiß nicht / eher nicht / nein / auf keinen Fall.
Was würdest du dir von dem Mann wünschen?
Er hat auch einen Namen! / Ich wünsche mir nur, dass wir in Ruhe gelassen werden / Ich hab alles, was ich mir wünsche / Dass er immer so zärtlich ist wie jetzt / Dass er mich für immer liebt / Dass er zärtlicher gewesen wäre / Ich will ihn eigentlich nicht mehr sehen.
Wie habt ihr euch kennengelernt?
Warum wollt ihr das so genau wissen? / Wir kannten uns schon lange / Er hat mich bei 8/55 angesprochen / Wir haben uns im Freibad getroffen / etc.
Wie lange kanntet ihr euch, bevor ihr intim miteinander wurdet?
Wofür ist das wichtig? / drei Jahre / fünf Monate / zwei Wochen / vier Tage.
Wer wollte es?
Ich / wir beide / wir beide, aber ich habe ihn immer wieder gedrängt / beide, aber er mehr / eigentlich er / ich wollte es eigentlich gar nicht / er wollte es.
Hättest du dir gewünscht, ihr hättet noch gewartet?
Nein, warum? / Nein, er hat schon viel zu lange gewartet / Weiß ich nicht / Vielleicht, aber nur, weil es jetzt so aussieht, als hätten wir was Falsches gemacht / Vielleicht, ja / Ich glaub schon / Ja, hätte ich.
Wie findest du das Sexuelle?
Warum fragt ihr so was? / Ich finde, das geht euch gar nichts an / Ich hab noch nie so was Schönes erlebt / Wunderschön / Unglaublich schön – aber nur mit ihm! / Es ist nicht sexuell, es ist zärtlich / Schön, aber... / Schön, aber – er will es vielleicht ein bisschen zu oft / Schön, aber es müsste auch nicht sein / Schön, aber er will irgendwie nur das / Eigentlich nicht so schön / Eher nicht schön / Ehrlich gesagt, eher eklig.
Willst du noch etwas sagen?
Was passiert jetzt genau? / Lassen die uns jetzt wieder in Ruhe? / Muss mein Freund jetzt ins Gefängnis? / Wieso ist das denn so schlecht, was wir gemacht haben? / Ich finde es schlimm, dass ich alles so genau sagen und beantworten musste / Danke, dass ihr so lieb wart / Müssen wir jetzt auch noch vor einen Richter? / Ist es jetzt vorbei?
Wünschst du dir für ihn eine Strafe?
Wie könnt ihr das nur fragen? / Auf keinen Fall! / Nein, warum denn? / Wieso Strafe!? / Weiß ich nicht... / Nein... / Vielleicht nur eine kleine / vielleicht / kann sein / ja / ja, das tue ich, unbedingt!
Welche?
Es soll auch ihm mal jemand die Brust betatschen, wenn man es nicht will / Er soll drei Wochen bei der Müllabfuhr arbeiten / Er soll einen Kurs machen, wie man zärtlicher sein kann / Einen Tag Gefängnis / Drei Wochen Gefängnis / Ein Monat Gefängnis / Ein Jahr Gefängnis / Zehn Jahre Gefängnis / Er soll nie mehr ein Mädchen ansprechen dürfen.
Und Fragen an den Mann könnten sein:
Wo und wie hast du das Mädchen angesprochen?
Wir haben uns gegenseitig kennengelernt / Wir kannten uns schon sehr lange / Im Park / Im Freibad / Im Chat / etc.
Wie stehst du zu dem Mädchen?
Ich liebe sie / ich mag sie unglaublich / ich finde sie sympathisch / ich finde sie süß / ich finde sie geil.
Hast du daran gedacht, dass es noch zu früh sein könnte?
Ja, habe ich, aber sie fand es wunderschön, und wir konnten und wollten beide nicht aufhören / Ja, schon – aber sie wollte es und fragte mich immer wieder... / Ja, aber sie war einverstanden – und fand es selbst auch sehr, sehr schön / Ja, aber sie fand es okay / Nein, nicht bei ihr / Nein, wieso? / So ein Quatsch / Es ist nie zu früh.
Hat sie jemals Zweifel geäußert, dass sie es nicht will?
Nein, nie, im Gegenteil / Nein, nie / Nein, hat sie nicht / Nur am Anfang / Ja, schon ein bisschen / Ja, das tun Mädchen ja immer.
