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22.06.2002

Die Aufgabe der Christengemeinschaft und die Bedeutung des Gesprächs

Diese Gedanken entstanden im Zusammenhang mit der Situation in der Gemeinde Berlin-Wilmersdorf der Christengemeinschaft.


Die zentrale Aufgabe der Christengemeinschaft ist es, den Kultus zu pflegen. Was heißt dies?

Der Kultus wurde der Christengemeinschaft geschenkt als zeitgemäße Form des Gottesdienstes, der zugleich eine Menschenweihehandlung ist. Die äußere Form des Kultus soll ein Abbild geistiger Realitäten sein. Im Kultus kann die geistige Welt einer Menschengemeinschaft besonders nahekommen, und die Menschen können sich der geistigen Welt nähern. Der Kultus kann also die geistige Welt und Menschen(gemeinschaften) wieder miteinander verbinden. Das ist die Grundlage dafür, für das Heil in der Welt voll bewußt wirken zu können. In der geistigen Welt und mit Hilfe der geistigen Welt sind die Impulse und Intuitionen zu finden, die das Gute in die Welt bringen. - Heilsam wirkt das Sakrament der Menschenweihehandlung auch auf den Einzelmenschen. Die Fülle ihrer Wirksamkeit ist aber erst erreicht, wenn Menschen gemeinsam voll bewußt für das Gute wirken. Den Willen zum selbstlosen Wirken für das Gute kann jeder Mensch nur aus voller Freiheit in sich selbst finden und aufrufen. Diesen Willen aber zu füllen, wenn er da ist und opfervoll zur Schale wird, darin liegt die Fülle der Möglichkeiten der Menschenweihehandlung.

Pflege des Kultus heißt also - dafür zu wirken, daß die Möglichkeiten des Kultus wirksam werden können.

Eine bloße „Pflege“ des kontinuierlichen Vollziehens wäre rein äußerlich verstanden. Zwar hat der Kultus selbst die Kraft, das Verständnis für ihn immer mehr zu vertiefen. Ihre Grenze jedoch findet die dem Kultus eigene Kraft dort, wo der einzelne Mensch im jeweiligen Augenblick seine Grenze im Wollen und in den Bewußtseinskräften hat, am Kultus wirk-lich teilzunehmen. Für den einzelnen Menschen können diese zwei Grenzen durchaus absolute werden, zumindest für lange Zeit. Dagegen ist das menschliche Miteinander die stärkste Kraft, diese zwei Grenzen zu erweitern. Man darf sich nicht darauf berufen, daß der Kultus allein schon die Menschen zu sich heranzieht. Wenn man nicht schaut, wie durch menschliche Hilfe dazu beigetragen werden kann, ist das ein tragisches Versäumnis - unterlassene Hilfeleistung! Das gilt sowohl gegenüber dem Einzelnen, der zur Menschenweihehandlung wirklich vertieft hinfinden will, als auch gegenüber der ganzen Welt, die den Impulsen des Guten entgegenharrt.

Pflege des Kultus heißt also - bewußte gemeinsame Vertiefung im Verständnis und Erleben des Kultus.

Nun entfalten die Pfarrer ja ein umfangreiches Wirken etwa in den Vorträgen, in denen sie immer auch Impulse geben, die im Sinne der angedeuteten Vertiefung wirken könnten. Warum sind diese nicht voll wirksam? Die aus der geistigen Welt kommenden Impulse, von denen man sich befruchten lassen kann, wirken ja zunächst auf eine Ausbildung von Fähigkeiten. Ganz wesentlich geht es zum einen um die Fähigkeit, die Wahrnehmung und das Denken zu spiritualisieren und damit ein immer objektiveres Bewußtsein zu bekommen, indem man z.B. real wahrnimmt, wo Böses in der Welt wirkt, wo überall das Gute versäumt wird, wo welche Hilfe Not tut, und zugleich immer mehr wissen kann, was ganz konkret getan werden kann. Dieser ganze Bereich betrifft das „objektive“ Stehen(können) in den Verhältnissen. Zum anderen geht es um die Fähigkeit, ganz konkret-menschlich jedem Menschen gerecht werden zu können. Es geht um die Fähigkeit, die menschliche Begegnung zum Sakrament zu machen. Die zwei Fähigkeitenbereiche umfassen also die objektive Wahrnehmung der Verhältnisse und das entsprechende Ergreifen von Intuitionen - und die Heiligung der menschlichen Begegnung. Dies ist die eigentliche Vertiefung, die möglich ist.

Der Vortrag kann vieles an seelisch-geistigen Anregungen geben. Er weist aber doch den Zuhörern zunächst eine passive Rolle zu. Und die Entwicklung sozialer Fähigkeiten fällt ganz außerhalb seines Bereiches. Entscheidende Anregungen können alle angesprochenen Fähigkeiten dagegen durch das Gespräch erfahren. Jedem Einzelnen ein Vielfaches von dem geschenkt, was er sich alleine erarbeiten könnte (wobei man die ganze Zeit über aktiv gemeinsam um etwas ringt); und das Gespräch ist die Stätte, wo Begegnung sich ereignet und vor allem auch geübt werden kann.

Die Menschenweihehandlung ist kein Selbstzweck, Vorträge sind kein Selbstzweck und Gespräche sind es nicht. Es geht immer darum, daß das Gute in die Welt kommt bzw. die Welt sich dem Guten zuwendet. Das irdische Menschenleben und auch das in der geistigen Welt besteht aber aus einem Miteinander. Das Gespräch ist eine Grundform des Miteinander; im Gespräch kann das Gute ganz direkt leben. In der Menschenweihehandlung, wo die Gemeinschaft und jeder Einzelne vor allem der geistigen Welt gegenüberstehen, wird das Gute gewissermaßen aufgenommen, um dann in jede Begegnung einfließen zu können. Dies aber muß erst und immer wieder neu geübt werden!

