30.12.2001

Die NATO-Intervention im Kosovo-Konflikt 1999

Der NATO-Krieg 1999 war ein Lehrstück über Völkerrechtsverletzungen und Medienpropaganda - und es machte den Afghanistan- und den Irak-Krieg letztlich erst möglich. Das Studium der damaligen Hintergründe kann das Bewusstsein auch für die heutigen Geschehnisse in jeder Hinsicht nur schärfen.

Inhalt
Die offizielle Version
Der völkerrechtliche AspektVölkerrecht gegen Menschenrecht? | Völkerrecht und Kosovo-Konflikt
Einseitigkeit der Wahrnehmung und Darstellung
"Kollateralschäden" und Uranmunition
Eskalationen durch den Krieg
Das Interesse der NATO am Krieg
Propaganda und Lügen: Die offiziellen Formulierungen | Racak | Rugovo | "KZ in Pristina" | Der Hufeisenplan | Keine Aufarbeitung
Wirkliche Interessen und Zukunftspläne: USA und NATO | USA und Europa | Europa und Deutschland
"Spätfolgen"
Grundsätzliche Kritik an Interventionen
Die verzerrte Berichterstattung im Jugoslawienkrieg 1992-95
Chronik des Kosovo-Krieges

 

Die offizielle Version

 

In der ersten Hälfte 1998 eskaliert im Kosovo die Auseinandersetzung zwischen der serbischen Polizei und der albanischen „Befreiungsorganisation“ UCK. Bei einer Großoffensive erobern serbische Truppen dann alle Gebiete zurück, die UCK zieht sich nach Albanien zurück. Nachdem Ende September eine Resolution des UN-Sicherheitsrates scharf die serbische Gewalt verurteilt und die von den USA geführte NATO mit Luftangriffen gedroht hat, kommt es am 13.10. zum Holbrooke-Milosevic-Abkommen über einen Waffenstillstand und die Stationierung von 2.000 OSZE-Beobach­tern. Am 16.10. stimmt der Bundestag einem NATO-Einsatz zu, am 24.10. verlangt eine weitere Resolution des UN-Sicherheitsrates von beiden Seiten das Ende der Gewalttaten. Im November folgen auf UCK-Anschläge auf serbische Polizeistationen brutale Gegenreaktionen der serbischen Seite. Am 16.1.1999 kommt es in dem Ort Racak offenbar zu einem Massaker an 45 Albanern. Im Februar scheitern Verhandlungen in Rambouillet, Serbien lehnt NATO-Truppen in Jugoslawien und ein Kosovo-Referendum ab. Mitte März gibt es weitere Verhandlungen in Paris, die Kosovo-Albaner unterzeichnen das Abkommen, die Serben nicht. Am 24.3. beginnt die NATO ihre Luftangriffe als humanitäre Interven­tion. Am 28.3. weist Verteidigungsminister Rudolf Scharping auf ein serbisches KZ in Pristina hin. Am 7.4. liefert er Beweise für die serbische Operation „Hufeisenplan“, nach der spätestens seit Anfang 1999 die Serben die albanische Bevölkerung planmäßig vertrieben hätten. Am 27.4. bringt Scharping Beweise für ein serbisches Massaker in Rugova. Am 3.6. stimmt die jugoslawische Führung dem G7/8-Plan zu. Am 10.6. stellt die NATO ihre Luftangriffe ein, am 11.6. marschieren NATO- und russische Truppen im Kosovo ein. Später werden die KFOR-Truppen der UNO eingesetzt.


Der völkerrechtliche Aspekt

 

Die Vereinten Nationen verabschiedeten nach den zwei Weltkriegen 1945 die UN-Charta. Diese enthält ein striktes Verbot der Androhung und Anwendung von Gewalt (Art. 2 Nr. 4), die die territoritale Inegrität oder politische Unabhängigkeit eines Staates verletzt. Ausnahmen vom Gewaltverbot gelten nur

* im Rahmen des individuellen und kollektiven Selbstverteidigungsrechts bei bewaffnetem Angriff (Art. 51)
* bei kollektiven UN-Zwangsmaßnahmen (Art. 42, Kap. VII) nach einer förmlichen Feststellung einer „Bedrohung oder eines Bruchs des Friedens oder einer Angriffshandlung“ durch den UN-Sicherheitsrat oder
* bei Zwangsmaßnahmen „aufgrund von regionalen Abmachungen oder Einrichtungen“ (Art. 53) nach ausdrücklicher Ermächtigung durch den Sicherheitsrat.


Das Gebot der Verhältnismäßigkeit militärischer Maßnahmen ist im ersten Zusatzprotokoll (1977) zum Genfer Abkommen über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte vom 12.8.1949 festgeschrieben. Flächenhafte Bombardierung etwa ist nach Art. 51 verboten. Es sind nur solche Objekte legitime militärische Ziele, die wirksam zu militärischen Handlungen beitragen und einen eindeutigen militärischen Vorteil begründen. Untersagt sind bereits Angriffe gegen militärische Objekte, bei denen mit zivilen Opfern zu rechnen ist, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen. - Das Zusatzprotokoll wurde aber z.B. von den USA, Frankreich und der Türkei nicht ratifiziert! Doch auch nach den Statuten des neu in Rom gegründeten Internationalen Strafgerichtshofs ist es ein Kriegs­verbrechen, bewusste Angriffe auf zivile Objeke zu unternehmen, die keine militärischen Ziele sind.

Völkerrecht gegen Menschenrecht?

Die UN-Charta respektiert nach Art. 2 grundsätzlich die Staatensouveränität, bekennt sich aber in Art. 1 auch zur Wahrung der Menschenrechte. Diese wurden nochmals ausdrücklich bekräftigt in der Erklärung der Menschenrechte von 1948.

In der UN-Völkerrechtskonvention vom Dezember 1948 heißt es in Art. I: Die vertragschließenden Parteien bestätigen, dass Völkermord, ob im Frieden oder im Krieg begangen, ein Verbrechen gemäß internationalem Recht ist, zu dessen Verhütung und Bestrafung sie sich verpflichten. Und Art. II erklärt: In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Als Mittel werden genannt: Tötung von Mitgliedern der Gruppe; Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.

Das Problem ist nun, daß zwar fast alle Staaten der Menschenrechtskonvention beigetreten sind, sie aber nicht umsetzen. Eine Einmischung von außen erscheint zunächst grundsätzlich unmöglich. Doch basiert das Völkerrecht auf dem Vertragsrecht und dem Völkergewohnheitsrecht. In der Vergangenheit hat der Sicherheitsrat aufgrund großen internationalen (und inneramerikanischen) Drucks in Resolutionen gegen Südafrika und dann gegen Rhodesien die dortige Rassendiskriminierung als eine Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit bezeichnet (nur aufgrund dieser Feststellung kann der Sicherheitsrat tätig werden) und nach Kap. VI der Charta wirtschaftliche Maßnahmen verhängt, die durchaus auch effizient waren. Dies waren Präzedenzfälle, die das Souveränitätsprinzip durchbrachen. Seither sind Sanktionen des Sicherheitsrats gegen Staaten möglich, wenn er dortige Menschenrechtsverletzung als Gefahr für die internationale Sicherheit und den Weltfrieden definiert. Dieses Prinzip wurde wieder aufgegriffen, als der Sicherheitsrat 1991 nach Ende des zweiten Golfkriegs, der ursprünglich nur die Souveränität Kuweits wiederherstellen sollte, Maßnahmen gegen den Irak verhängte und erstmals den Begriff der "humanitären Intervention" prägte. Dies wiederholte sich bei den Interventionen in Somalia (1993/95) und Haiti, die mit Sicherheitsrat-Mandat primär von den USA durchgeführt wurden. Immer deutlicher zeichnete sich ab, daß das "Recht zur humanitären Intervention" zunehmend zur Legitimation nationalstaatlicher Interventionen benutzt werden könnte.

Die den Irak betreffende Resolution beraubte ihn wesentlicher Teile seiner Souveränität, zwang ihm neue Grenzen auf, die den ausländischen, unter UNO-Mandat tätigen Missionen aller Art freie Bewegung im Irak ermöglichte, und belegte den Irak vor allem mit einem Embargo, an dessen Folgen seitdem nach Angaben von UNICEF und WHO monatlich 5000 Kinder unter fünf Jahren sterben – mittlerweile über 500.000, dazu 1,5 Millionen ältere Kinder und Erwachsene. Dies sind die Folgen der ersten "humanitären Intervention" im Namen der Vereinten Nationen. Und es gibt einen ganz eindeutigen Weg vom Irak über Somalia, Haiti und Bosnien, auf dem die UNO ihr Gewaltmonopol abgibt und immer mehr zunächst der USA, dann der NATO das Mandat erteilt. Der Kosovo-Krieg wurde dann der erste NATO-Krieg, der auch nicht den Schein eines UN-Mandats hatte.

Seit 1945 gab es im weiteren 17 militärische Aktionen von Staaten, bei denen sich die Frage der "humanitären Intervention" (zumindest auch) stellte: 1960 und 1964 Belgien und USA im Kongo, 1965 USA in der Dominikanischen Republik, 1971 Indien in Ost-Pakistan (Bangladesh), Indonesien in Ost-Timor, 1974 Türkei in Nordzypern, 1975 Syrien im Libanon, 1979 Vietnam in Kambodscha, Tansania in Uganda, Frankreich in Zentralafrika, Spanien in Äquatorialguinea, 1981 USA in Nicaragua, 1983 USA in Grenada, 1989 USA in Panama, 1990 ECOWAS (Westafrika) in Liberia, 1991 USA und Großbritannien im Irak, 1999 NATO in Jugoslawien. – Mit der UN-Charta läßt sich keine dieser Interventionen begründen. Es gibt auch keine wirkliche gewohnheitsrechtliche Anerkennung der „humanitären Intervention“ (wie teilweise behauptet wird), da die zwei Voraussetzungen einer übereinstimmenden allgemeinen Staatenpraxis und einer dem zugrundeliegenden allgemeinen Rechtsüberzeugung fehlen. Dies hat nicht zuletzt der „Kosovo-Krieg“ wieder gezeigt, der auch erhebliche Kritik gefunden hat (durch Rußland, China, Indien, Südafrika u.v.a.).

Peter Strutynski verneint ausdrücklich, daß ein Staat mit Waffengewalt zur Einhaltung der Menschenrechte gezwungen werden dürfe:

- Hauptziel der Vereinten Nationen ist die Friedenssicherung.
- Eines der wichtigsten Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen ist die Garantie der Souveränität (Art. 2, Ziffer 7) und "territorialen Unversehrtheit" (Art. 2,4) eines Staates. Gerade in einer Zeit, die gekennzeichnet ist durch die Dominanz transnationaler, globaler wirtschaftlicher Aktivitäten und die Hegemonie einiger weniger Großmächte unter Führung der USA, ist die staatliche Souveränität häufig der letzte Rettungsanker abhängig gehaltener Länder der "Dritten" und ehemals "Zweiten Welt". Diese aufzugeben, hieße ja nicht, einer zivilen "Weltstaatlichkeit" Platz zu machen, sondern sich noch stärker dem Diktat der "Neuen Weltordnung" von US-, Weltbank- und IWF-Gnaden zu beugen.
- Nach Artikel 2 Ziffer 4 der Charta der Vereinten Nationen gilt zudem ein generelles Gewaltverbot, das jede Art der Anwendung von Waffengewalt ausschließt. Ein Recht zur "humanitären Intervention" steht in keinem Fall Einzelstaaten und Staatenkoalitionen zu, sondern allenfalls den Organen der Vereinten Nationen selbst. Damit widerspricht das neue strategische Konzept der NATO nicht nur direkt der VN-Charta, sondern auch dem eigenen NATO-Vertrag, in dem in Artikel 1 die Vorrangstellung der VN-Charta ausdrücklich anerkannt wird.
- Ein "Nothilferecht" für Staaten gibt es nur für den Fall eines bewaffneten Angriffs von außen (Art. 51). ...
- Zu militärischen Zwangsmaßnahmen kann ausschließlich der VN-Sicherheitsrat einzelne Staaten oder Regionalorganisationen ermächtigen (Art. 42, 48 und 53 VN-Charta).
- Und auch dies kann der VN-Sicherheitsrat nur, wenn der Weltfrieden oder die internationale Sicherheit ernsthaft bedroht sind.

Die VN-Charta hat schließlich sogar für den Fall vorgesorgt, dass es zu unterschiedlichen Auslegungen internationaler Rechtsbestimmungen oder zu Widersprüchen zwischen ihnen kommt. In Art. 103 VN-Charta heißt es hierzu: "Widersprechen sich die Verpflichtungen von Mitgliedern der Vereinten Nationen aus dieser Charta und ihre Verpflichtungen aus anderen internationalen Übereinkünften, so haben die Verpflichtungen aus dieser Charta Vorrang." ... Jeder Krieg zerstört Menschenleben (das erste Menschenrecht ist das auf Leben!) und lebensnotwendige Ressourcen. Er kann daher nur als Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff von außen oder allenfalls als eine Art Nothilfe gegen Hand­lungen, die Völkermord bedeuten, geführt werden.


Trotz der Existenz der UN-Charta könnte man sagen: sie hat nie funktioniert.
Kaum waren die Vereinten Nationen gegründet, begann der Korea-Krieg, dann gab es alle möglichen anderen Kriege, nicht zuletzt die Angriffskriege Israels und die vielen „Stellvertreterkriege“ - vor allem in der Dritten Welt -, auf die die beiden Großmächte Einfluß nahmen.

Die UN-Charta zielt eigentlich auf ein überstaatlichen Gewaltmonopol, doch der UN-Sicherheitsrates hat nur fünf Ständige Mitglieder, die jeweils ein Vetorecht haben, also den Sicherheitsrat handlungsunfähig machen können: USA, China, Rußland, Großbritannien, Frankreich. Der Sicherheitsrat ist also kein demokratisches Gremium. Das zweite Problem der Charta ist die fehlende Gewaltenteilung. Die UN-Vollversammlung darf sich z.B. nicht mit einem Konflikt befassen darf, solange dies der Sicherheitsrat tut. Und der Internationale Gerichtshof ist nur zuständig für Streitigkeiten zwischen Mitgliedsstaaten, wenn diese sich ihm im konkreten Falle unterwerfen. Er kann nicht darüber befinden, ob der Sicherheitsrat gegen das Völkerrecht, z.B. sogar seine eigene Charta verstößt. Die UN- Charta ist das Resultat politischer Prozesse und macht die UNO tatsächlich handlungsunfähig für die Verhinderung und Beendigung zwischenstaatlicher bewaffneter Konflikte.

Völkerrecht und Kosovorkieg

Für die Bundesrepublik war der Kosovo-Krieg der erste Kriegseinsatz deutscher Soldaten seit 1945. Damals schrieb der "SZ"-Journalist Heribert Prantl: Hätte jemand angekündigt, dass ein sozialdemokratischer Kanzler, ein grüner Außenminister und ein sozialdemokratischer Verteidigungsminister den Kampfeinsatz der Bundeswehr gegen einen souveränen Staat befehlen würden, man hätte ihn ins Narrenhaus gebracht.

Da ernennt die Bundesregierung kurzerhand Moral und Gefühl zu den ausschlaggebenden Bestimmungsgründen des Regierungshandelns und stellt beides über Völkerrecht und Grundgesetz! ... Es geht um nicht weniger als um die Frage: Faustrecht, Chaos und globale nationale Interessenpolitik oder Völkerrecht, Weltordnung gleichberechtigter Staaten und friedlicher Interessensausgleich zwischen den Nationen. (Peter Strutynski)

Aus einem offenen Brief von Prof. Lutz und Dr. Mutz an die Bundestagsabgeordneten vom März 2001:

Darf sich eine Staatenkoalition, wie im Kosovo-Krieg geschehen, überhaupt über geltendes Völkerrecht hinwegsetzen? ... Darf die Bundesrepublik Deutschland ihrer Verfassung zuwiderhandeln? Begründen eklatante Menschenrechts­ver­let­zungen eine Art außergesetzlichen Notstand?
Ausgang dieser und weiterer Fragen ist die Charta der Vereinten Nationen, an die alle Staaten der Erde gebunden sind. Sie verbietet unmissverständlich Gewaltanwendung und Krieg. Sie bestimmt zugleich die beiden Ausnahmen vom generellen Gewaltverbot: die Selbstverteidigung und die Wiederherstellung des Friedens und der internationalen Sicherheit. Sie regelt ebenso unzweideutig, wer über das Vorliegen des Ausnahmefalls zu befinden hat: der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Ein zustimmendes Votum des Sicherheitsrats lag aber für den Luftkrieg gegen Jugoslawien nicht vor. Die Interventionsstaaten haben also ..., indem sie sich über das Aggressionsverbot hinwegsetzten, das oberste Anliegen der Völkergemeinschaft diskreditiert, "Frieden durch Recht" zu gestalten und auf diese Weise "künftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren".
Durch den Kosovo-Krieg werden aber nicht nur die Grundlagen der Vereinten Nationen berührt und - je nach Perspektive - erschüttert. Auch die Atlantische Allianz selbst ist unmittelbar betroffen, versteht sie sich doch seit ihrer Gründung nicht nur als ein militärisches Bündnis, sondern auch als eine politische Wertegemeinschaft auf der Basis rechtlicher Normen. Was das beinhaltet, umschreibt der Nordatlantikvertrag. In seiner Präambel bekennen sich die Mitglieder zu den Grundwerten der Freiheit, der Demokratie und des Rechts. In Artikel 1 verpflichten sie sich, in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen zu handeln, jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege zu regeln, den Frieden, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht zu gefährden sowie sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung und Gewaltanwendung zu enthalten. Mit einem Federstrich hat das bewaffnete Vorgehen der Allianz auf dem Balkan jede einzelne dieser konkreten friedenspolitischen Selbstverpflichtungen der Bündnispartner zu Makulatur gemacht.
Betroffen - und verletzt - ist schließlich auch das deutsche Grundgesetz. ... Dazu gehört an erster Stelle das bedingungslose Verbot des Angriffskrieges.
Nach Ansicht vieler Menschen - uns eingeschlossen - beging die Bundesrepublik als Mitglied der UNO wie der NATO und als Staat des Grundgesetzes mit der Beteiligung am Kosovo-Krieg einen dreifachen Rechtsbruch: den Bruch des Völkerrechts, des internationalen Vertragsrechts und des Verfassungsrechts.
In welchen Situationen es nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten erscheinen kann, für übergeordnete Ziele, z.B. die Rettung von Menschenleben, die Verletzung formaler Rechtsregeln in Kauf zu nehmen, ist gleichwohl eine uns alle bewegende Frage. Sie ist in einer rechtsstaatlichen Demokratie aber nur so lange und nur insoweit legitim, wie sie nicht nur als Alibi missbraucht, sondern breit und intensiv diskutiert und schließlich rechtsförmig (zum Beispiel durch Änderung der Verfassung, gegebenenfalls der Bündnissatzung und vor allem durch nachvollziehbare, überprüfbare und willkürfreie Initiativen und Maßnahmen der Fortentwicklung des Völkerrechts) festgehalten wird.