Was hast du jetzt vor?
Ich liebe sie einfach, was genau meint ihr? / Ich will noch zärtlicher zu ihr sein – ihr habt mir einiges klargemacht... / Ich mag sie total, ich will einfach weiter mit ihr zusammen sein / Weitermachen wie bisher / Ich weiß nicht, was euch das angeht!
Was hier in diesen Fragen nur ganz grob und stichpunktartig angedeutet ist, zeigt bereits die ganz außerordentliche Fülle und Breite von Möglichkeiten – und die Fragen und Antworten sind selbst wieder nur eine kleine Auswahl. Würde man ernsthaft auch nur versuchen, die ganze Spannbreite des Lebens abzubilden, würde ein ganzes Buch nicht reichen. Aber was die hier nur angedeutete Spannbreite hoffentlich unmittelbar deutlich macht, ist, dass jedes abstrakte, nur auf zwei holzschnittartige Kriterien gebaute Strafrecht zum Unrecht werden muss. Es geht gar nicht anders.
Ein echtes, das Mädchen ins Zentrum stellendes Strafrecht zur Missbrauchsfrage würde also unbedingt zu dem Gedanken von Mädchenrichterinnen kommen, in welcher Form auch immer, und zu einer Auslagerung sämtlicher Zweifelsfälle, um zunächst einmal die entscheidende Frage zu prüfen: ob denn von irgendeinem Missbrauch vielleicht gesprochen werden muss – oder aber eben von vielleicht doch etwas völlig anderem.
Die Möglichkeit, dass ein Mädchen dieselbe Situation wenige Jahre später anders anschauen könnte, kann in der Form einbezogen werden, dass das Mädchen auch bei sogenannter Einvernehmlichkeit noch einige Jahre später klagen kann. Mit anderen Worten: Eine sexuelle Handlung mit einem Mädchen ist nicht per se strafbar – könnte es aber werden, wenn das Mädchen zu dem Schluss kommt, die Handlung sollte noch im Nachhinein bestraft werden. Wo bisher ein Mann sicher ist, eine strafbare Handlung zu begehen, so kann er in Zukunft nicht völlig sicher sein, dass sie straflos bleibt, auch wenn das Mädchen jetzt Ja sagt. Das geht mit einer gewissen Rechtsunsicherheit des Mannes einher – dem steht aber das bisherige Unrecht gegenüber. Lebensnah ist einzig und allein diese Rechtsunsicherheit – und nicht die Abstrafung des Mannes, obwohl das Mädchen Ja gesagt hat.
Und wie könnte dann ein möglicher Gesetzestext aussehen? Denn auf Gesetzestexte läuft schließlich ja doch alles hinaus. Das Gesetz muss formulieren, wann was geschieht. Ich bin kein Jurist, aber ich skizziere einfach eine Art erste Gestalt, in deren Richtung es gehen könnte, wenn man alles zuvor Gesagte mit einzubeziehen versucht.[4]
Sexueller Missbrauch
1. Sexueller Missbrauch ist jede Handlung an, vor oder mit einem Mädchen, die der sexuellen Befriedigung eines Menschen dient, ohne dass sie auch vom Mädchen gewollt wurde.
2. Vom Mädchen nicht gewollte sexuelle Handlungen werden in einfachen Fällen mit Geldstrafe oder Haft bis zu zwei Jahren, in schweren Fällen mit Haft nicht unter zwei Jahren bestraft.
3. Ambivalente und Zweifelsfälle werden zunächst vom örtlichen Jugendamt oder einem hiermit beauftragten freien Träger untersucht. Sofern das Mädchen die Handlung nicht eindeutig ablehnt oder abgelehnt hat, gelten alle sexuellen Handlungen an, vor oder mit einem noch nicht vierzehnjährigen Mädchen als Zweifelsfall.
4. Die Prüfung eines Zweifelfalls erfolgt durch ausgebildete Psychologen und/oder Sozialarbeiter. Diese werden von jeweils zu berufenden Kollegien von drei bis fünf ehrenamtlichen Mädchenrichterinnen beraten, die bei der Befragung des Mädchens und ihres Partners entscheidend mitwirken. Näheres regelt eine Durchführungsverordnung.