Christus schuf durch seine Tat die Voraussetzungen und den Anfangsimpuls zur Wandlung der Erde. Dem will auch die Menschenweihehandlung dienen. Wo aber zeigt sich die Wandlung im Menschenreich, wenn nicht in der menschlichen Begegnung? Wie wir uns begegnen, das ist der Gradmesser, inwieweit Wandlung tatsächlich in uns stattfindet. Man kann sich viele Vorstellungen über die Wandlung der Elemente und der ganzen Erde machen, doch im Menschenreich kommt die Wandlung dann an, wenn Menschen anfangen, Begegnung als heilig zu erleben. Durch das gemeinsame Voll­ziehen der Sakramente entsteht zunächst eine übersinnliche Gemeinschaft. Im irdischen Leben kommt diese zum Teil sicher erst im nächsten Erdenleben an - oder schon jetzt in dem Maße, wie das Bewußtsein der und der Wille zur Gemeinschaft da ist, wie konkrete Begegnung und in dieser der Wille zum Guten da ist.

Ich halte die Sphäre des Sozialen für den zentralen Bereich, in den heute der christliche Impuls einfließen will und muß. Das „Christus in uns“ wird seine Wirkung vor allem darin offenbaren, wie jeder einzelne dem anderen begegnet. Hier ist zunächst die individuelle Selbstschulung Aufgabe jedes einzelnen. Wo sich aber wirkliche Gemeinschaften bilden wollen, muß schließlich auch gemeinsame Bewußtseinsarbeit hinzukommen. Werden entsprechende Fragen gemeinsam bewegt, wird immer wieder jeder einzelne durch die vielen Anregungen der anderen für viele neue Aspekte erwachen - bzw. ganz direkt immer mehr für den Anderen und für sein eigenes Wesen. Dabei ist das Gespräch nichts Äußerliches, kein Zweck oder Mittel, sondern es ist selbst eine Tat, ein wirkendes Mysterium, in dem in jedem Augenblick ein Same keimen kann.

Jeder Mensch kann in jedem Moment ein Stück mehr zum Wesen des Sozialen aufwachen – beim gemeinsamen Tun, im Gespräch, in der Weihehandlung oder ohne jeden äußeren Anlaß. Ich meine aber, das Gespräch (insbesondere, wenn es bisweilen direkt das Soziale als Inhalt hat) ist einer der stärksten Impulse, die das Bewußtsein wecken und bewußte gemeinschaftsbildende Kräfte und Fähigkeiten erzeugen. Die substantielle Quelle für diese Kräfte und Fähigkeiten ist die Menschenweihehandlung bzw. der in ihr wirkende Christus. Um aber zu realen Fähigkeiten freier Menschen zu werden, müssen die von den Sakramenten ausgehenden Impulse bewußt werden bzw. Bewußtsein hervorrufen. Aus diesem zunehmenden Bewußtsein (etwa für die Sphäre des Sozialen) heraus können dann aus freiem Willen Fähigkeiten erübt werden. Dabei ist das gemeinsame Geschehen im Gespräch unendlich fruchtbar für die Bewußtseinsarbeit und zugleich als gemeinsame Tätigkeit bereits zutiefst gemeinschaftsbildend. Und aus den neuen Fähigkeiten, die sich entwickeln und mit denen man sich wieder einander zuwendet, entsteht dann die ein wenig mehr vollendete Gemeinschaft.

Pflege des Kultus heißt also vor allem - Pflege des Gesprächs! Die aus dem gemeinsamen Gespräch erwachsenden Früchte können in die Weihehandlung hineingetragen werden, und im Gespräch selbst bildet sich eine zutiefst wichtige Stätte, in die wiederum die fruchtbaren Impulse der Weihehandlung einfließen können - und aus keimhaften Impulsen können wirkliche Fähigkeiten des Guten werden.

Die Frage der Verantwortung

Das Prinzip der Kooptation wird wohl vor allem mit der „Verantwortung“ begründet. Die Pfarrer tragen nach dieser Anschauung letztlich die alleinige Verantwortung und entscheiden, wer im Gemeinderat mitarbeiten und potentiell mitentscheiden darf. - Ich möchte hier zunächst auf das Argument eingehen, durch Aufgeben des Kooptationsprinzips würden problematische bis chaotische Verhältnisse entstehen können.

Grundsätzlich gilt: Man darf nicht die angeblichen Stärken der Kooptation gegen die angeblichen Schwächen der Alternativen ausspielen. Es ist unzulässig, die Gefahr allzu individueller Impulse o.ä. der angeblich sicher und souverän am Gemeinwohl orientierten bisherigen Arbeit gegenüberzustellen. Wenn dies geschieht, entspricht offenbar die negative Meinung über Alternativen (die weiteren Kreisen Mitsprache einräumen) der eigenen (Fehl-)Einschätzung als optimale Entscheidungsträger. Was aber, wenn sich gerade durch die Entscheidung der ganzen Gemeinde der Kreis bildet, der am realsten zum Wohle der Gemeinde wirken wird? Wäre das nicht zumindest immer das christliche Ideal?

Soll Kooptation „potentielle Gefahren und Probleme“ ausschalten? Da müßte man erst einmal möglichst konkret werden. Was ist in anderen Gemeinden wirklich vorgekommen? Was waren die Ursachen? Was wäre in unserer Gemeinde prinzipiell denkbar? Das Wichtigste wäre auch hier wieder, daß man lernt, offen miteinander zu sprechen, die Überzeugungen des anderen zu verstehen und erst einmal gelten zu lassen, und dann gemeinsam nach der wahren Mitte zu suchen. Sobald man überhaupt miteinander mögliche oder bestehende Probleme anspricht, verschwinden auch schon eine ganze Menge Gespenster. Andererseits zeigt sich im Gespräch, wo vielleicht wirkliche, ernsthafte Probleme liegen. Diese können sich letztlich nur an Sachfragen entzünden, über die man wie gesagt offen sprechen müßte, um jeweilige Gründe deutlich zu machen. Auf die Dauer ist es doch sowieso nicht möglich und jedenfalls grundfalsch, Dinge stillschweigend zu entscheiden, die nicht eindeutig sind oder jedenfalls zunächst eine Klärung nötig hätten.

