11.10.2001

Offener Brief an die Völker Europas

Am 11.10.2001 schrieb ich diesen Aufsatz und schickte ihn an fast 50 Organisationen mit der Frage, ob man sich zu einem gemeinsamen Aufruf dieser oder anderer Art zusammenschließen könnte. Ich bekam vier „wohlwollende“, aber negative Antworten...

Siehe auch meinen >> Begleitbrief und die >> Liste der Organisationen.


Dem menschenverachtenden Terroranschlag am 11. September fielen über 6.000 Menschen zum Opfer. US-Präsident Bush führt nun den Gegenschlag in der Absicht, „das Böse“ auszurotten. Er führt Angriffe gegen ein diktatorisch regiertes Land, in dem sich der mutmaßliche Drahtzieher aufhält. Deutschlands Kanzler Schröder hat „den“ USA bedingungslose Solidarität zugesagt. Doch viele andere Menschen hatten in diesen Tagen grundsätzliche Fragen gestellt, meist wahrscheinlich mehr innerlich. Wie konnte es zu diesem Anschlag kommen? Kann man Terrorismus oder „das Böse“ überhaupt mit Gegengewalt bekämpfen? Hinter diesen Fragen stehen andere: In was für einer Welt leben wir, und in was für einer Welt wollen wir leben? Wie muß eine Welt, wie muß ein weltweites menschliches Miteinander beschaffen sein, damit Terrorismus gar keinen Boden fände, auf dem er wachsen kann? Was für eine Welt möchte ich im Innersten mitgestalten? 

Die gegenwärtige Weltlage ist – gerade in Hinsicht auf diese Fragen – durch eine grandiose Polarität gekennzeichnet, in der sich zwei Extreme gegenüberstehen. Auf der einen Seite steht ein religiöser Fanatismus, der in Terroranschlägen beliebigen Ausmaßes gerechtfertigte Mittel sieht. Auf der anderen Seite steht keineswegs „die gesamte Zivilisation“. Dies mag der Anspruch sein, und Terror ist natürlich immer ein Anschlag auf jegliche menschliche Zivilisation. Aber das andere Extrem, das als Gegenpol real in der Welt wirksam ist, ist – ein ökonomischer Fanatismus. Entscheidend ist nicht der Anspruch, den extreme Positionen jeder Art geltend machen. Man kann mit bestem Glauben meinen, „der Sache Gottes“ oder „der Freiheit“ zu dienen. Entscheidend ist, wie der Impuls, den man insgesamt – aktiv oder passiv, willentlich oder unwillentlich – vertritt, real in der Welt wirkt.

Weltweite Freiheit ist heute nur in einer Hinsicht ziemlich verwirklicht: für das Kapital. Die meisten westlichen Politiker scheinen heute für eine schrankenlose Freiheit des Kapitals einzutreten. Man sagt Welthandel, aber man meint Investitionen. Zumindest betätigen sich die Interessen des Kapitals real so, daß man dafür nicht das neutrale, nette Wort „Handel“ mißbrauchen darf. Wo müßte aber ein „freier Welthandel“ Schranken haben? Man meint geprägt von der Theorie immer, ein solcher freier Welthandel würde der Menschheit die Freiheit (und Wohlstand) bringen. Jeder kann heute wissen, daß das in großen Ausmaßen nicht wahr ist. Die neoliberale Ökonomie basiert auf ökonomischem Egoismus der Akteure und verwirklicht das „Gesetz des Stärkeren“. Ein System, das den Egoismus institutionalisiert, kann nur Gewinner und Verlierer, Reichtum und Elend nebeneinander hervorbringen. Heute sind wir soweit, daß dem Kapital durch die Globalisierung alle Macht auf Erden gegeben werden soll. Abkommen wie GATS, die ohne demokratische Legitimierung abgeschlossen werden sollen, sollen schon bald alle Impulse unmöglich machen, die das Wirken des Kapitals irgendwelchen Regeln unterstellen wollen. Wo aber müßte die Macht des Kapitals Schranken haben? Diese Antwort kann nur der Mensch aus dem Selbstverständnis seines Menschentums geben. Sollten egoistische Interessen, die den eigenen Gewinn maximieren wollen, wirklich den Vorrang vor der Menschlichkeit haben? Die ganze Entwicklung zielt darauf hin.