5. Je nach Ergebnis der Prüfung wird der Fall
(a) als erwiesener Missbrauch an das zuständige Gericht überwiesen;
(b) als ambivalenter Fall mit Auflagen versehen, die von den Mädchenrichterinnen in Abstimmung mit den Psychologen und/oder Sozialarbeitern festgelegt werden;
(c) als geprüfter Fall abgeschlossen.
6. In allen Fällen nach (b) erfolgen regelmäßige Überprüfungen im Abstand von ein bis sechs Monaten, in allen Fällen nach (c) können regelmäßige Überprüfungen im Abstand von drei bis sechs Monaten festgelegt werden. Die Gestaltung dieser Überprüfungen soll so erfolgen, dass das Mädchen sich in seinem Privatleben und seiner sexuellen Selbstbestimmung möglichst wenig beeinträchtigt fühlt. Wo möglich und gerechtfertigt, soll diese Überprüfung ausschließlich durch die Mädchenrichterinnen erfolgen, die bei Bedarf jederzeit die Psychologen und/oder Sozialarbeiter hinzuziehen können.
7. Ein Mädchen kann jederzeit an jeder entsprechenden Anlaufstelle einen Missbrauch melden und/oder ein reguläres Klageverfahren einleiten. In allen Fällen, in denen es zunächst eine vor vollendetem 14. Lebensjahr erfolgte Handlung nicht eindeutig abgelehnt hatte, ist dies auch jederzeit nachträglich bis zum vollendeten 18. Lebensjahr möglich.
Jeder Jurist wird wissen, dass so manches anders formuliert werden müsste – wesentlich ist an dieser Stelle einzig und allein die Grundorientierung.
Um sich überhaupt deutlich machen zu können, welche Verbesserung und grundstürzende Veränderung eine solche Regelung darstellen würde, muss man sich immer wieder klarmachen, dass es hier um die Zweifelsfälle geht, die das bisherige Gesetz brutal unterschlägt und mit der Unrechtskeule allen anderen Fällen gleichmacht.
Wer gleich wieder Angst hat, dass diese neue Regelung nun doch wieder dem ,Missbrauch’ Tür und Tor öffne, sollte sich im gleichen Zuge klarmachen, dass der bisherige Gesetzestext regelmäßig und unvermeidbar schweren Missbrauch an der sexuellen Selbstbestimmung des Mädchens begeht – nämlich in all jenen Fällen, wo das Mädchen zur Ausübung dieser Selbstbestimmung willens und in der Lage ist, aber vom Gesetzgeber entmündigt wird, weil seine Selbstbestimmung brutal wegdefiniert wird. Nicht die neue Regelung setzt die Mädchen neuer Unsicherheit aus – sondern die alte Regelung, das heutige Gesetz, setzt sie der Sicherheit aus, dass ihre Selbstbestimmung null und nichtig ist. Das künftige Gesetz dagegen wird alles tun, um dem Grad der sexuellen Selbstbestimmung des Mädchens gerecht zu werden. Zum ersten Mal wird das Mädchen im Mittelpunkt stehen – real und nicht nur phrasenhaft.
Auch in diesem künftigen Gesetz werden die Mädchenrichterinnen sehr wohl ambivalenten und eindeutigen Missbrauch erkennen, auch da, wo das Mädchen selbst dazu nicht in der Lage ist. Aber zugleich werden die Mädchenrichterinnen auch erkennen, wo kein Missbrauch vorliegt – und daher der Liebe zweier Menschen und der sexuellen Selbstbestimmung eines Mädchens keinerlei Steine und Unrechtsparagrafen in den Weg gelegt werden dürfen.
Einst wird ein solches Gesetz ins Leben treten – und durch sich selbst beweisen, wie viel lebensnäher, menschlicher und gerade dem Mädchen gegenüber achtungsvoller es ist.
Es sind nur mangelnder Mut und mangelnde Aufrichtigkeit, die dies verhindern können.
Fußnoten
[1] Lucinde, Prolog. Zeno.org.
[2] Edward Carpenter: Wenn die Menschen reif zur Liebe werden, Kapitel ,Die freie Gesellschaft’. Projekt Gutenberg. (Original: Love's Coming of Age. Manchester 1896, deutsch erstmals 1902).
[3] Holger Niederhausen: Majas Magie. Berlin 2020, S. 211-213.
[4] Letztlich geht es natürlich um Regelungen für beide Geschlechter – ich formuliere es hier der Deutlichkeit halber direkt für die besonders verletzlichen Mädchen.