Am 3.6.2000 hieß es aus Den Haag, dass die Chefanklägerin des offiziellen Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien, Carla del Ponte, kein förmliches Ermittlungsverfahren gegen die NATO einleiten werde. Ihr Büro sei zum Schluss gekommen, dass es bei den Bombenangriffen keine "gezielten Angriffe auf Zivilisten" durch die NATO gegeben habe. NATO-Generalsekretär George Robertson gab sich zufrieden, denn die NATO habe während des Krieges Sorge getragen, dass sie "ständig in Übereinstimmung mit internationalem Recht handelte".

Ein inoffizielles Europäisches Tribunal unter Vorsitz des international renomierten Völkerrechtlers Prof. Norman Paech dagegen sprach am selben Tag die Staats- und Regierungschefs der 19 NATO-Staaten der schweren Völkerrechtsverletzung schuldig. Aus der Pressemitteilung:

Beim Krieg der NATO gegen Jugoslawien im vergangenen Jahr handelte es sich Norman Paech zufolge um eine Aggression gegen einen souveränen Staat. ... Der Konflikt in der südserbischen Provinz wurde von dem Gericht als Bürgerkrieg bewertet. Die Situation im Kosovo sei in den hiesigen Medien und von verantwortlichen Politikern übertrieben dramatisiert und verfälscht worden. Letztendlich aber habe die NATO-Interven­tion zu einer Verschlimmerung geführt. Das westliche Militärbündnis habe bei ihrem Krieg gegen Jugoslawien zudem gegen den NATO-Vertrag verstoßen. Zudem habe die Bundesregierung sowie diejenigen Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die für eine Beteiligung der Bundeswehr gestimmt hatten, gegen den 2+4-Vertrag, das Grundgesetz sowie Normen des Strafgesetzbuches verstoßen, heißt es in dem Urteil. ... Verurteilt wurde insbesondere auch der Einsatz international geächteter Waffen (Cluster- bzw. Splitterbomben) sowie mit abgereichertem Uran versehene Munition. Der Angriff auf das Sendegebäude des serbischen Staatsfernsehens RTS sei ebenfalls zu verurteilen. ... Die von den Teilnehmern des Tribunals mit anhaltendem Applaus aufgenommene Urteilsbegründung schloß mit den Worten: "Krieg darf nicht das Modell für eine neue Weltordnung abgeben. Krieg darf nicht wieder Mittel der Politik sein."


Einseitigkeit der Wahrnehmung und Darstellung

 

Den Krieg als ethnischen Konflikt zu erklären, ist gleichbedeutend mit der Erklärung eines vorsätzlich gelegten Brandes durch die Entzündbarkeit des verwendeten Materials, statt nach demjenigen zu suchen, der das Streichholz drangehalten hat.
(aus: Paolo Rumiz, Masken für ein Massaker, München 2000, S.35).


Die Resolution des UN-Sicherheitsrates vom 31.3.98 verurteilte noch sowohl die exzessive Gewaltanwendung der serbischen Polizei als auch die „terroristischen Akte“ der UCK. Im Juni schätzt das UNHCR die albanischen Flüchtlinge auf 50.000, die NATO droht erstmals eine Intervention an. Doch Amnesty International beschuldigt nach einem Kosovo-Besuch auch die UCK "übermäßiger Gewaltanwendung" (ca. 40% des Kosovo befinden sich unter Kontrolle der UCK). Ende Juni bis Oktober erobern serbischer Truppen in einer Großoffensive alle Gebiete zurück, die UCK zieht sich nach Albanien zurück, ca. 300.000 vorwiegend albanische Flüchtlinge fliehen nach Albanien, Montenegro, serbische Flüchtlinge nach Serbien. Die Resolution des UN-Sicherheitsrats vom 23.9. verurteilt scharf die serbische Gewalt. Am Tag darauf droht die NATO offiziell mit Luftangriffen. Am 12.10. steht die NATO-Intervention unmittelbar bevor, am nächsten Tag wird das Holbrooke-Milosevic-Abkommen unterzeichnet. Es beinhaltet einen Waffenstillstand und die Stationierung von 2.000 OSZE-Beobachter. Fast alle Flüchtlinge kehren zurück - und in ihrem Schatten die UCK. Die Resolution des UN-Sicherheitsrats vom 24.10. verlangt von beiden Parteien das Ende der Gewalttaten und die Befol­gung früherer Resolutionen. Die Jugoslawen kamen dieser Aufforderung nach, die UCK nicht. Sogar NATO-General­sekretär Solana erklärt am 27.10.: Erfreulicherweise kann ich nun berichten, dass in den letzten 24 Stunden mehr als 4.000 Angehörige der Sonderpolizei aus dem Kosovo abgezogen worden sind....Die Kosovo-Albaner müssen die Reso­lutionen der Vereinten Nationen ebenfalls einhalten.... Ich fordere die bewaffneten Gruppen der Kosovo-Albaner auf, den von ihnen erklärten Waffenstillstand aufrechtzuerhalten. Doch im November/Dezember mehrten sich die Überfälle der UCK auf serbische Polizeistationen sowie Attentate und Verschleppungen sogenannter "Verräter". UCK-Einheiten versuchten jenes Terrain wieder zu besetzen, das von den serbischen Verbänden in Erfüllung des Holbrooke-Milosevic-Abkommens verlassen worden war. Die serbische Seite schlug nun wiederum brutal zurück.

Der während des Krieges zweithöchste NATO-General Naumann sagte am 21.9.1999 im ZDF:

Die UCK spielte im Grunde eine Rolle, die uns den Erfolg des Herbstes 1998 kaputtgemacht hat. Sie stießen in das Vakuum, das der Abzug der Serben hinterlassen hat, nach und breiteten sich in einer Weise aus, die vermutlich niemand in irgendeinem unserer Staaten akzeptiert hätte.

Die NATO hat in diesem Konflikt einseitig Partei ergriffen und damit eine politische Lösung verhindert. Wer jedoch in einem Konflikt vermitteln will, muss das Vertrauen der Konfliktparteien haben und hier ist Voraussetzung, dass der Vermittler das Verhalten der Parteien mit gleichen Maßstäben bewertet und eventuelle Drohungen und Sanktionen gegen alle Vertragsbrüche und Gewalttäter auferlegt. Dies war im Kosovo nicht der Fall, hierzu ein Beispiel: In der Resolution 1203 des UN-Sicherheitsrats vom 24.10.1998 wird von beiden Parteien das Ende der Gewalttaten und die Befolgung früherer Resolutionen verlangt. Die Jugoslawen kamen dieser Aufforderung nach, dennoch erhielt die NATO ihre Kriegsdrohung gegen sie aufrecht. Die UCK hielt sich nicht daran. Die internationale Gemeinschaft tat kaum etwas, um sie dazu zu zwingen. Durch die Art der internationalen Reaktion konnte sich die UCK sogar in ihrer Position und ihren Handlungen bestärkt fühlen. Sie hatte es praktisch in ihrer Hand, den Krieg auszulösen.
(Heinz Loquai, der damals leitende Bundeswehr-General bei der OSZE, im Herbst 2000).


Am 16.1. werden nach Kämpfen bei Racak 45 Albaner tot aufgefunden, der OSZE-Missi­ons­leiter Walker spricht sofort von einem Massaker an Zivilisten, der Untersuchungsbericht bleibt jedoch geheim.

Die Rambouillet-Verhandlungen (6.-23.2.) scheitern offiziell wegen der serbischen Seite, obwohl von vornherein unannehmbare Bedingungen gestellt worden waren (s.u.). Während offiziell immer wieder auf die von Vertreibung betroffenen Kosovo-Albaner hingewiesen wird, wurde sogar noch am 14.3. auf der letzten Tagung des NATO-Rates vor Kriegsbeginn berichtet, die Gewalt gehe eher von terroristischen Aktionen der UCK aus, die Serben übten dann allerdings mit unverhältnis­mäßiger Härte Vergeltung; dennoch drohte die Lage im Kosovo zu der Zeit nicht außer Kontrolle zu geraten. In einer internen Lage­analyse des deutschen Auswärtigen Amtes vom 19.3. heißt es, der Waffenstillstand werde von beiden Seiten nicht mehr eingehalten. Das Ziel der jugoslawischen Streitkräfte (VJ) sei es, durch gezielte Geländebereinigung sämtliche Rückzugsmöglichkeiten für die UCK zu beseitigen. Die Zivilbevölkerung werde in der Regel sogar vor einem drohenden Angriff durch die VJ gewarnt. Allerdings werde die Evakuierung der Zivilbevölkerung vereinzelt durch lokale UCK-Kom­mandeure unterbunden. Nach Abzug der serbischen Sicherheitskräfte kehre die Bevölkerung meist in die Ortschaften zurück. Eine Massenflucht in die Wälder sei nicht zu beobachten. Von Flucht, Vertreibung und Zerstörung im Kosovo sind alle dort lebenden Bevölkerungsgruppen gleichermassen betroffen. Etwa 90 vormals von Serben bewohnte Dörfer sind inzwischen verlassen. - In einem internen Lagebericht des deutschen Verteidigungsministeriums vom 23.3. (15 Uhr) heißt es noch einen halben Tag vor dem NATO-Krieg (!), die UCK wird wahrscheinlich weiter versuchen, durch die bekannten Hit-and-Run-Aktio­nen die serbisch-jugosla­wischen Kräfte zu massiven Reaktionen zu provozieren in der Hoffnung, dass diese in ihren Ergebnissen hinsichtlich Zerstörungen und Flüchtlinge ein Ausmass annehmen, das sofortige Luft­schläge der Nato heraufbeschwört. Ebenso heißt es: In den vergangenen Tagen kam es zu keinen größeren bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen serbisch-jugoslawischen Kräften und der UCK ... Die serbi­schen Sicherheitskräfte beschränken ihre Aktionen in jüngster Zeit auf Routineeinsätze wie Kontrollen, Strei­fentätigkeit, Suche nach Waffenlagern und Überwachung wichtiger Verbindungsstraßen. Die deutsche Sek­tion der Internationalen Juristenvereinigung gegen Atomwaffen IALANA brachte diese Lageeinschätzungen am 22.4. in einer Presseinformation an die Öffentlichkeit; bis Kriegsbeginn wurden albanische Asyl­bewerber von deutschen Gerichten unter Verweis auf diese Dokumente abgelehnt und zum Teil wieder abgeschoben.

Unser Bild vom Kosovo-Konflikt ist vor allem durch die jugoslawische Unterdrückungspolitik seit 1989, die Manipulationen des Westens vor und während des Nato-Krieges und durch die Verbrechen an den Kosovo-AlbanerInnen nach dem Beginn der Nato-Luftangriffe im März 1999 geprägt. Durch die Manipulationen der öffentlichen Meinung vor und während des Nato-Bombardements erscheint uns die Entwicklung als eine kontinuierliche Abfolge einseitig von der jugoslawischen Seite ausgehender Gewalt und verbrecherischer Handlungen, die geradezu zwangsläufig zum Eingreifen der Nato führen mussten ... Dieses Bild stimmt nicht in jedem Fall. Immer wieder gab es in den vergangenen Jahren Zeiten, in denen Friedenschancen bestanden und nicht genutzt wurden. Dies gilt insbesondere für den Herbst 1998.
(Dieter Lutz, 5.1.2001)


Am 24.3. begann dann der NATO-Krieg gegen Jugoslawien, und erst jetzt begannen Gewaltexzesse serbischer Milizen und Poli­zei, 860.000 Flüchtlinge fliehen in Nachbarstaaten, die humanitäre Katastrophe nimmt ihren Lauf. Doch Scharping verkündet am 25.3.: Meine Damen und Herren, ich will zunächst einmal zwei Punkte unterstreichen: 1. Die militärischen Aktivitäten der NATO dienen einem politischen Ziel, nämlich die Abwendung einer humanitären Katastrophe bzw. die Verhinderung ihres weiteren Anwachsens... - Während der 76 Tage des Krieges wurde der Fokus weiterhin absolut einseitig auf - angebliche und tatsächliche – serbische Verbrechen gerichtet. Scharping berichtet am 28.3. von einem serbischen KZ bei Pristina, am 7.4. von dem „Hufeisenplan“, nachdem seit Monaten eine planmäßige ethnische „Säuberung“ im Gang war, am 27.4. von dem Massaker in Rugovo. Am 7.4. schreibt Scharping in sein Tagebuch: Es ist abscheulich. Diese Lumpen und Verbrecher bringen wahllos Menschen um, rauben ihre Opfer aus, vertreiben sie oder vergewaltigen die Frauen. Umso unverantwortlicher, dass einige öffentlich immer wieder einen Stopp oder eine Pause der Luftangriffe fordern. Im April kam es zu einem Vertreibungsexzess an den Albanern, im Juli dann umgekehrt zu einem Vertreibungsexzess an Serben u.a. Nichtal­banern.

Die OSZE-Beobachter hatten penibel die Vorkommnisse im Kosovo gemeldet. Ihr Fazit für den März 1999: 39 Tote im gesamten Kosovo. - Auch die US-Diplomatin Norma Brown, die damals im Kosovo war, erinnert sich:

Bis zum Beginn der Nato-Luftangriffe gab es keine humanitäre Krise. Sicher, es gab humanitäre Probleme, und es gab viele Vertriebene durch den Bürgerkrieg. Aber das spielte sich so ab: Die Leute verließen ihre Dörfer, wenn die Serben eine Aktion gegen die UCK durchführten - und kamen danach wieder zurück. Tatsache ist: Jeder wusste, dass es erst zu einer humanitären Krise kommen würde, wenn die Nato bombardiert. Das wurde diskutiert: In der Nato, der OSZE, bei uns vor Ort und in der Bevölkerung.


Ende November 2000 verabschiedete die Parlamentarische Versammlung der NATO einen Bericht „Die Folgen des Kosovo-Konfliktes und seine Auswirkungen auf Konfliktprävention und Krisenmanagement“. Darin wird erstmals das Versagen der westlichen Politiker im Kosovo-Konflikt offiziell eingestanden. Es heißt: Die UCK strebte im Kosovo

... eine Verschärfung der Notlage an, um die Bevölkerung zum Aufstand für die Unabhängigkeit zu bewegen. So nutzte die UCK das Holbrooke-Milosevic-Abkommen als Atempause, um ihre Kräfte nach den Rückschlägen des Sommers zu verstärken und neu zu gruppieren. Die serbischen Repressionen liessen unter dem Einfluss der KVM (Kosovo Verification Mission der OSZE) in der Zeit von Oktober bis Dezember 1998 nach. Dagegen fehlte es an effektiven Massnahmen zur Eindämmung der UCK, die weiterhin in den USA und Westeuropa - insbesondere Deutschland und der Schweiz - Spendengelder sammeln, Rekruten werben und Waffen über die albanische Grenze schmuggeln konnte. So nahmen die Angriffe der UCK auf serbische Sicherheitskräfte und Zivilisten ab Dezember 1998 stark zu. Der Konflikt eskalierte erneut, um eine humanitäre Krise zu erzeugen, welche die Nato zur Intervention bewegen würde.

Entgegen der offiziellen NATO-Darstellungen vor dem Krieg war also nicht die serbische Seite, sondern gerade die UCK für die Eskalation und die Erzeugung einer humanitären Krise im Kosovo verantwortlich. - Der NATO-Krieg wurde letztlich aus einem „Gefühl“ heraus begonnen: Mit dem bis heute nicht restlos aufgeklärten angeblichen Massaker von Racak entstand das Gefühl eines Handlungsbedarfs, das nach dem Scheitern der Rambouillet-Verhandlungen zu den von der UCK herbeigesehnten Nato-Luftangriffen führte.

Angriff und Verteidigung sind Siegerdefinitionen. Diese Lehre aus der deutschen Vergangenheit zu missachten, würde bedeuten, der politischen und möglicherweise verbrecherischen Willkür Tür und Tor zu öffnen. Gerade derjenige also, der glaubt, in Extremsituationen, zum Beispiel bei Völkermord, nicht geltendem Recht, sondern seinem Gewissen folgen zu müssen, ist in besonderer Weise verpflichtet, die Ratio des verfassungsrechtlichen Friedensstörungs- und Angriffsverbots zu beachten: Handelt es sich bei dem jeweiligen Konfliktfall um innere Unruhen und Bürgerkrieg oder kann wirklich von der Gefahr der zielgerichteten Ermordung und Vertreibung ganzer Völker gesprochen werden? Dient der als Hilfsaktion verstandene Angriff wirklich und ausschließlich dem angegebenen Zweck oder wird die Situation für andere politische Interessen missbraucht? Ist alles getan worden, was jenseits kriegerischer Maßnahmen möglich ist? Gibt es wirklich keine zivilen, nicht-kriegerischen Alternativen mehr? Und vor allen Dingen: Ist wirklich zweifelsfrei geklärt, wer in der konkreten Situation der Rechtsbrecher ist? Krieg ist die Ultima Ratio. Entscheidungen über Leben und Tod verlangen zweifelsfreie Gewissheit. Sind Zweifel da, kann und darf die Entscheidung nicht für Krieg und schon gar nicht willkürlich zu Lasten einer Seite lauten. ... 
(Lutz-Mutz-Brief vom März 2001).


„Kollateralschäden“ und Uranmunition


Am 23.4. werden die Studios der serbischen Radio- und Fernsehgesellschaft in Belgrad bombardiert, mindestens 16 Zivilisten sterben (laut Presseberichten entschied sich die US-Regierung gegen die Einwände anderer NATO-Länder zu dieser Aktion). Am 8.5. wird offenbar irrtümlich die chinesische Botschaft beschossen, drei chinesische Journalisten sterben.