Die neutrale Bezeichnung „Exportproduktionszonen“ deutet kaum darauf hin, daß es in Ländern wie Indonesien, Thailand, China und vielen, vielen anderen, Fabrikationszentren gibt, die außerhalb jedes örtlichen Rechtes stehen und in denen zumeist junge Frauen ebenfalls faktisch ohne Rechte und unter schlimmen Bedingungen arbeiten müssen – man muß einfach sagen: ausgebeutet werden. Die Aufträge kommen z.B. von den großen Markenkonzernen der Industrieländer! Auch daß hierzulande etwa T-Shirts oder zahllose Gebrauchsartikel so billig sind, ist schon lange nicht mehr ein Ergebnis industrieller Rationalisierung, sondern eines menschlicher Ausbeutung in der „Dritten Welt“. Ein zweiter Aspekt ist, daß der „freie Welthandel“ mit Wucht in die nationale und lokale Wirtschaft der armen Länder einschlägt und diese zum Erliegen bringt. Es ist offensichtlich, daß hier als „Nebeneffekt“ nicht Freiheit für die Menschen erreicht wird, sondern Abhängigkeit – und Elend. Man kann die Verantwortung dafür von sich schieben, aber wäre dies menschlich? In jedem Fall aber sollte man zugeben, daß die neoliberale Globalisierung nichts mit irgendwelchen Werten zu tun hat, die es in den westlichen Kulturen auch einmal gab. Ein letztes Beispiel: Prostitution benennt mit einem unverfänglichen Fremdwort ein Phänomen, das dadurch scheinbar kategorisiert und erledigt ist, weil es höchstens noch an ein unmoralisches Handeln von Frauen denken läßt. Warum aber sind in bestimmten Ländern so viele Frauen (und Kinder) gezwungen, sich täglich als Sexsklavinnen zu verkaufen? Das ist die Frage, die uns auf uns selbst zurückweist.

Es stehen sich heute als reale Wirksamkeiten religiöser und ökonomischer Extremismus gegenüber. Wo aber ist die Mitte? Wo sind die Menschen und Staaten, die die Kraft und die Notwendigkeit der Mitte geltend machen können?

Ökonomischer Egoismus und religiöser Fanatismus wirken immer in konkreten Menschen, und die Kraft der Mitte findet sich auch nur im Menschen selber. Die einzige Kraft, nicht einem der beiden Extreme zu verfallen, ist die Menschlichkeit, ist das Erlebnis der Einen Menschheit. Dieses Erlebnis muß man in seiner ganzen Intensität erst einmal haben und zulassen. Dann ginge es im weiteren darum, sich über die Konsequenzen klar zu werden. Es geht nicht darum, „Menschlichkeit“ als sentimentalen, abstrakten Appell einzufordern (immer von den anderen...), sondern selbst real zu erleben, wie weit man selbst und das eigene Land von wirklicher Menschlichkeit noch entfernt ist. Weltweit wirksam sind heute die folgenden zwei polaren Extreme: Ein Egoismus, den die Mitmenschen und die Mitwelt nicht ernsthaft kümmern, und Ideologien jeder Art, die den einzelnen Menschen nur insofern überhaupt wahrnehmen, als sie von ihm absolute Unterordnung fordern. Wo aber ist die Mitte? Wo ist die Menschlichkeit, die die Not des Mitmenschen und der ganzen Menschheit sieht? Und die zugleich die Freiheit und vielleicht völlige Andersheit des Mitmenschen vorbehaltlos anerkennt und will?

