Das menschliche Manifest

Holger Niederhausen: Das menschliche Manifest. Der tiefsten Sehnsucht Sieg. Warum das Bündnis der Menschlichkeit die nächste Wahl gewinnen wird. Niederhausen Verlag, 2011. 72 Seiten, 5 €. ISBN 978-3-913492-04-0.


I. Der tiefsten Sehnsucht Sieg | Freiheit und Gerechtigkeit

II. Was wird das Bündnis der Menschlichkeit tun?
Das Geistesleben: Freiheit.
Die Rechtssphäre: Gleichheit.
Das Wirtschaftsleben: Brüderlichkeit.

III. Menschlichkeit konkret – einzelne Politikfelder
Rechtssphäre
- Eigentumsrecht | Soziale Sicherung | Steuersystem | Ökologischer Umbau der Gesellschaft | Finanz- und Geldwesen
Geistesleben und Bildungswesen
Wirtschaftsleben

IV. Zum Abschluss: Warum das Bündnis der Menschlichkeit die nächste Wahl gewinnen wird

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I. Der tiefsten Sehnsucht Sieg

„Ich habe einen Traum.“ – Das waren die Worte Martin Luther Kings in seiner Rede am 28. August 1963. Sie sprachen zu unzähligen Herzen – und sie veränderten die Welt.

Fünfzig Jahre danach wird bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag ein politisches Bündnis gewinnen, dessen Mitglieder ebenfalls einen „Traum“ haben werden und das für die tiefste Sehnsucht des Menschen eintreten wird:

Die Sehnsucht, in einer menschlichen Welt wahrhaft Mensch unter Menschen sein zu dürfen.

Schon der Name dieses Bündnisses wird diese Sehnsucht wider­spiegeln:

Bündnis der Menschlichkeit.

Es wird ein Bündnis sein, das geradezu den Gegensatz zu einer „Partei“ bildet. Bis heute haben Parteien (lat. pars, der Teil) immer wieder Partiku­larinteressen vertreten, Teil-Interessen, die niemals das voll Mensch­liche umfassten. Die tiefste Sehnsucht des Menschen wird immer wieder überdeckt. Abstrakte Debatten, Oberflächlichkeit und Phrasen; Fraktions­zwang, Prag­matismus und Unehrlichkeit herrschen. Sie ersticken jede Wahrhaftig­keit und lassen sie geradezu lächerlich erscheinen.

Dem neuen Bündnis wird es gerade um die volle Wahrhaftigkeit gehen. Seine Mitglieder werden ganz aus sich heraus sprechen; nicht die Phrase wird aus ihnen sprechen, sondern die volle Menschlichkeit. Und die Mensch­lichkeit wird zugleich auch das Ziel dieses Bündnisses sein.

Eine menschliche Welt ist die tiefste Sehnsucht des Menschen. Sie würde all das wahrmachen und in sich umfassen, wofür einzelne Parteien dem Namen nach eintreten. Eine menschliche Welt ist wahrhaft sozial und wahrhaft liberal. Und sie ist zugleich wahrhaft christlich. In einer menschlichen Welt wären dies keine abstrakten oder gar unwahrhaftigen Schlagworte mehr, sondern reale Begriffe für eine reale Wirklichkeit.

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Von Rosa Luxemburg stammen die wunderbaren Worte:

Freiheit ohne Gleichheit ist Ausbeutung,
Gleichheit ohne Freiheit ist Unterdrückung.

Bis heute hat der Mensch sein Wesen noch nicht verwirklicht – und die Gestaltungen, die er der Welt gegeben hat, widersprechen diesem Wesen, das sich nach Freiheit und Gleichheit sehnt.

In den Ländern des so genannten „real existierenden Sozialismus“ herrschte Unterdrückung. Wo jedoch der Kapitalismus gilt, herrscht Ausbeutung.

Durch die politischen Ereignisse von 1989 scheint die „Marktwirtschaft“ als beste und einzige Alternative übriggeblieben zu sein. Doch wir leben in einer zutiefst ungleichen Gesellschaft. Und die Un-menschlichkeit, das Nicht-Menschliche der Verhältnisse nimmt immer weiter zu.

Man hat der „Marktwirtschaft“ die Vokabel „sozial“ hinzugefügt, doch was ist sozial, wenn Ungleichheit und Armut zunehmen; wenn unverschuldete Arbeitslosigkeit existiert und zunimmt – und wenn arbeitslose Menschen zu jeder Arbeit und „Maßnahme“ gezwungen werden können.

Wenn wir die seelische und meist auch sehr physische Not der vielen betrof­fenen Menschen empfinden, werden wir erkennen, wie weit unsere Welt von wahrer Menschlichkeit entfernt ist. Wir würden unser eigenes Menschsein vergessen, wenn wir uns jemals mit den Le­bensumständen derjenigen Menschen abfinden würden, die „Hartz-IV-Empfänger“, „Ein-Euro-Jobber“ oder „Working Poor“ genannt werden.

Wir leben in einer Welt des Wohlstandes, wir arbeiten, und der Wohlstand wächst noch immer – weil wir ihn alle hervorbringen. Aber dieser Wohlstand wächst längst nicht mehr für alle, für viele nimmt er sogar ab. Wir leben in einer Welt, in der der gemeinsam erarbeitete Wohlstand nicht gerecht verteilt wird. Wir leben in einem System, das zu dieser gerechten Verteilung gar nicht fähig ist, das vielmehr Benachteiligte und Opfer kennt – und systematisch hervorbringt, in steigender Zahl...

Kennzeichnend für unsere heutige Reali­tät sind die Ungerechtigkeit und das Unsoziale. Können wir nicht den Frevel empfinden, der heute mit dem wunderbaren Begriff des „Sozialen“ ge­trie­ben wird? Ist das wahrhaft Soziale nicht noch unendlich viel mehr als bloße Gerechtigkeit? Wie kann dann etwas „sozial“ genannt werden – sogar ein ganzes „System“ –, wenn noch nicht einmal Gerechtigkeit herrscht?

Gemeinsam wird unser Wohlstand erarbeitet. Doch vielen Menschen wird ihr „rechter“ Anteil sogleich genommen; sie erhalten nur so viel, dass sie gerade einmal nicht verhungern (die sogenannten „Niedriglöhne“). Andere werden an der Arbeit gehindert, indem sie entlassen werden. Und die unverschuldet arbeitslos gewordenen Menschen werden dann wiederum zu jeder beliebigen Arbeit gezwungen.

Diese Realität ist nicht sozial, sie ist nicht brüderlich, sie ist nicht christlich, sie ist nicht menschlich.

Wir alle wissen, wie eine wahrhaft menschliche Welt aussehen müsste. Denn wir alle sind Menschen und tragen in uns die tiefste Sehnsucht:

In einer menschlichen Welt wahrhaft Mensch unter Menschen sein zu dürfen.

Kann uns diese tiefste Sehnsucht wahrhaft bewusst werden? Kann sie zu einem immer stärkeren Erlebnis werden? Oder wagen wir es nicht einmal, sie wirklich ernst zu nehmen? Wagen wir es nicht, unsere wahre Menschlichkeit, unsere tiefste Sehnsucht ernst zu nehmen...?

Oh ja, es gibt unzählige Gegenkräfte, die uns dazu drängen wollen, diese Sehnsucht nicht ernst zu nehmen. Kräfte, denen nichts lieber wäre, als dass die wahre Menschlichkeit niemals zu einer Realität würde – oder auch Kräfte, die selbst vor langer Zeit aufgegeben haben, an die Möglichkeit einer wahrhaft menschlichen Welt zu glauben. Ist nicht die ganze Welt der Beweis dafür, dass diese Menschlichkeit „keine Chance“ hat?

Und wie wunderbar können die Spötter gegenüber der Menschlichkeit diese Realität nutzen und rufen: Schaut Euch diese Träumer an! Diese Idealisten! Sie träumen von Utopia! Lasst sie weiter ihren blauäugigen Visionen anhängen...

Und doch kann der Mensch wahrhaft von nichts anderem leben als von der Menschlichkeit. Und so werden wir diesen Spöttern und auch Zweiflern antworten: Ganz recht, wir sind Idealisten! Und wisst ihr warum? Weil nichts anderes der Nährboden wirklicher Menschlich­keit sein kann als wahrer Idealismus. Dieser nämlich ist selbst etwas Reales, etwas viel Realeres als alle Phrasen seiner Gegner. Er ist innig verbunden mit dem, was man Gewissen nennen kann.

Es geht um die aller-realste Wirklichkeit. Das Ideal ist die Wirklich­keit des Menschen. War Martin Luther King ein Träumer? Nein, die Sklaverei und die Rassendiskriminierung waren unmenschlich, und sie wurden abge­schafft, aus diesem Grund.

Doch die Sehnsucht des Menschen ist noch nicht erfüllt. Es sind noch viele Schritte in ihre Richtung notwendig. In einer ungerechten, lieblosen Welt kann der Mensch nicht existieren. Heute ist unsere Welt aber in ihren Strukturen ungerecht und lieblos – die Menschlichkeit kann in diesen Strukturen nicht existieren.

Bis heute haben wir Menschen vor allem Strukturen geschaffen, die das Unpersönliche, das Abstrakte und den Egoismus fordern und fördern – also einerseits verlangen und andererseits immer weiter verstärken und hervor­bringen. Können wir auch Strukturen schaffen, die das Menschliche stärken, ermöglichen und hervorbringen...? 

Freiheit und Gerechtigkeit

In den Idealen der Französischen Revolution leuchtet das Menschliche hell auf: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! Wer sich in diese Ideale vertieft, taucht ein in eine Sphäre des rein Menschlichen. Diesem rein Menschlichen gilt unsere tiefste Sehnsucht – und hier entspringt sie.

Immer wieder wurden in diesen Idealen Widersprüche gesehen: Zwischen der Freiheit und der Gleichheit, zwischen der Freiheit und der Brüder­lichkeit. Vielfältig hat man versucht, die Widersprüche zu begründen. Und doch können wir erleben, dass keines dieser Ideale fehlen darf. In den Überle­gungen, die die Widersprüche begründen wollen, mögen diese vorhanden sein. Können wir aber wirklich die Ideale selbst erleben, ihren Zusam­men­klang, dann können wir fühlen, wie in diesem Zusammenklang die Wider­sprüche aufhören.

Denken wir an zwei Geschwister, die um etwas sehr Wichtiges streiten. Dieser Streit und auch sein Anlass sind sehr real. Und doch kann der Augen­blick kommen, dass diese beiden Menschen erkennen, was sie ver­bindet und was weit über den Gegenstand des Streites hinausgeht. Im Lichte dieses Zusammenklanges – einer ganz realen Wirklichkeit, die nun auch wieder erlebt und damit wahrgemacht wird – erscheint der Streit auf einmal ganz und gar nichtig, ja töricht. Das Problem in der äußeren Realität mag noch immer in voller Stärke vorhanden sein – aber durch den höheren und viel stärkeren Zusammenklang werden sich Lösungen dafür finden...

Heute wird dieser Zusammenklang, die volle Wirklichkeit des Menschlichen nicht erlebt – und deshalb sieht man Gegensätze. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit werden nicht als Geschwister erlebt, die in einem starken, unsichtbaren Band miteinander verbunden sind, sondern als etwas, was unvereinbar ist und sich letztlich widerspricht.

Die Anhänger der heutigen Konkurrenz-Wirtschaft („neoliberale Marktwirt­schaft“) betonen die „Freiheit“ und wollen damit sagen, dass die Solidarität Grenzen habe und haben müsse. Jeder sei seines eigenen Glückes Schmied, darin bestehe die Freiheit und die Ver­antwortung des Menschen. Wer wirklich arbeiten wolle, der finde auch Arbeit usw.

Doch welche Urteile liegen in diesen Gedanken? Was ist es für ein Denken, das zu solchen Gedanken kommt? In diesem Denken liegt das Urteil, dass Hilfsbedürftigkeit generell verdächtig sei. Dass Arbeitslosig­keit mangelnden Willen, mangelndes Be­mühen anzeige. Dass andere Menschen es ganz und gar durch eigene Leistung „zu etwas ge­bracht“ hätten und geradezu die „Leistungs­träger der Gesellschaft“ seien, die alle anderen „mit durchfüttern“ würden und so weiter...

Kann ein solches Denken menschlich genannt werden? Wir wissen doch, dass in einem ganz auf Konkurrenz und Machtverhältnissen basierenden System unzählige Menschen ihre Arbeit verlieren – oder gar nicht erst Arbeit finden –, die arbeiten wollen. Wer hier die Freiheit betont, macht doch all diese Menschen zum zweiten Mal zu Opfern! Heute wird aber vielfach voll bewusst so argumentiert.

Wenn wir dagegen bewusst das menschliche Denken in uns zulassen und suchen und hervorbringen, wird uns dieses Denken unmittelbar die mensch­liche Wahrheit zeigen. Es geht dann nicht um abstrakte Argumentationen, sondern um ein inneres Erleben, das keine Argumentation braucht, weil es seinen eigenen unwiderleglichen Beweis in sich trägt.

Mit einem solchen Denken wissen wir unmittelbar, dass „Solidarität“ nicht etwa eine abstrakte Minimalverpflichtung eines sogenannten Sozialstaates ist (der dann auch noch schrittweise abzubauen wäre), sondern dass Solidarität etwas Reales, Wirkliches ist, das zutiefst mit dem Wesen des Menschen zu tun hat. Solidarität ... das ist doch unmittelbare Menschlichkeit!

Solidarität ist kein „Gebot“ der Menschlichkeit, denn die Mensch­lichkeit kennt kein Gebot. Sie handelt aus sich heraus, wo sie eines Menschen Not sieht. Und so kann Solidarität, wenn sie real ist, nur da Grenzen haben, wo die Menschlichkeit selbst Grenzen hat. In einem auf Konkurrenz gebauten System hat sie enge, sehr enge Grenzen... Wo es aber keine Menschlichkeit gibt, können wir ihren Mangel unmittelbar und schmerzlich erleben...

Solidarität braucht keine „Sozialschmarotzer-Debatte“, sie hat ihr eige­nes Urteilsvermögen. Sie empfindet unmittelbar, wenn ein anderer Mensch Hilfe braucht – und sie verweigert sie ihm nicht. Wahre Menschlichkeit hat nicht das Organ, diese Realitäten zu empfinden, sie selbst ist dieses Organ.

Wir alle haben dieses Organ heute in stärkerem oder weniger starkem Maße verloren, denn die heutige Realität fordert und fördert den Egoismus, das Unsolidarische. Die Konkurrenzwirtschaft basiert auf dem Egoismus. Wie könnte nach Jahrzehnten und Jahrhunderten einer solchen Realität das Men­schenwesen nicht unendlich gelitten haben und an seiner vollen Entwicklung gehindert worden sein?

Sehr wohl empfindet wahre Menschlichkeit auch, wo ein Mensch nicht Hilfe braucht, wo die Hilfe darin besteht, ihn sich selbst helfen zu lassen, weil er dies kann. Doch gerade dieser Aspekt wird heute unendlich missbraucht. Wer will sich denn zum Richter über die Hilfsbedürftigkeit seines Nächsten aufschwingen? Heißt es nicht sogar vor Gericht: Im Zweifel für den Ange­klagten? Es scheint, als hätten die Ärmsten in unserer Gesellschaft nicht einmal darauf ein Recht...

Wahre Menschlichkeit sieht die Not – und hilft. Sie stellt nicht die Schuld­frage. Sie berechnet keine Hartz-IV- oder andere „Höchstsätze“, sondern hilft, wo Not ist – und darüber hinaus. Das heutige System lässt Menschen vielleicht nicht verhungern, aber es lässt menschliche Not und menschliches Elend zu ermöglicht den Opfern keine reale „gesellschaftliche Teilhabe“.

