2001
Verlogen und gegen jedes Völkerrecht
Diesen Text schrieb ich nach den Angriffen der USA auf Afghanistan.
Spektakulärer Fall von Selbstjustiz im Hunsrück
Gersdorf. Gestern Mittag stürzte in Gersdorf (Hunsrück) der Balkon eines McDonald´s-Restaurants auf die Straße. Fünf Personen kamen dabei ums Leben. Direkt nach dem Ereignis war klar, daß Sabotage die Ursache sein mußte. Kurze Zeit später sagte ein Zeuge aus, ein Mitarbeiter eines nahen Gasthofes habe sich nachts an dem Balkon zu schaffen gemacht. Der mehrfach vorbestrafte Hans S. stritt nach Angabe der Gasthof-Inhaber die Tat ab. Die Inhaber verweigerten die Auslieferung von Hans S. bzw. jeden Hinweis auf seinen Aufenthaltsort bis zur Vorlage von Beweisen seiner Schuld. Darauf drang am frühen Abend die Leitung der McDonald´s-Filiale in den Gasthof ein und zündete im oberen Stock etwa ein Dutzend Handgranaten. Zwei der Inhaber und vier Gäste wurden getötet. Etwa 20 Gäste wurden verschüttet, als ein Teil der Decke einstürzte. Die Bergungsarbeiten begannen bei Redaktionsschluß. „Wir wollten nur die verdammten Inhaber und Hans S. erwischen“, so der McDonald´s-Chef zur Polizei.
Was wie ein schlechter Film anmutet, ist Realität – in Afghanistan. Daß der US-Krieg nicht ebenso abstrus wirkt und sogar vom Großteil der Welt unterstützt wird, liegt zum großen Teil wohl daran, daß man sich schon viel zu sehr an Amerikas angemaßte Rolle eines „Weltpolizisten“ gewöhnt hat. Doch Selbstjustiz ist nicht nur individuell, sondern auch völkerrechtlich schlichtweg verachtenswert und ist wie jede zwischenstaatliche Gewalt durch die UN-Charta geächtet.
Die internationale Staatengemeinschaft hat es mit der UN-Charta geschafft, ein umfassendes, gemeinsames Regelwerk aufzustellen, welches gewaltsame Konflikte verhindern soll. Doch daran hält sich Bush nicht. Bush möchte selbst entscheiden, wann und wie er welche Terroristen und „Schurkenstaaten“ bekämpft. Das mächtigste Land der Welt beansprucht umfassende Vollmachten für den Kampf gegen seine Feinde – im Prinzip die einseitige Wiederherstellung des Faustrechts.
Das völkerrechtliche Gewaltverbot
Die Vereinten Nationen verabschiedeten 1945 die UN-Charta. Diese enthält ein striktes Verbot der Androhung und Anwendung von Gewalt (Art. 2 Nr. 4):
„All Members shall refrain in their international relations from the threat or use of force against the territorial integrity or political independence of any state, or in any manner inconsistent with the purposes of the United Nations.“
Ausnahmen vom Gewaltverbot gelten nur
* im Rahmen des individuellen und kollektiven Selbstverteidigungsrechts bei bewaffnetem Angriff (Art. 51)
* bei kollektiven UN-Zwangsmaßnahmen (Art. 42, Kap. VII) nach einer förmlichen Feststellung einer „Bedrohung oder eines Bruchs des Friedens oder einer Angriffshandlung“ durch den UN-Sicherheitsrat oder
* bei Zwangsmaßnahmen „aufgrund von regionalen Abmachungen oder Einrichtungen“ (Art. 53) nach ausdrücklicher Ermächtigung durch den Sicherheitsrat.
Das Völkerrecht kennt weiterhin den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Selbst wenn Afghanistan für den Anschlag vom 11.9. verantwortlich ist, ist es völkerrechtswidrig, das ganze Land in Schutt und Asche zu legen. Flächenhafte Bombardierung ist völkerrechtlich auch durch das Genfer Abkommen über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte verboten (genauer Art. 51 des 1. Zusatzprotokolls von 1977 des Genfer Abkommens vom 12.8.49). Untersagt sind bereits Angriffe gegen militärische Objekte, bei denen mit zivilen Opfern zu rechnen ist, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen.
Nach dem NATO-Vertrag tritt der Bündnisfall nur bei einem Angriff eines Staates ein (Art. 5). Dies gilt auch, seitdem die Ziele der NATO auf dem NATO-Gipfel 1999 um den Kampf gegen den Terrorismus erweitert worden sind. Dennoch rief der NATO-Rat am 4.10. den Bündnisfall aus, nachdem die USA am 2.10. ihre Ermittlungen hinsichtlich der für die Terroranschläge Verantwortlichen vorgelegt hatten. Der „New York Times“ sagte US-Außenminister Powell dagegen zur selben Zeit, selbst gegen Bin Laden, und also auch gegen Afghanistan, gebe es nicht einmal Indizien.
Verteidiger der Zivilisation?