Im übrigen wür­de auch für einen nicht-kooptierten Gemeinderat der Grundsatz gelten, daß man in allen Fragen einen Konsens suchen soll. Da würden sich immer schnell die prinzipiell Uneinsichtigen und Sturen von denen schei­den, die ganz ernsthaft mit den verschiedenen (inkl. ihrem eigenen!) Standpunkten ringen. Wer nicht zu gemeinsamer Arbeit fähig ist, wird dann notfalls ausgeschlossen.

Auch ein Mensch mit überhaupt mangelnden Fähigkeiten würde in einem von der Gemeinde berufenen und ernsthaft arbeitenden Gremium niemals wirklich und dauerhaft die Arbeit behindern können. Vor allem kann kein noch so „ungeeigneter“ Mitarbeiter bedrohlicher sein als die mittelfristigen Folgen der Kooptation für die Vertrauensbasis in der Gemeinde! – Ohnehin dürfte jeder, der überhaupt den Entschluß zur Mitverantwortung fassen kann, zumindest soviel Wahrnehmungsfähigkeit haben, einen realen Mangel an Fähigkeiten bald zu bemerken. Notfalls wird man ihm diesen irgendwie deutlich machen können oder eben der Gemeinde das Problem darstellen, und diese würde den Menschen von seinem Amt entbinden.

Schädliche Impulse?

Das gewichtigste Argument im Zusammenhang mit der „Verantwortung“ ist wohl, daß die Pfarrer sich ein Urteil über möglicherweise schädliche Impulse vorbehalten.

Zunächst tut sich im Rahmen der Kooptation die große Gefahr auf, daß neue Impulse als „individuell“ zurückgewiesen werden, weil sie sich in das Bestehende scheinbar nicht einordnen und man ihre Bedeutung nicht erkennt oder nicht wahrhaben will. Auch hier kann im Grunde nur die ganze Gemeinde zu einem Urteil finden, welche Bedeutung jene neuen Impulse haben können. - Die Frage, ob ein bestimmter Impuls schließlich dem Leben der Gemeinde förderlich ist, hängt davon ab, ob die in ihm liegenden Möglichkeiten in guter Weise ergriffen werden können. Das ist eine Frage der Fähigkeiten bzw. der Fähigkeitsbildung - die grundlegende Frage für das Gemeindeleben überhaupt. Damit ist man vom Urteil über etwas „anderes“ auf sich selbst zurückverwiesen. Gemeindeleben kann nur dann entstehen und wachsen, wenn wir alle uns auf den nie endenden Weg begeben, gemeinsam soziale Fähigkeiten zu erwerben. Diese Fähigkeiten sind die im Kern christlichen. Die erste Fähigkeit ist es, die eigenen Schwächen immer selbstloser und objektiver erkennen zu können und zu wollen. Eine andere Notwendigkeit ist es, dem Geheimnis des Menschenbruders näher zu kommen: Was ihr getan habt dem Geringsten unter meinen Brüdern... Das Soziale entsteht aus der Selbstlosigkeit, aus dem Opfer. Die Entscheidung zum Sozialen muß jeder Einzelne ganz frei in jedem Moment selbst treffen. Wer aber erkennt, daß dies zutiefst mit dem eigent­lichen Geheimnis des Christentums verbunden ist, kann gemeinsam mit Gleichgesinnten in jeder Situation und in jeder Frage um das Christliche ringen.

Inwieweit kann man über einen neuen Impuls urteilen, bevor er sich real ausleben kann? Was ist außerdem wahrscheinlicher: Daß ein Mensch einen Impuls hat, den er als gut und wertvoll empfindet, der aber in Wirklichkeit schädlich ist, was diesem Menschen aber niemand klarmachen kann? Oder daß ich einen Impuls ablehne und vielleicht sogar glaube, er sei schädlich, weil er mir einfach zu neu und z.B. zu zukunfts-offen ist? Lehne ich vielleicht einen Impuls ab, weil man nicht konkret wissen kann, wie sich die Gemeinde durch ihn entwickelt, und verwandelt sich meine Wahrnehmung dieser Unsicherheit in das illusionäre Fehlurteil der Schädlichkeit?

Es geht niemals darum, ohne ein Erkenntnisbemühen alle möglichen Impulse sich ausleben zu lassen. Aber erst recht darf es nicht in der Hand eines kleinen, geschlossenen Kreises liegen, neue Impulse jederzeit aus unbekannten Gründen im Keim zu unterdrücken. Wunderbar ist doch, daß ich beiden Gefahren - wirkliche Schädlichkeit oder Fehlurteil - gleichermaßen begegnen kann: nämlich durch Gespräche in der ganzen Gemeinde. Sie wären die beste Voraussetzung, sowohl mögliche Probleme aller Art als auch illusionäre Fehlurteile wirklich zu erkennen.