Nicht die Solidarität muss Grenzen haben, sondern ihr Gegenteil. Nicht die Menschlichkeit soll Grenzen haben, sondern die Unmenschlichkeit. Wir ver­gessen unsere Menschlichkeit, wenn wir die Freiheit da fordern, wo sie Not verursacht; wenn wir „sozial“ das nennen, was nicht einmal die wirkliche Not beseitigt; wenn wir noch dies „kürzen“ wollen, weil es angeb­lich zu viel „kostet“...

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Kann die soziale Frage, die Frage nach der Solidarität überhaupt beantwortet werden, ehe die Frage der Gerechtigkeit wahrhaft beantwortet ist? Kann das Denken überhaupt sozial und wahrhaft menschlich werden, wenn es noch gar nicht gelingt, gerecht zu denken? Was heißt „gerecht“, was ist recht...? Wäre es solidarisch, dem Bruder etwas wie ein Almosen zu geben, was man ihm zuvor weggenommen hat?

Wenn wir auf die Realität des heutigen Wohlstandes und seines Ursprunges schauen – er wird von unzähligen arbeitenden Menschen hervor­gebracht, von jedem Einzelnen. Der Wohlstand ist unaufhörlich gewachsen, aber welche Gestalt hat dies angenommen? In den letzten zehn Jahren sind viele Löhne kaum gestiegen, ja viele sind real sogar gesunken, während sich die Gewinne verdoppelt haben. Der gemeinsam erarbeitete Wohlstand ist also gar kein gemeinsamer. Er wird gemeinsam erarbeitet – aber er kommt überhaupt nicht mehr allen gemeinsam zugute.

Wer diese Ungerechtigkeit verteidigen will, verweist oft auf die „Tarif­freiheit“. Ist nicht jeder Mensch frei, sich jede Arbeit zu suchen und ein Gehalt zu vereinbaren bzw. anzunehmen oder auch nicht?

Innerhalb des abstrakten Denkens ist dies ganz richtig, aber die Realität sieht vollkommen anders aus. Denn in der Wirklichkeit ist die Alternative zu dem einen Arbeitsplatz oft nicht ein anderer, sondern – gar kein Arbeitsplatz. Und auch ein selbständiger Unternehmer kann kaum jemand werden. Wie sollen in einer Situation realen Überangebots bei über 30.000 Konkursen jährlich und sinkender Massenkaufkraft überhaupt noch neue Unternehmer auftreten?

Freiheit ohne Chancengleichheit ist eine reine Abstraktion oder sogar bewusster Zynismus. Hier entsteht der Widerspruch zwischen Freiheit und Gleichheit! Er entsteht aus einem falschen Verständnis von Freiheit, das den Blick für das Rechte und Unrechte verliert.

Freies Unternehmertum kann doch niemals das Recht zur Ungerechtigkeit bedeuten? Wo existiert denn die Freiheit des Anderen, wenn dieser um seinen gerechten Anteil betrogen wird – oder ihm gar nicht Gelegenheit gegeben wird, diesen gerechten Anteil wirklich zu verhandeln?

In der realen Wirklichkeit der Konkurrenz-Wirtschaft ist „Freiheit“ das Recht, in einem erbarmungslosen Wettbewerb sein Glück zu versuchen. Wer hier überlebt, hat sich ganz real ein Privileg und zugleich Macht errungen. Gerade aufgrund dieses erbarmungslosen Kampfes meint man, man hätte sich seinerseits nun auch das Recht zur Ungerech­tigkeit erworben. Wer Macht hat, muss nicht gerecht sein. Aber ist dieses Denken, dieses Handeln menschlich?

Erleben wir das Menschliche in uns, so werden wir erkennen, dass sich wahre Freiheit niemals gegen das Menschliche stellen würde. Wo sich Frei­heit über andere Menschen stellt, wird sie zur Macht – und zum Unrecht. Hier entsteht der Widerspruch zwischen Freiheit und Gerechtigkeit, zwi­schen Freiheit und Gleichheit. Wo sich ein Mensch über den anderen erhebt, vernichtet er die Gleichheit. Die Macht ermöglicht das Unrecht...

Können wir die Frage der Gerechtigkeit so weit empfinden, dass wir sie aus allen Macht-Zusammenhängen herauszulösen vermögen? Können wir aus einem rein menschlichen Empfinden heraus fühlen, wie die Frage nach dem rechten Anteil des gemeinsam erwirtschafteten Wohlstandes keine Macht- und keine „Wirtschaftsfrage“ sein dürfte? Wie dies eine Frage des reinen, unmittelbar menschlichen Rechtsempfindens sein will?

Eine Rechtsfrage kann nur dann eine wahre – eine rechte, gerechte Antwort finden, wenn Macht­aspekte keine Rolle spielen. Wirkliches, menschliches Recht – als zwischenmenschliche Realität – kann nur zwischen den beteilig­ten Menschen gefunden werden, und dies immer wieder neu. Es muss sich zwischen den Menschen entfalten, darf nicht aufgrund von Machtverhält­nissen vorgegeben werden...

Heute existieren aber überall Machtverhältnisse, und kaum einmal wird irgendwo die freie, ehrliche Frage nach einer gerechten Verteilung gestellt, indem die Machtverhältnisse bewusst zum Schweigen gebracht werden. Die Macht entsteht durch den Besitz: Der eine besitzt Produktionsmittel und „Arbeitsplätze“ – der andere besitzt nichts und ist auf einen solchen „Arbeitsplatz“ angewiesen.

Der eine kann nun die Verteilung diktieren – der andere muss die Bedingun­gen hin­nehmen. Menschlich wird die Welt, wird das Handeln aber erst da, wo bewusst die Frage gestellt wird, was nun wahrhaft gerecht wäre.

Der Mensch kann diese Frage durch sein Gerechtigkeitsempfinden beantwor­ten. Gerechtigkeit ist ein „Zustand“, den man empfinden kann. Gerechtigkeit waltet, wenn für alle Beteiligten das Gefühl eines Gleichgewichts entstehen kann. Dazu gehört, dass alle wichtigen Aspekte Berücksichtigung finden. Dann entsteht jenes Gefühl des Gleichgewichts, in dem jeder der Beteiligten erlebt, dass er nun im Prinzip mit dem anderen tauschen könnte, weil wirklich das Rechte gefunden wurde...

Heute sieht man noch kaum, wie sehr Besitz-, Macht- und Verteilungsfragen einen großen Zusammenhang bilden und dass sie alle wesentlich Rechts­fragen sind, jedoch immer wieder zu Machtfragen gemacht werden. Ein wirklich menschliches Denken und Fühlen wird auf diese Fragen ein voll­kommen anderes Licht werfen...

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Dort wo das wahrhaft Rechte, wo menschliche Gerechtigkeit walten soll, kann der Begriff der Freiheit nur missbraucht werden. Freiheit ist immer auch die Freiheit des anderen – erst dieser Begriff von Freiheit lässt die Macht schweigen... Wo aber offenbart der Begriff der Freiheit dann seine wahre Bedeutung?

Der Mensch soll frei sein. Aber was heißt dies? Es gibt die physische Frei­heit, auch die Bewegungs­freiheit,[1] außerdem die Meinungs- und Gedanken­freiheit.[2] Schon weniger selbstverständlich ist zum Beispiel die Freiheit der Berufswahl. Heute ist dieses vom Grundgesetz geschützte Grundrecht für Hartz-IV-Empfänger und unzählige andere Menschen ein bloßer Hohn; es gilt für sie schlichtweg nicht...

Doch was ist Freiheit, im umfassenden Sinne?

Diese Freiheit ist Teil unserer innersten Sehnsucht. Und so wissen wir auch die Antwort, wenn wir diese Sehnsucht nur tief genug befragen und erleben. Frei werden soll der ganze Mensch. Jeder einzelne Mensch soll all seine Fähigkeiten und Potentiale so umfänglich wie möglich entwickeln können und dann auch entfalten, aufblühen lassen können...

Freiheit steht in engem Zusammenhang mit der Entwicklung des individu­ellen Menschenwesens, mit der Entfaltung seines innersten Geheimnisses... Freiheit ist der „Boden“, die Voraussetzung wahrer Menschwerdung – eines Weges, der nie abgeschlossen ist.

Nur in Freiheit kann der einzelne Mensch sein wahres, individuelles Wesen entwickeln, immer mehr. Gemeint ist nicht die oberflächliche Freiheit einer auf Genuss und Selbstbezogenheit gerichteten „Selbstverwirk­lichung“, son­dern die innere Freiheit der Entwicklung des wirklichen Men­schenwesens, das zutiefst mit dem Geheimnis der Menschlichkeit und damit auch mit der Welt verbunden ist...

Wahrhaft frei ist der Mensch erst, wenn er all seine Fähigkeiten zur Ver­fügung hat, um in der Welt und für die Welt zu wirken; wenn er sich freigemacht hat von Abhängigkeiten, Gewohnheiten, Bedürfnissen, die seine wahre Mensch­lichkeit hemmen. Diese Freiheit ist Blüte und Frucht einer voraus­gehen­den Entwicklung. Aber auch diese Entwicklung selbst braucht schon Freiheit. Wir wissen sehr gut, wie viele Hindernisse es schon für die Entwicklung gibt.

In unserem Bildungswesen können wir hier eine große Tragik erleben. Wo in jedem Jahr Tausende von Kindern den verschiedenen Formen gewollter und ungewollter Selektion zum Opfer fallen, ist die Entwicklung und Förderung von Freiheit eine Illusion. Unser heutiges Bildungswesen lässt nicht zu, dass Fähigkeiten aufblühen, in ihrer vollen Stärke, in jedem einzelnen jungen Menschen – sondern es schneidet sie ab, und oft verschüttet es bereits die Keime, noch bevor sie ein erstes zartes Stadium des Wachstums durch­machen konnten...

Selbstverständlich entwickeln junge Menschen Fähigkeiten – aber viele, sehr viele von ihnen nicht wegen unseres Bildungssystems, sondern trotz diesem und gegen dieses. Und sehr viele andere fallen ganz durch das Raster... Wie würde dagegen ein wahrhaft menschliches Bildungswesen aussehen, dem es ganz und ausschließlich – mit aller Leidenschaft – um das Wachstum, die allmäh­liche Entfaltung und schließlich die grandiose Blüte der Fähigkeiten jedes einzelnen jungen Menschen ginge?

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Freiheit ist das Ziel menschlicher Entwicklung. Die tiefere Bedeutung des Freiheits-Begriffes hängt mit der Entfaltung des wahren Menschentums und des ganz individuellen Wesens mit all seinen Fähigkeiten zusammen. Frei­heit ist eine geistig-seelische Realität. Es geht um das eigentliche Wesen des Menschen und um das innere Erleben – auch in der Begegnung von Mensch zu Mensch.

Der eigentliche Mensch ist frei, und auch die wahrhaft menschliche Begeg­nung kann nur eine freie sein. Aber dieses wahrhaft Menschliche, diese reale Freiheit muss erst errungen werden!

Dieser wahre Begriff der Freiheit kennt gar keine Einschränkung eines anderen Menschen! Solange sich die Fähigkeiten der Menschen entfalten, kann sich das Wohl ihrer Gemeinschaft nur vergrößern. Wie könnte es anders sein?

Ein Problem entsteht nur da, wo die Freiheit und das Recht anderer Men­schen eingeschränkt bzw. verletzt werden. Das Reich der Freiheit ist das der seelisch-geistigen Entwicklung. Begrenzt ist es durch das Recht, das zwischen den Menschen walten soll. Das Recht steht damit nicht über der Freiheit, aber es begrenzt ihr wahres, recht-mäßiges Gebiet.

Sobald wir mit anderen Menschen in eine Beziehung treten, stehen wir vor Fragen des rein menschlich verstandenen Rechts – vor Fragen, die das rechte Miteinander betreffen. Im Physischen sind wir voneinander abhängig und aufeinander angewiesen. Volle Freiheit im Physischen, in der äußeren Welt, ist einfach keine menschliche Realität, denn hier wird sie zum Unrecht...

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Immer wieder müssen wir danach streben, die Abstraktheiten zu überwinden und die Realitä­ten empfinden zu lernen.

Ein abstraktes Denken kann zum Beispiel immer behaupten, die Hartz-IV-Sätze seien menschenwürdig, „wissen­schaftlich berechnet“ und so weiter. Die Realität würde man erst kennenlernen, wenn man selbst versuchen wür­de, mit solchen „Sätzen“ zu leben – oder wenn man ein vollkommen anderes Denken erringen könnte, das in die wirkliche Realität einzutauchen vermag.

Mit einem solchen Denken würde man auch die enorme Zu­nahme prekärer Niedrig­lohn-, befristeter, Teilzeit-, Leiharbeits- und anderer „Arbeits­plätze“, den rasanten Anstieg von psychischen Krankheiten und Burnout-Syndromen usw. sehr tief erleben – erleben, was dies an Leid für den Einzelnen und als Tatsache für eine ganze Gesellschaft bedeutet...

Wenn wir der tiefsten Sehnsucht nach einer menschlichen Welt folgen wollen, brauchen wir eine vollkommene Befreiung von allen Phrasen und Abstrakt­heiten. Dann müssen wir danach streben – und dies auch wagen! –, immer tiefer zu erleben, dass unsere Gesellschaft die Menschlichkeit regelrecht aus­presst; dass sie in ihren Strukturen zutiefst unmenschlich, krank und krankmachend ist. Die von uns geschaffenen Strukturen bringen zahlloses Leid bis hin zu seelischen und körperlichen Krankheiten hervor, weil sie nicht menschlich sind.

Nehmen wir unsere tiefste Sehnsucht ernst und schauen wir mit diesem Blick auf die Realität. Dann sehen wir die Krankheit. Lassen wir die innere Er­schütterung zu...

II. Was wird das Bündnis der Menschlichkeit tun?

Das Bündnis der Menschlichkeit wird alles fördern, was der Vertiefung der Menschlichkeit dient. Es wird die Freiheit dort fördern, wo sie sich recht­mäßig entfalten will, und es wird die Fragen des Rechts und der Gerechtigkeit dort aufwerfen, wo sie real existieren.

Die Herausforderungen unserer heutigen Welt sind ungeheuerlich. Viele haben sogar ein weltweites Ausmaß, denken wir nur an Hunger und Armut, an die Klima- und Energie-Frage. Das Bündnis der Menschlichkeit wird sich diesen Heraus­forde­rungen mit größter Wahrhaftigkeit stellen.

Die zivilgesellschaftliche Bewegung, ihre Organisationen und die in ihnen tätigen Menschen haben ein enormes Fach­wissen, ohne dass der Weg in eine menschliche (oder überhaupt eine) Zukunft gar nicht möglich wäre. Das Wissen ist aber vorhanden, und wenn es konkret entfaltet und umgesetzt werden kann, wird dieser Weg in die Zukunft möglich sein.

Wir stehen vor einem Weg, der längst hätte beschritten werden sollen! Hätten bisherige Regierungen es gewagt, einer wahrhaft mensch­lichen Welt die Wege zu bereiten, die Herausforderungen hätten niemals so riesig werden können. Man muss von wirklich verlorenen Jahrzehnten sprechen...

Aber die Widerstände werden immens sein. Viele Interessen­gruppen werden versteckt oder ganz offen jeder Veränderung entgegen­arbeiten. Sie werden mit enormem finanziellen und personellen Aufwand versuchen, Zweifel zu säen und zu verstärken: Zweifel an der Kompetenz des Bündnisses, Zweifel an den notwendigen Verände­rungen, Zweifel an ihrer „Effektivität“ usw.