Bush stellt sich als Verteidiger der Zivilisation dar, als Hüter aller westlichen Werte der letzten mindestens 2.500 Jahre. Doch ein allerhöchster dieser Werte ist eben, daß die Völkergemeinschaft in der UNO entscheidet, wie der Weltfrieden erhalten und wiederhergestellt werden kann. Wenn ein Staat allein Terrorismus, Krieg, Selbstverteidigung etc. definieren und in die Praxis umsetzen darf, sind der Willkür Tür und Tor geöffnet.
Dennoch inszeniert Bush sich als leuchtenden Verteidiger des Guten gegen das absolut Böse. Und hier beginnen zahllose weitere Anmaßungen und Verlogenheiten.
* Amerika hat durch den CIA jahrzehntelang weltweit das Böse gefördert, nämlich repressive, diktatorische, fundamentalistische Regime. Der Übergang zu demokratischeren Staatsformen wurde mit allen Mitteln verhindert, sei es weil die USA eine Einflußnahme des Kommunismus befürchteten, sei es weil sie all das, was sie unterdrückten, bereits mit Kommunismus gleichsetzten. Mit Unterstützung des CIA und anderer US-Organe wurden Millionen von Menschen in Lateinamerika, Afrika und Asien verhaftet, gefoltert und getötet. Dies ist mit einigen Abstrichen bis heute so geblieben. Die Realität ist so schrecklich, daß man sie gar nicht wahrhaben will – und dies ist ein unermeßlicher Vorteil der Lüge in ihrem erbarmungslosen Kampf gegen die Wahrheit.
* Amerika hat durch den CIA die Taliban erst an die Macht gebracht und bin Laden unterstützt: Die USA wollten nach Rückzug der Sowjetunion in Afghanistan stabile Verhältnisse für den Öl- und Gastransport – und sei es auch durch absolute Fundamentalisten. Vielleicht leitet Bush auch daher teilweise seine „Legitimation“ her, sie durch Krieg abzusetzen.
Zu Beginn der US-Angriffe zitierte Bush in einer Fernsehansprache den Brief eines kleinen Schulmädchens: "So sehr ich es nicht will, dass mein Dad kämpfen muss, bin ich doch bereit, ihn in Deine Hände zu geben". Worin besteht die Verlogenheit dieses Zitats, die man sofort empfinden kann? Darin, daß die Unschuld eines Kindes mißbraucht wird. Hätte das Mädchen schon so viel Lebenserfahrung wie Bush, hätte es ihm ein klares „Nein“ entgegengeworfen. Hätte Bush die Unschuld dieses Mädchens, wäre er gar nicht Präsident geworden. Er zitiert den Brief, und die Unschuld des Mädchens geht in den Köpfen der Menschen auf ihn und seinen Krieg über.
Amerika kann gar nicht anders, als uneigennützig und unermüdlich für das Gute und die Gerechtigkeit zu kämpfen. – Hinter diese Grundprämisse soll kein denkender Zeitgenosse zurückgehen. Denn nur wenn Amerika das Gute schlechthin verkörpert, kann man übersehen, daß es massiv und zumeist gänzlich rücksichstlos die eigenen, weltweiten Macht-Interessen verfolgt.
Für die ganze Intensität der damit verbundenen Verlogenheit muß man erst einmal sensibel werden. Man muß es durch eine vorbehaltlose, unbedingte Liebe zur Wahrhaftigkeit dahin bringen, daß jede kleinen Verlogenheit, die einem begegnet, einen Schmerz in der Seele auslöst. Dann beginnen die Augen der Seele auch, die Verlogenheit in realer Gestalt wahrzunehmen: Etwa als einen riesigen Lindwurm, der immer wieder mit seiner schleimigen, weltbild-spendenden Pranke zuschlägt, um das selbständige Denken des Menschen auszuschalten. Das Wesen der Verlogenheit dient wiederum einem anderen Wesen: der Macht, die ungestört ihre Interessen verfolgen will.
Bis ins Innerste verfolgt einen der Mythos des für das Gute kämpfenden Amerika und sabotiert das Bemühen um eigenständige und wahrheitsgemäße Gedanken. Nur die Kenntnis der wirklichen Ereignisse kann verhindern, daß ein Staat – oder wer auch immer – sich unwidersprochen mit einen leuchtenden Mythos umhüllt. Da man aber schon bei jeder historischen Darstellung nie sicher sein kann, inwieweit sie Mythos ist, bleibt einem nichts anderes übrig, als „rechte“ und „linke“, „christliche“ und „muslimische“ Darstellungen zu lesen, soviel man eben in die Hände bekommt. Irgendwann gewinnt man durch dieses Studium widersprüchlicher Standpunkte ein Organ für die Wahrheit. Es ist dieses Organ, daß mir etwa sagt, daß ein Mythos vorliegt, wenn konsequent bestimmte Sachverhalte oder auch nur Fragen verleugnet, verdrängt, totgeschwiegen oder kriminalisiert werden. Die Empfindungsfähigkeit für die Wahrheit liegt in jedem Menschen und muß nur geweckt und gepflegt werden.
Dann sind irgendwann wahrhaft e i g e n e Gedanken und Urteile möglich.