Gerade die Mitglieder der Christengemeinschaft dürfen doch darum wissen, wie wichtig es ist, daß neue Impulse in die Welt kommen können. Eine Bewegung für religiöse Erneuerung kann es sich nicht leisten, Impulse zu unterdrücken, die auch nur möglicherweise die aus der Zukunft kommenden, zeitgemäßen und notwendigen Impulse sind. Gerade wenn neue Impulse von jungen Menschen kommen, sollte man mit allergrößtem Ernst in dieser Hinsicht wachsam sein. - Es geht darum, daß die ganze Gemeinde gemeinsam bemüht ist und lernt, Erkenntnis- (und Willens-)arbeit in bezug auf das zu leisten, was ihr ständig aus der Zukunft entgegenkommt. Die Aufgabe eines kleineren - offenen! - Kreises kann es dann nur sein, das, was zuvor gemeinsam nach besten Kräften als wertvoll und zukunftsweisend erkannt wurde, verantwortungsvoll zu fördern.

Verantwortung und Fähigkeiten

Kooptation beschränkt das Recht (und die damit verbundene Macht) der Entscheidung auf eine kleine Gruppe. Das ist einfach, aber absolut nicht mehr zeitgemäß. Die Alternative, gerade weil sie das Neue bringt, ist natürlich schwierig. Es stellt sich als erstes die Frage: Wer darf überhaupt mit entscheiden? Jeder? Oder nur wer ein bestimmtes Maß an Über- und Durchblick hat? Oder nur wer ein bestimmtes Maß an Verantwortung zu übernehmen bereit ist? Wer aber hätte das Recht, diese Kriterien und ihre Erfüllung zu beurteilen? Kann ich überhaupt von außen darüber urteilen, ob jemand weitsichtig oder verantwortungsbereit ist?

Hinter dem - meist unausgesprochenen - „Argument“, den meisten Menschen fehlten die Fähigkeiten zur Mitverantwor­tung, steckt immer auch ein unglaublich selbstherrliches Urteil über die überragende eigene Kompetenz. Unglaublich ist schon der Anspruch, über den anderen urteilen zu wollen. Nimmt man das Ich ernst, so kann nur dieses selbst über sich vollgültig Auskunft geben. Muß ich nicht jedem Menschen zunächst die Mündigkeit und die Fähigkeit zu Umsicht und Verantwortung zusprechen? Daß wir alle in jeder Beziehung Werdende sind, sollte selbstverständlich sein. Aber ich darf doch nicht von außen bestimmen, daß ein anderer weniger weit sei als ich, und ihm deshalb gar noch das Recht absprechen, an einer Entscheidung teilzuhaben. Wie kann ich andere von der Verantwortung ausschließen oder ihnen gar die Fähigkeit zur Verantwortung absprechen bzw. deren Maß beurtei­len wollen? Die angemaßte Beurteilung von außen führt zur Desensibilisierung gegenüber der persönlichen Integrität des anderen - das zwischenmenschliche Grundphänomen bei jeder Selbstermächtigung. Zuletzt wird man den Spieß völlig umdrehen und kritischen Stimmen Mißtrauen vorwerfen!

Es ist von außen nicht sichtbar, wer wieviel Verantwortung zu übernehmen bereit und imstande ist. Der Weg in die Zukunft kann aber unabhängig davon nur der sein, daß alle Menschen, die mit Verantwortung tragen wollen, gemeinsam über Fragen entscheiden, die auch alle betreffen. Wer auf mangelnde Fähigkeiten verweist, ist zu fragen, was er denn tut, damit sich die von ihm „beklagte“ Situation ändert? Am meisten würde sich ändern, wenn man die Kooptation zugunsten von zeitgemäßeren Formen aufgäbe! Zum einen stehen wir wieder im Kernbereich des (Un-)So­zi­alen, zum anderen ist es eine Tatsache, daß Verantwortungsfähigkeit nur wachsen kann, wenn sie zugestanden und Verantwortung ermöglicht wird.

Wenn irgendwann eine Gemeinde wirklich Gemeinde werden soll, müssen soziale Formen gefunden werden, die einer Gemeinde entsprechen. In bezug auf Fragen, die die ganze Gemeinde betreffen, ist es eine soziale Notwendigkeit, daß sich jedes Mitglied an der gemeinsamen Entscheidung beteiligen können muß. Man muß miteinander die Gemeinschaftsfähigkeit üben. Doch auch jetzt schon wird der Einzelne dem Wort jener, die sich sichtlich besondere Weisheit erworben haben, entsprechenden Wert beimessen. Jeder Einzelne kann frei darauf verweisen, daß er von einer bestimmten Darstellung eines Dritten überzeugt ist. In einer um die Wahrheit bemühten (un-parteiischen) Gemeinschaft werden die „richtigen“ Überzeugungen die besten Bedingungen haben, die ganze Gemeinschaft auch zu erreichen. - In dem Maße, in dem jemand einen Anspruch darauf erhebt, daß sein Wort in solchen Fragen ein besonderes Gewicht hat, befinden wir uns noch in theokratischen Verhältnissen.

Ein scheinbarer Unterschied zwischen Pfarrern und anderen Mitgliedern besteht darin, daß letztere ihre Verantwortung nicht wahrnehmen müssen und sogar wieder austreten und die Gemeinde verlassen können. Dies ist aber tatsächlich nur ein scheinbarer Unterschied, denn das Gesagte trifft auf den Pfarrer und jedes andere Mitglied gleichermaßen in Wirklichkeit eben nicht zu. Die Mitgliedschaft begründet für jedes Mitglied Pflichten, deren Wahrnehmung höchstens mehr oder weniger versäumt werden kann (auch von den Pfarrern). - Mitgliedsein bedeutet, sich mit einer Sache verbunden zu haben. Das kann man nicht von außen überwachen. Man darf aber nicht über die Mitglieder hinweg entscheiden, bloß weil „Mitgliedschaft“ mißbraucht oder verfehlt werden kann. Gemeinschaft wäre nicht Gemeinschaft, wenn einige Befugnisse hätten, die ihnen nicht von anderen gegeben oder anerkannt wären. In jedem Fall ist es eine oder sogar die Hauptaufgabe aller Gemeinden heute, die Menschen in die Mündigkeit zu führen und die Verantwortungsfähigkeit jedes Einzelnen immer weiter zu vertiefen.