Europa hätte die Fähigkeit und die Aufgabe, diese Mitte zu bilden. Die Politiker mögen diesen Schritt vielleicht nicht wagen. Aber die Menschen Europas könnten sich darauf besinnen, was es heißt, zunächst einmal unabhängig von jeder Weltanschauung – unabhängig von jeder Ideologie, die immer schon vorher wissen will, was möglich und was „utopisch“ ist –, Menschlichkeit zu erleben. Was stellt die Tatsache, daß ich Mensch bin und daß alle anderen auch Menschen sind, für Forderungen? Es geht nicht um abstrakte Appelle. Der Kapitalismus hatte auch nicht an die Menschen appelliert, sie sollen egoistisch sein, sondern er hat rechtliche Strukturen geschaffen, durch die Egoismus möglich ist und gefördert wird. Die Menschlichkeit wartet noch auf die Menschen, die für den Impuls der Mitte Strukturen schaffen wollen und miteinander überlegen, wie diese beschaffen sein müßten.

Die konkrete Sphäre der Mitte ist die des Rechts. In Gesetzgebung und Rechtsprechung könnte eines Tages wieder die Frage im Mittelpunkt stehen: Was ist recht zwischen Mensch und Mensch? Dazu wäre es aber z.B. notwendig, daß diese Sphäre des Rechts dem Einfluß wirtschaftlicher Interessen entzogen wird (und auch umgekehrt nicht beansprucht, rein wirtschaftliche Fragen zu beeinflussen). Wenn sich das Recht auf seine eigentliche Fragestellung besinnt, dann kann es seinerseits auch den Bereich des Geisteslebens freilassen. Heute und gerade jetzt dagegen sind sogar die absoluten Grundrechte wie z.B. Meinungsfreiheit gefährdet. Menschen, die die neoliberale Globalisierung nicht mit ihren Überzeugungen von Menschlichkeit und Gerechtigkeit vereinbaren können, müssen sich den Vergleich mit Terroristen gefallen lassen und können etwa während eines Wirtschaftsgipfels zunehmend ohne jede Legitimation verhaftet und verurteilt werden. Warum? Weil die Rechtssphäre von wirtschaftlichen Interessen durchzogen ist. Wenn etwas auf der Welt – außer den konkreten Menschen weltweit – Freiheit braucht, dann ist es das Recht selbst. Die Kritiker der „Globalisierung“ sind gerade die Menschen, die heute wirklich global denken und handeln, weil sie sich bemühen, ein Bewußtsein der Einen Menschheit zu realisieren. Und weil sie die Sphäre des Rechts von der Diktatur wirtschaftlicher Interessen befreien wollen – damit sie sich auf die eigene Aufgabe besinnen kann: Die Sphäre des Rechts soll den Menschen Recht verschaffen und das Recht menschlich machen.

In jedem einzelnen Menschen durchdringen sich das Wirtschafts-, Geistes- und Rechtsleben. In der Gesellschaft kann jede Sphäre sich jedoch nur dann gemäß ihrer wahren Natur entfalten, wenn sie in den äußeren Strukturen, die der Mensch einer jeden gibt, von den anderen strikt getrennt ist. Heute noch dringen wirtschaftliche Interessen ins Rechtsleben ein und erreichen es, daß umgekehrt dieses im Wirtschaftsleben zunehmend nur noch Egoismus möglich macht. – Zu diesen Fragen sind ganz konkrete Lösungen möglich. Entscheidend ist allein, ob das Problem erkannt wird. Was den Menschen selbst betrifft und von ihm gewollt wird, ist nie unmöglich. Wer solches behauptet, hat wohl nur Angst vor den Konsequenzen wahrer Menschlichkeit. Das Wort „U-topie“ bezeichnet wörtlich schlicht etwas, was im gegenwärtigen Moment noch keinen Ort hat. Überall dort, wo Menschen eine solche Utopie wollen, kann sie Wirklichkeit werden.
 
In diesem Sinne steht heute die Frage an alle Menschen real in der Welt: Wollen wir an Extremismus teilhaben, indem wir uns absoluten ökonomischen oder religiösen Ideologien unterwerfen, oder wollen wir die Kraft der Mitte finden, aus der heraus wir erkennen können, was wahre Menschlichkeit ist? Dann werden die Menschen auch Wege finden, sowohl ihr gemeinsames Wirtschaften mit Hilfe des Rechtslebens auf eine menschliche Grundlage zu stellen, als auch zu erkennen, wo Religion nur als Deckmantel für Unmenschlichkeit benutzt wird und wo wahre Menschlichkeit wahre Religion offenbart.