...wer trägt dann die ganz persönliche Schuld für den Tod des Nachtwächters in der von der Nato bombardierten Tabakfabrik, für den Tod der Mutter mit den beiden kleinen Mädchen im Auto auf der Brücke, des flüchtenden Albaners auf dem Traktor, des serbischen Deserteurs auf dem Fahrrad und all der anderen mehr? Wirklich der Dämon in Belgrad, wie uns die westlichen DemokratInnen glauben machten? Oder doch die demokratisch legitimierten Abgeordneten, Staatssekretäre, Minister? Und vor allem: Wer von uns hätte sich je auszumalen gewagt, dass westliche DemokratInnen dazu beitragen, Menschenleben zu vernichten, ohne die Fakten und Daten wirklich zu kennen - und dafür noch Applaus bekommen?
(Prof. Dieter Lutz in der Schweizerischen Wochenzeitung WoZ vom 5.1.2001)

Zweifel sind auch angebracht, ob die NATO wirklich, wie sie stets beteuert hat, "alle nur denkbaren Anstrengungen" unternommen habe, "um Kollateralschäden zu vermeiden". ... Außerdem kann eine in 5.000 Meter Höhe fliegende Besatzung nur feststellen, ob das anvisierte Objekt dem ausgewählten Angriffsziel entspricht. Dagegen lassen sich etwaige Bewegungen von Zivilpersonen in der Umgebung des Zieles nicht wahrnehmen. ... Immerhin seien die Kampfregeln nach einigen Vorfällen (z.B. nach der Bombardierung eines Konvois von Zivilisten in Djakovica) dahingehend geändert worden, "dass sich die Piloten visuell davon zu überzeugen hatten, dass sich in der Umgebung des Zieles keine Zivilpersonen aufhielten." Später wurde beschlossen, auf Angriffe auf bestimmte Ziele wie Brücken zu verzichten, wenn sich in ihrer Umgebung viele Zivilisten befänden. Die NATO hat mit solchen Korrekturen eingestanden, dass ihre Kriegführung in unzulässiger Weise zivile Opfer heraufbeschworen hat. Ein weiterer Vorwurf von ai bezieht sich darauf, dass die Vorschrift des I. Zusatzprotokolls der Genfer Konvention nicht eingehalten wurde, "wonach Angriffen, durch welche die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft gezogen werden kann, eine wirksame Warnung vorausgehen muss". Dies geschah deshalb nicht, um "die Sicherheit der Piloten nicht aufs Spiel (zu) setzen". So konnten die regelmäßig im nachhinein bedauerten "Irrtümer" gar nicht ausbleiben. Beispiele sind der Angriff auf die kosovoalbanischen Flüchtlinge in Korisa und der Angriff auf die chinesische Botschaft in Belgrad. ai hat die NATO aufgefordert, mehrere solcher Vorfälle genauer zu untersuchen. In der Antwort aus dem NATO-Hauptquartier hieß es u.a., man habe bereits interne Untersuchungen angestellt, halte es aber nicht für "nützlich", die Ergebnisse oder Details über die beteiligten Streitkräfte zu veröffentlichen. Straf- oder Disziplinarmaßnahmen gegen die an den beanstandeten Angriffen beteiligten Personen seien nicht ergriffen worden. Demgegenüber gab der CIA im April 2000 bekannt, dass er gegen mehrere Mitarbeiter wegen ihrer Rolle bei der Fehlidentifizierung der chinesischen Botschaft disziplinarische Maßnahmen ergriffen habe. Wird der Angriff auf die chinesische Botschft nur deswegen untersucht, um den diplomatischen Ärger mit Peking einzudämmen?
(Peter Strutynski)

Der Kosovo-Konflikt hat politische Ursachen und bedarf einer politischen Lösung. In ziviler Konfliktschlich­tung und -vermittlung kann die NATO aber keine Erfolge vorweisen. Das ist nicht ihr Metier, darin ist sie nicht erfahren. Ihre Stärke liegt in ihren militärischen Fähigkeiten, und allein darauf hat sie im Kosovo gesetzt. Krisenreaktion beschränkte sich auf das schlichte Mittel der Androhung von Gewalt in ständig gesteigerter Dosierung. Folgerichtig mündete der regionale Konflikt in einen internationalen Krieg. Wird einem Militärbündnis die Regie überlassen, kann nicht verwundern, wenn es auch plant und handelt wie ein Militärbündnis ... Teil der Holbrooke-Milosevic-Übereinkunft war die Einsetzung der Kosovo-Verifikations-Mission. Bis zu 2.000 zivile Beobachter der OSZE sollten die Einhaltung der Vereinbarungen überprüfen. Aber selbst fünf Monate später befanden sich noch immer weniger als die Hälfte von ihnen vor Ort. ... Der Westen kann binnen weniger Wochen Kampfgeschwader und Flottenverbände zusammenziehen. Er kann über Monate einen Tag-und-Nacht-Hightech-Krieg führen mit Zehntausenden von Angriffsflügen für Milliarden von Dollar. Aber ein bescheidenes Aufgebot ziviler Verifikatoren auf die Beine stellen, kann oder will er offenbar nicht.
(aus dem Lutz-Mutz-Brief vom März 2001).

Mit Superkeulen, die großzügig und indifferent Lateralschäden in Kauf nehmen, lassen sich, ganz nüchtern betrachtet, Menschenrechte schlicht nicht erzwingen. Kriege mit geballter Zerstörungskraft sind zur Verteidigung der Menschenrechte nicht nur ungeeignet, sondern extrem kontraproduktiv. Das ist meines Erachtens die eigentliche Lehre von Kosovo, eine Lehre, die viele von uns, die große Kriege am eigenen Leibe erlebt haben, schon längst gezogen haben. Der Krieg ist unvernünftig, irrational, keine ultima ratio mehr.
(Der bekannte Naturwissenschaftler Hans-Peter Dürr, Frankfurter Rundschau, 24.4.2001)

Uranmunition

Anfang 2000 gab die NATO zu, allein im Kosovo selbst 31.000 Geschosse mit abgereichertem Uran (depleted uranium, DU) eingesetzt zu haben. Die 275g schweren Geschosse sollen Panzerungen durchschlagen. Abgereichertes Uran eignet sich dafür besonders gut, weil es sehr schwer, leicht entzündlich und billig ist. Es entsteht als Abfall bei der Produktion von Atomsprengköpfen und Brennstoff für AKW. Wenn DU-Munition verbrennt, sobald ein hartes Ziel getroffen wird, entsteht äußerst feiner, leicht radioaktiver Uranoxid-Staub. Am 24.12.2000 veröffentlichte die Schweizer "Sonntags­zeitung" einen alarmierenden Bericht ("Sterben Kfor-Soldaten wegen Uran-Munition?"). Elf italienische Soldaten seien an Leukämie erkrankt, vier von ihnen bereits gestorben. Aus Spanien und Portugal wurden weitere Fälle mit bisher zwei Toten gemeldet. Auf Druck der neuesten Entwicklung gab die NATO im Dezember 2000 bekannt, daß auch in Bosnien 1995 und 1996 rund 10.800 DU-Geschosse abgefeuert worden seien. Schon 1996 hatte eine Belgrader Tageszeitung den Einsatz abgereicherten Urans berichtet, was damals als Propaganda abgetan wurde. Inzwischen meldet Belgrad, daß 192 serbische Soldaten an Leukämie erkrankt seien. Völlig ungeklärt sind die Folgen des Uran auf die Zivilbevölkerung im Balkan – etwa auf Kinder, die Metallteile mit Uranstaub als Souvenir mitnehmen oder auf Menschen, die in den Ruinen Baumaterial und Brennholz suchen. - Die Frankfurter Rundschau zitierte am 4.1.2001 einen Sprecher der Bundeswehr. Diese habe im Zuge von Routineuntersu­chungen bereits 1999 stichprobenartig Soldaten auch auf Strahlenschäden getestet, ohne jeden Befund. Zudem könne sich jeder Soldat untersuchen lassen, wenn er dies wünsche. Die Bundeswehr wollte keine Auskunft über die Zahl der Untersuchten geben; sie liege "in angemessenem" Umfang. Die "eingeleiteten Maßnahmen seien angemessen und sachgerecht", an ein "Fortschreiben der Untersuchung" werde gedacht.

DU-Munition wurde schon im Golfkrieg 1991 eingesetzt und steht im Verdacht, für das „Golf­syndrom“ von mindestens 130.000 US-Soldaten verantwortlich zu sein. Über 500 sind daran gestorben. Bis heute behauptet das Pentagon kategorisch, ein Zusammenhang sei „wissenschaftlich nicht beweisbar“ - trotz der überdurchschnittlich hohen Zahl von missgebildeten Kindern in den USA, deren Väter im Golfkrieg waren, und obwohl im Irak kurz nach Kriegsende eine um das Vierfache erhöhte Radioaktivität gemessen wurde.

Eskalationen durch den Krieg


Wie gesagt, begannen wahre Gewaltexzesse serbischer Milizen und Poli­zei erst nach Beginn des NATO-Krieges. 860.000 Flüchtlinge fliehen in Nachbarstaaten. Im April kam es zu einem Vertreibungsexzess an den Albanern, im Juli dann umgekehrt zu einem an Serben u.a. Nichtalbanern: In den ersten sieben Wochen nach Stationierung der KFOR werden nach Angaben des UNHCR 164.000 Serben vertrieben, ihre Häuser angezündet und gebrandschatzt. Von geschätzten 120 -150.000 Roma vor dem Krieg wird etwa die Hälfte bis November vertrieben, die Häuser ebenfalls zerstört und geplündert.

Als am 11.6. russische und NATO-Truppen ins Kosovo einmarschieren, bringen 200 russische Soldaten den Flughafen bei Pristina unter ihre Kontrolle. NATO-Oberbefehlshaber Clark gibt den Befehl, diese Soldaten anzugreifen (!), doch der britische KFOR-General Jackson verweigert die Ausführung des Befehls mit der Begründung, daß dies nicht den Beginn des Dritten Weltkrieg rechtfertigen würde.

Die taz berichtete am 21.8.2000 zum Kosovo:

Nahezu 350.000 Personen nicht albanischer Herkunft sind vertrieben worden, und die Gewalt gegen Minderheiten ist so notorisch, dass selbst der Leiter des bislang eher zurückhaltenden UN-Flüchtlingskommissariats UNHCR, Dennis McNamara, sie mittlerweile für systematisch hält. Täglich werden serbische Einrichtungen angegriffen, serbische Enklaven mit Granaten beschossen, werden Serben geschlagen, gekidnappt oder gar getötet. ... Obwohl jene Resolution 1244, mit der die internationale Verwaltung sich auf ein multiethnisches Kosovo verpflichtete, offiziell weiter gültig ist, glauben vor Ort selbst die hartgesottensten Idealisten nicht mehr an diese Vorgabe. ... Im März wurde dem aus ehemaligen UCK-Mitgliedern rekrutierten Kosovo-Schutzkorps TMK in einem vertraulichen UN-Report an Kofi Annan vorgeworfen, an Ausschreitungen gegen Minderheiten sowie an Schutzgelderpressung und Frauenhandel beteiligt zu sein. ... An der Kriminalitätsentwicklung ist der plötzliche Import des westlichen Lebensstils ... sicher nicht unschuldig. In Pristina leben die Albaner in heruntergekommenen Mietskasernen, während die westlichen Verwalter und Helfer in auffälligen weißen Neubauten residieren. ...


Das Interesse der NATO am Krieg


Im August 1998 kritisiert UN-Generalsekretär Kofi Annann NATO und EU, nichts zur Durchsetzung des Waffenembargos getan zu haben und Mitschuld an der Eskalation zu tragen.

Während am 23.9. der UN-Sicherheitsrat die serbische Gewalt in einer Resolution verurteilt, informiert am selben Tag der amerikanische UN-Botschafter den UN-Sicherheitsrat, daß die NATO – ohne UN-Mandat – ein militärisches Eingreifen plant (am Folgetag werden Luftangriffe angedroht). Am 12.10. gibt Clintons Sicherheitsberater Berger der Bundesregierung in Bonn 15 Minuten Zeit (!) für eine Zustimmung zum Krieg ohne UN-Mandat. Kurz nach der Zusage Bonns ergeht der NATO-Aktivierungsbefehl (die Zustimmung des Bundestages erfolgt am 16.10.). Obwohl im Hol­brooke-Milosevic-Abkommen vom 13.10. die Stationierung von 2000 OSZE-Beobachtern vereinbart wurde, verzögert der US-Leiter der OSZE-Mission, William Walker, alle Entscheidun­gen, so daß Mitte Februar – fünf Monate später - erst 1300 Mann vor Ort sind.

In den Rambouillet-„Verhandlungen“ (6.-23.2.99) werden der serbischen Seite von vornherein unannehmbare Bedingungen gestellt, unter anderem freier Zugang der NATO-Truppen in der ganzen Republik Jugoslawien und ein Kosovo-Referendum.

In einem Lagebericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 19.3. heißt es, die Serben würden die Zivilbevölkerung vor ihren Angriffen warnen; nach Abzug der serbischen Sicherheitskräfte kehre die Bevölkerung dann meist in die Ortschaften zurück, es gebe weder eine Massenflucht noch eine Vorsorgungskatastrophe (die bevorzugte Behandlung der angeblichen Unterlagen eines „Hufeisenplanes“ bewertet ein deutscher Nachrichtenoffizier: Die Politiker haben die ihnen vorliegenden geheimdienstlichen Analysen wohl ein wenig überzeichnet). - In einer Lageanalyse des Verteidigungsministeriums (Führungsstab, Referat FüS II 3) vom 23.3. heißt es: Es gibt keine Anzeichen für den Beginn einer Großoffensive gegen die UCK. Es gebe örtlich und zeitlich begrenzte Operationen, die auch in den nächsten Tagen anhalten würden. Zu einer groß angelegten Offensive gegen die UCK im gesamten Kosovo sind Armee und Polizei auch noch nicht fähig. Die UCK ihrerseits werde versuchen, durch ihre bisher angewandte Hit-and-Run-Taktik (serbische) Polizei und Militär zu massiven Reaktionen zu provozieren, um durch das Ausmaß an Zerstörungen und Flüchtlingen Luftangriffe der NATO auszulösen.

Obwohl diese Tatsachen bekannt sind, wurde genau das getan, was die UCK wollte: Am 24.3. setzten die gegen Jugoslawien bzw. die serbische Seite gerichteten NATO-Luftangriffe ein. Im deutschen Bundestag war es am 25.3. nur dem beherzten Eingreifen einiger Abgeord­neter zu verdanken, dass es im Parlament überhaupt zu einer Debatte über den am Vortag begonnenen Luftkrieg kam, während das Bundestagspräsidium dies zu verhindern suchte.

Willy Wimmer, der zur Zeit des NATO-Krieges Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE war, sagt am 10.2.2001 im DeutschlandRadio:

Alle Berichte, die das Verteidigungsministerium erstellt hat über die Abläufe vor dem Krieg, sind in der Regel sehr korrekt. Sie sind ja auch dem Parlament zugegangen, und deswegen sind sie ja bis heute einsehbar. Das, was die Berichte der deutschen Botschaft in Belgrad ausmacht, das ist alles nachzulesen, wird nur durch das Außenministerium unter Verschluss gehalten. Denn die öffentlichen Erklärungen, die der Außenminister abgegeben hat, die werden von diesen Berichten der deutschen Botschaft in Belgrad überhaupt nicht gedeckt. ... Wir haben eine schwierige, menschenrechtlich gravierende Situation im Kosovo gehabt im Zusammenhang mit einer bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzung. Und die OSZE-Mission, die dann schmachvoll ausziehen musste, hat - solange sie an Ort und Stelle war - dazu beigetragen, dass die Dinge sich beruhigten und dass sie auch einer politischen Lösung nähergebracht werden konnten. Da man die nicht wollte, musste die Mission ausziehen und musste im Prinzip ein Schei­tern deklarieren. ...  Man wollte den Krieg, das hat der Bundeskanzler im Oktober 1998 bereits dem Außenminister gesagt, sonst wäre er nicht Außenminister geworden. Das ist alles im SPIEGEL nachzulesen.


Die NATO hatte behauptet, ein Ziel dann nicht bombardieren zu wollen, wenn unter den NATO-Mitgliedern keine Einigung herrschte, d.h. wenn z.B. ein Angriffsziel von einem Land als "illegal" bezeichnet wurde. Mindestens aber bei dem sehr umstrittenen Angriff auf die serbische Radio- und Fernsehanstalt hielten die USA an der Aktion fest. So konnte der französische Außenminister Hubert Védrine erklären (BBC, 12.3.2000):

Alle Länder des Atlantischen Bündnisses haben im Rahmen der NATO gehandelt. Es gab eine Koordination und eine Diskussion über die Angriffsziele. Doch die USA haben darüber hinaus eine amerikanische Aktion durchgeführt. Dabei setzten sie nationale Gelder ein; die Entscheidungen kamen, wie die Kommandos, direkt aus den USA. Den europäischen Verbündeten waren diese zusätzlichen Einsätze nicht bekannt.


Propaganda und Lügen

 

Muss aber - anders als in Diktaturen - auch in Demokratien wirklich hingenommen werden, dass zur Sprache des Krie­ges Übertreibung und Täuschung, ja sogar die gezielte Manipulation der eigenen Bevölkerung gehören?
(Lutz-Mutz-Brief vom März 2001).

Die offiziellen Formulierungen

Gerhard Schröder am 24.3.99:

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, heute Abend hat die Nato mit Luft­schlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen. Damit will das Bündnis weitere schwere und systematische Verletzungen der Menschenrechte unterbinden und eine humanitäre Katastrophe im Kosovo verhindern. Der jugoslawische Präsident Milosevic führt dort einen erbarmungslosen Krieg. Wir führen keinen Krieg, aber wir sind aufgerufen eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen.


Vier Wochen später wiederholt Joschka Fischer: Wir führen keinen Krieg, wir leisten Widerstand, verteidigen Menschenrechte, Freiheit und Demokratie. Am 26.3. sagt Fischer im Bundestag, man habe nun wirklich alles versucht, um Belgrad eine Brücke zu bauen.


Rudolf Scharping am 27.3.99:

Wir wären ja auch niemals zu militärischen Maßnahmen geschritten, wenn es nicht diese humanitäre Katastrophe im Kosovo gäbe mit 250.000 Flüchtlingen innerhalb des Kosovo, weit über 400.000 Flüchtlingen insgesamt, und einer zurzeit nicht zählbaren Zahl von Toten.


Fischer zog den Vergleich mit Ausschwitz und sprach von der Deportation eines ganzen Volkes mit verbrecherischen Mitteln. Scharping sprach von "Völkermord", der "im Gange" sei, von "schwangeren Frauen mit aufgeschlitztem Unterleib", von "Konzentrationslagern im Norden von Pristina" – ohne wirkliche Beweise.

Die Zahlen, die zwischenzeitlich von NATO-Kreisen in Umlauf gesetzt worden waren (da war zunächst von 100.000 ermordeten Albanern, dann von 10.000 die Rede) erwiesen sich eindeutig als falsch. Trotz groß angelegter Suche nach "Massengräbern" im Kosovo - die Suche dauert nun schon neun Monate - gibt es keine brauchbaren Hinweise auf systematische Erschießungen oder auf die von Scharping während des Krieges geradezu lustvoll geschilderten unerhörten Grausamkeiten "entmenschter" serbischer "Horden" an albanischen Frauen, Kindern und sogar Föten. Man wird wohl davon ausgehen können, dass im Kosovo während des NATO-Luftkriegs nicht wesentlich mehr als 2.000 Menschen ums Leben kamen, worunter sich aber keineswegs nur Albaner befunden haben, sondern auch zahlreiche Serben. Zählt man die Kriegstoten im übrigen Jugoslawien hinzu (die sog. "Kollateralschäden"), so starben unter dem NATO-Krieg in zweieinhalb Monaten mehr Menschen, als in den zurückliegenden zweieinhalb Jahren verschärften Bürgerkriegs zwischen Serben und Albanern.
(Peter Strutynski)


Jamie Shea, Nato-Sprecher:

Die politischen Führer spielten nun die entscheidende Rolle für die öffentliche Meinung. ... Sie wussten, welche Nachricht jeweils für die öffentliche Meinung in ihrem Land wichtig war. Rudolf Scharping machte wirklich einen guten Job. Es ist ja auch nicht leicht, speziell in Deutschland, das 50 Jahre lang Verteidigung nur als Schutz des eigenen Landes gekannt hatte... Nicht nur Minister Scharping, auch Kanzler Schröder und Minister Fischer waren ein großartiges Beispiel für politische Führer, die nicht der öffentlichen Meinung hinterherrennen, sondern diese zu formen verstehen. ... Und jenseits der sehr unerfreulichen Begleiterscheinungen, der Kollateralschäden, der langen Dauer der Luftangriffe, hielten sie Kurs. Wenn wir die öffentliche Meinung in Deutschland verloren hätten, dann hätten wir sie im ganzen Bündnis verloren. - Und: Nach dem Angriff auf den Flüchtlingskonvoi bei Djakovica, dem ersten ‚Unfall' des Krieges, fiel die öffentliche Zustimmung in vielen Ländern, auch in Deutschland, um 20 bis 25 Punkte. Wir mussten sechs Wochen hart arbeiten, um die öffentliche Meinung zurückzugewinnen. Milosevic machte den Fehler, die Flüchtlinge aus dem Kosovo nach Albanien und Mazedonien zu treiben. An der Grenze waren Fernsehteams, die das Leiden filmten. Und so stellte sich die öffentliche Meinung wieder hinter die Nato.
(ARD, 8.2.2001).