Wahre Verantwortung und Zukunftsaufgabe

Mit der Verantwortung wachsen auch die Pflichten. Je mehr jemand zur Verantwortung wirklich fähig wird, desto größere Pflichten hat er. Wenn jemand von der Verantwortung ausgeschlossen werden soll, weil er nur wenig übernehmen kann, müßte auch jeder ausgeschlossen werden, der nur „viel“ übernimmt, obwohl er „viel mehr“ übernehmen könnte. Die Verantwortung der Pfarrer liegt nicht darin, die Gemeinde vor eventuellen Unfähigkeiten der Mitglieder zu schützen! Sie kann nur darin liegen, ihre Fähigkeiten frucht­bringend einzusetzen. Es wäre gerade die höchste Verantwortungslosigkeit, Mitglieder von der Verantwortung fernzuhalten! Die Verantwortung der Pfarrer beweist sich darin, daß sie ihre Fähigkeiten mit aller Kraft dafür einsetzen, daß bei möglichst vielen Menschen die Fähigkeiten wachsen und überall Raum dafür geschaffen wird, Verantwortung auszuüben. Wer aus seiner besonderen „Verantwortung“ und Verantwortungsfähigkeit heraus reale Machtbefugnisse beansprucht, macht sich gerade dadurch schuldig, seine wahre Verantwortung gar nicht wahrzunehmen. Das Ideal des Gemeinderats müßte sein, innerhalb einer Gemeinde mündiger Mitglieder überflüssig zu sein. Nur wenn ein Ideal klar vor Augen steht, kann es als machtvoller Impuls wirken und die richtigen Inspirationen befördern!

Wenn man mit dem Hinweis auf die eigene „Verantwortung“ seine Überzeugungen durchsetzen will und kann, herrscht das Machtprinzip - wie sehr man auch das Ideal beschwört, das darin bestünde, daß man seine Macht gar nicht auszuüben „bräuchte“ (auch der Pharao wünscht sich folgsame Schafe...).

Die eigentliche Frage liegt doch in der „Verantwortung“ selber - Verantwortung wofür? Für die Christengemeinschaft. Aber was heißt das? Verantwortung dafür, daß die richtigen Impulse in die Gemeinde hineinwirken können, daß die aus der Zukunft herandringenden Aufgaben wahrgenommen und ergriffen werden. Da kristallisiert sich also erneut die eigentliche Frage: Was sind die in die Zukunft führenden Impulse und die Zukunftsaufgaben?

Hier wird auch die Frage nach dem Gemeindeengel real. Ist es überhaupt möglich, daß die Christengemeinschaft oder eine Gemeinde ihre Aufgaben wahrnimmt, wenn die Pfarrer das höchste Urteil und die Entscheidungsbefugnis beanspruchen? Entscheidungsbefugnis! Beanspruchen! Wie kann es um etwas anderes gehen als darum, überhaupt gemeinsam zu Urteilen zu kommen? Wie kann es anders sein, als daß die Fähigkeiten der Pfarrer von jedem Einzelnen real erlebt werden müssen, und er ihnen dann eine hervorragende Urteilsfähigkeit aus eigenem Erleben zu-sprechen kann? Dies gilt zwischen Menschen überhaupt. Sobald man beansprucht – unabhängig vom oder sogar gegen das Erleben anderer –, ist man beim Machtprinzip. Auch das gilt generell.

Mit dem Kooptationsprinzip wird der doppelte Anspruch erhoben, die Verantwortung zu „haben“ und sie auch am besten ausüben zu können, also z.B. die notwendigen Impulse etc. am klarsten erkennen und „umsetzen“ zu können. Es ist aber kein Mensch ein Universalgenie, es ist kein Mensch unfehlbar, es hat kein Mensch die alleinige, sichere Verbindung zum Gemeindeengel. Rudolf Steiner hat unermüdlich darauf verwiesen, wie vielfältig die Aspekte in jeder Sache sind. Das bedeutet konkret: Der eine Mensch hat einen untrüglichen Blick für die Notwendigkeit dieses Impulses, der andere einen anderen. Dem einen fehlen dann zunächst schlichtweg die Urteilsgrundlagen für das andere. Heilsam wirken kann man nur gemeinsam. Das macht die christliche Pfingstgemeinde aus. Man möchte sagen, der Gemeindeengel ist in höchstem Maße behindert, solange das gemeinsame Wirken nicht praktiziert wird! Dies wird aber sogar in größtem Maße verhindert, wenn ein kleiner Kreis das Urteil darüber beansprucht, welche Impulse wie zur Wirkung kommen sollen oder dürfen. Ein kleiner kooptierter Kreis vermag dies prinzipiell nicht zu beurteilen.

Ich möchte das Beispiel der Lehrerkonferenz einer Waldorfschule erwähnen: Der ganze Kreis des Kollegiums trägt die Verantwortung. Es ist nicht immer leicht, zumal jeder sich sehr disziplinieren muß. Aber es wäre anders – ein kleinerer Kreis – kaum denkbar. Jeder in diesem Kreis gehört einfach dazu. Viele sagen fast nie etwas, aber wenn sie etwas sagen, dann ist auch ihr Beitrag wertvoll, vielleicht sogar dann ganz besonders. Manch einer trägt die meisten Entscheidungen einfach nur aktiv mit, hat aber eine unvergleichbare Sichtweise auf gewisse Dinge und ist mit seinen wenigen Beiträgen eine unschätzbare Bereicherung.