Und es wird leicht sein, Zweifel zu säen, wenn man den gegenwärtigen Zustand als „gut“, als „zufriedenstellend“ hinstellen kann! Wenn man die tiefere Sehnsucht und das reine Urteilsvermögen des Menschen einschläfern kann... Es wird alles auf dieses eigene, reine Urteils­ver­mögen ankommen! Im eigenen Inneren muss das wahrhaft Menschliche erlebt werden. Nur der unbeirrbare Blick auf dieses wird den unbestechlichen Sinn für das Richtige und Notwendige geben können. Wir dürfen unser eigenen Willensimpulse nicht von jenen beeinflussen und lähmen lassen, die den jetzigen Zustand herbeigeführt haben und ihn auch nicht ändern wollen![3]

Die bisherigen politischen Akteure sind für den heutigen Zustand der Welt entscheidend verantwortlich. Und noch immer werden z.B. die „Agenda 2010“ und das Hartz-IV-System als „Lösungs­ansatz“ hingestellt, statt als Katastrophe erkannt! Man vermag die ungeheuren Probleme weder zu lösen, noch ist man bereit, sie überhaupt nur zu erkennen... Nirgendwo finden wir bei den jetzigen Regierungs­parteien irgendwelche Ansätze zu Wegen in die Zukunft, wir finden keine Ideale, keine Visionen, nicht einmal reale Ideen!

Gehen wir nun aber ein auf die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft. Im großen Zusammenhang können wir zunächst drei Bereiche unterscheiden:

Das Geistesleben
Die Rechtssphäre
Das Wirtschaftsleben.

Diese drei „Sphären“ und ihre lebendige Durchdringung umfassen unser menschliches Zusammen­leben. Es handelt sich dabei nicht um abstrakt zu verstehende „Bereiche“ oder Schematisierungen, sondern um zutiefst konkrete Realitäten. Erlebt man innerlich das jeweils ganz unterschiedliche Wesen dieser drei Sphären, wird man real erkennen, nach welchen unter­schiedlichen Gesetz­mä­ßig­keiten sie sich entfalten wollen.

Wo dies möglich ist, kann das wahrhaft Menschliche zur Wirksamkeit kommen...

Das Geistesleben - Der Ist-Zustand

Das Geistesleben ist heute tot. Unsere Gegenwart kennt kein lebendiges Gei­stesleben. Wir haben natürlich ein Bildungswesen, die Kultur, die Forschung und so weiter, aber wir bezeichnen dies mit derselben ungeheuren Abstrakt­heit als etwas „Geistiges“, mit der wir heute alles betrachten, beurteilen, bewerten, anschauen usw.

Schon im unmittelbar zwischenmenschlichen Alltag können wir doch deut­lich erleben, wie sehr uns diese Abstraktion oft von uns selbst und der Welt entfremdet. Der Mensch wird immer weniger fähig, die volle Wirklichkeit zu erleben, er erlebt sich immer mehr der Welt gegenüber – und erlebt diese und/oder sich selbst nur in Form recht blasser, abstrakter, intel­lektu­eller Gedanken, die natürlich ab und zu auch von Gefühlen durch­zogen sein können...

Wir verlieren den Zugang zur Wirklichkeit – zur Wirklichkeit unserer selbst und der Welt. Wir werden vielleicht depressiv – und verstehen uns selbst nicht. Wir nehmen die Nachrichten aus den Medien zur Kenntnis – und stellen uns keine existentiellen oder tief menschlichen Fragen mehr. Wir können uns als Getriebener der Verhältnisse empfinden, aber nicht mehr als ganzer Mensch.

Es ist nicht leicht zu beschreiben, um welche Tatsachen des menschlichen Bewusstseins und Erlebens es hier geht – aber in der innerlichen Selbstbesin­nung wird man wohl empfinden können, was gemeint ist.

Es geht gleichsam um den Unterschied zwischen dem müden Wortwechsel resignierter Ehepaare und der tiefen Liebe wahrer Lebensgefährten. Zwi­schen einem postmodernen abstrakten Denker der heutigen „Diskursge­sell­schaft“ und einem wirklichen Philosophen, der jeden einzel­nen Gedanken noch existentiell durchlebt. Zwischen dem Kunstbe­trachter, der sich zu jedem schnellen Urteil berechtigt glaubt, und dem echten Künstler, der in einem Schicksalsgeschehen ein Werk hervorbringt, hinter dem noch Welten verborgen liegen. Zwischen einem abstrakten Theologen und einem in der vollen Wirklichkeit religiösen Erlebens stehenden Menschen...

Was ist der menschliche Geist? Was bedeuten die heute völlig abstrakt gewordenen Begriffe Bildung und Kultur?

Das Geistige als lebendige Erfahrung einer durch und durch realen Wirklich­keit ist vollkommen verschwunden. Um diese Erfahrung zu finden, müssen wir geistesgeschichtlich zurückgehen zu großen Denkern, Künstlern, religiö­sen Menschen – und wenn wir eine ganze Epoche suchen, bis zum Idealis­mus.

Die Abstraktion ist nicht eine Geistes-Krankheit, sie ist der Tod des Geistes. Der Geist verblasst so sehr, dass er als eigene Realität überhaupt nicht mehr erlebt wird. Man formt Gedanken wie von selbst – man erlebt aber nicht mehr ihre Realität, und man erlebt auch nicht mehr, dass man dabei ist, dass man sie real hervorbringt – und man ist auch nicht dabei.

Von einem Geistesleben kann man aber nur sprechen, wenn das reale Erleben des Geistes da ist – alles andere ist intellektuelle Spielerei, abstrakte Gedan­kenproduk­tion, postmo­dernes Theoretisieren. Man kann dann noch immer von „Bildung“ und „Kultur“ sprechen, aber diese Begriffe bedeuten dann auf einmal etwas völlig anderes, denn der Geist ist ja tot, gar nicht anwesend. Der Intellekt mag sich sehr lebendig fühlen – sogar erhaben über den naiven Idealismus –, aber er versteht dessen Realität nicht im geringsten und ist selbst Gefangener seiner eigenen Abstraktion...

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Nichts hat dabei das Verständnis für die Wirklichkeit des Geistes jemals so sehr verdunkelt und verschüttet wie die Verbindung des Staatlichen mit dieser Sphäre. „Staats-Schule“ und staatliche Kultur? Das sind absolute Unwörter in sich! Denn der Geist kann niemals eine staatlich organisierte (oder auch finanzierte) „Veranstaltung“ sein...

Der Intellekt ist nicht der menschliche Geist. Mit dem Intellekt kann man verschiedenste Gedanken formen, bis ins Unendliche räsonieren, diskutieren und so weiter. Er wird aber immer tot bleiben, mit der realen Wirklichkeit wird er nie etwas zu tun haben. Zwar lässt sich diese Wirklichkeit durch die Ergebnisse des Intellekts scheinbar hervorragend beeinflussen – aber er erfasst an der Wirklichkeit nur das Tote. Sein Reich ist das der Abstraktion – ein Totenreich.

Genau dies erleben wir doch oft so leidvoll! Wir erleben, dass wir eigentlich nicht mehr wirklich erleben können... In der Wissenschaft gelten der Intellekt und die Abstraktion geradezu als Tugend – aber auch dort verlieren sie die volle Wirklichkeit unter ihren knochigen Fingern.

„Wir können die Probleme nicht mit demselben Denken lösen, das sie ver­ursacht hat.“ Dieser Satz erfasst etwas von der hier gemeinten Wirklich­keit. Die Probleme entstehen gerade dadurch, dass das intellek­tuelle Denken die Wirklichkeit gar nicht erfasst, sondern immer nur ihr abstraktes, totes Abbild, was etwas vollkommen anderes ist. Und dann wird dieses tote Abbild noch weiter verfälscht durch unzählige Vorstellungen, Urteile, Inter­pretationen etc.!

Was aber ist dann der Geist?

Diese Frage können wir nur aus der inneren Erfahrung heraus beantworten. Wo das innerste Menschenwesen wirklich selbst tätig zu werden beginnt; wo ganz aus dem Eigenen heraus ein Gedanke geformt wird; wo ganz aus dem Eigenen heraus der Gedanke eines anderen voll bewusst mit-gedacht und mit-geformt wird; wo dieses ganz Eigene, diese eigene innere Aktivität selbst wiederum ein inneres Erlebnis wird – da leuchtet die erste Morgenröte des Geistes auf...

Deswegen ist der „Geist“ kein Fass, das gefüllt werden könnte; deswegen ist wahre Kultur nichts, was man konsumieren könnte; deswegen kann Kultur, Bildung, Geistesleben nicht organisiert oder verwaltet werden; deswegen führt jede Gewohnheit, jede Selbstverständ­lichkeit, jede Norm, Vorschrift und Regelung in den Tod des Geistes, ja ist dieser Tod.

Das Geistesleben besteht ausschließlich in der gegenwärtigen Aktuali­tät des Geistes, in seinem in diesem Moment realen Schöpfertum. Alles andere ist nicht Geistesleben, sondern Illusion.

Der Geist und sein Schöpfertum ist das zentrale Geheimnis des Menschen. Zum wahrhaft umfassenden Menschlichen werden wir nur kommen, wenn wir dieses Geheimnis ergründen, bewahrheiten, verwirklichen...

Ein lebendiges Geistesleben ist der einzige Lebens- und Erneuerungsquell, den es überhaupt gibt. Und damit ist alles umfasst und gemeint, was über­haupt in die Zukunft, in das wahrhaft Menschliche hineinführen kann.

Heute haben wir nahezu nichts dergleichen – und es ist bereits eine Auf­gabe und eine Prüfung der Wahrhaftigkeit, sich dies tief einzugestehen. Universi­tätsbetrieb, Postmo­der­ne, Dis­kursgesellschaft, die Medienwelt zwischen Unterhaltung und abstrak­ten Kommentaren und Analysen – alles offenbart den Intel­lekt. Ganz vereinzelt blitzt einmal der wirkliche Funke lebendigen Geistes auf, und dann ist immer sehr, sehr klar, in welchem Gegensatz zu allem Übrigen sich dieser lebendige Geist befindet...

Ein wirkliches, lebendiges Geistesleben würde sich zugleich auch in wirkli­chen Begeg­nungen offenbaren: In echten, geistig-wesenhaften Begegnungen jenseits abstrakter Diskussionen und akademischer Phra­sen, jenseits auch von Smalltalk oder Geschäftsessen. Begegnungen echter Menschen, Begeg­nungen freier Geister mit realen Gedanken, Begriffen, Ideen und Idealen. Geistes-Begegnungen...

Die Zivilgesellschaft ist eine Art Keim für das hier gemeinte Geistesleben. Man kann geradezu sagen: Dort, wo der Geist (gesellschaftlich) wahrhaft zum Leben erwacht – ja schon da, wo zwei oder drei sich „im Namen des Geistes“ begegnen! – entsteht wahrhafte Zivilgesellschaft.

In diesem Sinne bezeichnet der Begriff nichts Geringeres als eine zu ihrem eigenen Schöp­fertum, zu echten Zukunftsgestaltungen, zu ihrem wahren Menschentum erwachende Gemeinschaft von Menschen.

Natürlich herrschen auch in der heutigen Zivilgesellschaft vielfach die ab­strakten Gedanken, Konventionen, Phrasen, also die Regeln des toten Geistes – wenn auch weniger stark als etwa im akademischen Wissenschaftsbetrieb oder der Politik. Haben wir den Mut, diese Tatsachen anzuschauen, voll­kommen wahrhaftig vor uns selbst, und streben wir danach, immer tiefer zu erleben, was die Realität des Geistes in Wahrheit ist!

Die Frage des Menschen entscheidet sich an keinem anderen als an diesem Punkt: In welchem Maße erwacht der Geist in jedem einzelnen Menschen zu einer Wirklichkeit, zum Leben?

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Versuchen wir, innerlich zu erleben, wo das Bildungswesen heute steht – jene gesellschaftliche Sphäre, die ganz und gar dieser Entwicklung des individuellen Menschen, seiner Kräfte und Fähig­keiten dienen sollte.

Das Schulwesen dient heute der Selektion. Es dient nicht der Förderung und Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten; und an das individuelle, geistige Menschenwesen wird heute fast nirgend­wo real auch nur gedacht. Selbst der Blick auf die individuellen Fähigkeiten ist ja schon ein Schritt in die Abstraktion, denn auch sie sind ja nur Offenbarungen des Menschenwesens, nicht dieses selbst.

Selbstverständlich streben unzählige Lehrer und Erzieher nicht die Selektion an, sondern die Förderung des einzelnen Men­schen. Aber gerade sie werden die Strukturen, in denen sie tätig sein müssen, um so schmerz­licher empfinden, je wahrhaftiger sie den individuellen Menschen fördern wollen. Die Strukturen sind solche, die das Un­individuelle, das Einseitige, die Selektion begünstigen, fordern, för­dern, verursachen – und man schwimmt gegen den Strom, wenn man auch nur versucht, sich dagegen zu wehren.

Allein schon die Notengebung führt in stärkstem Maße zur Selek­tion und lenkt den Blick von vornherein auf das falsche Ziel der Beurteilung. Wir alle wissen doch, welchen enormen inneren Rückschlag es bedeutet, beurteilt zu werden – und welche Steigerung dieses Rückschlages es be­deutet, wenn dieses Urteil „schlecht“, „mangelhaft“, „ungenügend“ usw. lautet. Doch zahllose Kinder und Jugendliche erleiden dies täglich!

Längst haben verschiedenste erziehungswissenschaftliche Studien bewie­sen, dass Noten nahezu keinerlei Aussagekraft haben! Internationale Ver­gleiche zeigen darüber hinaus seit langem, dass gerade das deutsche Schulwesen die stärkste Selektion ausübt. Und nur eine Spitze eines riesigen Eisberges ist das Beispiel einer hoch engagierten Lehrerin, die wegen ihres spannenden Unterrichts und berechtigterweise (!) guter Noten für die Schüler straf­versetzt wurde![4]

Besinnen wir uns auf das Wesen des Geistes – er kann sich nur in Freiheit entfalten. Empfinden wir dies so real wie nur möglich! Dies betrifft zualler­erst die Pädagogen – denn wie könnte man zur Freiheit führen, wenn man selbst nicht frei wäre?

Das Bildungswesen aber erstickt geradezu in „Ausführungs­vorschriften“, „Bildungsplänen“ und anderem! Immer neue Vorschriften und Regelungen werden erdacht, um den Bildungsbereich zu kontrollieren, zu regulieren und zu „verbessern“; vom Kindergarten bis in die Hochschulen.

Selbstverständlich wollen alle Akteure dabei immer „das Beste“, aber ent­scheidend sind nicht die „guten Absichten“ (die teilweise auch sehr frag­würdig sein können), sondern die realen Wirkungen.

Wenn wir wirklich innerlich-real empfinden können, dass das Lebensgesetz und das Grund­prinzip des Geistes die Freiheit ist und sein muss, kann es  uns vollkommen bewusst werden, dass jede Regulierung des Geisteslebens von außen eine Überregulierung ist. Dann erkennen wir darin ganz nüchtern und objektiv etwas Dik­tatorisches. Es handelt sich um ein staatliches Diktat!

Schon in den Kindergärten sollen verschiedene Staats-Diktate – „Sprachlern­tagebücher“, „Bildungsprogramme“ usw. – dem „Besten“ der Kinder dienen, der „Frühförderung“. Doch was geschieht hier? Die Politik greift in das Bildungswesen ein und diktiert, erzwingt ein ganz bestimmtes Verständnis von „Frühförderung“ mit teilweise sehr bestimmten Maßnahmen. Ver­pflichtend und einheitlich für alle.

Jeder Kindergarten muss dann dieser einheitlichen „staatlichen Frühförde­rungs-Verordnung“ genügen: „Sprachlerntage­bücher“, Dokumentation, Aus­wertung, Nachbe­rei­tung, interne und externe Evaluation und so weiter... PädagogInnen werden gleichsam zu Ausführungsbeamten degradiert.

Schon dies ist im Geistesleben eine Ungeheuerlichkeit, aber es geht noch weiter. Denn was geschieht nun real in den Kindergärten? Die Erzieherinnen können sich viel weniger wirklich mit den Kindern beschäftigen, sie müssen sich dem Dokumentieren, Auswerten und Evaluieren widmen, Verwal­tungs­aufgaben, die ihre Kräfte binden – und lähmen. Dabei ist das Allermeiste von dem, was hier „doku­mentiert“ werden muss, den Erzieherinnen aus ihrer unmittelbaren Erfahrung bekannt! Was hinzukommt, ist nur der Zwang, diese täglich erlebte Wirklichkeit zu „dokumentieren“, zu „evaluieren“, zu archivieren...