Noch nie haben so wenige so viele so gründlich belogen wie im Zusammenhang mit dem Kosovokrieg. (Willy Wimmer)


Heinz Loquai im Herbst 2000:

Vom Verteidigungsministerium wurde die argumentative Marschroute ausgegeben, dass es sich bei den Luftschlägen der NATO nicht um Kriegshandlungen handeln würde, schließlich habe es ja keine Kriegserklärung gegeben. Wenn man dieses Argument gelten lässt, dann waren Hitlers Überfälle auf Polen und auf die Sowjetunion auch keine Kriege. ... Auffällig ist, dass die meisten Redner die alleinige oder hauptsächliche Schuld für die Krise auf jugoslawischer Seite sahen. Neben dieser einseitigen Schuldzuweisung ist eine extreme Personalisierung in Gestalt des jugoslawischen Präsidenten Milosevic zu beobachten. Nach offizieller Sprachregelung sollte mit dem Militäreinsatz eine humanitäre Katastrophe abgewendet werden. Dies stellte zwar eine Legitimierungsgrundlage für den Einsatz deutscher Streitkräfte dar, doch im Kern ging es um ein anderes Kriegsziel, u. a. auch um die Herbeiführung eines Machtwechsels in Jugoslawien und die Bestrafung eines Übeltäters, des jugoslawischen Präsidenten Milosevic. Dahingehend äußerte sich auch der damalige Außenministers in spe, Joseph Fischer, am 16. Oktober 1998, als in der denkwürdigen Sondersitzung des Deutschen Bundestages über den Zweck der geplanten Luftangriffe debattiert wurde.
Insgesamt muss festgehalten werden, dass die Information des Bundestages durch die Bundesregierung unzureichend gewesen ist. Information ist jedoch die Grundlage für alle Funktionen des Bundestages. Die Information der Parlamentarier war unpräzise, lückenhaft, ja sogar objektiv falsch. Insbesondere Scharping hat das Parlament über die tatsächliche Lage im Kosovo falsch informiert. Im Grunde genommen konnte das Parlament gar nicht wirklich beurteilen, ob sich eine humanitäre Katastrophe anbahnte, die es abzuwenden galt. ... Scharping hatte ja diejenigen, die seine Version des Hufeisenplans anzweifelten, als naiv, ahnungslos, dumm und böswillig bezeichnet. Auch ich fühlte mich von diesen Anwürfen betroffen. Deshalb legte ich in einem Fernseh-Interview dar, was mir in einem offiziellen Gespräch die Experten des Ministers über den angeblichen Hufeisenplan gesagt hatten. Dies stand in krassem Gegensatz zu dem, was Scharping vor der Öffentlichkeit und im Parlament behauptet hatte. Die Reaktion hierauf war bezeichnend. In Berlin, Bonn und Wien wurde eine üble Posse gegen mich inszeniert, und ich musste meine Tätigkeit bei der OSZE auf Betreiben des Verteidigungsministeriums aufgeben, obwohl das Auswärtige Amt und die OSZE mich dortbehalten wollten.

Racak („Monitor“ vom 8.2.2001)

Racak am 16. Januar 1999: William Walker, amerikanischer Leiter der OSZE-Beobachtermission im Kosovo, kam mit mehreren Kamerateams. Sie fanden 44 Tote. Ein Massaker, sagte Walker, wörtlich: Diese Leichen zu sehen, mit weggeschossenen Gesichtern, weil man ihnen die Waffen offenbar direkt auf den Kopf gesetzt hatte, 15 davon offenbar wie bei einer Exekution hingerichtet - da brauche ich einfach ein paar Minuten, um mich zu fassen, um meine Worte wieder zu finden. – Noch am 15.1. waren nachmittags die ersten OSZE-Beobachter eingetroffen, ohne etwas von einem Massaker zu bemerken. Bei Einbruch der Dunkelheit zogen sie wieder ab, die UCK brachte in der Nacht das Dorf wieder unter ihre Kontrolle. Am nächsten Morgen wurden die Leichen entdeckt. Walker traf gegen 13 Uhr, eskortiert von der UCK, am Fundort ein und beschuldigte dann vor laufenden Kameras die Serben, ohne eine weitere Untersuchung abzuwarten.

Die finnische Pathologin Helen Ranta hat in der Universität Pristina die Toten untersucht. Sie sagt:

Ich bin mir bewusst, dass man sagen könnte, die ganze Szene in diesem kleinen Tal sei arrangiert gewesen. ... Denn dies ist tatsächlich eine Möglichkeit. Diesen Schluss legen unsere ersten Untersuchungsergebnisse genauso nah, wie auch unsere späteren forensischen Untersuchungen, die wir im November 1999 direkt vor Ort vorgenommen haben. Und diese Schlussfolgerung haben wir auch direkt an den Gerichtshof nach Den Haag weitergegeben. Botschafter Walker kam am Samstag nach Racak, und es war seine persönliche Entscheidung von einem 'Massaker' zu sprechen. – Und weiter: Racak war damals ein Hochburg der UCK. Meiner Überzeugung nach gibt es genug Informationen, um nachzuvollziehen, dass es dort Gefechte zwischen der serbischen Armee und der UCK gegeben hat. Daran gibt es überhaupt keine Zweifel. Außerdem wurde mir mitgeteilt, und ich habe auch die Informationen darüber lesen können, dass UCK-Kämpfer dort an diesem Tag getötet wurden.


In einem vertraulichen Bericht des Bundesverteidigungsministeriums heißt es: Die Albaner waren vermutlich am 15.1.1999 während des Angriffs der serbischen Sicherheitspolizei gegen in der Ortschaft vermutete Angehörige der UCK getötet worden. Und einen Tag später, heißt es ergänzend: Der Leiter der KVM [der OSZE-Mission im Kosovo], Walker, räumte am 22.1.1999 in Pristina ein, dass ihm bei seinen Beobachtungen in Racak möglicherweise nicht alle Umstände der Ereignisse bekannt gewesen seien.

Entscheidend für Walker war, wie das angebliche „Massaker“ die öffentliche Meinung beeinflussen würde. Er selbst gibt zu:

Es hat die Meinung in Europa und in Nordamerika, einschließlich der OSZE, einschließlich der Europäischen Union, verstärkt, dass nun etwas geschehen musste. Es war der Anfang der Entwicklung, die schließlich zur Bombardierung führte.


In gleichem Sinne sagt Heinz Loquai:

Walker hat etwa 30 Journalisten um sich versammelt, ist mit denen dahin gefahren, und hat nach kurzer Zeit verkündet, dass es sich um ein Massaker der Serben handele. Zu dieser Zeit konnte er überhaupt noch kein Urteil fällen, aber dieses Urteil wurde von der OSZE übernommen, wurde von den Vereinten Nationen übernommen, wurde kritiklos von allen nationalen Regierungen übernommen. Die NATO kam am Tag darauf zu einer Sondersitzung zusammen, ein völlig ungewöhnliches Ereignis. Man kann schon sagen, mit diesem Verhalten hat Walker die Lunte zum Krieg gezündet.

Rugovo („Panorama“ 18.5.2000, ARD 8.2.2001)

Rugovo ist ein kleines Bauerndorf im südlichen Kosovo. Begonnen hatte die Geschichte auf dem Bauernhof von Shefget Berisha. Am 29. Januar 1999 hörten die Nachbarn von Shefget Berisha Schüsse.

Was war passiert? Ein Massaker der Serben an unschuldigen Zivilisten, sagte Rudolf Scharping. Bilder von 23 toten Albanern gehen um die Welt.

Remzi Shala sagt: Morgens kurz nach fünf ging es drüben im Haus meines Nachbarn Shefget Berisha los. Es waren Schüsse aus Maschinengewehren, drei oder vier Stunden lang.

Scharping notiert im Tagebuch: Auf dem Flug zum NATO-Gipfel in Washington hatten mir Mitarbeiter die Bilder von getöteten Kosovo-Albanern gezeigt. Beim Anschauen der Fotos Übelkeit. Ist Entsetzen steigerbar? Später bitte ich meine Mitarbeiter, die Bilder für eine der Pressekonferenzen vorzubereiten. Weiterhin sagt er: Wir haben sehr gut recherchiert und uns Bildmaterial besorgt, das OSZE-Mitar­bei­ter am Morgen gemacht haben zwischen sieben und acht Uhr. Und am 27.4. auf einer Pressekonferenz:

Was wir Ihnen hier zeigen, ich hatte ja schon gesagt, man braucht starke Nerven, um solch grauenhafte Bilder überhaupt ertragen zu können, sie machen aber deutlich, mit welcher Brutalität das damals begonnen wurde und seither weitergegangen ist. Wenn Sie sich mal solche Fotos anschauen, dann werden Sie auch sehr, sehr unschwer erkennen können, dass das in einem gewissen Umfang auch beweissichernd sein kann. Die Uniformen, die Sie da sehen, dass sind Uniformen der serbischen Spezialpolizei. Das macht auch deutlich, dass Armeekräfte und Spezialpolizei, später dann auch im Fortgang nicht nur diese, sondern auch regelrechte Banden freigelassener Strafgefangener und anderer, an solchen Mordtaten beteiligt sind.


Doch in dem geheimen Lagebericht des Ministeriums heißt es: Am 29. Januar 1999 wurden in Rugovo bei einem Gefecht 24 Kosovo-Albaner und ein serbischer Polizist getötet. Ein Gefecht unter Soldaten - kein Massaker an Zivilisten! Fernsehbilder eines westlichen Kamerateams unmittelbar nach den Ereignissen in Rugovo zeigen tote Albanern, daneben Gewehre. Die Toten tragen Militärstiefel, haben Mitgliedsausweise der UCK und tragen deren Rangabzeichen. Doch wurden diese Bilder vielleicht vorher von den Serben arrangiert? Scharping beruft sich auf OSZE-Beobachter, die als Erste am Ort gewesen seien.

Der erste OSZE-Beobachter vor Ort war der deutsche Polizeibeamte Henning Hensch. Er sagt:

In jedem Fall ist es richtig, dass der Verteidigungsminister noch am Tage der ersten Veröffentlichung, die ich selber auch gesehen habe in der Deutschen Welle, von mir darüber in Kenntnis gesetzt worden ist, dass die Darstellung, die da abgelaufen ist, so nicht gewesen ist.


Weiterhin: Die Leichen haben da zwar gelegen, aber sie sind dort hingebracht worden von den serbischen Sicherheitsbehörden, nachdem die eigentliche Tatortaufnahme - und das hängt wieder zusammen mit diesem Ermittlungsrichter - abgeschlossen war, nachdem beschlossen war: wir bringen die Leichen jetzt weg. Es gibt Fernsehbilder, die die Leichen noch verteilt im Ort zeigen. Es sind außerdem nicht Zivilisten, sondern UCK-Kämpfer. Henning Hensch berichtet genauer:

Am Tatort fanden wir einen roten Van, zerschossen, mit offenen Scheiben und insgesamt vierzehn Leichen in diesem Fahrzeug, und drei Leichen lagen außerhalb des Fahrzeuges. In der ‚Garage' genannten Stallung auf der Rückseite der Farm befanden sich fünf UCK-Fighter in den typischen Uniformen ..., die dort im zehn Zentimeter hohen Wasser lagen. Und dann ging es noch etwa 300 Meter weiter zu einem zweiten Tatort, an dem wir wiederum vier Leichen fanden, und darüber hinaus sind die Leichen, die der Verteidigungsminister zeigen ließ, dort von den serbischen Sicherheitsbehörden und von mir und meinen beiden russischen Kollegen abgelegt worden, weil wir sie von den verschiedenen Fundorten oder Tatorten zusammengesammelt hatten.


Heinz Loquai:

Es war auch ganz klar, dass das kein Massaker an der Zivilbevölkerung war, denn nach den OSZE-Berichten haben Kommandeure der UCK ja selbst gesagt, es seien Kämpfer für die große Sache der Albaner dort gestorben.

„KZ in Pristina“ (ARD 8.2.2001)

Die Serben sollen im Fußballstadion ein KZ für Kosovo-Albaner betrieben haben. Dazu Scharping am 28.3.99:

Wenn ich höre, dass im Norden von Pristina ein Konzentrationslager eingerichtet wird, wenn ich höre, dass man die Eltern und die Lehrer von Kindern zusammentreibt und die Lehrer vor den Augen der Kinder erschießt, wenn ich höre, dass man in Pristina die serbische Bevölkerung auffordert, ein großes ‚S' auf die Türen zu malen, damit sie bei den Säuberungen nicht betroffen sind, dann ist da etwas im Gange, wo kein zivilisierter Europäer mehr die Augen zumachen darf, außer er wollte in die Fratze der eigenen Geschichte schauen.


Wenn einer etwas dazu sagen kann, dann der kosovarische Politiker Shaban Kelmendi.
Von seinem Haus blickt man genau auf das Stadion, während des Krieges hat er Pristina keinen Tag verlassen. Er sagt:

Es hat damals dort keinen einzigen Gefangenen oder eine Geisel gegeben. Das Stadion hat immer nur als Landeplatz für Helikopter gedient.


Dennoch berichtet Scharping sogar noch in seinem späteren Kriegstagebuch von Tausenden, die hier interniert gewesen seien. Joschka Fischer rief zum Krieg mit den Worten: "Nie wieder Auschwitz!". Dazu Heinz Loquai: Hier muss ich mich wirklich beherrschen, weil der Vergleich mit Auschwitz und der Situation im Kosovo eine ungeheuerliche Behauptung ist. Man muss sich als Deutscher schämen, dass deutsche Minister so etwas getan haben, denn ein normaler Mensch, ein normaler Deutscher, wird vor Gericht zitiert, wenn er in derartigem Ausmaße Auschwitz verharmlost.

Scharping gibt zu:

Ich habe mich so geäußert, dass der Verdacht besteht, dass im Stadion von Pristina Menschen festgehalten werden. Das beruhte auf Zeugenaussagen ... Wir haben versucht, das aufzuklären. Bilder davon konnten wir nicht gewinnen.

Der Hufeisenplan (Hamburger Abendblatt, 21.3.2000, ARD 8.2.2001)

Kurz nach Kriegsbeginn ist die humanitäre Katastrophe tatsächlich da: Riesige Flüchtlingsströme, Folter und Mord.

Milosevic gibt nicht auf, die öffentliche Kritik wächst, Scharping steht politisch mit dem Rücken an der Wand. Da notiert er am 31.3. im Tagebuch: Mich elektrisiert ein Hinweis, dass offenbar Beweise dafür vorliegen, dass das jugoslawische Vorgehen einem seit langem feststehenden Operationsplan folgt. Fünf Tage später erhält Scharping von Joschka Fischer "ein Papier, das die Durchführung der `Operation Hufeisen´ belegt". Am 7.4. dann notiert er: Die Auswertung des Operationsplanes ‚Hufeisen' liegt vor. Endlich haben wir den Beweis dafür, dass schon im Dezember 1998 eine systematische Säuberung des Kosovo und die Vertreibung der Kosovo-Albaner geplant worden war, mit allen Einzelheiten und unter Nennung aller dafür einzusetzenden jugoslawischen Einheiten. Das offene Ende des Hufeisens ist links unten, nach Albanien gerichtet: einziger Fluchtweg für die Bevölkerung. Öffentlich sagt er am 7.4.:

Ich will Ihnen ausdrücklich auch für morgen ankündigen eine genaue Analyse dessen, was sich auf der Grundlage des Operationsplans Hufeisen in den Monaten seit Oktober 1998 im Kosovo vollzogen hat. Er zeigt sehr deutlich, dass in klar erkennbaren Abschnitten die jugoslawische Armee, die jugoslawische Staatspolizei begonnen hat, in der Zeit von Oktober bis zum Beginn der Verhandlungen in Rambouillet, die Vorbereitungen für die Vertreibung der Bevölkerung nicht nur zu treffen, sondern diese Vertreibung auch schon begonnen hat. Er zeigt im übrigen sehr deutlich das systematische und ebenso brutale wie mörderische Vorgehen, das seit Oktober 1998 geplant und seit Januar 1999 ins Werk gesetzt worden ist.


Der Hufeisenplan wird fortan zum Synomym für die „ethnische Säuberung“ der serbischen Sicherheitskräfte im Kosovo und macht alle Kriegsgegner mundtot, die darauf hinweisen, daß die massiven Vertreibungen im Kosovo erst nach Abzug der OSZE-Beobachter und Beginn der NATO-Luftangriffe begonnen hätten.

Am 8. April stellte der Generalinspekteur der Bundeswehr, Hans Peter von Kirchbach, die "wesentlichen Ergebnisse der Auswertung des `Hufeisen´-Planes" vor. Der Plan, so las er vor, heiße "Potkova". Das ist jedoch das kroatische Wort für Hufeisen, das serbische heißt "Potkovica". Kann man sich ernsthaft vorstellen, dass das serbische Militär in kroatischer Sprache einen solchen Plan verfasst?, fragte Gregor Gysi (PDS) im Bundestag, wo er mit seinen Zweifeln allein bleibt.

Es erscheint eine Broschüre des Verteidigungsministeriums. Schon seit Januar 1999 seien die Serben "planmäßig" vorgegangen. Doch das als Beleg gezeigte Foto von dem Dorf Randubrava zeigt als Aufnahmedatum April 1999! Dazu der Au­genzeuge Shaip Rexhepi:

Die Bewohner haben das Dorf am 25. März nach den Luftangriffen der Nato verlassen. ... Am 26. März hat es keine Dorfbewohner mehr hier gegeben, wir hatten sie alle in das Dorf Mamush gebracht. Dann erst beschossen uns die Serben mit Granaten. Wir waren UCK-Soldaten, wir haben uns verteidigt, aber es war unmöglich. ... Aber wir haben standgehalten so lange wir konnten. Hier aus meinem Dorf waren wir 85 UCK-Soldaten, aber es gab auch noch andere von außerhalb. Insgesamt waren wir hier 120 Soldaten... 