Durch Kooptation dürften solche Menschen schlicht „übersehen“ werden. Und wenn sie einmal vorgeschlagen werden sollten: nach welchen Kriterien will man da entscheiden? Welche „Probleme“ wehrt man ab, wenn auf einen solchen Vorschlag hin jener Mensch nicht im Gemeinderat mitarbeiten darf? Welche Versäumnisse lädt man dadurch auf sich? Irgendwann wird es unmöglich, in diesem Sinne noch rechtmäßig Verantwortung zu übernehmen.

Wenn man einen Entschluß zurückweist, wird man in jedem Fall schuldig (in welcher Weise, kann jeder nur selbst erleben). Wenn man ihn nicht zurückweist, trägt man natürlich bei Problemen die Mitverantwortung und in dem Sinne auch „Schuld“. Diese Schuld aber müssen wir alle ohnehin immer gemeinsam tragen. Soll Mündigkeit ernst genommen und gefördert werden, dann muß man jedem Menschen zugestehen, daß er selbst urteilen kann, und wenn er sich selbst oder andere falsch einschätzt oder einmal nicht voll die Ziele der Gemeinschaft erfaßt, muß man sein „Fehlurteil“ mittragen. Real wird Verantwortung immer in der gemeinsamen Arbeit. – Jeder einzelne möchte mit Recht an Entscheidungen, die die Gemeinschaft betreffen, beteiligt sein. Egal wie weit die einzelnen Fähigkeiten sind, ist dieses Bedürfnis bereits Abbild und Prophetie der individuellen Kraft jedes Einzelnen, und das wirklich Individuelle ist wiederum die Grundlage einer wirklichen Gemeinschaft. Es kann daher nicht darum gehen, dieses Bedürfnis abzuwehren, sondern nur darum, ge­meinsam die Fähigkeiten zu entwickeln, die für ein individuell verantwortungsvolles Wirken für die ganze Gemeinschaft nötig sind.

Heute sind nur noch Strukturen zeitgemäß, die maximal transparent und maximal zugänglich sind. Sie müssen Ideale des Miteinanders als Grundlage haben und sich Regeln geben, die menschlichen Umgang nach „innen“ und „außen“ unabdingbar machen. Die konkreten Lösungen können gemeinsam gefunden werden, wenn man sich in Wahrhaftigkeit in die tatsächliche Situation der Gemeinde und der heutigen Zeit vertieft und sich an das wirklich Zeitgemäße herantastet. Dann nähert man sich zugleich der geistigen Welt der Ideen, die eine für alle Menschen ist. Darum ist die gemeinsame Verständigung bei genügendem Bemühen immer möglich.

Vielleicht wird gerade hier der Vorwurf des Idealismus erhoben. Man wagt noch einmal das Argument: Die Menschen sind noch nicht so weit. Überall fehlen die Fähigkeiten. Wenn wir „unsere“ „Verantwortung“ aus der Hand geben, leben sich zahllose chaotische Impulse aus. Es geht auch darum, daß die Gemeinde nicht zerbricht.

Was steht dahinter für ein Gemeindebild? Ja, wir können fraglos zugestehen, daß wir alle arm an Fähigkeiten sind und im Sinne der Bergpredigt Bettler. Einschließlich der Pfarrer! Aber wer hat nicht im Innersten den Willen, sich hier auf den Weg zu begeben – einzeln und gemeinsam? Laßt uns also beginnen! Es kann ja wohl keinesfalls darum gehen, die Gemeinde an allen Konflikten vorbeizuschiffen. Das wäre Todesstarre! Wir aber wissen, daß Neues im wahren christlichen Sinne immer nur durch Todesprozesse entstehen kann. Und dazu muß man den Mut haben! Den Mut, alles loszulassen, sich nur auf sich selbst und auf den anderen zu verlassen, damit Neues entstehen kann. - Das wäre das gemeinsame Wandeln auf dem Wasser! Vielleicht vermochte es Petrus nicht, weil es nur gemeinsam geht! Weil der Glaube an Christus solange nicht wirklich da ist, wie man nicht auch mit voller Wahrhaftigkeit an das Beste im anderen Menschen glaubt.

Solange das nicht geschieht, wird sich immer und überall das Machtprinzip geltend machen - offenbar oder heimlich. Nur die Gemeinschaft selbst kann dies verhindern.

Die zentrale Polarität: Macht und Freiheit

Unverständnis gegenüber der Kooptation entsteht vor allem aus zwei Gründen: Weil Menschen durchaus den Willen haben, Mitverantwortung zu übernehmen, und zwar nicht bevormundet oder auf zustimmende Erwählung Einzelner angewiesen. Und weil der Gemeinderat natürlich über Dinge entscheidet, die alle Mitglieder betreffen.

An diesen Entscheidungen nicht beteiligt zu sein, ist das Kennzeichen von Unmündigkeit. Infolge der Kooptation gibt es nicht einmal einen wirklichen Einfluß darauf, wer für einen die Dinge entscheidet. Die Kooptation verurteilt die Gemeinde und ihre Mitglieder zur Unmündigkeit - mag man sie noch so oft als mündig bezeichnen.

Vielleicht wird die Kooptation sogar mit den Worten verteidigt: Mitverantwortung könne man überall übernehmen, warum im Gemeinderat? Die Gegenfrage wäre: Warum nicht im Gemeinderat? Kann ein kleiner Kreis entscheiden, daß verantwortungsvolle Menschen überall tätig werden können, nur nicht dort, wo er es ist? Warum darf in diesem entscheidenden Organ nicht jeder Mitverantwortung übernehmen, der den Entschluß dazu faßt und von der Gemeinde das Vertrauen zugesprochen bekommt? Das schließt ja nicht aus, sondern ein, daß man Verantwortung auch übernimmt, indem man bei Taufen, Sommerfest, Basar, Synoden usw. hilft. Wer aber will über ein mündiges Mitglied bestimmen, daß es zwar helfen darf, daß Sommerfest und Basar stattfinden, daß es aber im Gemeinderat nichts zu suchen habe?