Was also ist die reale Wirklichkeit? Ein ungeheurer staatlich-politischer Aufwand, „die Kinder zu fördern“ – mit dem Ergebnis, dass die Erzie­herinnen ... weniger Zeit für die Kinder haben; dass ihre Begeisterung, ihre Intuition, ihr Ideenreichtum gelähmt wird!

Und wir haben die wichtigsten Fragen noch überhaupt nicht gestellt: Was ist die eigentliche Aufgabe der Kinder­gärten? Müssen Kinder „frühgefördert“ werden? Welche Art von Frühför­derung ist gemeint? Müssen Kinder schon mit fünf Jahren lesen und rechnen lernen? – In der Erziehungswissenschaft spielt sich ein ungeheurer Kampf um die Kindheit ab: Um die Frage, was Kindheit soll und darf, was ihre Aufgaben, Möglichkeiten und Potentiale sind, was Kindheit wirklich bedeutet.

Es wird unendlich viel hineininterpretiert in diese Kindheit. Es wird gesagt: Kinder sind Forscher und Entdecker. Das stimmt auch. Aber was wir Er­wachsenen ihnen dann entgegenbringen, ist oftmals so intellek­tuell aus­gedacht, dass es das Kind gar nicht erreicht. Kinder sind zuallererst (und ausschließlich!) Kinder. Sie haben ein Recht auf Kindheit. Sie müssen nicht schon mit fünf Jahren lesen und rechnen lernen, sie müssen keine For­schungsprojekte absolvieren.[5]

Kinder sind Kinder. Und Kinder wollen spielen. Sie wollen nicht „spiele­risch lernen“, sie wollen nicht „spielerisch entdecken“, sie wollen einfach spielen. Das kindliche Spiel ist das Lernen der Kinder – aber nur von innen aus gesehen. Zunächst ist es einzig und allein das, was es ist: Spiel. Das ganz eigene Königreich der Kinder...

Wenn wir den Kindern diesen vollkommen zweck- und zielfreien Raum nehmen, nehmen wir ihnen ihre Kindheit. Wir sollen nicht möglichst viel „Frühförderung“ an die Kinder heran­bringen, sondern wir sollen mög­lichst viel Raum für sinnhaftes, echtes Spiel der Kinder schaffen. Das ist die Frühförderung der Kinder. Die Rettung der Kindheit ist die beste „Früh­förderung“, die überhaupt denkbar ist.

Den Erziehungswissenschaftlern und Bildungspolitikern möchte man zu­rufen: Besinnt euch dreimal auf allen eigenen Hochmut, bevor ihr einmal zu wissen meint, was für Kinder „gut“ sei! Strebt danach, alle Vorstellungen und Projektionen abzulegen, die noch das allzu Erwachsene und Abstrakte an sich haben und erlebt wirklich ... das Kind!

Das Kind will spielen.
Das Kind will Geborgenheit.
Das Kind will Liebe.
Das Kind will auch entdecken.

Interpretieren wir nichts hinein in die Kinder. Denken wir auch nicht an das, was Kinder in zwei, in drei, in zehn Jahren „können sollten“. Tun wir alles, um den Kindern jetzt und hier ihr Kindsein zu schützen und ihre eigentlichen Bedürfnisse zu erfüllen...

Können wir Liebe und Geborgenheit vorschreiben? Können wir das Spielen vorschreiben? Können wir wahre Pädagogik vorschreiben und organisieren? Nein – wir müssen und können nur den Raum dafür geben.

Der Staat kann das Bildungswesen nur ruinieren – indem er versucht, Dinge vorzuschreiben.[6] Diese Dinge können immer nur einen fragwürdigen Inhalt haben, fragwürdige Schwerpunkte setzen, Kräfte binden und die pädago­gi­sche Intuition lähmen. Nehmen wir das freie Geistesleben und seine Bedingungen ernst!

Befreien wir das Bildungswesen – und wir befreien den Menschen.

Die Zukunft des Geisteslebens: Freiheit.

Wenn erlebt werden kann, dass der Geist reale innere, vollkommen freie Aktivität ist, so weiß man unmittelbar, dass jeder äußere Eingriff hier läh­mend wirkt und nicht sein darf.

Die Freiheit ist das innere Lebensgesetz des Geisteslebens. Ein Geistesleben, ein Kulturleben und Bildungswesen ohne Freiheit ist wie ein Baum, der nie zur Blüte kommt, weil ihm fortwährend die Zweige beschnitten werden. Wir haben kaum eine Ahnung, wie verkrüppelt sich dasjenige entwickelt, was wir heute als Bildungswesen kennen.

Der Staat hat nicht die „Hoheit“ und Aufsicht über das Bildungswesen! Hat er sie, lähmt er es... Es gibt nur eine Hoheit im Geistesleben: den mensch­lichen Geist selbst. Es darf nur einen „Akteur“ geben: die im Geistesleben selbst stehenden Menschen. Im Bildungswesen sind das die SchülerInnen und StudentInnen und an ihrer Seite diejenigen Men­schen, die täglich dabei helfen sollen, das Geistige im Menschen zu entfalten, zu entwickeln, zu nähren, indem sie selbst dieses Geistige entfalten.

Nur auf diese lebendige Begegnung kommt es an – und ohne volle Freiheit ist diese nicht möglich, weil das Geistige in Wahrheit nur in voller Freiheit entfaltet werden kann.

Die Gegner eines freien Geisteslebens sehen nicht, was der staatliche Ein­griff anrichtet. Sie sehen nicht, was real geschieht, und haben ausgeprägte negative Vorstellungen darüber, was passieren könnte, wenn dieser Eingriff nicht mehr da wäre. So gleichen sie Eltern, die ihrem längst erwachsenen Kind etwas aufzwingen, was sie für absolut „gut, richtig und notwendig“ halten...

Die im Geistesleben tätigen Menschen wissen aber selbst am besten, was „gut, richtig und notwendig“ ist. Jede einzelne Schule muss sich selbst verwalten dürfen und braucht die volle Autonomie – im inhaltlichen Ansatz, im Einsatz ihrer finanziellen Mittel, in der Wahl der Pädagogen, in den Bildungszielen...

Äußere Kontrolle und Lenkung im Bildungswesen ist ein Kennzeichen von Staatsdiktaturen. Es ist ungeheuer vielsagend, dass ver­schiedenste Politiker sich im Bildungs­wesen angeblich um „Gleichheit“ sorgen, während sie im Wirtschafts­leben die volle Freiheit fordern – und während in Wirklichkeit das deutsche Bildungswesen das ungleicheste in ganz Europa ist.

Die Freiheit gehört nicht in das Wirtschaftsleben, in die Welt des Physischen, in der wir alle aufeinander angewiesen sind; sie gehört aber in vollem Um­fang und in ihrer tiefsten Bedeutung in das Bildungs-, Kultur- und Geistes­leben. Hier entwickeln sich die menschlichen Fähigkeiten, entwickelt sich das individuelle Wesen des Menschen. Hier muss die Freiheit herrschen, damit es sich entwickeln kann – und nicht gelähmt und beschnitten wird!

Gerade weil jeder einzelne Mensch ein Individuum ist und sich von anderen Menschen unterscheidet – in seinem Wesen und in seinen ganz individuellen Fähigkeiten –, kann es keinen einheitlichen Ansatz geben. Wer also im wahrsten Sinne die „Gleichbehandlung“ fordert, muss die Vielfalt fordern! Erst die Vielfalt ermöglicht es, jedem einzelnen individuellen Menschen gleicher­maßen (!) gerecht zu werden.[7]

Pädagogik ist Metho­dik, Didaktik, Handwerkszeug, Wissen usw. – aber sie ist vor allem anderen eines: Intuition. Jeder gute Lehrer weiß dies. Wie also könnte da, wo es wie nirgendwo sonst auf die Phantasie, die Kreati­vität, die richtigen pädagogischen Intuitionen ankommt, irgendein anderer Grundsatz gelten als die Freiheit?

Erst ein wirklich freies Bildungswesen wird seine eigentliche Aufgabe wahr­neh­men können: Wahre Pädagogik zu verwirklichen. Für dieses Ziel kann man keine Ziele vor­geben, keine Verwaltungsvor­schrif­ten erlassen – oder man verliert die Pädagogik unter seinen Händen...

Und das Argument der „vergleichbaren Abschlüsse“?

Wozu sollen die Abschlüsse vergleich­bar sein? Sind sie jetzt vergleichbar? Ein Abiturzeugnis erzeugt nur die Illusion der Vergleichbarkeit. Und warum sollten Hoch­schulen sich nach staatlich sanktio­nierten „Hoch­schulzugangs­berechtigun­gen“ rich­ten? In ganz eigenen Auf­nahmeprozessen können sie selbst herausfinden, wo die potentiellen Stu­denten stehen und wen sie aufnehmen möchten. Es kann eine große Vielfalt von Abschlüssen geben. Innerhalb des Bildungswesens selbst wird sich eine Vergleich­barkeit heraus­bilden, indem Schulen und Bildungs­stätten ihre Abschlüsse gegenseitig anerkennen.

Ein wirkliches Geistesleben kann sich nur in voller Freiheit entwickeln. Bildung als staatliche oder auch nur staatlich kontrollierte Veranstaltung ist eine Perversion ihrer selbst – und macht die Entfaltung des menschlichen Geistes unmöglich.

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Unglaublich angesichts der abstrakten Forderung nach „Gleichbehandlung“ ist die gegenwärtige Diskriminierung von Schulen in freier Trägerschaft. Sie bekommen in mehreren Bundes­ländern zunächst für einige Jahre (!) überhaupt keine staatlichen Zuschüsse – und später teilweise nur zwei Drittel im Vergleich zur Staatsschule.[8]

Was würde geschehen, wenn das freie Schulwesen gleichberechtigt neben den (ebenfalls befreiten) „Staatsschulen“ existieren würde?

Es entstünde ein guter, richtiger und notwendiger (!) Wettbewerb um die besten Ansätze – und hier ist Wettbewerb, „Konkur­renz“ richtig: im Bil­dungswe­sen, im Kultur- und Geistesleben. Freiheit, Wettbewerb, Vielfalt der Ansätze, der Ideen – und der Menschen, die sich für diesen oder jenen Ansatz ent­scheiden!

Haben die gegenwärtigen Politiker Angst davor, dass die eine oder andere „Staatsschule“ nur noch von Kindern besucht wird, deren Eltern sich nicht um eine gute Bildung ihrer Kinder kümmern? Das wäre doch wohl ein Anzeichen dafür, dass diese spezielle Schule nicht besonders gut wäre. Was also spricht dagegen, sie ganz zu schließen?

Wovor haben Politiker Angst, wenn sie das Bildungswesen unfrei lassen und die freien Schulen diskriminieren? Gerade in ihnen sind hoch engagierte Pädagogen tätig, gerade sie werden von immer mehr Eltern gesucht, die mit Recht erleben, dass wir dringend Alternativen brauchen.[9] Haben die Politiker vielleicht gerade Angst vor dieser Erkenntnis?

Wenn es um den Menschen geht – um die jungen Menschen und die Päda­go­gen –, muss das Bildungswesen vollkommen frei werden!

Die Rechtssphäre - Der Ist-Zustand

Jeder Mensch hat ein unmittelbares Rechts­empfinden. Es ist ein inneres Gefühl für Recht und Unrecht, für das, was recht und unrecht ist. Wir brauchen nicht erst äußeres Recht, um dies zu wissen – denn das äußere Recht ist ja selbst erst ein „Ergebnis“ dieses menschlichen Erlebens.

Dieses Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden gehört zutiefst zu unserem Menschsein, es ist innig mit unserem Gewissen verbunden.[10] All das zeigt sich auch in der hohen Sensibilität dieses Empfindens – und dies nicht etwa nur in Bezug auf Unrecht, das wir erleiden.

Es gibt nun in unserer Welt sehr vieles, von dem wir unmittel­bar wissen oder ganz deutlich empfinden, dass es Unrecht ist. Es kann durch das äußere Recht erlaubt oder geschützt sein, trotzdem wissen wir innerlich, dass es unrecht ist.

Oft beruht dieser seltsame Widerspruch darauf, dass etwas nicht wahrhaft als Rechtsfrage behandelt und gesehen wird. Es ist aber alles eine Rechtsfrage, was das Verhältnis zwischen Men­schen berührt und was in irgendeiner Weise „verein­bart“ werden müsste (und sei es unausgesprochen).

Das menschliche Rechtsempfinden regt sich, wenn eine Regelung nicht gerecht ist oder aber überhaupt keine wirkliche Regelung ist, weil

• sich die Dinge „selbst“ regeln,
• ein unausgesprochener Status Quo hingenommen wird,
• das Machtverhältnis den Ausschlag gibt,
•  irgendwelche „Gewohnheitsrechte“ beansprucht werden
• usw.

In all diesen Fällen wird die reale Rechtsfrage entweder nicht gesehen, nicht ernst genommen oder in anderer Weise nicht voll bewusst und menschlich ergriffen.

Überall, wo das Verhältnis zwischen Menschen berührt ist, muss es eine Art Vereinbarung geben, ausgesprochen oder unausgesprochen; selbst eine Nicht-Regelung ist eine Regelung. Die entscheidende Frage ist: Empfinden die Beteiligten das, was sich da zwischen ihnen entfaltet und „herauskris­tallisiert“, als richtig und gerecht? Oder empfindet der eine oder andere, dass da etwas nicht recht, nicht richtig ist?

Die Beziehungen zwischen Mensch und Mensch sind fortwährend von diesem feinen Empfinden für Gleichgewicht und Ungleichgewicht begleitet. Diese Prozesse sind nicht weniger kompliziert als die geradezu wunderbaren Prozesse innerhalb eines lebenden Organismus’. Und tatsächlich kann man dieses feine, subtile „Rechtsleben“ mit der Frage der Gesundheit vergleichen. Solange man gesund ist, merkt man nichts von den ungeheuer kompli­zierten Prozessen des Leibes. Wenn man aber in irgendeiner Weise krank wird, merkt man sehr deutlich, dass „etwas nicht stimmt“. Vielleicht kann man zunächst nicht einmal genau sagen, was nicht stimmt – aber dass etwas nicht stimmt, ist sicher...

So ist es auch im Sozialen. Das unmittelbare, ganz innere Rechts­empfin­den der Menschen ist ein sehr feiner Gradmesser dafür, ob sich das menschliche Miteinander „gesund“ entfaltet oder ob etwas „nicht stimmt“.

Selbstverständlich kann das Rechtsgefühl auch subjektiv verschieden sein. Wo der eine sich ungerecht behandelt fühlt, kann der andere meinen, „schon zu viel bekommen zu haben“. Doch wie auch immer das innere Urteil ausfällt: Wo sich Menschen begegnen, geht es um einen Ausgleich zwischen ihrem Rechtsempfinden.

Dabei stehen sich die Menschen in dieser Rechtssphäre als Menschen gleichberechtigt gegenüber. Gerechtigkeit wird empfunden, wenn alle Betei­ligten zufrieden sind – entweder von vornherein oder weil sie einander in ausgewogener Weise entgegengekommen sind.

Das Rechtsempfinden kann aber auch korrumpiert werden oder einschlafen, zum Beispiel wenn es Gewohnheitsrechte gibt, die nicht mehr hinterfragt werden. Aufwachen für die Rechtsfrage kann man dann durch eine Frage wie: Woher nimmt X sich eigentlich das Recht...? Die Sprache selbst offenbart hier das Geschehen, denn „genom­menes Recht“ ist nichts anderes als Macht.

Gerade das Wirtschaftsleben birgt viele solcher unbeant­worte­ter Rechts­fragen, weil man meint, auf diesem Gebiet würden sich die Dinge von selbst, „in Freiheit“ oder durch den „Markt“ regeln. Die notwendige Freiheit existiert hier aber gar nicht, denn wenn es nicht die Freiheit des Stärkeren sein soll, müsste es eine Freiheit des Gleichgewichts sein. Diese Freiheit entsteht aber erst aus der Beschränkung der Freiheit ... des Mächtigeren.