Scharping verteidigt seine Sicht:

Das sind Ergebnisse der Luftaufklärung... Im übrigen gibt es Zeugenaussagen, die man heranziehen kann, es gibt Menschen, die geflohen sind, es gibt andere, die zum Teil unter Lebensgefahr berichtet haben. Dazu gehörte in der Zeit vor dem Ausbruch der kriegerischen Maßnahmen auch das sehr vielfältige Informati­ons­angebot..., das über die unbewaffneten Beobachter der OSZE an uns herankam. (ARD 8.2.01)


Ein weiteres Foto zeigt das Dorf Sanhovici, das ebenfalls vor den Luftangriffen zerstört worden sein soll. Doch auch dieses Foto entstand erst im April (und tatsächlich heißt der Ort Petershtica). In der Broschüre heißt es: Zunächst stellt man (also die Serben) eine brennende Kerze auf den Dachboden, und dann öffnet man im Keller den Gashahn ... Dabei ist Propangas schwerer als Luft! (Als man Scharping damit konfrontiert, antwortet er: Dann würde ich Ihnen raten, diesen Test nochmals zu machen. Aber nicht mit einem Gashahn im Keller, sondern mit einer Flasche. - "Beides funktioniert nicht." - "Ja...?" Der Minister sitzt da und stiert, indigniert..., ARD 8.2.2001).

Der Augenzeuge Fatmir Zymeri sagt: Das war alles schon im Juni 1998 passiert. Damals waren da eine Menge Leute von der jugoslawischen Armee, die dort vom Dorf Zboc aus auf uns zu kamen. Aber wir hatten die Armee zurückgeschlagen. Dann hatten sie angefangen, uns mit schweren Waffen zu beschießen - vier Wochen lang. Es gab so gut wie keine Stelle mehr, wo keine Granate eingeschlagen war. Und die Kerzen auf den Dachböden? Nein, so gerieten die Häuser in unserem Dorf nicht in Brand. Das passierte auf unterschiedliche Art und Weise, aber nicht so. Die wurden anders in Brand gesetzt. Die Häuser hatten durch Granatenbeschuss Feuer gefangen, diese Fälle gab es. Das geschah, als die Granaten ins Heu einschlugen, auf die Zäune und so. (ARD 8.2.01).

In einer Neuauflage der Broschüre vom Mai 1999 fehlen der entsprechende Text als auch die Datenzeilen auf den Fotos...

Der für die militärische Beratung der OSZE-Mission zuständige General a.D. Heinz Loquai sagt am 18.5.2000 in „Panorama“:

Man hat mir im Verteidigungs­ministerium bei einem ausführlichen Gespräch über den Hufeisenplan gesagt, es lag kein Plan vor, sondern was vorlag, war eine Beschreibung der Operationen der serbischen Polizei und des serbischen Militärs in einem Bürgerkrieg... Diese Grafiken sind entstanden im deutschen Verteidigungsministerium, das hat man mir jedenfalls gesagt.


In einem weiteren Dokument des Verteidigungsministeriums heißt es ausdrücklich, der Plan sei "in seinen Details nicht bekannt" (so auch in einer vom Führungsstab der Streitkräfte FüS erstellten Dokumentation im Internet). Hauptziel der Operation Hufeisen ist aus Sicht der Geheimdienstexperten "die Zerschlagung bzw. Neutralisierung der UCK im Kosovo" (also keine ethnische Vertreibung!). Außenminister Joschka Fischer sagt am 15.4. im Bundestag: Sie mögen den Plan nennen, wie Sie wollen. Entscheidend ist doch die Frage, dass es bereits im letzten Jahr angefangen hat. Am 19.4. sagt Scharping in einer Sondersendung der britischen BBC: Das klare Ziel (des Hufeisenplans) ist die ethnische Säuberung des Kosovo und die Vertreibung der Zivilbevölkerung. In der gleichen Sendung erklärt jedoch der NATO-Oberbefehlshaber Wesley Clark, von einem solchen Plan nichts zu wissen. Warum hat Scharping sein Wissen nicht an die Bündnispartner und die NATO weitergegeben?

Am 5.4.00 sagt Scharping: Ich habe gesagt, es gibt diesen Plan, und es gibt eine Fülle von Kenntnissen darüber, dass dieser Plan existiert. Und diese Kenntnisse sind alle durch die Realität bewiesen. Seine Kritiker seien böswilllig und ahnungslos. Dazu Loquai: Ich habe sehr viele Berichte des Verteidigungsministeriums eingesehen. Ich habe alle OSZE-Berichte gehabt, und ich habe dieses sehr, sehr ausführliche und offene Gespräch im Verteidigungs­ministerium über den Hufeisenplan gehabt. Also ahnungslos war ich nicht.

Loquai hat inzwischen eine Studie verfaßt, für die er verschiedene Berichte nicht verwenden durfte. Er sagt dazu:

Ich hatte gebeten, für meine Studie die Berichte der Botschaft in Belgrad verwenden zu können, sie zitieren zu dürfen. Dieser Bitte wurde nicht entsprochen, weil, wie man sagte, diese Berichte politisch zur Zeit zu sensitiv sind. Wenn man die Berichte der Experten zum Beispiel dem Bundestag präsentiert hätte, hätte der Bundestag ein anderes Bild gehabt, als er es tatsächlich hatte zur Zeit des Kriegsbeginns. Und ich weiß nicht, ob dann die Abstimmungen so eindeutig verlaufen wären.


Noch im Frühjahr 2001 sagt Scharping: Wir hatten geheimdienstliche Informationen, ich erhielt sie Anfang April 1999 über den Außen­minister. Ich habe dann unsere Fachleute gebeten, nicht nur diese Informationen auszuwerten, sondern sie zu vergleichen mit den Erkenntnissen aus der elektronischen Aufklärung, also auch dem Abhören von Funkverkehr serbischer Einheiten und Paramilitärs. Das ist geschehen, und erst als dieser Abgleich gezeigt hat, dass die Informa­ti­onen richtig sind, haben wir sie auch öffentlich verwendet.

Österreichs Ex-Außenminister und späterer Bundeskanzler Wolfgang Schüssel räumte bereits im April 1999 ein, er habe Informationen des österreichischen Heeresnachrichtenamtes (HNA) an die Außenminister der EU-Staaten weitergegeben. Österreichs Ex-Verteidigungsminister Fasslabend antwortet auf eine Anfrage der Grünen, die Skizzen der Bundeswehr im Internet stellen nicht Planungen der Operation `Potkova´ dar, sondern eine grafische Aufarbeitung der von Januar bis April 1999 aus offenen Quellen erkennbaren Ereignisse. Ein österreichischer Geheimdienstmitarbeiter sagt, bei den Joschka Fischer überlassenen Papieren habe es sich um unstrukturiertes, analytisches Material eines Wissenschaftlers des bulgarischen Geheimdienstes gehandelt, das die Ereignisse im Januar und Februar 1999 wiedergebe. Auch die Erkenntnisse der Abhörung des militärischen Funkverkehrs in Jugoslawien seien nach Bonn gegangen. Gegenüber Reportern des Hamburger Abendblatts (Artikel am 20.3.00) sagte ein hoher Offizier des deutschen Verteidi­gungsministeriums süffisant lächelnd: Wir haben nie behauptet, dass es einen fertigen Plan gibt. Letztendlich habe eine Analyse gewisser Nachrichtendienste vorgelegen, nie etwas aus erster Hand.

Keine Aufarbeitung

Die PDS-Fraktion stellte am 22.3.2000 eine Große Anfrage zur Kriegsbilanz, die im Februar 2001 von der Bundesregierung immer noch nicht beantwortet worden war. Anläßlich der ARD-Dokumentation vom 8.2.2001 beantragte die PDS-Fraktion eine Aktuelle Stunde zur "Haltung der Bundesregierung zu aktuellen Berichten über die Gründe zum Eintritt in den Kosovokrieg". Diese wurde dann von den Parlamentarischen Geschäftsführern auf den nächsten Freitag als letzten Tagesordnungspunkt gelegt, wenn die Mehrzahl der Abgeordneten bereits in ihre Wahlkreise zurückreist. Tatsächlich saßen am nachmittag neben 20 PDS-Abge­ordneten noch ganze 27 Vertreter der anderen Parteien im Berliner Reichstag...

Die verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Angelika Beer, und zahlreiche weitere Abgeordnete erklärten, Racak sei keineswegs Kriegsgrund gewesen, sondern die Gesamtlage im Kosovo. Die PDS bezichtigte sie, die Vorgeschichte des Krieges außer acht zu lassen. Grünen-Fraktionssprecher Helmut Lippelt nannte die Vorgänge in Racak weiter ein Massaker. Das Gegenteil sei nicht feststellbar; auch sei es nicht von Bedeutung, ob unter den Toten auch UCK-Kämpfer gewesen seien. Reinhold Robbe (SPD) diffamierte Gregor Gysi einmal mehr als Verbrecher, weil der im April 1999 den Präsidenten Jugoslawiens, Slobodan Milosevic, besucht hatte. Den WDR-Bericht, der die Manipulation der Öffentlichkeit durch die Minister belegt, diffamierten mehrere Redner als „dubios“, „fragwürdig“ und „schlecht recherchiert“. Die Autoren des Fernsehbeitrags hätten sich zu „nützlichen Idioten“ der PDS und ihrer „Verschwörungstheorien“ über die NATO machen lassen. PDS-Vize Gehrcke betonte dagegen, daß keiner der aktuellen Berichte über Manipulationen während des Kosovo-Krieges bislang dementiert wurde. 

Wirkliche Interessen und Zukunftspläne

USA und NATO

Willi Wimmer (zur Zeit des Kosovokrieges Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE) nahm Ende April 2000 an einer Konferenz in Bratislava teil, die vom US-Außenministerium und dem American Enterprise Institute (außenpolitisches Institut der republikanischen Partei) zu den Hauptthemen Balkan und NATO-Ostexpansion veranstaltet wurde. Bei dieser Konferenz redeten hohe Vertreter der US-Regierung offen über ihre Pläne für die Neuordnung Europas. Anwesend waren zahlreiche Ministerpräsidenten sowie Außen- und Verteidigungsminister aus der Region. Am 2.5.2000 teilte Wimmer die brisanten Behauptungen dem Bundeskanzler mit. Die junge Welt veröffentlichte und kommentierte seinen Brief am 23.6.2001.

1. Von seiten der Veranstalter (US-Außenministerium und American Enterprise Institute) wurde verlangt, im Kreise der Alliierten eine möglichst baldige völkerrechtliche Anerkennung eines unabhängigen Staates Kosovo vorzunehmen.
Die  Schlußakte von Helsinki über „Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (OSZE) verpflichtet alle Unterzeichnerstaaten (die der NATO und des Warschauer Paktes), daß in Zukunft Staatsgrenzen in Europa nie wieder mit Gewalt verändert werden dürften.

2. Von den Veranstaltern wurde erklärt, daß die Bundesrepublik Jugoslawien außerhalb jeder Rechtsordnung, vor allem der Schlußakte von Helsinki, stehe.
 Jugoslawien gehörte zu den Erstunterzeichnern der Schlußakte von Helsinki. Doch als einzige Supermacht entscheiden die USA willkürlich, wer außerhalb der Schlußakte von Helsinki steht und wer nicht.

3. Die europäische Rechtsordnung sei für die Umsetzung von NATO-Überlegungen hinderlich. Dafür sei die amerikanische Rechtsordnung auch bei der Anwendung in Europa geeigneter.

4. Der Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien sei geführt worden, um eine Fehlentscheidung von General Eisenhower aus dem 2. Weltkrieg zu revidieren. Eine Stationierung von US-Soldaten habe aus strategischen Gründen dort nachgeholt werden müssen.
Anläßlich der alliierten Konferenz von Teheran 1944 entzogen die Westalliierten dem bereits legendären, serbischen Guerillaführer General Draza Mihailovic beim Kampf gegen die Deutschen ihre Unterstützung und setzten statt dessen auf den von Moskau vorgeschlagenen und bis dahin kaum bekannten Tito (der britische Doppelagent Klugmann verbreitete in Abstimmung mit Moskau die Legende, Mihailovic würde in Wirklichkeit mit den Deutschen zusammenarbeiten). So kam zum Kriegsende Jugoslawien und der ganze Balkan unter den Einfluß Moskaus statt des Westens...

5. Die europäischen Verbündeten hätten beim Krieg gegen Jugoslawien deshalb mitgemacht, um de facto das Dilemma überwinden zu können, das sich aus dem ... 'Neuen Strategischen Konzept' der Allianz und der Neigung der Europäer zu einem vorherigen Mandat der UN oder OSZE ergeben habe.
Damals erteilte sich die NATO erstmals selbst das Mandat zu militärischen „humanitären“ Interventionen.

6. Unbeschadet der anschließenden legalistischen Interpretation der Europäer, nach der es sich bei dem erweiterten Aufgabenfeld der NATO über das Vertragsgebiet hinaus bei dem Krieg gegen Jugoslawien um einen Ausnahmefall gehandelt habe, sei es selbstverständlich ein Präzedenzfall, auf den sich jeder jederzeit berufen könne und auch werde.
Die deutschen Beteuerungen eines „Ausnahmefalles“ entsprechen nicht der NATO-Realität.

7. Es gelte, bei der jetzt anstehenden NATO-Erweiterung die räumliche Situation zwischen der Ostsee und Anatolien so wiederherzustellen, wie es in der Hochzeit der römischen Ausdehnung gewesen sei.

8. Dazu müsse Polen nach Norden und Süden mit demokratischen Staaten als Nachbarn umgeben werden, Rumänien und Bulgarien die Landesverbindung zur Türkei sicherstellen, Serbien (wohl zwecks Sicherstellung einer US-Militär­präsenz) auf Dauer aus der europäischen Entwicklung ausgeklammert werden.
Seit es im Herbst 2000 Washington unter Einsatz von viel Geld gelungen ist, eine dem Westen genehme und unterwürfige Regierung in Belgrad zu etablieren, ist der zweite Teil sicherlich überholt.

9. Nördlich von Polen gelte es, die vollständige Kontrolle über den Zugang aus St. Petersburg zur Ostsee zu erhalten.
Rußland, das unter Putin die russischen Sicherheitsinteressen wieder energischer vertritt, bleibt in der Zange.

10. In jedem Prozeß sei dem Selbstbestimmungsrecht der Vorrang vor allen anderen Bestimmungen oder Regeln des Völkerrechts zu geben.
Auf diese Weise läßt sich fast jeder Staat zerstören, denn in fast jedem Staat gibt es ethnische Minderheiten oder Minderheiten, die sich als solche fühlen. Mit dem „Selbstbestimmungsrecht“ der Völker (so schon Wilson im ersten Welt­krieg) verschafft sich der Westen ein Instrument zur Zerschlagung fremder Staaten nach eigenem Gutdünken.

11. Die Feststellung stieß nicht auf Widerspruch, nach der die NATO bei dem Angriff gegen die Bundesrepublik Jugoslawien gegen jede internationale Regel und vor allem einschlägige Bestimmungen des Völkerrechts verstoßen habe.
Diese betrifft offensichtlich eine persönliche Stellungnahme Willy Wimmers gegen den NATO-Angriff.

Wimmers Brief endet:

Die amerikanische Seite scheint im globalen Kontext und zur Durchsetzung ihrer Ziele bewußt und gewollt die als Ergebnis von zwei Kriegen im letzten Jahrhundert entwickelte internationale Rechtsordnung aushebeln zu wollen. Macht soll Recht vorgehen. Wo internationales Recht im Wege steht, wird es beseitigt. Als eine ähnliche Entwicklung den Völkerbund traf, war der 2.Weltkrieg nicht mehr fern. Ein Denken, das die eigenen Interessen so absolut sieht, kann nur totalitär genannt werden.


Bereits 1993 hatte US-Präsident Bill Clinton die Grundzüge der US-Außenpolitik in einem geheimen Regierungsdokument festgelegt. Der Titel: "Mit den Vereinten Nationen wenn möglich, ohne sie wenn nötig". Darin heißt es:

Die Nato soll die Entscheidungskriterien für die UN festlegen und nicht umgekehrt.


Einer der wichtigsten politischen Berater der US-Regierung, Wayne Merry, hatte Zugang zu geheimen Planungsunterlagen der US-Regierung. Er sagt:

Manche Regierungsleute aus dem Außenministerium reden davon, dass Kosovo nur der Auftakt ist für zukünftige Kriege der Nato, die noch viel entfernter sein werden. Für Washington ging es nicht um die Demonstration der amerikanischen Führungsrolle in der Nato. Die wurde nie bestritten. Man wollte zeigen, dass die Nato überhaupt noch einen Zweck hat. Und dieser Zweck ist etwas ganz anderes, als die rein defensiven Aufgaben, für die die Nato gegründet wurde.
(ARD 8.2.2001).


28.4.99 Auf dem NATO-Gipfeltreffen zum 50. Jahrestag der NATO wird mitten im Krieg das „Neue Strategische Konzept“ unterzeichnet.
Außer den territorialen Grenzen der Mitgliedsstaaten „verteidigt“ nun die „neue“ NATO unscharf definierte Sicherheitsinteressen aller Art, die auch „den Zugang zu Rohstoffen“ umfassen –auch außerhalb des traditionellen Zuständigkeitsbereiches. Die neue Interessenssphäre erstreckt sich vom Kaspischen Meer über den Persischen Golf, über Nordafrika und den Atlantik.

Heinz Loquai im Herbst 2000:

Für die NATO selbst wurde das Kosovo immer mehr zu einer Arena, in der die Politik der NATO exemplarisch angewandt und auch getestet wurde, in der Konflikte zwischen der NATO und Russland sich offen zeigten, in der aber auch die unterschiedliche Politik einzelner NATO-Länder ihren Ausdruck fand und schließlich harmonisiert wurde. Die NATO war ja dabei, eine neue Strategie einzuführen, Einsätze außerhalb des Artikel 5 des NATO-Vertrages sollten in Zukunft ohne UN-Mandat möglich sein. Im Krieg gegen Jugoslawien setzte die NATO vorab ihre Strategie um. Bezeichnend hierzu ist, dass der amerikanische Präsident am 24. März 1999 in seiner Rede an das amerikanische Volk nicht die humanitäre Katastrophe, sondern die Glaubwürdigkeit des NATO-Bündnisses an die erste Stelle gestellt hat. Um jeden Preis sollte verhindert werden, dass die NATO - wie vorher die UN - als Papiertiger erschien.