Die Kooptation hat bereits in dem Moment ihre Berechtigung verloren, wo es Menschen gibt, die ihren Sinn nicht einsehen können. Vorsichtig gesagt, bewegt sich das Kooptationsprinzip immer an den Abgründen des Unsozialen. Es sind nicht einmal irgendwo besondere Früchte dieses Verfahrens nachzuweisen. Aber selbst wenn dies so wäre: Ob etwas heilsam ist oder nicht, hängt eben nicht nur - nicht einmal in erster Linie - von den objektiven Ergebnissen ab, die erzielt werden können oder könnten, sondern auch von den realen Empfindungen der Menschen. Man sollte alles, was die Menschen hier als Gefühlsurteile erleben, immer auch im Zusammenhang mit den Impulsen des Zeitgeistes sehen!

Es steht zu dem heute zeitgemäßen Prinzip der Freiheit und freien Gemeinschaftsbildung im Gegensatz, über den individuellen Entschluß eines Menschen auch nur beschließen zu wollen. Die ganze Gemeinde würde niemals über den freien Entschluß eines Mitglieds, Mitverantwortung im Gemeinderat übernehmen zu wollen, beschließen. Sie könnte ihn entweder nur dankbar zur Kenntnis nehmen oder mehrheitlich sogleich irgendwelche Bedenken vorbringen, die in ihrer Gesamtheit etwas Objektives zeigen. Denn die Gemeinde als Ganzes kann keine persönlichen Interessen haben, aus denen heraus sie jenen freien Entschluß zurückweisen würde. Und es ist das Recht der ganzen Gemeinde, sich selbst zu dem Entschluß jenes Menschen zu stellen.

Das Unheil der Macht

Das Kooptations-Prinzip bedeutet, daß Vorschläge oder eigene Entschlüsse zur Mitarbeit - sofern sie überhaupt grundsätzlich zugelassen werden - abgelehnt werden können. Die Frage wäre, ob dies objektiv begründet werden kann, d.h. die Gründe prinzipiell von jedem anerkannt werden können. Oder ob dies gar nicht begründet werden muß und die Pfarrer bzw. der Gemeinderat in dieser Hinsicht auch keine Verpflichtung fühlen würden. In diesem Fall - und auch schon, wenn man sich über solche Fragen gar keine Gedanken macht - wird das Kooptations-Prinzip identisch mit dem Macht-Prinzip. Es kann unter Hinweis auf die „Verantwortung“ jeder Entschluß oder Vorschlag mittels der Macht des Kooptationsprinzips zurückgewiesen werden. Das Leitungsgremium beansprucht erstens das Wissen bzw. das entscheidende Urteil darüber, was jeweils Gesamtwohl, nötige Impulse etc. sind, und zweitens, wer diese vertreten könne.

Wie sollte sich das Kooptations-Prinzip denn vom Machtprinzip unterscheiden? Und wie von den alten theokratischen Strukturen? Nach meiner Ansicht kann das theokratische Machtprinzip nur durch ein verändertes Bewußtsein der Menschen überwunden werden. Damit wirkliche Gemeinschaft und in dieser ein gemeinsames Wirken sich bilden kann, muß eine doppelte soziale Fähigkeit geübt werden: Selbsterkenntnis in bezug auf die eigenen Fähigkeiten und selbstloses (An-)­Er­kennen der Fähigkeiten der anderen. Dann würde in idealer Weise das gemeinsame Wirken mög­lich werden, indem jeder - sicher durch sein eigenes Erleben geleitet - einen Ort finden würde, an dem er zum größtmöglichen Wohl der ganzen Gemeinschaft seine Fähigkeiten einbringen könnte und das Wirken der anderen aktiv mittragen würde.

Diese Erkenntnis-Fähigkeiten sind heute kaum da, obwohl es längst an der Zeit wäre, sie zu besitzen und zu gebrauchen - oder zumindest, sie gemeinsam zu üben. Heute beobachtet man überall, daß Menschen ihre Fähigkeiten überschätzen oder aber auch gar nicht bemerken. Beides hat im Prinzip die gleichen Ursachen: Es kam jeweils nie darauf an oder aber auch, es wurde einem noch nie die Gelegenheit gegeben, seine Fähigkeiten zu entdecken und zu üben. - Es gibt nun zwei Wege, mit dem vermeintlichen oder tatsächlichen Mangel an Fähigkeiten grundsätzlich umzugehen: Man kann sich gemeinsam darauf einlassen, daß die Fähigkeiten im Miteinander allmählich aufgerufen werden und zu wachsen beginnen können. Oder man nimmt die damit verbundenen „Unsicherheiten“ als unzulässiges Risiko wahr und schiebt dem Ganzen den sicheren Riegel des Machtprinzips Kooptation vor.

Wir sind alle Zeitgenossen. Unsere Zeit führt in die Vereinzelung, in den Egoismus und immer mehr auch zurück zum alten Machtprinzip (gerade dies ließe sich an zahllosen Beispielen immer deutlicher machen). Das ist der dunkle Schatten des Bewußtseinsseelen-Zeitalters. Man kann sich an einen Topf erinnert fühlen, der zunehmend unter Druck gerät. Das Machtprinzip entspricht der Methode „Deckel fester zudrücken“. Dies ist nicht nur absolut sinnlos, sondern arbeitet den unguten Impulsen geradezu in die Hände: Wer die Hand auf dem Deckel hat, erhöht den Druck nur noch!