Rechtsfragen können nur beantwortet werden, wenn der Blick auf der Rechtsfrage ruht...

Schauen wir einmal auf die „Sozialhilfe“. Heute überlegt man, wieviel Geld zur Verfügung steht; wo man sparen muss bzw. kann; wie hoch Sozialhilfe sein darf, um noch unter den niedrigsten Löhnen zu liegen („Lohnabstands­gebot“); was die richtigen Sätze sind, wenn man überall die niedrigsten Ausgaben zugrunde legt...

Können wir erleben, wie bei all diesen Fragen das Menschliche überhaupt keine Bedeutung hat? Nirgendwo wurde die eigentliche Frage berührt: Welche Hilfe ermöglicht den Menschen ein menschen­würdiges Leben – ohne Not und mit sozialer Teilhabe? Das ist die menschliche Rechtsfrage, um die es geht. Jeder Mensch hat das Recht auf ein menschenwürdiges Leben. Wie könnte diese Frage je durch andere überdeckt werden?

Schauen wir einmal auf die Lohnfrage. Viele Löhne sind Gewohn­heitswerte, die sich herausgebildet haben, unter anderem durch Vorstel­lungen über den Wert der jeweiligen Arbeit, die notwendige Ausbildung. Sehr oft richtet sich der Lohn nach „Angebot und Nachfrage“ auf dem „Arbeitsmarkt“. Löhne werden gedrückt und gesenkt oder jahre­lang nicht erhöht, indem auf Spar- und andere Sachzwänge hinge­wiesen wird. Es ent­stehen ganze „Niedriglohn­sektoren“, wo selbst eine Vollzeitarbeit nicht genügt, um auch nur eine dreiköpfige Familie zu ernähren.

Nirgendwo wird hier die entscheidende Frage gestellt, was die Beteiligten als gerecht empfinden. Wenn ein Mensch eine Arbeit braucht, muss er seine Arbeits­kraft letztlich zu jedem Preis verkaufen. Es ist ein menschen­unwürdiger Zustand, ähnlich einem Sklavenmarkt – auch wenn es heute „nur“ ein „Arbeitsmarkt“ ist...

Auch die Lohnfrage wird also aus der menschlichen Rechtssphäre heraus­gerissen und in einen „Markt“ hineingezwungen, zu einer „Wirtschaftsfrage“ gemacht: Welchen Preis ist deine Arbeit wert? Und dieser Preis richtet sich danach, wie viele „Mitanbieter“ der gleichen Arbeit es gibt und so weiter. Die Menschen müssen sich dann mit diesem „Preis“ zufriedengeben. Es ist eine Machtfrage, die einseitig – und sei es mit Hilfe des „Marktes“ – beantwortet wird.

Die Rechtsfrage ist: Welche Entlohnung ist für die jeweilige Arbeit gerecht?

Und welcher Anteil des Erlöses ist in Bezug auf den Eigentümer der Produktionsmittel gerecht, in Abhängigkeit von dessen Investitionen und so weiter?

Wem gehören die Produktionsmittel überhaupt, mit welchem Recht, und welche Rechte ergeben sich aus deren Eigentum bzw. Nutzung?

Dies sind Rechtsfragen – das heißt, sie müssen zwischen den beteiligten Menschen beantwortet werden, können keine vorgegebene, einseitige Antwort finden, wenn das wahrhaft Menschliche anwesend sein soll.

In Wahrheit besitzt eben nicht der Besitzer der Produktionsmittel den Erlös und zahlt dann gewisse Anteile aus, sondern dieser Erlös wird zunächst von niemandem bzw. von allen besessen, weil er von allen erarbeitet wird. Was mit dem gemeinsam Erarbeiteten geschehen soll, ist eine Rechtsfrage – eine offene Frage... Gelöst werden kann sie nur, wenn alle beteiligten Menschen sich begegnen und aus dieser Begegnung heraus die Antworten finden...

Heute jedoch gilt die Gleichung: Besitz der Produktionsmittel = Besitz des Unternehmens = Besitz des Gesamterlöses. Aber diese Gleichung stimmt einfach nicht – sie wird ein Unrecht, wo die „Lohnarbeiter“ ein Unrecht gegenüber ihrem wahren Beitrag empfinden.

Wenn wir die Realität dieser gemeinsam geleisteter Arbeit erleben, können wir mit unserem menschlichen Empfinden immer wieder nur zu der einen Frage kommen: Wer solchen welchen Anteil am Erlös bekommen?

Dieses ganzmenschliche Empfinden strebt nach der Überwindung des bestehenden Gegensatzes zwischen „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“. Selbstverständlich kann es immer Lösungen geben, wo Einzelne allein voll verantwortlich sind und alle Risiken auf sich nehmen – und die anderen dies gar nicht wollen, sondern sich stattdessen einen festen Lohn wünschen. Wo aber der Einzelne Mitverantwortung übernehmen will, muss begonnen werden, ganz anders zu denken...

Im Zwischenmenschlichen geht es immer um das Empfinden des Rechten oder Unrechten. Die damit auftretenden Fragen können nur gelöst werden, wenn die Antworten das Gefühl eines Gleich­gewichts geben. Das ist das Wesen des Rechts und einer jeden Rechtsfrage: Das Empfinden der Gleichheit (vor dem Recht) und das Empfinden der Gerechtigkeit und des Gleichgewichts ange­sichts einer gemeinsamen Vereinbarung.

Die Zukunft der Rechtssphäre: Gleichheit.

Vor dem Recht sind alle Menschen gleich ... wenn sie auch „hinter dem Recht“ gleich sind. Die Wirklichkeit dieser Gleichheit erweist sich daran, dass die konkreten Regelungen als gerecht empfunden werden.

Überall, wo Macht ins Spiel kommt, muss das Recht zurückweichen, entsteht ein Vakuum des Rechts. Die Macht ist der Tod des Rechts. Gerade im Wirt­schaftsleben ist aber unglaublich viel Macht wirksam. Da das heutige Wirt­schaftsleben ganz auf der Konkurrenz basiert, ist es kein Wunder, dass auch die Rechtsfragen auf diese Weise „beantwortet“ werden.

Empfinden wir jedoch menschlich, wird in uns die Sehnsucht erwachen, dass die eigentlichen Rechts­fragen erkannt und in voller Gleichberechtigung beantwortet werden können.

Das äußere Recht soll dem Menschen dienen. Es soll ein möglichst getreuer Spiegel seines lebendigen, aktuellen Rechtsemp­findens sein. Natürlich ist das äußere Recht in zahllosen dicken Gesetzes­büchern festgelegt und kann sich vielfach vom unmittel­baren Empfinden des Menschen entfremden. Doch genau aus diesem Grund können und müssen Gesetze und Regelungen auch geändert werden – auf dass sie wiederum Ausdruck für das reale Empfinden der Menschen sein können.

Wenn ein Großteil der Menschen in konkreten Arbeits- und damit Rechts­verhältnissen das Gefühl hat, es „stimmt etwas nicht“, wäre es menschen­verachtend, darauf hinzuweisen, „unsere Rechtsordnung“ schütze aber dies und jenes. Vielmehr muss zugegeben werden, dass viele Rechtsfragen heute noch nicht menschlich beantwortet sind.

Es gibt auf Rechtsfragen keine vorge­fasste Antwort. Die Antwort muss zwischen den Menschen gefun­den werden, die konkret betroffen sind. Die Aufgabe der Rechtsordnung bestünde darin, da­für zu sorgen, dass diese Antwort unter den Voraus­set­zungen der Gleichheit, der Gleichberechtigung und ohne den Ein­fluss von Macht gefunden wird.

Die Gestaltung und der Schutz der Rechtssphäre ist die eigentliche Aufgabe der Politik und des Staates. Heute jedoch greift der Staat in ihm ganz wesensfremde Bereiche (z.B. das Bil­dungs­wesen) über und nimmt seine eigentliche Kern­aufgabe völlig ungenügend wahr!

Besitz-, Lohn- und Vertei­lungsfragen sind eigentlich Rechtsfragen. Diese müssen ganz anders als heute in eine politisch-demokratische Verantwortung übergehen. Nicht die Bildungsziele können demokratisch entschieden werden, nicht die Bananenkrümmung oder andere Wirtschaftsfragen, aber übergeordnete Fragen der Gerech­tigkeit – Rechtsfragen. Erst dann werden wir eine wahre Demokratie haben.

Das Wirtschaftsleben -  Der Ist-Zustand

Unser heutiges Wirtschaftssystem ist von einem unaussprechlichen Grad an Konkurrenz und Unmenschlichkeit geprägt. Die Konkur­renz und das „Über­leben des Stärkeren“ ist ja sein Grundprinzip, und man kann sich kaum vorstellen, wie machtvoll dieses Prinzip als Quelle des Unmenschlichen in unserer Gesellschaft wirkt.

Arbeitnehmer werden als Kostenfaktor gesehen, oft wirklich nur wie austauschbare Arbeitskräfte behandelt und nicht selten nach Belieben – wenn möglich – entlassen. Und die Konkurrenz herrscht auch innerhalb eines Unternehmens. Feindschaften zwischen Teams, Mobbing innerhalb von Arbeitsgruppen, Überlastung, Burnout sind vielfache Realität. Die Unter­nehmen selbst stehen oft am Rande des Ruins, sind überschuldet, müssen weitere „Einspa­rungen“ vornehmen, gehen jährlich zu Zehntau­senden in den Konkurs...

Das ist die Wirklichkeit unserer Marktwirtschaft – Konkurrenz um buch­stäblich jeden Preis, mit ungeheuren Folgen materieller, gesundheit­licher, seelischer und anderer Art...

Zugleich aber sind wir alle in einem ungeheuer kompli­zierten Geflecht von Bezie­hungen miteinander verbunden und arbeiten als Menschen ganz objektiv füreinander. Verdeckt wird diese Tatsache nur dadurch, dass der Einzelne sich vorstellt, er arbeite für sich, für den eigenen Profit, Lebensunterhalt etc. – Das ist natürlich heute auch wahr, aber die andere Seite der Realität ist, dass das, was wir real tun, für andere Menschen tun.

Dies ist zwar in allen Austauschverhältnissen so, aber frühere Wirt­schafts­verhältnisse waren doch noch mehr selbstbezogen; heute dagegen ist die Verflechtung so intensiv geworden, dass man von vorn­herein für andere Menschen arbeitet – sehr oft für unzählige Menschen, denen man vielfach nicht einmal persönlich begegnet!

Und ist dies nicht auch der einzige Sinn des Wirtschaftslebens? Dass Waren und Dienstleistungen hervorgebracht werden, die dem anderen Menschen dienen? Die die Bedürfnisse der Menschen befriedigen?

Viele Menschen übersehen diesen einzigen, unendlich bedeutenden Sinn – und sehen den unmittelbaren Sinn des Wirtschaftslebens in der Erzielung von Profit. In der Marktwirtschaft ist dieses Motiv auch das Grund­prinzip – und über den Egoismus soll laut Theorie dann der größte Wohlstand aller erreicht werden. Machen wir uns aber auch nur einmal wirklich bewusst, welch un­mensch­liches Denken hiermit unserem ganzen Wirtschaftsleben zugrunde liegt?

Die Theorie fordert den puren Egoismus – und die Praxis fördert und ver­stärkt ihn dann noch. Heraus kommt am Ende Wohlstand – aber um welchen Preis? Um den Preis einer immer unmenschlicheren Welt, die auf­grund der alltäglich erlebten und ausgeübten Konkurrenz (auf allen Ebenen!) immer weniger zu menschlichen Regungen fähig ist ... und ihre Reste ganz in das Privatleben verlegt.

Und es ist eine Lüge, dass der daraus am Ende resultierende Wohlstand allen zugute komme oder auch nur der größtmögliche sei. So wie im heutigen Bildungswesen unzählige Menschen „durch das Raster fallen“, so ist es auch im Wirtschaftsleben. In einem ganz auf Konkurrenz gebauten System kann dies auch nicht anders sein.

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Zu der Konkurrenz kommt heute noch ein weiteres Gesetz hinzu:

Jedem Profit stehen an anderer Stelle Schulden gegenüber.

Wenn wir wirklich menschlich empfinden wollen, müssen wir uns auch dies sehr bewusst machen: Wo immer ein Profit gemacht wird, wird dadurch jemand anderem etwas weggenom­men, dessen er dringend bedürfte. Mache ich einen Profit, stoße ich einen anderen in Not, in die Verschuldung...

Dass wir diese Tatsache heute so leicht nehmen, ja völlig übersehen, liegt daran, dass wir die Opfer unser Profite nicht sehen, nicht kennen, vielleicht nie kennenlernen werden. Gerade die gegenseitige Verflechtung und Ab­hängigkeit macht das Wirtschaftsleben zu einem hoch-anonymen Geschehen, in dem es den einen nicht scheren muss, was er dem anderen antut und welche Opfer seinen Weg säumen...

Dies ist aber die Realität unseres heutigen Wirtschaftssystems: Das tägliche Hervorbringen ungezählter Opfer, das Hineinstoßen unzähliger Menschen und Betriebe in die Verschuldung, in persönliche Not, aus der sehr viele dann auch nicht mehr heraus­kommen – zumal die Profite auf der anderen Seite immer mehr ansteigen.

Wenn wir diese Realität auf unser Rechtsgefühl wirken lassen, empfinden wir ... dass Profit Unrecht ist. Nicht der Erlös, der einem gerechtfertigten Lebensunterhalt dient, aber der Profit, der das Bedürfnis übersteigt und sich in wachsenden Vermögen ausdrückt.

In unserem heutigen Wirtschaftssystem kommt alles Geld nur über Kredit in den Kreislauf hinein. Es be­stehen also schon auf dieser Grundlage Schulden in Höhe der umlaufenden Geldmenge. Bilden sich Vermögen, entstehen an anderer Stelle noch mehr Schulden. Es ist ganz real ein Ungleichgewicht. Die einen profitieren (Profit!), die anderen geraten in Not. Wer also nach Profit strebt, der strebt – ganz objektiv – zugleich nach der Not des anderen.

Ist dies der Sinn unseres Wirtschaftssystems? Der Profit auf Kosten der Not unserer Mitmenschen? Oder ist der Sinn die gegenseitige Befriedigung der Bedürfnisse, indem ein jeder für die anderen arbeitet und dadurch wahrhaft dem größtmöglichen Wohl aller gedient wird?

Die Menschlichkeit wird diese Frage unmittelbar beantworten...

Die Zukunft des Wirtschaftslebens: Brüderlichkeit. 

In der heutigen arbeitsteiligen Wirtschaft arbeitet jeder für den anderen. Können wir nicht unmittelbar empfinden, wie dies das Ideal des Wirt­schaftslebens ist – als Bild? Und wie die heutige Realität tatsächlich von einem Ideal erfüllt werden könnte, welches das Bild Wirklichkeit werden ließe? Es ist das wahrhaft menschliche Ideal für das Wirtschaftsleben: die Brüderlich­keit. [11]

Wie viele Menschenherzen brannten nicht schon für dieses Ideal! Gerade in den Seelen wahrhaftiger Sozialisten lebte es. Aber was ist dieses Ideal? Es ist doch die tiefe Menschenliebe selbst... Liebe aber kann niemals gefordert werden. Ein System, das zur Brüderlichkeit zwingen wollte, müsste unweigerlich scheitern – an dem eigenen inneren Widerspruch.

Doch ein System, das als Grund­prinzip gerade den Egoismus fordert, geht am inneren Verlust der Menschlichkeit zugrunde... Man kann nicht tief genug erleben, was es bedeutet, wenn ein Gesell­schafts­system den Egoismus geradezu fordert (im „Wirtschaftsleben“, von wo aus er auf alles übergreift). Wer ein solches System verteidigt, versündigt sich an der gesam­ten Mensch­heitsentwicklung... Er rechnet nicht mit dem Menschen, stattdes­sen verhin­dert er die Entwicklung des Menschlichen.

