2014
Das Mysterium des moralischen Willens
Rückblick auf das Himmelfahrts-Seminar mit Mieke Mosmuller.
Vier Tage im Berner Oberland – der Heimat des Gottesfreundes... Vier intensive Tage mit Mieke Mosmuller unter dem Titel „Christus und das Denken. Die Metamorphose der Seele zum Sophia-Wesen“ und mit dem Inhalt der vier Tugenden.
Ein mehrtägiges Seminar mit Mieke Mosmuller, wie es nun seit zwei Jahren möglich ist, ist ein tiefes Erlebnis. Die Tiefe ihrer Wochenendseminare verdoppelt sich hier nicht nur, sie vervielfacht sich. In einer ungeahnten Steigerung wird man hineingeführt in das Reich realer innerer Entwicklung im Sinne des anthroposophischen Weges: einer Spiritualisierung des Denkens...
Die vier klassischen Tugenden, Plato, Aristoteles – Jahrhunderte, die nur tote Vergangenheit zu sein scheinen, erwachen zum Leben. Das Denken selbst, das die Brücke schlagen muss, sich einlebt in das so andersartige Denken dieser beiden großen Individualitäten, sich einlebt in das Wesen der Tugenden, wird regsam, wird lebendig – und beginnt zu erleben, was der tiefe Gehalt dieser Tugenden ist. Sie sind nicht nur „hochaktuell“, nein, die Seele kann ohne sie keine einzige substantielle Entwicklung erreichen.
Tief eindrücklich zeigt Mieke Mosmuller im Laufe dieser vier Tage die Bedeutung der Weisheit, der Tapferkeit, der Besonnenheit, der Gerechtigkeit. Und erlebbar wird dann auch ihre Verwandlung, die Wahrhaftigkeit, die Liebe, das rechte Maß, die keimhafte Kraft eines Zeitalters der Brüderlichkeit, der Philadelphia.
Wenn man ernst nimmt, was schon Aristoteles von dem höchsten Wesen sagte, von Gott, der die vollkommene Weisheit in immerwährender Aktualität ist; wenn man dann verfolgt, wie Thomas von Aquino in seiner Auslegung des Johannes-Prologs dies weiterführt – und wenn man dann vor Rudolf Steiners Anthroposophie steht, vor seiner Schilderung eines leibfreien, aktuell sich selbst anschauenden Denkens und eines schließlichen Erfassens der geistigen Welt, dann ist es keine Theorie mehr, dass die kosmischen Weisheit menschlich werden will, werden kann.
Die Erkraftung des sinnlichkeitsfreien Denkens, wodurch schließlich der Denker, wenn er auch diesen sinnlichkeitsfreien Inhalt noch loslässt und ganz in der reinen Denk-Willens-Entfaltung und -Erfahrung lebt, sich selbst wahrhaft ergreift, ist der Ausgangs- und Durchgangspunkt für den Weg in die geistige Welt. In diesem wirklichen Eins-Werden des Denkers mit seinem Denken liegt zugleich die Ur-Erfahrung der Wahrhaftigkeit. Hier, in diesem einen Punkt, ist jeglicher Abstand zwischen dem Ich und seinem Denken völlig überwunden. In diesem Weben in reiner Willens-Denk-Aktivität ist allen Gegenmächten der Zutritt verwehrt. Und von hier aus kann die Seele ihren Weg des Erlebens der Tugenden fortsetzen.
Sehr deutlich wird, dass die Seele die Tugenden nur dadurch zu einer Realität machen kann, dass sie sie tut. Und dass sie wiederum nur in diesem Tun sich selbst so bereitet, dass sie eine Entsprechung zum Christus-Wesen gewinnt. Die moralische Läuterung ist eine Mysterienhandlung der Seele in sich selbst...
Dieser Weg ist zugleich ein Parzival-Weg. Er beginnt mit einer Frage – der Frage nach dem Denken. Im gewöhnlichen Denken lebt Amfortas mit seiner Wunde. Das gewöhnliche Denken ist luziferisch und hat eine ahrimanische Unterseite – und beides ist in der heutigen Zeit unfassbar stark geworden. Das willensstark geübte und geläuterte Denken jedoch kann immer mehr zu einem reinen, lebendigen Begriffsorganismus werden; die Seele kommt in Beziehung zur Weisheit, zur Sophia.
Wenn das Denken durch den Willen lebendig wird, kann schließlich umgekehrt auch der „wollende Wille“ selbst sehend werden. Dieses tiefe Geheimnis des moralischen Willens, der eins mit dem höheren Wesen und auch den Schicksalsimpulsen des Menschen ist und in dem letztlich die ganze geistige Welt zu finden ist, konnte am Ende des Seminars berührt und zart geahnt werden.
Sehr deutlich aber wurde, dass dieser Weg durch abstrakte Erkenntnistheorie – auch scheinbar „anthroposophische“ – niemals gegangen werden kann; dass dieser wahrhaft anthroposophische Entwicklungsweg nur möglich ist, wenn die Seele sich zutiefst dessen bewusst wird, dass dieser Weg von Anfang an ein moralischer ist. Dass die Tugenden also gleichsam das Tor sind, durch die der Mensch „Bahnen“ für die Weisheit und schließlich die umfassende geistige Welt bereitet. Die geistige Welt wird nicht um einen herum schaubar – sie durchdringt einen, sie durchwebt einen. Der Mensch schaut die geistige Welt, indem er selbst geschaut wird, gedacht, gefühlt, gewollt wird. Dies ist ein „Vorgeschmack des Todes“. Der Mensch opfert schließlich seinen seelischen Eigenwillen, er wird wahrhaft eins mit seinem eigentlichen, höheren Willenswesen, das innig verbunden ist mit der göttlichen Welt selbst. Und der Mensch vermag all dies durch Christus und in der Verbindung mit Christus.
Gemeinsame Eurythmie der sechs bedeutsamen Stellungen des Menschen nach Agrippa von Nettesheim („Ich denke die Rede“) und das vierstimmige Einüben von Mozarts „Ave verum corpus“ stellten eine vollkommene Entsprechung zu der Tiefe des übrigen Seminar-Inhaltes dar. Wie alle übrigen Seminare von Mieke Mosmuller, so konnte auch dieses Himmelfahrts-Seminar 2014 in die Praxis des anthroposophisch-abendländischen Entwicklungsweges einführen – so intensiv und eindrücklich, wie es nur im Laufe mehrerer Tage möglich ist.
Abschließend sei einmal mehr gesagt, dass auch die Begegnung unter den Teilnehmern einen absolut besonderen Charakter hat. Wie der Inhalt, so ist auch die Atmosphäre eines solchen Seminares nicht vergleichbar mit irgendwelchen anderen mir bekannten Seminaren... „Christus und das Denken. Die Metamorphose der Seele zum Sophia-Wesen“. Wo sonst gibt es darüber Seminare, die auch nur ansatzweise beanspruchen könnten, vollkommen frei von jeder Abstraktheit und bloßer Gedanklichkeit oder auch bloß aufgesetzter, „gewollter“ Esoterik zu sein? Die Realität, in der Mieke Mosmuller Seminare gestaltet, ist in unserer Zeit unendlich notwendig, denn allein sie entspricht der tieferen Sehnsucht der geist-suchenden Seele und der Not unseres ganzen Zeitalters.