In einem Manuskript eines Vortrages von Werner Ruf vom Dezember 1999 heißt es:

Für einen Krieg gibt es oft mehr als einen Grund. Und so mögen auch geo-strategische Interessen, das gar nicht immer so einvernehmliche Verhältnis zwischen den Europäern und der NATO-Vormacht USA eine Rolle gespielt haben. In dem hier zu behandelnden Zusammenhang ging es jedoch eindeutig darum, völkerrechtlich den Präzedenzfall zu schaffen, daß die Vereinten Nationen nicht mehr gebraucht werden, daß ihr Mandat nicht mehr gebraucht wird. Das ist letztlich nicht ganz gelungen, weil - entgegen den westlichen Kalkulationen - das Milosevic-Regime in Belgrad nicht unter den NATO-Bomben kapitulierte, sondern neue Legitimität in der Bevölkerung fand. So kam es schließlich zur russisch-finnischen Vermittlung, und die NATO sah sich gezwungen, ihre Aggression gegen Jugoslawien zu beenden und für die KFOR-Mission im Kosovo ein Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen einzuholen. ... "Humanitäre Intervention", wie der Anspruch auf souveräne, dem Stand der Entwicklung des Völkerrechts widersprechende Kriegführung heute genannt wird, ist nichts anderes als die Rückkehr zur alten Formel vom gerechten Krieg, ist Rückkehr in eine Zeit, als das Völkerrecht noch den Krieg als Mittel der Politik eines souveränen Staates respektierte. Ob humanitär, ob präventiv, ob gerecht: Es geht darum, ob wir in jene Zeit zurückfallen oder zurückgebombt werden, in der jeder das Recht hat, einen Krieg zu führen. Und hätte es 1938, als Hitler die Tschechei überfiel, schon den Begriff der humanitären Intervention gegeben, Hitler hätte eine prächtige Legitimation gehabt, um die sudetendeutsche Minderheit vor der tschechischen Mehrheit zu schützen. Solches Recht und solche Legitimation wird man immer finden können, wenn man nur will.

USA und Europa

Ausführlich geht bereits 1999 Jürgen Rose, Oberstleutnant der Bundeswehr, in einer Analyse auf die Hintergründe des Kosovo-Krieges, unter anderem in bezug auf das Verhältnis zwischen den USA und Europa ein (in: Wissenschaft und Frieden, Nr.3/99):

Der Einfluss der USA war entscheidend dafür, dass die NATO im März 1999 angesichts der serbischen Repressions- und Vertreibungspolitik gegenüber der albanischen Bevölkerungsmehrheit im Kosovo einen völkerrechtlich sehr zweifelhaften Angriffskrieg aus "humanitären Gründen" gegen die Bundesrepublik Jugoslawien - ein souveränes Mitglied der Vereinten Nationen - eröffnete, nachdem die Vereinigten Staaten die Glaubwürdigkeit desjenigen Instruments [eben die NATO] in Gefahr gesehen hatten, das sie im Hinblick auf Europa traditionell als das wichtigste und ntscheidende ihrer Diplomatie, ihrer Führung und ihres Einflusses...betrachten. Zugleich gelang es den USA, im "Neuen Strategischen Konzept" der NATO vom Frühjahr 1999 die unter den europäischen Partnern mitnichten unumstrittene Kriseninterventionsrolle der Allianz auf Dauer festzuschreiben. ... Erstmalig ist es auf Druck der USA gelungen, eine kriegerische Intervention durch die Nordatlantische Allianz ohne ein Mandat der UNO oder der OSZE ins Werk zu setzen. ... "Der Internationale Gerichtshof, die UNO und andere Institutionen seien unerheblich geworden, erklärten die obersten US-Behörden unumwunden, weil sie nicht länger den US-Vorgaben folgen würden, wie dies noch in den ersten Nachkriegsjahren der Fall war." ... Zugleich wurde durch den Beschluss der NATO zum Angriff auf die Bundesrepublik Jugoslawien ein Präzedenzfall für die Selbstmandatierung des zentralen Instruments amerikanischer Machtprojektion für internationale Krisen- und Kriegsinterventionseinsätze in zukünftigen Konflikten geschaffen.

Im Verlaufe des Luftkrieges über Jugoslawien wurden sowohl die Kohäsion und Solidarität der Atlantischen Allianz, inklusive ihrer gerade erst beigetretenen Neumitglieder, als auch die militärische Effektivität und technologische Suprematie des mächtigsten Militärbündnisses der Welt eindrucksvoll demonstriert. ... Zugleich untermauert die siegreiche Beendigung des Krieges zu den von der NATO diktierten Konditionen die Führungsrolle und den absoluten Dominanzanspruch der USA im Bündnis selbst, da diese nahezu alle Schlüsselressourcen, angefangen von Mitteln strategischer Aufklärung über Luftbetankung und elektronische Kriegführung bis hin zu präzisionsgelenkter Munition, bereitgestellt hatten. Darüber hinaus wurde der Prozess der Zielaufklärung, Zielauswahl und Zielplanung für den Luftkrieg völlig von amerikanischen Akteuren kontrolliert. ... Da die Verfügungsgewalt über derartige Waffensysteme nahezu ausschließlich bei den amerikanischen Streitkräften liegt, wird die Federführung hinsichtlich der Fortentwicklung der Strategie und operativen Konzeptionen der NATO auf absehbare Zeit bei den USA verbleiben. ... Einen entscheidenden Faktor schließlich für die strategische Konzeption ihrer Südosteuropa-Politik stellte für die amerikanische Administration das Verhältnis der Vereinigten Staaten von Amerika zur aufstrebenden Europäischen Union dar. ... Zuletzt haben die europäischen Staats- und Regierungschefs auf dem EU-Gipfel in Köln Javier Solana zum Generalsekretär für ihre "Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik" bestimmt und beschlossen, auf dem eingeschlagenen Weg zur Militärmacht Europa schneller voranzuschreiten ...

Mit dem Interventionskrieg im Kosovo gelang es den USA in hervorragender Weise, die Europäische Union intensiv und auf lange Sicht in die Konfliktlagen auf dem Balkan zu verstricken, denn in­dem die USA die Kompetenz für die operationelle Durchführung dieses Krieges reklamierten, schoben sie zugleich den Europäern die Verantwortung für den Wiederaufbau und die zukünftige Entwicklung der Region zu. ... Im Vergleich zu den damit verbunden Kosten - ... der UN-Beauftragte für den Kosovo, Bernard Kouchner, geht von mindestens 60 Mrd. Dollar aus, während sowohl die jugoslawische Regierung als auch eine Studie der Universität der Bundeswehr München von 100 Mrd. Dollar, die zur Beseitigung der Kriegsschäden notwendig sind, sprechen - stellen die seitens der USA in diesen Krieg investierten Aufwendungen - Schätzungen lauten auf 4 Mrd. Dollar - in der Tat "Peanuts" dar. ... Für die Europäische Union resultiert ... das Dilemma, dass ihr all jene Ressourcen, die sie zur Befriedung und Entwicklung der südosteuropäischen Konfliktregion investieren muss, natürlich auf anderen Gebieten, insbesondere für die anstehende Osterweiterung und den Aufbau eigener militärischer Optionen, fehlen. ... Als Fazit vorstehender Analyse resultiert, dass der Interventionskrieg der NATO gegen Jugoslawien mitnichten jener aus rein humanitären Motiven geführte "Kreuzzug für die Menschenrechte" war, als der er der Weltöffentlichkeit verkauft wurde.

Europa und Deutschland

Welche Folgen hat die Aufstellung einer europäischen, von der NATO unabhängigen europäischen Streitmacht, seien es nun multinationale Korps oder der Ausbau der WEU zum militärischen Arm der EU? ... Was heißt die viel beschworene Gemeinsame Europäische Außen- und Sicherheitspolitik, die sog. GASP, wenn diese Außen- und Sicherheitspolitik nur diskutiert wird unter dem Aspekt der Remilitarisierung Europas ... ? Was bedeutet es, wenn der ehemalige Generalsekretär der NATO, Solana, jetzt zum Generalsekretär der WEU in Personalunion mit dem Repräsentanten der Gemeinsamen Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik gemacht werden soll? Ist denn das Instrument europäischer Außen- und Sicherheitspolitik nur noch das Militär? ... Wenn die Bundesrepublik Deutschland eine zivile Außenpolitik entwickelt hätte oder entwickeln würde und auf zivile Mechanismen gesetzt hätte, worauf viele Menschen bei der letzten Bundestagswahl gehofft hatten, dann hätte die Bundesrepublik Deutschland eine Führungsrolle in Europa übernehmen können. Viele der kleinen europäischen und neutralen Staaten, skandinavische, Österreich, vielleicht auch die Niederlande, hätten sich dem anschließen können, und man hätte eine Alternative zu einer Politik formulieren können, deren Versagen offenkundig ist: Mit militärischen Mitteln sind die Konflikte der heutigen Zeit nicht zu lösen. ... Dies hätte der aufklärerischen Mission eines zivilisierten Europa, wie sie schon Immanuel Kant beschrieben hat, besser entsprochen. Hier könnten noch immer Alternativen entwickelt und Maßstäbe gesetzt werden, die nicht nur die Normen des Völkerrechts sichern helfen, sondern die auch USA bewegen könnten, die Grundsätze ihrer militarisierten Außenpolitik zu überdenken.
(Manuskript eines Vortrags von Werner Ruf, Dezember 1999).


Im Lutz-Mutz-Brief vom März 2001 geht es um die Frage nach der Aufgabe des Militärs in Europa und Deutschland:

...Oder soll die EU nur militärisch dasselbe können, was auch die NATO kann? Zu denken geben muss, dass die organisatorische und materielle Ausgestaltung der Europäischen Sicherheitspolitik bereits feste Umrisse annimmt, während sich über die Definition der Aufgaben kaum jemand Gedanken zu machen scheint. Erst wenn darüber Klarheit bestünde, wäre zu entscheiden, ob die Europäische Union das alles braucht, was die Rüstungslobby ihr aufreden möchte: Strategische Aufklärung, Langstreckentransportmittel, Luftbetankung, Lenk- und Abstandswaffen, zielsuchende Munition, Allwetter- und Nacht-kampffähigkeit, Technologien zur Erringung von Luft- und Gefechtsfelddominanz.
Was für die Europäische Union gilt, trifft im übrigen auch auf die deutsche Politik zu. Das Defizit der europäischen Sicherheitsdiskussion wiederholt sich im Kleinen auf der nationalen Bühne. Bundestagsdebatten kreisen - wenn sie, allzu selten genug, zu Fragen von Frieden und Sicherheit überhaupt stattfinden - um die Rolle von Frauen in Kampfeinheiten oder um die Schließung überzähliger Bundeswehrstandorte, ohne die Kernthematik künftiger deutscher Sicherheitspolitik auch nur zu streifen: Wer oder was gefährdet die Sicherheit der Bundesrepublik? Wer oder was bedroht ihre Verbündeten? Was können Streitkräfte und Rüstungen dagegen ausrichten? Welcher militärischen Abstützung bedarf möglicherweise zivile Krisenprävention? Was ist folglich der Auftrag der Bundeswehr?

Es wäre eine groteske Lehre aus dem Balkan-Debakel, wenn sich Deutschland gemeinsam mit seinen europäischen Partnern für ausgerechnet denjenigen Typ gewaltsamer Krisenintervention wappnen würde, der im Kosovo gerade spektakulär gescheitert ist. Die Luftangriffe vom Frühjahr 1999 haben Werte in Höhe vieler Milliarden vernichtet - von den Opfern an Menschenleben ganz zu schweigen -, aber sie haben nicht einmal 20 jugoslawische Kampfpanzer zerstört. Drei Jahre zuvor, im Juni 1996, kamen die regionalen Rüstungskontrollverhandlungen der Dayton-Staaten zum Abschluss. Als Ergebnis der Übereinkunft, die wesentlich auf deutsche Initiative zurückging, hat die jugoslawische Armee 420 Panzer verschrotten müssen ...
Ausschließlich die Landes- und Bündnisverteidigung einerseits und die Mitwirkung an friedenssichernden Missionen im Auftrag der internationalen Rechtsgemeinschaft andererseits sind die beiden Aufgaben, die den Einsatz militärischer Streitkräfte legitimieren. Eine realitätskonforme Bedarfsanalyse, die den Umfang, die Ausrüstung und den Finanzrahmen der Bundeswehr daran bemisst, steht aber noch immer aus. Größe, Einwohnerzahl, Wirtschaftskraft und politisches Gewicht eines Landes sind hingegen ebenso wenig legitime Richtgrößen für nationale Armeen und Rüstungen wie das Argument, die wiedererlangte Souveränität verpflichte Deutschland zu mehr militärischem Engagement. Souveränität beweist ein Staat, der die Streitkräfte vorhält, die er wirklich braucht. Souveränität lässt vermissen, wer sich Streitkräfte leistet, die er seinem Status schuldig zu sein glaubt. ...


„Spätfolgen“


Ein Kommentar in der jungen Welt vom 10.6.2000 schildert ein Jahr nach Ende des NATO-Krieges die Situation aus der Sicht Belgrads:

Am 10. Juni vor einem Jahr verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1244, mit der die völkerrechtswidrige Aggression der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (BRJ) beendet wurde. ... Am Mittwoch dieser Woche forderte nun der jugoslawische Ministerpräsident Momir Bulatovic vom UN-Sicherheitsrat, die KFOR und die UN-Kosovoverwaltung (UNMIK) wegen systematischer Verletzung der Resolution 1244 abzuziehen. Überraschend kommt diese Forderung nicht, hat doch die jugoslawische Regierung in den letzten zwölf Monaten immer wieder auf die Nichterfüllung und flagrante Verletzungen der UN-Resolution und auch des militärisch-technischen Abkommens mit der NATO aufmerksam gemacht. Dabei geht es in erster Linie um die Mißachtung der Souveränität und territorialen lntegrität der BRJ ... In insgesamt fünf Memoranden an den Sicherheitsrat und Kofi Annan, den Generalsekretär der UNO, hat Belgrad immer wieder nachgewiesen, daß die Tätigkeit von UNMIK-Chef Bernard Kouchner darauf gerichtet ist, alle Verbindungen zwischen Kosovo und der Republik Serbien und der BRJ zu unterbrechen bzw. auf die Herauslösung der Provinz aus dem Verfassungs- und Rechtssystem, der Wirtschafts- und Finanzordnung und dem Verwaltungsapparat Jugoslawiens hinzuarbeiten.

Die Tätigkeit von UNMIK und KFOR sei darauf gerichtet, die mit militärischen Mitteln nicht erreichte Okkupation des Kosovo nachträglich zu realisieren. Dazu gehörten die Bildung eines provisorischen Administrationsrates (de facto eine Gebietsregierung), der sich fast ausschließlich aus Albanern zusammensetzt, die Ausgabe von neuen Personaldokumenten unter Mißachtung der Zuständigkeit der jugoslawischen Organe und die Schaffung eines eigenen Rechtssystems, obwohl die Resolution 1244 die Zuständigkeit des jugoslawischen ausdrücklich bestätigt. Eine grobe Verletzung der Souveränität Jugoslawiens stelle auch der Aufbau von Militärbasen durch die KFOR - z.B. das US-Camp Bondsteel - und die Durchführung von Militärmanövern ohne Zustimmung jugoslawischer Behörden dar. Die Errichtung ausländischer paradiplomatischer und konsularischer Vertretungen in Pristina, selbst von Staaten, mit denen die BRJ keine diplomatischen Beziehungen unterhält, sei zudem eine Verletzung der Wiener Konvention über diplomatische und konsularische Beziehungen, heißt es im letzten Belgrader Schreiben an die UN von Ende Mai.

Eine besonders folgenschwere Verletzung der Resolution 1244 sei die Umwandlung der terroristischen UCK in das sogenannte Kosovo-Schutzkorps gewesen. Dies komme einer Legalisierung der »Kosovo-Befreiungs­armee« gleich und sei die Hauptursache für die ständige Verschärfung der Krise in dem Gebiet. Nach Belgrader Angaben wurden seit dem 10. Juni 1999 insgesamt 350.000 Menschen, davon mehr als 200.000 Serben aus dem Kosovo vertrieben und über 1.000 Menschen ermordet, darunter auch Albaner, die sich nicht der UCK-Herrschaft unterwerfen wollten. Mehr als 900 Menschen seien verschleppt worden und würden in Arbeitslagern und Gefängnissen der UCK unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten. Trotz zahlreicher konkreter Hinweise darauf, wo sich diese Lager befänden, sei bisher nichts unternommen worden, um diese Menschen zu befreien. Hinzu käme, daß Serben und Angehörige anderer nichtalbani­scher Volksgruppen systematisch von ihren Arbeitsplätzen vertrieben worden seien. Dies werde von UNMIK nicht nur toleriert, sondern teilweise sogar offen unterstützt. ...


Grundsätzliche Kritik an Interventionen


Peter Strutynski schreibt:

Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien kann also kaum als Beispiel dafür herangezogen werden, dass mit Krieg ein Beitrag zur Verteidigung von Menschenrechten geleistet werden könne. Das zeigt übrigens auch die Zeit nach dem Ende der Bombardierungen: Die bis zu 50.000 Mann starken KFOR-Truppen waren und sind nicht in der Lage oder nicht willens, Morde an Serben, Roma und anderen Volksgruppen im Kosovo zu verhindern und ethnische Säuberungen zu stoppen. ... Dennoch hält sich...auch in Teilen der Friedensbewegung und Friedenswissenschaft hartnäckig die These, dass es grundsätzlich Situationen geben könne, in denen bei schweren inneren Konflikten in einem Land erst militärisches Eingreifen von außen Frieden schaffen und damit die Einhaltung von Menschenrechten gewährleisten könne. Die bisherigen Erfahrungen mit UN-mandatierten Militäreinsätzen spricht allerdings dagegen:

- Der Militäreinsatz in Somalia (1993/95) hat weder eine Beruhigung der Situation im Land noch die erhoffte politische Stabilisierung gebracht. In Somalia herrschen heute dieselben Clans, dieselben Konflikte, dasselbe Chaos und dieselbe soziale Misere wie vor dem Eingriff. Und der Brunnen, den deutsche Soldaten in Belet Huen ... angelegt hatten, war schon vor ihrem Abzug aus Somalia wieder versiegt. Seit 1995 ist sogar die durchschnittliche Lebenserwartung der Bevölkerung weiter gesunken und weist mit 47 Jahren einen der niedrigsten Stände der Welt auf ...
- In Bosnien hat das Eingreifen der US-Luftwaffe 1995 die Vertreibung von rund 200.000 Serben aus der Krajna unterstützt und damit geholfen ein "ethnisch sauberes" Kroatien zu schaffen. Und auch Bosnien selbst ist noch vier Jahre nach dem Dayton-Abkommen von einem wirklichen Frieden himmelweit entfernt. Das Land ist in drei ethnisch klar abgegrenzte Teile gespalten, deren imaginäre Einheit von der dauerpräsenten SFOR eher vorgetäuscht als hergestellt wird.
- Der Golfkrieg 1991 und die ihm nachfolgenden Sanktionen gegen Irak haben weder zur Stabilisierung des Nahen Ostens beigetragen noch eine "Zivilisierung" des skrupellosen Willkürregimes von Saddam Hussein bewirkt. Die Opfer hingegen, die im Gefolge des Krieges und des UN-Embargos unter der Zivilbevölkerung zu beklagen sind, gehen in die Hunderttausende ... Die menschliche Not im Irak ist so groß geworden, dass inzwischen auch der letzte Koordinator des Öl-für-Nahrung-Programms, der deutsche Diplomat Hans von Sponeck, sein Amt aus Protest gegen die Embargopolitik niedergelegt hat

(Interview im Spiegel 8/2000).