Was ist dann die Alternative zu diesen beiden Unmög­lich­keiten? Es können nur gesellschaftliche Einrichtungen sein, die den Egoismus begrenzen und den Impuls der Brüderlichkeit möglich machen – nicht fordern, aber er­mög­lichen und fördern.

Es ist real ein Wirt­schafts­leben denkbar, das nicht von Egoismus durchtränkt ist; dass nicht den Egoismus fordert, sondern die Menschlich­keit fördert...

Was ist Brüderlichkeit? Es ist der andere Mensch – als Ziel des eigenen Handelns. Es ist das Sich-leiten-lassen von einer Grundfrage:

Was fehlt Dir, Bruder – und Schwester? Was brauchst Du?

Spüren wir nicht, dass dies wahrhaft das Ideal des Wirtschafts­lebens ist?

Schon jetzt arbeiten wir ganz real füreinander. Auch der Grundsatz „Der Kunde ist König“ weist auf dieses Ideal hin – wenn er einmal in voller Menschlichkeit empfunden wird. Das Wort „Dienstleistung“, die dienenden Berufe (z.B. die Pflegeberufe) – überall können wir erleben, wie das Wirtschafts­leben, in dem es um die menschlichen Bedürfnisse geht, in seiner tiefsten Wirklichkeit nichts anderes als ein Dienst am Nächsten ist.

Man muss dies alles nicht so empfinden – aber man kann es so empfinden. Und man wird es so empfinden ... wenn man seine eigene Menschlichkeit immer mehr vertieft.

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Wenn wir erleben können, dass wir fürein­an­der arbeiten, ergibt sich noch ein Weiteres. Die Frage der Brüderlichkeit ist ja auch an mich gestellt – und an jeden Einzelnen. Und so entsteht real eine weitere Frage:

Was braucht jeder Einzelne, um für den Mitmenschen arbeiten zu können?

Mit dieser Frage schließt sich der Kreis der Brüderlichkeit...

Diese Frage ist eine wahrhaft kopernikanische Wende im Wirt­schaftsleben. Denn bis zu diesem Tage lautete die Vorstellung: Ich arbeite für mich, ich verdiene für mich, und damit ich dies kann, muss ich eben Waren herstellen, Dienstleistungen erbringen. – Der neue Gedanke kann das Ideal der Brüderlichkeit ganz in sich aufnehmen, denn mit dieser entscheidenden Frage arbeitet der Einzelne nicht mehr für ein „Einkommen“, sondern das Verhältnis kehrt sich vollkommen um: Der Einzelne erhält ein „Einkommen“ (eigentlich ein „Auskommen“!), um für die Mitmenschen arbeiten zu können.

Dies ist die Wende vom Egoismus zur Brüderlichkeit bis hinein in die „Lohnfrage“. Äußerlich gesehen muss sich dafür vielleicht zunächst gar nicht viel ändern – bis auf die Tatsache, dass der Einzelne sein „Einkommen“ zu Beginn eines Monats erhält. Innerlich aber kann eine vollkommen andere Realität erlebt werden: Die Trennung von Arbeit und Einkommen.

Ich muss nicht mehr für mein Einkommen arbeiten, nur noch für den anderen Menschen – und mein Einkommen ist dazu da, mir dies zu ermöglichen...[12]

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Eine weitere entscheidende Frage auf allen Ebenen ist die der gerechten Preise. Selbst bei einer ausgewogenen Nachfrage nach den verschie­densten Waren und Dienstleistungen sind gerechte Preise notwendig, damit kein einzelner Akteur in Not gerät, sondern ein gerechtes Gleichgewicht besteht. Wie aber kommt man zu solchen Preisen?

Im heutigen System regeln sich die Preise durch Angebot und Nachfrage – und durch massive Einflüsse von Marktmacht, Unterbietungs­wett­bewerben und so weiter. Wir kennen dies in extremer Form im weltweiten Zusam­menhang, wo z.B. die Kaffeebauern nur ein paar Cent erhalten, während die Konzerne große Profite machen.

Initiativen für „Fairen Handel“ wirken dem entgegen, indem sie mit den konkreten Menschen in Verbindung treten![13] Zu gerechten Preisen kommt man nur durch den Austausch – durch assoziative Verbin­dungen von Produzenten, Händlern und Konsumenten. Das sind die Zukunftsansätze eines brüderlichen Wirtschaftslebens! Die Akteure der Zivilgesellschaft leben es im kleinen Maßstab seit Jahrzehnten vor...

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All das, was hier geschildert wurde, muss von Menschen gewollt werden. Egois­mus wirkt wie von selbst. Damit der Egoismus herrscht, muss man nichts weiter tun – man hat in den letzten Jahrzehnten schon genug getan, und auch in Zukunft wird sich der Egoismus immer weiter ausbreiten und verstärken. Man braucht nichts weiter tun als ... nichts zu tun. Aber etwas anderes als dieser Egoismus – etwas anderes muss bewusst gewollt werden.

Der Wille, auch an andere zu denken, muss erst erweckt werden, er ist sonst nicht da. Aber in diesem Willen liegt das ganze Geheimnis des Menschen, denn hier stehen wir vor dem Wesen der Brüderlichkeit, der Liebe, des Christentums, des Sozialen im tiefsten Sinne.

Die Liebe ist ein Weg. Wer einmal einen anderen Menschen wahrhaft geliebt hat, weiß, dass die Liebe das wahrhaft Menschliche ist und dass sie in ihrer vollen Wirklichkeit keinen Menschen ausschließt. Das Erfüllende dieser Liebe erlebt jeder Mensch, der real ihren Weg betritt. Dieses Erlebnis hat mit einem anderen zu tun, einem tiefen Freiheitserlebnis. Der Mensch wird durch die Liebe nicht weniger, sondern mehr er selbst. Er wird wahrhaft Mensch, sein Wesen wird groß und weit, denn es nimmt in sein Interesse und sein Wollen den anderen Menschen und die ganze Welt auf...

Tragen wir diese Liebe in das Wirtschaftsleben hinein, braucht die Brüder­lichkeit kein fernes Ideal zu sein. Wir können hier und heute damit beginnen, sie wahrzumachen und das Wirtschaftsleben so zu gestalten, wie es unserer tiefsten Sehnsucht entspricht!

III. Menschlichkeit konkret – einzelne Politikfelder

Die vorangegangenen Kapitel waren ein Versuch, die tiefste Sehnsucht des Menschen in Worte zu fassen und mit Inhalt zu füllen. In den folgenden Abschnitten soll dieser Versuch fortgesetzt wer­den. Wie könnte eine Gestal­tung wahrhaft mensch­licher Lebens­verhältnisse aussehen?

Es gibt für die wahrhafte Mensch­lichkeit kein „muss“. Oder mit anderen Worten: Da, wo es ein „muss“ gibt, muss jeder einzelne Mensch dies selbst erkennen und erleben... Die konkreten Gestaltungen können nur im ein­zelnen gefunden werden – angepasst an die konkreten Bedingungen, Verhält­nisse, Umstände und Mög­lichkeiten.

Worum es vor allem geht, ist, immer klarer zu erleben, was das Menschliche an sich ist – und, diese tiefste Sehnsucht immer ernster zu nehmen. Es geht nicht um Einzelheiten, nicht um Programme, sondern um die Vertiefung der Menschlichkeit selbst. Aus dieser heraus werden sich Lösungen für alle Heraus­forderungen finden lassen – nur aus ihr selbst...

Rechtssphäre

Beginnen wir unsere weiteren Überlegungen bei der Rechtssphäre, die der eigentliche Bereich der Politik ist.

Eigentumsrecht


In den vorangegangenen Überlegungen konnten wir empfinden, dass das heutige Eigentumsrecht oft genug ein Unrecht ist – überall dort, wo es dazu führt, dass Rechtsfragen unterdrückt werden und der Besitz über Menschen und ihre Arbeit gestellt wird.

Das heutige Eigentumsrecht macht den Besitzer von Produktionsmitteln zugleich zum Besitzer menschlicher Arbeitskraft, die nur entlohnt werden muss – mit all den Machtungleichgewichten, die wir kennen. Eine ebensolche Macht hat auch der Besitzer von Grund und Boden.

Arbeitnehmer und Mieter aller Art sind darauf angewiesen, eine Arbeit und Wohnung zu haben, Räume zu nutzen usw. – und die Lohn- und Mietpreis-Verhältnisse widersprechen heute vielfach jeglichem Gerechtigkeitssinn. Auch der gesamtgesellschaft­liche Wohlstand nimmt ab, wenn der Besitz an Produk­tions­mitteln und an Grund und Boden nicht zugleich dem Wohle aller dient.

Gerecht und sachgemäß kann nur ein Nutzungs­recht von Eigentum sein, das seine Grenzen da findet, wo es weder der Pri­vatnutzung, noch in ausgewo­genem Maße dem Nutzen aller, sondern der Profit-Erzielung dient. In diesem Punkt nämlich wird Eigentumsrecht zu Unrecht, denn es setzt den Nicht-Eigentümer und dessen Benachteiligung voraus.

Dieser Bereich der Rechtssphäre wirkt in stärkstem Maße auch auf den gesamten Kulturbereich zurück. Unzählige Kulturprojekte sowie über­haupt alle gemeinnützigen Initiativen der Zivilgesellschaft sind auf bezahl­baren Raum angewiesen! Privatbesitz führt dagegen zu immer höher steigenden Mieten – was noch dadurch beschleunigt wird, dass in allen Mieten zusätz­lich die explodierenden Bodenpreise enthalten sind.

Jede Reform des Eigentumsrechts auf diesem Gebiet dient daher dem Allgemein­wohl – allein schon vor diesem Hintergrund. Eine menschliche Gesellschaft braucht ein Gemeineigentum oder gemeinnützig genutztes Eigentum als vorrangige Eigentums- und Nutzungs­form.

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Ganz ähnliche Fragen stellen sich in Bezug auf die Produktionsmittel. Wie kann es sein, dass ein einmaliger Erwerb von Produktionsmitteln auf alle Zeiten das Eigentumsrecht an dem daraus entstehenden Gesamtunter­nehmen nach sich zieht?

Was bei einem Kleinunternehmen mit wenigen Angestellten noch verständ­lich ist, wird da ein großes Unrecht, wo z.B. ein großer Konzern ungeheure Profite macht, während er seinen Tausenden von Angestellten nur geringe Löhne zahlt. Der Erlös eines Unternehmens wird von allen Men­schen erwirtschaftet, und es haben alle ein Recht auf einen ge­rechten Anteil...

Letztlich ist auch jede Investition in Produktionsmittel nichts anderes als ein Kredit. Warum also sollte die allererste Investition ein Eigentum begründen – noch dazu „auf Ewigkeit“? Sie begrün­det zunächst nichts anderes als eine gewisse Teilhabe an dem Erlös der nächsten Zeit (so wie es bei anderen Krediten heute über den Zins gelöst ist).

Welche Lösungen im Einzelnen gefunden werden, mag künftig sehr ver­schieden sein – Beibehalten bisheriger Strukturen, genossenschaftliches Ei­gentum, Stiftungseigentum, regelmäßige individuelle Absprachen und vieles, vieles andere. Aber das tiefe Bedürfnis nach neuen Lösungen an sich wird vom menschlichen Rechtsgefühl unmittelbar ausgesprochen...

Soziale Sicherung


Heute wird die „soziale Sicherung“ immer mehr als Belastung betrach­tet. Für den Staat ist es der größte Budget­posten im Haushalt. Für die „Führungs­spitzen“ der Konzerne sind die „Lohnneben­kosten“ eine Be­lastung für den Profit. Und viele Menschen blicken mit Argwohn auf die „Sozial­hilfe­emp­fänger“, da sie für diese „mitar­beiten“. Wie aber würden wir denken, wenn wir unsere wahrhaft menschlichen Empfindungen zu erleben versuchen?

Wenn es uns wirklich gelingt, uns mit unserer tiefsten Sehnsucht zu verbinden und menschlich zu denken, würden wir eine Gemeinschaft von Menschen – sei es eine Familie, ein Bezirk, eine Stadt, ein Land, eine Region, eine Welt – auch wirklich als Gemeinschaft empfinden. Wir würden es so empfinden wollen. Wir würden die Gemeinschaft wollen und durch unser Denken, Fühlen und Taten zur Realität machen.[14]

In einer Gemeinschaft hat jeder Anteil am gemein­samen Wohl und Wehe. Das ist das Wesen von Gemein­schaft, es ist gar keine gesonderte Verein­barung. Was ein jeder gerech­terweise bekommt, ist keine Gnade, sondern ein unmittelbares, gewolltes Recht. Es gibt keine Almosen, es gibt nur Men­schen unter Menschen und die Frage: Wie ist es recht, das Gemeinsame unter uns aufzuteilen?

Hier führen alle Begriffe wie „Lohnnebenkosten“ oder „Sozialabgaben“ ganz in die Irre, weil sie den Blick auf eine Illusion lenken. Was in die Sozialver­sicherungen fließt, was als Anteil an die momentan kranken und arbeitslosen Menschen geht, ist keine Abgabe, denn von vornherein bestand eine gemein­schaftliche (in diesem Fall: demokratische) Einigkeit darüber, dass dieser Anteil diesen Menschen gebührt.

Erwirtschaftet werden muss dieser Anteil natürlich von denen, die arbeiten können. Wenn es aber nun wieder als Abgabe empfunden wird, sogar noch als Zwangsabgabe, ist man im Denken erneut ganz auf den egoistischen Standpunkt zurückgefallen. Es bedeutet im Grunde, dass man den Anderen lieber verhungern ließe oder ihm zumindest die Schuld an seiner „Untätigkeit“ usw. gibt – und selbst als Wohltäter betrachtet werden will.

Arbeitslosigkeit ist heute zumeist unverschuldet. Im heutigen „Wirtschafts­system“ werden immer weniger Menschen gebraucht – und der Konkurrenz­kampf verschärft diese Entwicklung enorm, indem die gleiche Arbeit von immer weniger Menschen getan werden soll. Die einen werden arbeitslos, die ande­ren werden überlastet...

Die „Arbeitslosigkeit“ könnte ein Segen sein. Wir alle müssten heute (wenn auch noch der Großteil sinnloser, umwelt-, kinder- und menschen­schädlicher Produktion und Dienstleistung wegfiele) eigentlich nur noch drei bis fünf Stunden pro Tag arbeiten.[15]

Heute werden die Profite privatisiert – aber die Allgemeinheit soll sich um die Arbeitslosen kümmern! Dies ist jedoch nur möglich, wenn sie auch die Mittel dafür bekommt. Der Profit muss also an die Allgemeinheit zurück­fließen – sonst entsteht zwangsläufig wachsende Not!

Lassen wir unser menschliches Empfinden sprechen, werden wir erleben: Jeder Anstieg der Gewinne, der auf Entlassungen zurückgeht, steht dem Unternehmer überhaupt zu keinem Zeitpunkt zu. Die Gemeinschaft muss die Menschen tragen, die aus dem Arbeitsleben herausfallen[16] – und sie braucht die Mittel dazu. Ihre Mittel erhält sie heute durch Steuern. Diese müssen dann aber auch dort erhoben werden, wo sie gezahlt werden können, also wo Gewinne entstanden sind.

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Die Rente ist ein Spezialfall der sozialen Sicherung. Hier ist alles Reden von einer Unmöglichkeit des Umlagesystems, d.h. des „Generationen­ver­tra­ges“, eine Unwahrheit, denn solange der gesamtgesellschaftliche Wohl­stand wächst, kann auch der Wohlstand der Rentner niemals sinken. Das Ganze ist nur eine Verteilungsfrage.