Einzig heilsam kann es doch nur sein, ein „Ventil“ zu finden, durch das hindurch die an die Oberfläche dringenden Impulse verwandelt werden können. Das Ziel der Bewußtseinsseele ist die Erkenntnis des Wesens des Menschen – des eigenen Wesens und des anderen Menschen. Im Bewußtseinsseelen-Zeitalter sollen und können wieder soziale Impulse wachsen. Aber nur, wenn man diese Impulse gemeinsam wachruft und übt. Die „gefährlichen“ Ich-Kräfte sind es gerade, von denen aus die Brücke geschlagen werden muß. Die Gefahr des Egoismus wird gerade dann allseitig am größten, wenn man individuelle Impulse unterdrücken (können) will. Es kann nicht darum gehen, ob individuellen Impulsen Raum gegeben wird oder nicht, sondern nur darum, den Raum, den sie in jedem Fall einnehmen werden, zu gestalten oder nicht zu gestalten!

Das Kooptations-Prinzip verhindert schon, daß die diesbezüglichen Fragen überhaupt entstehen. Unsere Zeit ist aber das Parzival-Zeitalter des individuellen und gemeinsamen Fragens! Kooptation verhindert, daß derjenige Freiheitsraum entstehen kann, der überhaupt die Grundlage für die Bewußtseinsseele bildet. Das Machtprinzip oder ein Prinzip, das mit diesem jederzeit identisch werden kann, verhindert in stärkstem Maße, daß die Menschen von äußeren Autoritäten unabhängig werden und ihre eigene, innere Autorität finden. Sie bleiben entweder in der Verstandesseele gefangen oder werden in die dunklen Schatten der Bewußtseinsseele hineingezwungen.

Steiner spricht einmal davon (GA 184, XV.), daß die Gegenmächte durch die Förderung theokratischer Strukturen das Fruchtbarwerden der Christusopfer verhindern wollen!

Schluß: Idealismus und Pragmatismus

Immer wieder kann der „pragmatische“ Einwand kommen: Da spricht der Idealist, hört, hört! – Dies wäre aber kein Einwand, sondern die pragmatische Resignation unserer Zeit. Wenn man heute nicht versucht, die Ideale aus der Zukunft in die Gegenwart zu holen, arbeitet man gegen die Zukunft. Man meint, die Gegenwart bringe einen doch von selbst in die Zukunft. Das ist dann aber eine ganz andere! Wer nicht mit äußerster Kraft für die erkannten Zukunftsideale arbeitet, der entfernt sich von der Zukunft, weil er zurückfällt. Oder man kann auch sagen, er bleibt stehen, während die reale Zeit - der ewig gegenwärtige Christus! - vorangeht. Eine größere Tragik ist nicht denkbar.

Das Zukunftsideal muß schon in der Gegenwart wirken können bzw. in den Blick und in den Willen genommen werden. Von daher stellt sich immer wieder neu die Frage, wie der Ausgleich zwischen einem reinen Status-quo-Blick und einem reinen Zukunftsblick gefunden werden kann (beide isoliert kann man wohl als ahrimanische bzw. luziferische Einseitigkeiten bezeichnen). Wie also kann man jeweils konkret bei der Gegenwart ansetzen und möglichst viel Raum für Zukunft schaffen? Wie macht man sich am besten auf den Weg, wie arbeitet man am besten unter und an den konkreten Verhältnissen, um den aus der Zukunft herandringenden Aufgaben begegnen zu kön­nen? Was sind überhaupt die wichtigsten und größten Herausforderungen? Sicherlich die Vertiefung des Kultus und Gemeinschaftsbildung (Stichworte: Bewußt­seinsseele, Pfingsten, Ecclesia) - im Grunde zwei Seiten ein und derselben Aufgabe.

Die Kooptation schaltet vor allem potentielle „Gefahren“ aus, weil sich eben ein kleiner Kreis die Verantwortung vorbehält. Das ist ein an der „Realität“ orientierter, durchaus sehr gewichtiger Standpunkt. Wie nun aber, wenn andere Verfahrensweisen real und wirksam Zukunft schaffen würden? Konkret: Neue Fähigkeiten und mehr Bewußtsein? Man kann nie alles haben: Das Prinzip der Kooptation ist ein „sicheres“ Prinzip, das aber dadurch fortwährend an einer vielleicht entscheidenden Stelle reale Versäumnisse auf sich nimmt. Ein anderes Prinzip (nicht abstrakte Wahl!) wäre weniger sicher und würde allen mehr Verantwortung auferlegen, könnte aber - auch gerade darum - wichtige Zukunftsschritte impulsieren (u.a. was die Fähigkeiten des einzelnen und der Gemeinschaft angeht). Wer argumentiert, man dürfe das Bestehende (der Spatz in der Hand?) nicht einem Experiment opfern, muß sich fragen lassen, ob nicht möglicherweise jedes „Experiment“ eher einen Schritt auf den gegenwärtigen Christus zu bedeutet als die Verwaltung des Bestehenden.

Wo man auf Macht und alleinige Entscheidungsgewalt verzichtet, wird es zwangsläufig „schwieriger“, weil verschiedene Standpunkte möglich werden. Damit zurecht zu kommen, ist seit jeher Aufgabe des Christentums. Wo wurde sie schon einmal mit vollem Ernst wahrgenommen? - Was ist, gerade auch von den konkreten Umständen ausgehend, ein christliches Verfahren bei der Bildung von Gemeindeorganen? In bezug auf die Kooptation habe ich die Problematik einmal auf folgende Worte gebracht: „Wenn aber einer unter euch sich zur Mitverantwortung entschließt, so entscheide ein kleiner Kreis darü­ber, ob er diesen Entschluß zulassen will.“ Niemals würde Christus so sprechen. Wie aber dann? Was könnten vielleicht seine Worte sein, wenn er die gegenwärtigen Unzulänglichkeiten der Menschen mit im Blick hat? Und was erst, wenn er den zukünftigen Menschen im Blick hat, der ihm selbst immer mehr Wohnung gibt?