Die verzerrte Berichterstattung im Jugoslawienkrieg 1992-95


Die Medien der früheren jugoslawischen Teilrepubliken Kroatien und Serbien forcierten Ende der Achtziger Jahre unter der Kontrolle der jeweiligen Präsidenten Tudjmann und Milosevic die Eskalation des damals innerjugoslawischen Konfliktes durch eine ethnisierte Darstellung. Mit Lügen, Verdrehungen und dramatisier­ten Fernsehbildern wurden auf allen Seiten unüberwindbare ethnische Gegensätze konstruiert und die Opfer des eigenen Volkes hervorgehoben. Ähnlich wie später im Westen wurde von allen Parteien gefordert, daß "etwas getan werden müsse". Mit der Anerkennung Kroa­tiens im Winter 1991/1992, zuerst durch Genscher, war der Konflikt endgültig internationalisiert (die deutsche Anerkennung zerschlug übrigens dem EU-Beauf­tragten Lord Carrington das wichtigste diplomatische Druckmittel gegenüber Milosevic).

Um den Lesern, die meistens wenig über die Verhältnisse innerhalb Jugoslawiens wußten, den hochkomplexen Konflikt zu erklären, wurden schwierige Zusammenhänge aufs Äußerste reduziert. Zum Verständnis erschienen auch klare Etiketten erforderlich: hier die Täter, dort unschuldige Opfer: Die Wahrheit durfte nie in der Mitte liegen, und - noch wichtiger - nie länger als ein Satz sein, so der Balkankorrespondent Jens Schneider (Anmerkungen zum Journalismus im Krieg, Süddeutsche Zeitung, 19.2.94). Der renommierte BBC-Korrespondent Misha Glenny sagt:

Die Berichterstattung der deutschsprachigen Medien ist im allgemeinen bodenlos schlecht gewesen. ... Hunderte Reporter fielen über das Land her, nachdem die Kämpfe schon begonnen hatten. Sie kamen mit geringem oder keinem Wissen über die politischen Hintergründe diesen Konfliktes. Die moralische Empörung habe dazu geführt, dass kaum noch Platz in der Berichterstattung bleibe, um die politischen Verhältnisse zu beschreiben, die zum Verhalten der Serben führten
(Weltwoche, 3.3.94).


Die erste Station einer Nachricht bilden oft Augenzeugen, die erst gedolmetscht und eventuell mittels eines einheimischen Pressebetreuers gefunden werden müssen. Der Korrespondent ist immer von seinem Vorwissen, den Aufträgen und dem Bedarf der Heimatredaktionen abhängig. Der zuständige Redakteur, die letzte Station auf dem Weg der Nachricht, der seine Meinung auch mit Hilfe der inländischen Medien und der dort geführten öffentlichen Diskurse bildet, kann den Text redigieren. Schließlich hängt die Wahrnehmung des gedruckten oder gesendeten Berichts durch den Empfänger stark von der herrschenden Meinung, dem Wissen über die Begründung anderer Positionen und seinem Bedarf an Orientierung ab. Bei jeder Station besteht die Gefahr, daß die Nachricht einen Filter durchläuft, der sehr oft nach ethnischen Kategorien in Gut und Böse bzw. Opfer und Täter einteilt. Die Wahrnehmung einzelner Geschehnisse basierte oft auf der falschen Annahme, es handele sich um einen ethnischen Konflikt, obwohl massive Veränderungen der politischen und ökonomischen Machtverteilung die Ursache für die darauffolgende Ethnisierung waren - und nicht umgekehrt. Der Einteilung dieses Filters widersprechende Informationen können ausgelassen, verdreht oder als Propaganda stigmatisiert werden, während Informationen, die das Gesamtbild der eigenen Wahrnehmung belegen, unterstützt, eher geglaubt und weniger überprüft werden. Dies kann bei jedem Augenzeugen, Pressebetreuer, Dolmetscher, Korrespondenten, Experten, Redakteur oder Leser moralisch, wirtschaftlich, politisch oder einfach dadurch motiviert sein, einen komplexen Krieg endlich einfach erklären zu können.

Der Kriegsberichterstatter Rolf Paasch der Frankfurter Rundschau erzählte von seiner Recherche in einem albanisch-serbischen Dorf über Vertreibungsgerüchte. Eine albanische Übersetzerin berichtete von der vollständigen Vertreibung der albanischen Bevölkerung. Eine zweite serbische Übersetzerin habe schließlich genau das Gegenteil berichtet. Und am Ende des Tages hast Du zwei verschiedene Geschichten und weißt nicht, welche wahr ist. ... Man muss wissen, daß man von allen Seiten belogen wird. Das gelte für die serbische Seite, für die NATO, aber auch für die Flüchtlinge, die unter Druck stünden und traumatisiert seien. Auch sie folgten einer bestimmten Interessenlage und sagten unabsichtlich oder absichtlich die Unwahrheit (Frankfurter Rundschau, 2.6.99). In Zagreb, Sarajevo und Belgrad gab es Pressebetreuer und Pressezentren, die Journalisten vor Ort herumführten und beispielsweise den Kontakt zu Opfern oder Vertretern von politischen Institutionen herstellten (taz 29.7.91). Auf organisierten Touren zu den "Schlachtfeldern" des Bürgerkriegs erhielten Journalisten nicht so sehr Einzelheiten über den Kampfverlauf, dafür aber um so mehr Ideologie und Propaganda geliefert. Die Betreuung durch die Informationsministerien in Zagreb und Sarajevo war sehr viel kooperativer und mit besserem technischen Voraussetzungen ausgestattet als das gerade halbe Dutzend Mitarbeiter des Belgrader Informationsministeriums. Die früheren Kommunisten in Belgrad fühlten sich zudem schnell durch die feindlich gesinnte internationale Presse in ihrem Argwohn gegenüber den Journalisten bestätigt. Nicht zu unterschätzen ist der Einfluß der persönlichen Meinung des recherchierenden Journalisten und seiner Heimatredaktion im Westen, wobei die Ergebnisse um so weniger streng und skeptisch überprüft werden, je mehr sie dem Mainstream des jeweiligen öffentlichen Diskurses entsprechen und umgekehrt. Als zum Beispiel der Journalist Peter Brock in der Weltwoche den Medien eine probosnische Berichterstattung vorwarf, sagte ein CDU-Abgeordneter: Das erinnert mich an die Auschwitz-Lüge. Der Mann ist pervers und gefährlich. (Die Woche, 10.2.94). Der zuständige Redakteur verlor fast seine Stelle...

Am 3.8.1992 erschien im New Yorker Nachrichtenmagazin Newsday der Bericht des Reporters Roy Gutman über die serbischen "Konzentrationslager" Omarska und Brcko, der auf den Aussagen von zwei Insassen beruhte. Am 6.8. brachte der britische Fernsehsender International Television Network (ITN) das weltbekannte Bild des abgemagerten Bosniers Fikret Alic, der durch einen Stacheldraht blickte. In den Nachrichtensendungen wurde dieses Bild durch kommentierende Interviews mit US-Senatoren und Archiv-Material immer wieder in Verbindung mit den Nazi-KZ´s gebracht. Tags darauf ging dieses Bild um die Welt. "Sie verhungern wie Vieh", titelte der Spiegel. "Der Beweis" kommentierte die Daily Mail unter besagtem "KZ-Bild". Daß zur selben Zeit das IKRK alle Kriegsparteien - also auch die bosnische Seite - anklagte, eklatante Menschenrechtsverletzungen in eingerichteten Lagern zu begehen, wurde nicht erwähnt. Im Verlauf der Berichte forderten US-Senatoren in einer Resolution den Einsatz aller "notwendigen Mittel", einzelne gleich die Bombardierung serbischer Stellungen. Der damalige Präsidentschaftskandidat Bill Clinton hielt spontan eine Pressekonferenz ab, auf der er die militärische Absicherung von Hilfsgütern forderte (taz 8.8.92). Die großen anerkannten jüdischen Interessenorganisationen der USA forderten in einer Anzeige der New York Times und anderer US-Zeitungen, den Grausamkeiten in den serbischen Todeslagern Einhalt zu gebieten. Als Reaktion auf die öffentliche Empörung beschloß der UN-Sicherheitsrat in der Resolution 770 vom 13.8.92 die Lieferung von Lebensmitteln und Medikamenten in Kriegsgebiete erstmals - "falls nötig" - militärisch abzusichern. Auch die britische Regierung kündigte am 18. August die Entsendung mehrerer tausend Soldaten nach Bosnien an.

Was war der genauere Ursprung der ITN-Bilder? Als im Sommer 1992 Gerüchte über "KZ´s" aufkamen, hatte der Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, auf das drängende Nachfragen eines Journalisten etwas spontan einem ITN-Team den Zugang zu den fraglichen Lagern gewährt. Penny Marshall und El Vulliamy hatten eine Liste der bosnischen Regierung über mutmaßliche "KZ´s". Sie mußten aber feststellen, daß es sich - bis auf Omarska - nur um Flüchtlingslager handelte. Das allerdings berichteten sie nicht. Bei Omarska, einem Lager für "muslimische Extremisten", bot sich ein bedrückendes Bild, und die Reporter erhielten zu einigen Gebäuden keinen Zutritt. Der Eindruck, daß hier üble Kriegsverbrechen passierten, war richtig, da vier Jahre später ein UN-Bericht schätzt, daß im Krieg 1.500 Menschen in Omarska ermordet wurden (taz, 7.7.98. In einem Massengrab wurden im März 1996 "ungefähr" 120 Menschen gefunden. Refik Hodzic, ein Beauftragter der bosnischen Behörden zur Untersuchung von Kriegsverbrechen, vermutet, daß es sich um Opfer aus Omarska handelte; taz, 22.3.96). Dennoch gab es damals keinen Beweis. Inzwischen war der oben erwähnte Gutman-Bericht vom 3.8. mit Augenzeugen von Omarska erschienen, was den Erwartungsdruck auf das ITN-Team noch erhöhte. Der Besuch des Lagers von Trnopolje war die letzte Station und Möglichkeit, doch noch einen "Beweis" für die „KZ´s“ zu bringen - und hier entstand dann das "KZ-Bild" mit Fikret Alic. Für die Verteidigung des Haager Kriegsverbrechertribunals recherchierte der Journalist Thomas Deichmann die Hintergründe des Bildes. Punkt für Punkt konnte er - unter anderem mit dem Rohmaterial der Aufnahmen des ITN-Teams - nachweisen, daß bei diesem Bild nicht die Flüchtlinge, sondern die ITN-Reporterin Penny Marshall mit ihrem Kamerateam eingezäunt waren! Die Flüchtlinge konnten nur aufgrund der Feuergefechte in der Umgebung den Ort nicht verlassen. Ein befragter Aufseher des Durchgangslagers war ein junger Bursche, der eigene bosnische Freunde unter den Flüchtlingen hatte. Und doch wurde durch das "KZ-Bild" die serbische Vertreibungspolitik mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt.

Auch die Kriegsparteien können die Meinung der Öffenlichtkeit mit Hilfe von PR-Agenturen prägen. Die Agentur Ruder Finn arbeitete im Auftrag der bosnischen Regierung und hatte auch schon für die Anerkennung Kroatiens im US-Kongress geworben. Ruder Finns Chef, James Harff, erläuterte in einem Interview:

Sobald irgendeine Information für uns gut ist, machen wir es uns zur Aufgabe, sie umgehend in der öffentlichen Meinung zu verankern. Denn uns ist klar, daß nur zählt, was einmal behauptet wurde. Dementis sind dagegen völlig unwirksam.

Gerade im Sommer 1992 unterhielt Ruder Finn Kontakt zu Dutzenden von angesehenen und einflußreichen Vertretern aus Politik, Medien und Verbänden. Als der Gutman-Bericht erschien, sprang die Agentur sofort auf den Zug auf und beeinflußte drei große jüdische Organisatioen in ihrem Sinn. Der Vorschlag einer großen Anzeige in der New York Times und einer Protestkundgebung vor dem Gebäude der UNO in New York wurde sogleich von den Verbänden umgesetzt.

Im Handumdrehen konnten wir die Serben in der öffentlichen Meinung mit den Nazis gleichsetzen. Sehen Sie, das jugoslawische Problem ist sehr vielschichtig, ... und um offen zu sein, die überwiegende Mehrheit der Amerikaner fragte sich, in welchem Teil Afrikas Bosnien eigentlich liegt, aber auf einen Schlag hatten wir eine einfache Geschichte mit Guten und mit Bösen. ... Die Presse wandelte umgehend ihren Sprachgebrauch und verwendete ab sofort emotional stark aufgeladene Begriffe wie ethnische Säuberung, Konzentrationslager usw., bei denen man an Nazi-Deutschland, Gaskammern und Auschwitz denkt. Die emotionale Aufladung war so stark, daß niemand mehr eine gegenteilige Meinung vertreten konnte oder andernfalls Gefahr lief, des Revisionismus beschuldigt zu werden. Da haben wir voll ins Schwarze getroffen.
(in: Bittermann (Hg), "Serbien muß Sterbien", Berlin 1994; Der zynische James Harff selbst gab dem Interviewer nachher eine Mappe von Zeitungsartikeln, die alle Ruder Finn der Manipulation beschuldigten).


Zum Feindbild der Serben in den Medien gehörten auch angeblich systematische Massenvergewaltigungen als Mittel der Vertreibung. Die meisten Artikel der Veröffentlichungen im Winter 1992 bezogen sich auf die Reportagen von Alexandra Stiglmayer (Weltwoche, 5.11.92; Stern und TV-Sendung Mona Lisa). So titelte die taz am 2.12.92: Über 60.000 Frauen sind bislang in Lagern und Bordellen festgehalten und vergewaltigt worden. ... Der Massenmord an der muslimischen Bevölkerung trägt systematische Züge. Amnesty international äußerte sich sehr viel vorsichtiger: Ob Vergewaltigungen in Bosnien-Herzegowina bewußt als Kriegswaffe eingesetzt würden, müsse offen bleiben, Vergewaltigungen seien aber zumindest in einigen Fällen systematisch angewendet worden. (taz, 22.1.93). In vielen deutschen Städten gab es kleinere Demonstrationen.

Alexandra Stiglmayer dokumentierte in einem Weltwoche-Artikel und in ihrem 1993 erschienenen Buch „Massenvergewaltigung“ eine Fülle erschütternder Augenzeugen-Interviews. Nach eigenen Angaben kontaktierte sie ihre Zeuginnen allein, sprach mit jeder über zwei Stunden und bohrte nach, um sicherzugehen, daß die Frauen nicht übertreiben. Auf der Suche nach einer "guten Story" ging der Journalist Martin Lettmayer (Reportagen u.a. bei ZDF, Sat1 und n-tv) den Angaben Stiglmayers nach. Als er jedoch die Verantwortlichen für das betreffende Lager in Doboj, den Polizisten oder den zuständigen Leiter des Internationalen Roten Kreuzes mit den massiven Vorwürfen unter Druck setzte, waren diese völlig entgeistert und zeigten ihm die ganze Schule, die als Lager diente (Lettmayer in: Bittermann, a.a.O., S.43). Waren einzelne Ortsangaben der vergewaltigten Zeuginnen falsch? Stiglmayers Ergebnisse wurden zunächst auch durch ein taz-Interview mit einem Leiter des bosnischen "Zentrum für die Erforschung von Kriegsverbrechen" bestätigt (2.12.92). Detailliert werden hier Ablauf, Umfang und die Art der Beweisführung für die Vergewaltigungen dargestellt. Für die Stadt Doboj wird der Serbe Milan Kerkes genannt, der zusammen mit seiner bosnischen Frau ein Privatbordell in der Nähe eines "KZ" betreibe. Wie Lettmayer jedoch anhand der behördlichen Eintragungen beweisen konnte, ist Milan Kerkes bereits fünf Monate vor diesem Interview im Krieg umgekommen. Die Existenz eines Privatbordells oder eines Vergewaltigungslagers wird dann von 10 Muslimen, die auch den Serben Milan Kerkes in Schutz nehmen, heftig bestritten (a.a.O., S.46). - Lettmayer ging auch einem weiteren Bericht aus dem ARD-Radio über eine völlig überforderte Entbindestation für vergewaltigte Frauen der Petrovarklinik in Zagreb nach und erfuhr, in den sieben Monaten zuvor seien drei Kinder von vergewaltigten Frauen entbunden worden.

Ähnliches schilderte der französische Journalist Jéromy Bony bei eigenen Nachforschungen nach Gerüchten über die Konzentration von Vergewaltigungsopfern in Tuzla: Als ich 50 Kilometer von Tuzla entfernt war, sagte man mir 'Gehen Sie zum Mittelschulgelände von Tuzla, dort gibt es 4.000 vergewaltigte Frauen'. Bei 20 Kilometern sank die Zahl auf 400. Bei 10 Kilometern waren nur noch 40 übrig. Und als ich an Ort und Stelle war, fand ich gerade vier Frauen, die zu einer Aussage bereit waren. (zit. a.a.O., S.32). Auch Nora Beloff, frühere Chefkorrespondentin der Politikredaktion beim Observer, recherchierte nach den Quellen verschiedener europäischer Regierungen über Massenvergewaltigungen in Bosnien. Sie alle verwiesen letztendlich auf die Deutsche Bundesregierung, die sich nur auf Material der Regierung Itzetbegovics und der kroatischen Caritas berufen konnte (Daily Telegraph, 19.1.93). Nach den Erkenntnissen von UNO-Untersuchungen über sexuelle Gewalt ist bei diesem Thema zwischen Wahrheit und Lüge oft kaum zu unterscheiden (taz 5.3.93).

Stiglmayer zitiert die Warburtonkommission der EU, die nachvollziehbar die Anzahl der Vergewaltigungen in ganz Ex-Jugoslawien auf grob 12.000 schätzt (hierbei geht sie von 119 dokumentierten Fällen aus sechs Krankenhäusern in ganz Ex-Jugoslawien aus, bei denen Schwangerschaften aufgrund von Vergewaltigungen festgestellt wurden; nach medizinischen Untersuchungen soll es bei jeder 100. Vergewaltigung zu einer Schwangerschaft kommen, Weltwoche 10.2.94. Ein Zwischenbericht der UN-Vorbereitungskommission für das Tribunal hatte bis Oktober 1993 Unterlagen über 3.000 Vergewaltigungsfälle erhalten. taz, 23.10.93). Dies bedeutet aber keineswegs, daß Vergewaltigung systematisch in Vergewaltigungslagern als von oben geplante Kriegsstrategie angewendet wurde. Das Thema hatte sich inzwischen als fester Bestandteil des Feindbildes Serbiens in vielen Leitartikeln verankert. Lettmayer hatte seine Gegenrecherche auch für einen TV-Bericht aufbereitet, doch der Auslandsredakteur des Senders antwortete ihm: Die Berichte sind interessant und man sollte sie bringen. Aber wenn ich das tue und gegen den Strich bürste, kann ich meinen Job an den Nagel hängen.