Hohe Risiken sind gerade mit dem kapitalgedeckten System verbunden, in dem sich jeder Einzelne selbst absichern soll. Dieses ganze System beruht auf Spekulation – und auch Pensionsfonds haben im Zuge der Finanzkrise Milliarden-Verluste gemacht! Der einzige Grund für die Aufkündigung des Generationenvertrages waren die Ideologie der Privatisierung – und riesige Profite, die den privaten Pensionsfonds winkten, weshalb die Politiker so lange beeinflusst wurden, bis sie selbst an die „Rentenlücke“ glaubten...

Steuersystem


Das Steuersystem ist heute zutiefst ungerecht. Allen Vermögen stehen an an­derer Stelle Schulden gegen­über, und die Ver­mögen wachsen kontinuierlich – wie also auch die Schulden! Der gemein­same Reichtum konzentriert sich also auf immer weniger Menschen.[17]

Diese ungeheuerliche, schleichende Entwicklung wird in einer menschlichen Gesellschaft rück­gängig gemacht werden und einer gerechten Verteilung des Wohlstandes weichen.

Auf dieser Grundlage ist dann eine große Vereinfachung des Steuersystems möglich: Verschiedene Sondersteuern, Privilegien, „Lohnneben­kosten“ etc. können wegfallen und ein hoher Teil des Steuerauf­kommens über eine Aus­gabensteuer (Konsum­steuer, Mehr­wert­steuer) erhoben werden. Wer viel konsumiert, zahlt dann entsprechend viele Steuern.  

Heute sind gerade große Vermögen oftmals mit Steuerbetrug verknüpft (und teilweise erst dadurch entstanden). Mit einer Konsumsteuer, die jedes Vermögen erfasst, sobald es ausgegeben werden soll, wird Steuerbetrug aller Art nicht mehr möglich sein.

Durch die vorausgehende Reform wird jeder Mensch genügend Vermögen haben, um menschen­würdig zu leben – und die gesamte Steuerbelastung für geringe und mittlere Einkommen wird niedriger sein als heute.

Ökologischer Umbau der Gesellschaft


Mit der Entlastung der geringeren Einkommen und Vermögen wird zugleich der Weg in eine ökologische Gesellschaft möglich. Es ist eine existen­tielle menschliche (Rechts-)Frage, ob wir alles nur Mögliche tun, um die Klimakata­strophe zu begrenzen – auch wenn dies bedeutet, Abschied vom gewohnten Lebensstil zu nehmen, denn dieser Abschied ist lebensnotwendig.

Um diesen notwendigen Wandel zu fördern und die realen Folgen fossilen Energieverbrauchs zumindest teilweise mit dem jeweiligen Verbraucher zu verbinden, werden die Steuern auf fossile Energien schritt­weise stark erhöht, während regenerative Energien und der öffentliche Nahverkehr so stark wie möglich ausgebaut und gefördert werden.

All diese Bemühungen werden in enger Zusammenarbeit mit den zivil­gesell­schaftlichen Akteuren stattfinden. Hier ist bereits sehr viel For­schungs­arbeit geleistet worden. Der notwen­dige Prozess wird erfolgreich sein, wenn ein starker gesell­schaft­licher Wille ihn tragen wird.

Finanz- und Geldwesen


Wie konnte es je dazu kommen, dass „Spekulation“ leistungslose Profite möglich macht, sogar die Realwirtschaft beeinträchtigt – und mit Rohstoff- und Nahrungsmittelspekulation sogar Hunger und Tod bringt!? In einer menschlichen Gesellschaft wird jede Spekulation unmöglich gemacht und werden die Finanzmärkte, die ganz Europa an den Rande des Ruins getrieben haben, vollkommen auf ihren ursprüng­lichen Sinn zurückgeführt werden: den Dienst gegenüber der Realwirtschaft.

Ein weiteres ungeheures Problem ist die Staatsverschuldung. Frühere Re­gierungen haben riesige Schuldenlasten aufgehäuft, und nun hat der Staat bereits mehr an Zinsen gezahlt, als jemals an Krediten aufge­nommen! Heute müssen sogar die Zinsen mit neuen Krediten bezahlt werden, die die Schulden immer weiter steigen lassen... Diese katastrophale Situation führt zu immer weiteren „Sparmaßnahmen“, die dem Gemeinwohl zutiefst wider­sprechen. Ein Bündnis der Mensch­lichkeit wird alle Möglichkeiten für eine zumindest teilweise Streichung dieser Staatsschulden prüfen – und sei es über eine Währungsreform.[18]

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Eine kopernikanische Wende im Denken und dann auch in der Realität des Wirtschaftslebens wird der Wechsel von einer reinen Kredit- und Zinswirt­schaft hin zu einem Negativzins sein, der der Konzentration von Vermögen entgegenwirken und den Wachstumszwang in der Wirtschaft beseitigen wird.

Heute gelangt alles Geld ausschließlich als Kredit(schuld) in den Kreislauf. Dazu kommt noch der Zins – die Banken wollen mehr Geld zurückhaben, als sie gegeben haben, was unmöglich ist! Diese Unmöglichkeit führt zu einem ungeheuren Wachstumszwang, denn jeder einzelne Akteur ist gezwungen, möglichst viel Profit zu machen – um vielleicht irgendwann doch Schulden und Zinsen zurück­zahlen zu können.

Eine große Anzahl von Wirtschaftswissenschaftlern weist auf ebendiese Unmöglichkeit unseres heutigen Wirtschaftssystems hin. Noch ist dieses „unantastbar“, weil die Mehrheit weiter der „Unlogik der Unmög­lichkeit“ anhängt. Dabei wäre dieses Wirtschaftssystem schon längst zusammenge­brochen, wenn nicht immer neue Wirtschaftsteilnehmer durch ihre Kredite die alten gerettet hätten (bei 30.000 Konkursen pro Jahr!) – und wenn nicht der Staat als allergrößter Schuldner ungeheure Geldsummen in den Kreislauf hineingegeben hätte, der nun selbst am Rande des Ruins steht.

Zahllose Privathaushalte und Unternehmen sind ebenso hoffnungslos über­schuldet, das ganze System ist an den Rande der Katastrophe geraten. Und führende Fachleute bestätigen dies![19]

Ein Negativzins auf Vermögen würde bedeuten, dass sich die Vermögen nicht weiter konzentrieren, sondern allmählich schwinden, wie Eis in der Sonne. Bis jetzt wachsen sie automatisch, als ob sich das Geld von selbst vermehren würde – in Wirklichkeit müssen natürlich alle anderen Menschen dafür arbeiten! Künftig wird umgekehrt ein kleiner Teil des wo auch immer konzentrierten Geldes stetig wieder der Allgemeinheit zufließen.

Dies würde zugleich den Wachstums­zwang der Wirtschaft beseitigen. Wenn die Vermögen nicht mehr wachsen, brauchen auch die Schulden nicht mehr zu wachsen. Vielmehr könnte das zurückfließende Geld sogar zinslos oder gar als Schenkung neu in den Kreislauf hineingegeben werden.[20] Dies würde unzähligen Kleinbetrieben und gemeinnützigen Initiativen des Kulturlebens und der Zivilgesellschaft die Existenz ermög­lichen, eine unschätz­bare Berei­cherung unserer Gesellschaft!

Und es ist auch ganz grundsätzlich eine Geldwirtschaft denk­bar, in der das Geld von Anfang an nicht nur über Kredit, sondern auch über Schenkungen in den Kreislauf gelangt. Über den Negativzins kann dann problemlos eine entsprechende Menge Geldes dem Kreislauf auch wieder entzogen werden. – Das ganze ist ausschließlich eine Frage des politischen und gesellschaft­lichen Willens!

Dies wird die wahrhaft kopernikanische, menschliche Wende für unser Geld­- und Wirt­schaftssystem sein. Man empfinde nur wirklich den weltenweiten Unter­schied von einem auf Kredit, Schuld, Verschuldung und Not basie­renden System ... und einem auf Schenkung, Vorschuss und Vertrauen aufge­bautes Wirt­schafts­leben!

Geistesleben

Schenkungsgeld als wichtiges Element eines menschlichen Wirt­schafts­lebens würde insbesondere auch an Initiativen der Zivilgesellschaft und des Kultur­lebens fließen, die für das Allgemeinwohl tätig sind – aber warum nicht auch an neue Gründungsinitiativen im Wirtschaftsleben?

Wer aber sollte solche Schenkungsgelder verwalten und verteilen? Der Staat? Die Banken in ihrer bisherigen Form? Nein. Schenkungsgeld soll der Entfaltung menschlicher Fähigkeiten dienen. Wer wäre dann berufener, solche Mittel zu verteilen, als das Geistesleben selbst? Innerhalb eines wirk­lich lebendigen Geisteslebens – dessen Keim die heutige Zivilge­sellschaft ist – wird sich ein ebenso lebendiges Empfinden dafür bilden, wohin Schen­kungsgelder zum Wohle aller fließen sollten.

Ein neues, erweitertes Eigentumsrecht wird auch die Frage mit sich bringen, wie das Nutzungsrecht an Grund und Boden und an Pro­duktions­mitteln ge­gebenen­falls übertragen werden kann – an Menschen, die es in gutem Sinne und mit entsprechenden Fähigkeiten nutzen. Auch eine solche Frage wird dann am besten innerhalb des Geisteslebens beantwortet werden!

Im heutigen Kapitalismus wird die Frage des Nutzungsrechts aus­ge­klam­mert, weil das Eigentum verabsolutiert und die Eigen­tumsfrage den Macht­verhältnissen des „Marktes“ überlassen wird.[21] Im Staatssozialismus wird die Frage mit der Staats­macht vermischt: Zwischen der geistigen Frage, wer das Nutzungsrecht be­kommen soll, und der Verleihung dieses Rechts wird nicht unter­schieden, die elitäre Nomenklatura beansprucht beide Rollen.

In einer menschlichen Wirtschaft wird die Fähigkeiten-Frage innerhalb eines freien Geistes­lebens beantwortet werden. Der Staat hat dann nur die Aufgabe, das auf diese Weise vergebene Nutzungsrecht zu schützen.

Heute entfalten sich die geistigen Kräfte derjenigen Men­schen, die im Besitz von Kapital und Produktionsmitteln sind, so, dass die Früchte ihrer Arbeit wiederum ihnen selbst zugute kommen. Auf der Basis absoluten Eigentums geht es um Profitmaximie­rung. Auch die Angestellten müssen für den Ge­winn der Unternehmenseigentümer arbeiten.

In einer menschlichen Wirtschaft fällt dieser Machtaspekt weg, wodurch ein Unternehmen wirklich eine gemeinsame Unternehmung werden kann. Die Frage, wer jeweils Funktionen einer übergeordneten Lei­tung haben soll, wird dann immer mehr nur nach besonderen Fähigkeiten und einer freien Aner­kennung dieser Fähigkeiten beantwortet werden. Auf diese Weise wird an die Stelle des widersinnigen Profitstrebens das echte Interesse an der Her­vorbringung von Produkten und Leistungen treten.

Wer der Gemeinschaft durch seine individuellen Fähigkeiten in freier Initia­tive dienen will, wird auch so weitgehend, wie es geht, die Möglichkeit dazu bekommen. Ein wirklich freies Geistesleben wird dafür sorgen, dass Fähigkeiten, Initiative und Kapital bzw. Produktionsmittel so umfassend und so frei wie möglich zusammenkommen können.

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Das Bildungswesen wird, wie zuvor ausführlich beschrieben, in die volle Freiheit der Selbstverwaltung und Selbstgestaltung entlassen. Der Staat wird in das Erziehungs-, Schul- und Hochschulwesen in keiner Weise mehr eingreifen. Ein erstmals wahrhaft freies, lebendiges und immer vielfältigeres Bildungswesen wird die bestmögliche Förderung der jungen Menschen ermöglichen.

Wirtschaftsleben

Wir haben gesehen, wie im Wirtschaftsleben viele Rechtsfragen verborgen liegen, die als solche behandelt und beantwortet werden müssen. Die Bezie­hungen der Menschen untereinander gehören, auch wenn sie im Wirtschafts­leben liegen, nicht zu diesem, sondern sie bleiben auch dann Realitäten der Rechtssphäre.

Das Wirtschaftsleben im eigentlichen Sinne ist diejenige gesellschaftliche Sphäre, in der der gesellschaftliche Wohlstand hervorgebracht und die Bedürf­nisse der Menschen befriedigt werden.

Im „Wirtschaftsleben“, wie es der allgemeine Sprachgebrauch kennt, durch­dringen sich eigentlich fortwährend die drei Bereiche, die wir nun immer deutlicher unterscheiden können: Mit Hilfe ihrer individuellen Fähig­keiten (Geistesleben) werden Men­schen, die in ganz konkreten Beziehungen zueinander stehen (Rechts­sphäre), tätig, um füreinander die individuellen menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen (Wirtschaftsleben).[22]

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Das Wirtschaftsleben ist derjenige Bereich, in dem der gesellschaftliche Wohlstand entsteht. Aus dieser Tatsache können sich weitreichende Gedan­ken ergeben. Wenn die Mittel, mit denen die Gemeinschaft ihre Aufgaben zu erfüllen hat, aus dem Wirtschaftsleben stammen, müssen sie doch nicht zwangs­läufig durch Steuern und Abgaben erhoben werden! Was spricht dagegen, dass sie im Wirtschaftsleben selbst aufgebracht werden – im Sinne einer echten Selbstverpflichtung?

Wir haben gesehen, dass die Rechtsfragen umfassend in der politisch-demo­krati­schen Rechtssphäre beantwortet werden müssen. Die Frage aber, wie dieses Recht dann umge­setzt und realisiert werden kann, betrifft wieder die gesamte Gesellschaft. Wenn finanzielle Mittel notwendig sind, wer anders sollte dann Verantwortung übernehmen, als das Wirtschaftsleben? Ein eigenes Wirtschafts­parla­ment könnte die Aufgabe haben, hier jeweils konkrete, gerechte Lösungen zu finden!

Heute versucht der Staat als anonymer „Steuereintreiber“, die Mittel für die gesellschaftlichen Aufgaben zu bekommen – und Einzelpersonen wie Unter­nehmen versuchen, ihm diese Mittel zu entziehen! Viel sachgemäßer ist es, das gemeinsam Beschlossene an das Wirtschafts­leben zurückzugeben, inner­halb dessen dann besprechen wird, wie die Gesamtbelastung verteilt werden soll – und wie man verhindert, dass schwarze Schafe sich entziehen.

Die demokratische Rechtsgemeinschaft gibt die Normen vor, die die Menschenwürde schützen sollen – und die Wirt­schaftsgemeinschaft hat die Aufgabe, aber auch den inhaltlichen Gestaltung­sraum, sie umzusetzen.

Nehmen wir an, die Rechtsgemein­schaft beschließe das Recht auf eine 30-Stunden-Woche, einen Mindestlohn und die Rente mit 55. Im Wirt­schafts­parlament säßen u.a. Arbeitnehmer- und Unternehmens­vertreter gleichbe­rech­tigt nebeneinander und würden gemeinsam überlegen, was ge­schehen muss, um diese Regelung in die Wirklichkeit umzusetzen.

In einem solchen Wirtschaftsparlament hätten die Unternehmensvertreter ein unmittelbares Eigen­interesse daran, die sozialen Kosten z.B. der Arbeits­losigkeit wirklich den Verur­sachern anzulasten! Innerhalb des Wirtschafts­lebens selbst würde man zum Beispiel jene Branchen oder Einzel­unternehmen mit den höchsten Gewinnen auch besonders in die Verant­wortung nehmen. [23]

In derselben Weise könnte auch das Bildungswesen unmittelbar aus dem Wirtschaftsleben heraus finanziert werden! Empfängt dieses nicht auch fort­während die Früchte des Bildungswesens – indem es ohne die Fähigkeiten der einzelnen Menschen gar nicht existieren könnte?

Das „Wirtschaftsparlament“ wäre ein Organ, in dem sich Fachleute gleich­berechtigt mitein­ander austauschen, dadurch überhaupt erst ein Bewusstsein für die konkrete Situation der jeweils anderen „Gruppen“ gewinnen und schließlich für verschieden­ste Fragen praktikable Lösungen finden werden. Ein solches „Parlament“ wäre ein ganz wesentliches Organ, das strukturell den Egoismus begrenzt und Kooperation ermög­licht und anregt!

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Heute begünstigt unser ganzes Gesellschaftssystem Blindheit und Egoismus. Die Marktwirtschaft fordert den Egoismus, der Staat als All-Versorger fördert die Blindheit (und wiederum den Egoismus) der übrigen Akteure.

Es ist eine ungeheure Perversion des menschlichen Zusammenlebens, den Staat „Gemeinschaftsaufgaben“ übernehmen zu lassen und ihn dann zu be­trügen! Wir haben den Staat zu einem Wohlfahrtsstaat entwickelt, der verschie­den­ste Leistungen erbringt, die früher in Familie und Nachbarschaft geschehen sind – und wir schimpfen auf ihn und betrügen ihn!

Auf der anderen Seite sind wir Akteure eines Wirtschaftslebens, das auf dem Egoismus basiert. Die falsche Theorie besagt, dadurch würde das größte Wohl aller erreicht. Kann man sich so etwas je innerhalb einer Familie oder eines Nachbarschafts-Zusammenhangs vorstellen? Das größtmögliche Wohl durch den Egoismus aller? Welch ein Irrsinn ist dies ... in kleinem, wie auch in größerem Maßstab!

Wir müssen uns wiederum bewusst werden, dass wir all dies selbst sind – dass wir es sind, die für die Gemeinschaft Verantwortung tragen – und auch dafür, sie überhaupt als Gemeinschaft zu empfinden. Der soziale Wille kann ja nur in uns selbst zum Leben erwachen!

In der Rechtssphäre müssen wir uns als Gemeinschaft darüber klar werden, was wir als menschenwürdiges Leben bezeichnen wollen. Indem wir uns darüber klar werden, bejahen wir diese Gemeinschaft, denn wir wollen für jeden Einzelnen ein solches menschenwürdiges Leben ermöglichen. Damit hat die staatlich-politische Rechtssphäre ihre eigentliche Aufgabe erfüllt.

Verwirklichen müssen wir diesen gemeinsamen Willen dann wiederum alle gemeinsam – aber nicht als Staats-Bürger, sondern als im Wirtschaftsleben stehende und tätige Bürger. Denn hier bringen wir den gemeinsamen Wohlstand hervor, den wir gerecht verteilen wollen!

Sind wir so blind, dass wir hier plötzlich wiederum nur an uns denken – auf indivi­du­eller und betriebswirtschaftlicher Ebene – und nicht an unseren Menschen­bruder, unsere Menschenschwester? Es ist falsch, dass „der Staat“ die von uns (oder unseren „Volksvertretern“) beschlossenen Rechte auf wirtschaft­liche Teilhabe auch umsetzen soll. Das Wirtschafts­leben selbst muss umsetzen, was auf politischer Ebene als Recht beschlossen wurde.

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Auf diese Weise und durch vieles andere, was in dieser Schrift nur teilweise angedeutet werden konnte, wird ein ganz neues soziales Bewusstsein ent­stehen können. Denn jeder Mensch wird wirklich empfinden können, wie er in dem großen sozialen Organismus darinnensteht.

Wir alle haben Anteil an diesem Organismus, er gestaltet sich nur durch unser Tun – und es hängt von uns ab, wie er sich gestaltet, wie wir ihn ge­stalten. Gestalten wir ihn so, dass er ein Spiegel der realen sozialen Prozesse, dass er ein Spiegel unseres realen sozialen Willens, unserer realen mensch­lichen Sehnsucht wird!

Gestalten wir unser soziales Zusammenleben so, dass wir empfinden können: Ja, dies ist ein wahrhaft menschliches Zusammenleben. In dieser Gemein­schaft fühle ich mich als Mensch unter Menschen, auch wenn ich die meisten Menschen dieser großen Gemeinschaft nicht kenne und vielleicht niemals kennen­lernen werde.

Eine solche Gemeinschaft ist menschlich, weil sie bis in die gesellschaft­lichen Einrichtungen und bis in die konkreten Begriffe hinein menschlich ist – menschlich gedacht, menschlich empfunden, menschlich gewollt und menschlich gemacht...

IV. Zum Abschluss - Warum das Bündnis der Menschlichkeit die nächste Wahl gewinnen wird

Unsere heutige Gesellschaft, unsere heutige Politik und Wirtschaft, ist derart entfernt und verschieden von dem, was unsere innerste Sehnsucht erhofft, dass es ein ungeheures Unterfangen ist, sich einer Verwirklichung dieser innersten Sehnsucht anzunähern.

Das betrifft auch schon die Beschreibung eines solchen Versuches. In diesem Sinne ist das, was auf den vorangegangenen siebzig Seiten versucht wurde zu skizzieren, nur ein erster Beginn. Man kann die verschiedensten Worte wählen, immer wird der Versuch in gewisser Weise gelingen, in anderer ganz ungenügend bleiben. Entscheidend ist, dass empfunden werden kann, was mit alledem gewollt und versucht wird.

Es geht um nichts Geringeres als um das volle Ernstnehmen dessen, worauf wir im Innersten hoffen. Wenn wir unsere eigene Sehnsucht nach wahr­haftigster Mensch­lichkeit nicht mehr ernst zu nehmen vermögen würden, müssten wir die Hoffnung auf eine andere, bessere Welt aufgeben. Wir tragen diese Sehnsucht aber in uns – und gleichzeitig können wir wissen, dass auch jeder andere Mensch diese Sehnsucht in sich trägt...

Es gibt niemanden, der uns an der vollen Verwirklichung der Mensch­lichkeit hindern kann, als nur wir selbst! Beginnen wir also damit, die jahrzehnte- und jahrhundertelange Ent­fremdung von uns selbst und unserer wahren Menschlichkeit zu beenden. Beginnen wir, unseren innersten Hoffnungen und Idealen treu zu werden und treu zu bleiben.

Beginnen wir das Bündnis der Menschlichkeit!

Dieses Bündnis wird die nächste Wahl gewinnen, wenn genügend Men­schen  den Mut haben, in wahrhaftiger Weise für eine wirklich menschliche Welt einzutreten.

Anmerkungen


[1] Schon diese Freiheit ist für Hartz-IV-Empfänger stark eingeschränkt: Er muss teilweise zu einem Wohnort-Wechsel bereit sein, darf aber seinen derzeitigen Wohnort im übrigen nur nach Abmeldung (wenn überhaupt) verlassen...

[2] Wobei für Arbeitnehmer auch die Meinungsfreiheit extrem beschränkt ist, wenn man z.B. an die nahezu absolute Loyalitätspflicht gegenüber dem Arbeitgeber denkt, selbst bei extremen Missständen! Weiter ein­schränkend wirkt generell das Macht­verhältnis zwischen „Arbeit­geber“ und „Arbeitnehmer“, das heute eben kein reales, gleichberechtigtes Rechtsverhältnis ist.

[3] ... oder auch meinen, ihn nicht ändern zu können, was dasselbe ist, weil neben der Erkenntnis des Notwendigen und Möglichen einfach auch der notwen­dige Wille fehlt.

[4] Christian Füller: Grundschul-Rebellin erhält Courage-Preis. Spiegel.de, 4.6.2009. Mehr dazu: Sabine Czerny: Was wir unseren Kindern in der Schule antun ...und wie wir das ändern können. Südwest, 2010.

[5] Allzu oft dient dies vor allem der Beruhigung der Erwachsenen, die sich befriedigt sagen können, sie hätten „dem Entdeckerdrang der kleinen Forscher genügend Nahrung gegeben“. Natürlich gibt es teilweise auch sehr gute Ansätze. Hier geht es darum, grundlegend zu betonen, was so sehr übersehen wird. Jede intellektuelle Abstraktion wirkt zerstörerisch – und wir Erwachsenen tragen in alles zunächst viel zu viel Intellektu­alität hinein (auch in das, was wir „pädagogisch“, „kind­gerecht“ usw. zu gestalten versuchen). Und es ist nun einmal das Kennzeichen des Intellekts, dies nicht erleben zu können...

Selbstverständlich können auch „Sprachförderung“, Evaluation usw. sehr sinnvoll sein. Es geht aber überall darum, sich ganz auf das Eigentliche zu besinnen und dieses immer tiefer erleben zu lernen. Erst dann wird man wahrhaft beurteilen können, was jeweils gut und sinnvoll ist. Radikal aber muss erkannt werden, dass jegliche staatliche Regulierung dem Geistesleben wesensfremd ist und dessen Tod bedeutet. Das Geistesleben muss vollkommen befreit werden. Wenn Evaluationen sinnvoll sind, werden sie in einem lebendigen Geistesleben selbst geschehen – aus freier Erkenntnis und nicht auf staatliches Diktat hin. Dies gilt auch für alles andere. Der weltenweite Unterschied dieser beiden Realitäten muss erlebt werden.

[6] „Bildungs-Politik“ ist ein Unwort in sich, Bildung darf niemals Gegenstand und Objekt der Politik sein. In Wirklichkeit stehen wir hier vor dem letzten Ausläufer absolutistischer Macht und preußischer Staatsräson. Das Staatsschulwesen ent­stand, als die Staatsmacht ihre Bürger formen wollte. Diese Zeit ist unwiderruflich vorbei. Die Tendenzen sind noch immer machtvoll da – aber sie sind vergangen­heitsorientiert, sie rechnen nicht mit dem Wesen des Menschen, sie stellen sich gegen dessen Entwicklung. Einst befreite die staatliche Organisation die Schule aus dem Griff der Kirche. Heute muss das Bildungswesen aus dem Griff des Staates befreit werden, um ganz frei zu werden.

[7] Jeder staatliche Eingriff macht das eigentliche Ziel also gerade unmöglich. Der Staat kann hier nichts erreichen, er kann aber unendlich viel kaputtmachen. Mit immer neuen Reformen versucht man, der Katastrophe Herr zu werden – ohne einzusehen, dass vor allem die staatliche Regulierung selbst die Katastrophe ist und hervorbringt.

[8] Obwohl das Grundgesetz ein Sonderungs­verbot kennt, wonach die Schul­wahl nicht durch das Einkommen begrenzt sein soll, müssen Eltern freier Schulen teilweise ein Schulgeld von 200 Euro und mehr pro Kind zahlen – und zwar nicht, weil die Schulen Profit machen wollen, sondern weil sie überleben wollen!

Diese Eltern finanzieren mit ihren Steuern sogar zusätzlich noch die Staatsschule, die sie gar nicht nutzen. Und nun kommen „Bildungspolitiker“ und bekämpfen die freien Schulen mit dem Argument, hier werde ja „gesondert“, nur reiche Eltern könnten sich diese Schulen leisten. Welch eine zynische Argumen­tation! Politiker dieser Couleur wollen ausschließlich die Staats­schule, ihnen liegt nichts an einer Vielfalt des Bildungs­wesens, nichts an dem Grundrecht auf freie Schulwahl...

[9] Und viele Staatsschulen oder einzelne in ihnen tätige Pädagogen haben die Ansätze freier Schulen ebenfalls über­nommen, soweit es ihnen im Rahmen eines lähmenden Systems möglich war und ist.

[10] Gemeint ist hier die innerste individuelle, moralische Stimme des Menschenwe­sens, jenseits aller übernommenen Normen.

[11] Möge jeder Mensch in diesem wunderbaren Wort empfinden, dass hiermit alle Menschen gemeint sind, Brüder und Schwestern. Es wird hier nicht durch „Ge­schwisterlichkeit“ ersetzt, denn die Verbindung zum Impuls der Französischen Revolution ist ein realer, und bereits der damalige Impuls galt seinem Wesen nach der Menschheit. Wollte man ihn wirklich ersetzen, müsste man tatsächlich Menschlichkeit oder Menschenliebe schreiben...

[12] Zugleich wirft dies ein weiteres Licht auf die Niedriglöhne. Diese ermöglichen es nicht, ein menschen­würdiges Leben zu führen, eine Familie zu ernähren. Und so ermöglichen sie ebenso wenig, dass ein Mensch für andere arbeiten kann, sie las­sen ihn selbst in der Not. Der Kreis der Brüderlichkeit kann sich nicht schließen...

[13] Auch hier stehen wir wieder vor einer Rechtsfrage: Welcher Anteil am letztend­lichen Erlös steht wem zu?

[14] Die Wurzel liegt im Denken. Wenn ich jemanden als Gegner betrachte, dann ist er mein Gegner. Wenn ich jemanden als Schwester betrachte, dann ist sie meine Schwester...

[15] Welche Freiräume würde dies schenken – für die Entwicklung des Einzelnen, für soziale, ökologische und kulturelle Aufgaben!

[16] Und ihnen idealerweise alternative, gerecht bezahlte Tätigkeiten bieten, z.B. im sozialen, pädagogischen oder Umweltbereich.

[17] So war zum Beispiel die sogenannte „Steuer­reform“ des Jahres 2000 nichts an­deres als eine Umver­teilung zugunsten der großen Vermögen und Einkommen. Heute liegen die effektiven Steuern auf Gewinn- und Vermögenseinkommen bei nur 24% (in Großbritannien bei 43%!). Wer dagegen weiß, dass in den USA bis 1964 der Spitzen­steuersatz über 91% betrug!?

[18] Jährlich fließen rund 60 Milliarden Euro Zinszahlungen an die Besitzer von Staatspapieren (vor allem Banken, Versicherungen u.ä.). Das entspricht pro Kopf rund 800 Euro jährlich, nur für die Zinsen der Staatsschulden – für eine fünfköpfige Familie fast 4.000 Euro!

[19] Sogar die weltweit führende Wirtschafts­beratungsfirma Boston Consulting Group sagt, dass angesichts dessen entweder schnell eine hohe Inflation erreicht werden – oder ein umfas­sender Schuldenschnitt erfolgen müsse! (Back to Meso­potamia? The Looming Threat of Debt Restructuring. September 2011).

[20] In kleinem Maßstab existieren diese Schenkungen schon, z.B. seitens der GLS Bank, aber auch in Form staatlicher Zuschüsse (auch als „Gründungs­zuschuss“!). In größerem Maßstab wäre dies ebenso möglich und noch unendlich fruchtbarer!

[21] Die Machtverhältnisse entspringen aber wiederum den a priori hingenommenen Besitzverhältnissen! Dieser Zirkel von Macht und Besitz wird nur deshalb nicht hinterfragt, weil die Ideologie des Marktes davon aus­geht, dass die Fähigsten auch die größte Macht bekommen werden... Natürlich wird diese Ideologie von jenen vertreten, die ein Interesse an der Macht haben. Die Fähigsten im Sinne einer menschlichen Wirt­schaft sind dies gerade nicht!

[22] Umgekehrt können wir nun auch unterscheiden, wie die Korrum­pierung dieses rein menschlichen Tuns verläuft: Indem die eigent­liche Rechts­frage zu­gedeckt und missachtet wird, wird die bewusste oder unbewusste Ausbeu­tung des anderen Menschen und seiner Fähigkeiten möglich und kann dem ent­fremdeten Bedürfnis der Profitgier dienen. – Oder anders: Die Pervertie­rung der wahrhaft menschlichen Aufgabe des Wirtschaftslebens – das brüderliche Arbeiten für die Bedürfnisse des Anderen – in das Arbeiten für den eigenen Profit (völliger Selbstbezug der Bedürfnisse) führt dazu, das Recht des Anderen zu missachten, um dessen Menschen­wesen und individuelle Fähigkeiten auszu­beuten.

[23] Diese Gewinne werden oft durch „Rationalisie­rungen“, Arbeitsplatzverlagerung etc. er­zielt. Aber das „Verursacherprinzip“ kann sich auch zu einem echt solida­rischen Prinzip erweitern: Wer die höchsten Gewinne macht, leistet einfach den höchsten Beitrag. Dies ist auch in der Steuer­gesetzgebung bereits so – und kann sich im direkten Austausch der Wirtschaftsteil­nehmer auf freie und bewusste Weise noch viel differenzierter und damit menschlicher gestalten.