Daß es in den Redaktionen eine Art Selbstzensur gibt, davon konnte sich Mira Beham vom Alternativen Informationsnetz

... selbst in zahlreichen Gesprächen mit verantwortlichen Auslandsredakteuren deutscher Medien wie Stern, Die Zeit, Die Wochenpost, Die Woche, Süddeutsche Zeitung und anderen überzeugen. Die öffentlichen Stellungnahmen der Redakteure unterschieden sich erheblich von ihren privat geäußerten Meinungen. Einige von ihnen etwa hielten die Massenvergewaltigungen für eine große Propagandalüge, wovon sich in ihren Artikeln jedoch nie ein Wort finden ließ.
(Jungle World, 11.8.98; vgl. Frankfurter Rundschau 10.2.94).


Das Feindbild der Serben hat sich nach jahrelanger Berichterstattung längst festgesetzt und war im Kosovo-Krieg der NATO gegen Jugoslawien unverändert. Der deutsche Chirurg Richard Munz war mit seinem Team für ein Flüchtlingslager mit 60.000 Albanern in Stenovac/Mazedonien zuständig. Obwohl Journalisten ihn immer wieder danach fragten, hatte er keinen einzigen Fall einer Vergewaltigung (Die Welt, 17.6.99).

Die dreijährige Belagerung Sarajevos (1992-1995) mit schwerer Artillerie und Heckenschützen, bei der über 10.000 Menschen starben, wurde durch die Medienberichte weltweit zum Symbol der Opferrolle Bosniens. Eine bessere Propaganda konnte es gar nicht geben. Nach den Memoiren von Lord David Owen (früherer EU-Vermittler im Jugoslawienkrieg und ehem. britischer Außenminister) sollte der bosnische Verteidigungsminsiter Ejup Ganic ein besonders einseitiges Bild in den westlichen Medien forcieren, um die USA in den Krieg hineinzuziehen. Ganic kannte die US-Gesellschaft aus eigenen Aufenthalten und orchestrierte die bosnische Propaganda in den USA auf jeder Ebene - im Weißen Haus, auf dem Capitol und auf den Mattscheiben der amerikanischen Haushalte (David Owen, Balkan Odyssey, London 1995, S.89). Um die Unterlegenheit Bosniens zu zeigen, nahm die muslimische Militärführung Tote unter den eigenen Zivilisten bewußt in Kauf. Deswegen seien laut dem französischen UNPROFOR-Kommandanten, General Philippe Morillon, Waffenstillstände wiederholt abgelehnt worden. Dazu ARD-Korrespondent Friedhelm Brebeck: Die Bosnier donnern Granaten raus, wenn zwei Tage lang Ruhe ist - denn sie wissen, für jede ihrer Granaten kommen zehn bis fünfzig zurück. Die Regierung braucht die tägliche Blutspur in Sarajevo. (Die Woche, 10.2.94). Die Übernachtung der meisten Reporter im Holiday Inn in Sarajevo forcierte die gemeinsame Perspektive aus der umzingelten Stadt. In zahlreichen Interviews mit zivilen Mitarbeitern und Militärs der UNPROFOR warf die überwiegende Mehrheit der Mitarbeiter der Kriegsberichterstattung ein einseitiges Bild von der Belagerung vor, in dem häufig entscheidende Fakten ausgelassen worden wären. Um besonderen Eindruck zu hinterlassen, hätten sich die bosnischen Soldaten mit ihren beweglichen Granatwerfern häufig so positioniert, daß der provozierte Schußwechsel direkt in der Nähe des Holiday Inn über den Köpfen der Presse stattfand. (Independent 3.7.94). Ein UN-Team könne bezeugen, wie eine Infanterie-Einheit der bosnischen Regierungstruppen sich mit einem Mörser unterhalb des Kosevo-Kran­kenhauses positioniert hätte. Nach dem Beschuß serbischer Stellungen zogen sie sich schnell zurück, woraufhin ein Kamerateam ankam, um die serbischen Vergeltungsschläge auf das Krankenhaus aufzunehmen (Owen, a.a.O., S.112).

Überhaupt hatten die Truppen Itzetbegovics im muslimischen Teil Sarajevos einen inneren Belagerungsring gebildet, um zu kontrollieren, daß keiner die umzingelte Stadt verlassen konnte (Serbenführer Karadzic hatte dagegen musli­mi­schen Frauen und Kindern von Anfang an "freies Geleit" zugesichert – auch dies etwa „Vertreibung“?). Die Hilfe einer US-Stiftung zur Wiederherstellung der städtischen Gas- und Stromversorgung wurde abgelehnt (taz 16.12.92; Owen, a.a.O., S.63 und 244).

Am 27.5.1992 wurden in Sarajevo 20 Zivilisten, die nach Brot angestanden hatten, durch eine Granate getötet. Auf einem unmittelbar danach folgendem EG-Treffen sollte über Sanktionen gegen Serbien diskutiert werden (taz 24.8.92). Drei Tage später beschloß der UN-Sicherheitsrat in der Resolution 757 mit Bezugnahme auf das Massaker ein Wirtschaftsembargo gegenüber Serbien und Montenegro. Der Fall wurde nie völlig aufgeklärt. Von einer Inszenierung berichtet am darauffolgenden Tag die von Milosevic kontrollierte Zeitung Politika aus Belgrad, am 22.8. aber auch der New Yorker Reporter Leonard Doyle von The Independent, der sich auf vertrauliche UN-Berichte aus dem New Yorker UN-Hauptquartier beruft. Jedoch widerlegte Tom Gjelten von New Public Radio durch eigene Untersuchungen mit Munitionsexperten vor Ort Doyles Behauptung und kann dessen Hauptquelle, den eher proserbischen UN-Komman­danten MacKenzie aufdecken. Andererseits legt später Nenad Kecmanovic (ein Gegner nationalistischer Politik) sein Amt im bosnischen Staatspräsidium nieder, da Extremisten selbst vor inszenierten Anschlägen auf Zivilpersonen nicht zurückschrecken würden (taz 5.9.92).

Am 5.2.1994 wurden in Sarajevo 68 Menschen durch eine Granate getötet. Aufgrund der folgenden ultimativen Drohung der NATO, Stellungen der bosnischen Serben anzugreifen, zog sich die serbische Artillerie um ca. 20 Kilometer zurück. (taz 11.2.94). Lord David Owen und auch Mira Beham bringen eine Fülle von Hinweisen für eine Inszenierung. So hätten Mitarbeiter von UN-Kommandant General Rose kein Geheimnis daraus gemacht, daß nach technischen Informationen die Granate aus einem muslimisch kontrollierten Gebiet abgefeuert worden sei. Als diese Information ins UN-Hauptquartier weitergegeben wurde, sei alles getan worden, um sie nur einer kleinen Anzahl von Personen zugänglich zu machen. Laut UN-Sprecher Aikmann sei der Platz sofort nach der Explosion von bosnischen Militärs abgeriegelt worden. Dennoch veröffentlichte die UNO in Zagreb später, offiziell könne sie die Granate beiden Seiten zuschreiben, Serben oder Muslimen.

Ein weiteres Massaker an 37 Zivilisten vom 28.8.1995 war schließlich Anlaß für die Wende im Krieg zwischen Serbien, Kroatien und Bosnien. Bereits 39 Stunden später bombardierten NATO-Kampflugzeuge drei Wochen lang serbische Stellungen in ganz Bosnien-Herzegowina und unterstützten die Offensive der muslimischen und kroatischen Verbände. Die großen Gebietsgewinne in Nord-West-Bosnien und ethnische Vertreibungen in der Krajina waren die unmittelbare Folge. – Auch hier kann der Reporter David Binder der New York Times in der linken Zeitschrift The Nation (2.10.95) schlüssig eine Inszenierung nachweisen und sich auf vier verschiedene UN-Kommandanten berufen.

Genauso wie beim "Massaker" von Racak wurden die entscheidenden Untersuchungsergebnisse der hier genannten Massaker als geheim eingestuft, soweit überhaupt Untersuchungen stattfanden. Mit einigen dieser Massaker wurden durch gezielte Desinformation NATO-Einsätze vor der Öffentlichkeit legitimiert, die als erste ihrer Art geradezu historische Bedeutung hatten. Die Militäreinsätze konnten nicht zuletzt deswegen ohne große mediale und öffentliche Kritik als gerechtfertigt dargestellt werden, weil unter anderem zuvor die einseitigen Berichte über systematische Massenvergewaltigungen, "Konzentrationslager" und ethnische Vertreibungen - teils berechtigt teils unberechtigt - mittels einer ethnischen Schablone ein entsprechendes Feindbild des "bösen Serben" aufgebaut hatten.

Die Chronik des Kosovo-Krieges

1998

März: Militäraktionen der serbischen Polizei in der UCK-Hochburg Srbica mit mehreren Dutzend albanischen Toten. - Protokoll-Unterzeichnung zwischen serbischer Führung und Kosovo-Albanern über die Rückkehr aller Albaner an Schulen und Universitätsgebäude bis Mitte 1998

31.3. Resolution 1160 des UN-Sicherheitsrates verurteilt die exzessive Gewaltanwendung der serbischen Polizei wie auch die „terroristischen Akte“ der UCK und bekundet seine Unterstützung für die Anstrengungen der OSZE zu einer friedlichen Beilegung der Krise..

Juni: UNHCR schätzt 50.000 Flüchtlinge, NATO droht mit Intervention. - Amnesty International beschul­digt auch UCK "übermäßiger Gewaltanwendung", ca. 40% des Kosovo unter Kontrolle der UCK.

Ende Juni bis Oktober Großoffensive serbischer Truppen, Zurückeroberung aller Gebiete, UCK zieht sich nach Albanien zurück, ca. 300.000 vorwiegend albanische Flüchtlinge fliehen nach Albanien, Montenegro, serbische Flüchtlinge nach Serbien.

August: UN-Generalsekretär Kofi Annann kritisiert NATO und EU, nichts zur Durchsetzung des Waffen­embargos getan zu haben und Mitschuld an der Eskalation zu tragen.

23.9. Resolution 1199 des UN-Sicherheitsrats verurteilt scharf die serbische Gewalt. Der amerikanische UN-Botschafter informiert den UN-Sicherheitsrat, daß die NATO-Planungen für ein militärisches Eingreifen fast abgeschlossen sind.

24.9. Die NATO droht mit Luftangriffen.

12.10. Clintons Sicherheitsberater Berger gibt der Bundesregierung in Bonn 15 Minuten Zeit für eine Zustimmung zum Krieg ohne UN-Mandat. Kurz nach der Zusage Bonns ergeht der NATO Aktivierungsbefehl "ACTORD".

13.10. Holbrooke-Milosevic-Abkommen (sonst hätte die NATO am 17.10. angegriffen) über Waffenstillstand und Stationierung von 2.000 OSZE-Beobachter (der US-Leiter der OSZE-Mission William Walker verzögert alle Entscheidungen. Mitte Februar sind erst 1300 Mann vor Ort). - Fast alle Flüchtlinge kehren zurück, in ihrem Schatten die UCK.

16.10. Bundestag stimmt NATO-Einsatz ohne UN-Mandat zu   .

24.10. Die Resolution 1203 des UN-Sicherheitsrats verlangt von beiden Seiten ein Ende der Gewalt und die Befolgung früherer Resolutionen. Die Jugoslawen kommen der Aufforderung nach, die UCK nicht.

November: Die UCK läßt mit militärischen Aktionen auf serbische Familien und Polizeistationen die Situation eskalieren, die serbische Seite schlägt brutal zurück.

1999

16.1. Bei Racak findet man nach Kämpfen zwischen UCK und serbischen Streitkräften 45 tote Albaner, OSZE-Missionsleiter Walker spricht sofort von einem Massaker an Zivilisten, der Untersuchungsbericht bleibt geheim. Noch in der Nacht zuvor hatte die UCK das Dorf wieder unter ihre Kontrolle gebracht.

6.-23.2. Rambouillet-Verhandlungen ohne Ergebnis, Serbien lehnt NATO-Truppen in der BR Jugoslawien und Kosovo-Referendum ab (durch die Kontaktgruppe wurden bereits vor den Verhandlungen Prinzipien aufgestellt, die als nicht verhandelbar und mit der Teilnahme als anerkannt galten).

25.2. Bundestags-Abstimmung über Beteiligung an Luftschlägen. Die unannehmbaren NATO-Forderungen im Annex B des Vertrages von Rambouillet sind den Abgeordneten nicht bekannt (u.a. taz, 12.4.99).

11.3. Schröder besucht China, um dessen Zustimmung oder Enthaltung im UN-Sicherheitsrat zu erreichen.

14.3. Zehn Tage vor Kriegsbeginn berichtet die Berliner Zeitung, OSZE-intern gehe man beim "Massaker" von Racak längst von einer "Inszenierung durch die albanische Seite" aus.

15.-18.3. Paris-Verhandlungen: Kosovo-Albaner unterzeichnen Abkommen, Serben nicht.

19.3. In einer Lageanalyse des Auswärtigen Amtes, heißt es, beide Seiten hielten den Wafenstillstand nicht mehr ein. Von Flucht, Vertreibung und Zerstörung im Kosovo sind alle dort lebenden Bevölkerungsgruppen gleichermassen betroffen. Die Zivilbevölkerung werde vor Angriffen der jugoslawischen Streitkräfte in der Regel von diesen gewarnt, ihre Evakuierung aber teilweise von der UCK verhindert.

23.3. In einem Lagebericht des Verteidigungsministeriums heißt es, die UCK wird wahrscheinlich weiter versuchen, durch die bekannten Hit-and-Run-Aktionen die serbisch-jugoslawischen Kräfte zu massiven Reaktionen zu provozieren in der Hoffnung, dass diese in ihren Ergebnissen hinsichtlich Zerstörungen und Flüchtlinge ein Ausmass annehmen, das sofortige Luftschläge der Nato heraufbeschwört.

24.3. Beginn des NATO-Krieges gegen Jugoslawien, Beginn der Gewaltexzesse serbischer Milizen und Polizei, 860.000 Flüchtlinge fliehen in Nachbarstaaten.

28.3. Scharping berichtet von einem angeblichen serbischen KZ im Norden von Pristina.

April: Vertreibungsexzess an den Albanern.

7.4. Scharping behauptet eine Operation „Hufeisenplan“ (planmäßige Vertreibung seit Januar 1999).

13.4. Die taz berichtet über die "Rambouillet-Lüge".

15.4. Die emotional aufgeheizte Bundestagsdebatte ist völlig von dem „Hufeisenplan“ geprägt.

23.4. Bombardierung der serbischen Radio- und Fernsehgesellschaft in Belgrad, mind. 16 tote Zivilisten.

27.4. Scharping bringt angebliche Beweise für das „Massaker in Rugovo“.

28.4. Auf dem Jubiläumsgipfel der NATO wird das „Neue Strategische Konzept“ unterzeichnet.

Anfang Mai: EU-Gipfel in Bonn, Verständigung über "Fischer-Plan" unter Einbeziehung Rußlands und Rückkehr zur UN-Zuständigkeit.

8.5. Beschuß der chinesischen Botschaft , drei tote chinesische Journalisten.

30.5. Beschuß der Brücke in der zivilen Kleinstadt Vavarin, zehn Zivilisten sterben.

Juni: Vertreibungsexzess an Serben u.a. Nichtalbanern.

3.6. Die jugoslawische Führung stimmt dem G7/8-Plan zu.

10.6. Die NATO beschließt die Einstellung der Luftangriffe.

11.6. Russische und NATO-Truppen marschieren ins Kosovo ein.

11./12.6. NATO-Oberbefehlshaber Clark gibt den Befehl, 200 russische Soldaten anzugreifen, die den Flughafen bei Pristina unter ihre Kontrolle gebracht haben. Der britische KFOR-General Jackson verweigert die Ausführung des Befehls mit der Begründung, dies rechtfertige nicht den Beginn des Dritten Weltkrieg.

August: In den ersten sieben Wochen nach KFOR-Stationierung werden laut UNHCR 164.000 Serben vertrieben, ihre Häuser angezündet und gebrandschatzt. Von geschätzten 120 -150.000 Roma vor dem Krieg wird etwa die Hälfte bis November vertrieben, die Häuser ebenfalls zerstört und geplündert.

November: Die D-Mark wird offizielle Währung im Kosovo, offizielle Zweitwährung in Montenegro.

2000

Anfang: Die NATO gibt zu, allein im Kosovo 31.000 Geschosse mit abgereichertem Uran eingesetzt zu haben. Diese stehen auch als Ursache für das „Golfsyndrom“ von 130.000 US-Soldaten im Verdacht.

21.3. Artikel im Hamburger Abendblatt: Kritische Töne zum Hufeisenplan.

18.5. „Panorama“-Sendung über Scharpings Propaganda im Kosovo-Krieg.

Juni: Bericht von Amnesty International über Verletzungen des Völkerrechts.

3.6. Ein inoffizielles Europäisches Tribunal verurteilt Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten wegen Krieg gegen Jugoslawien. Die Chefanklägerin des offiziellen Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien, Carla del Ponte, wird kein förmliches Ermittlungsverfahren gegen die NATO einleiten, da es keine "gezielten Angriffe auf Zivilisten" gegeben habe.

14.7. Artikel von Amnesty International zur Bombardierung der RTS-Studios in Le monde diplomatique.

14.8. Die UN-Verwaltung übernimmt das jugoslawische Trepca-Bergbaukombinat im Nord-Kosovo.

Ende Nov.: Ein Bericht der Parlamentarischen Versammlung der NATO gibt die eskalierende Rolle der UCK vor Beginn des NATO-Krieges zu (Artikel von Prof. Lutz in der WoZ vom 5.1.01).

Ende Dez./Anf. Jan. erscheinen einige Artikel zur Verwendung von Uran-Munition im Kosovo-Krieg.

2001

Januar: Der Abschlußbericht finnischer Experten über das „Massaker von Rugovo“ wird veröffentlicht.

8.2. In der ARD berichten „Monitor“ und ein anschließender Film (Es begann mit einer Lüge) über die wahren Hintergründe des Kosovo-Krieges.

10.2. Interview mit Willy Wimmer im DeutschlandRadio.

16.2. Eine Aktuelle Stunde (PDS-Antrag) wird am Ende der Tagesordnung kaum noch wahrgenommen.

März: Offener Brief der Friedensforscher Prof. Lutz und Dr. Mutz an die Bundestags-Abgeordneten.

21.3. General a.D. Loquai veröffentlicht: "Der Kosovo-Konflikt - Wege in einen vermeidbaren Krieg".

24.4. In der Frankfurter Rundschau erscheint ein offener Brief von Hans-Peter-Dürr an Gernot Erler, der den Lutz-Mutz-Brief sehr abwertend beantwortet hatte.

2.5. Brief von Willy Wimmer an Schröder über die imperialen Absichten der USA (Konferenz in Bratislava).