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14.09.2002

Weltmacht USA oder Dreigliederung

Weitere Anmerkungen zum Irak-Krieg

Was ist Wahrheit?

Es gibt die Redewendung: „Im Krieg stirbt zuerst die Wahrheit“. Nach dem Golfkrieg von 1991 gab US-Oberbe­fehls­haber Schwarzkopf offen zu, daß die Medien einem gigantischen Täuschungsmanöver dienten (Frankfurter Rundschau 6.3.91). Es ist jedoch viel schlimmer. Die Wahrheit wird täglich getötet, denn auch in sogenannten „Friedenszeiten“ findet ein immerwährender Krieg um die „öffentliche Meinung“ statt, um die Vorstellungen der Menschen den eigenen Interessen entsprechend zu prägen. Immer schwerer wird es, zu ahnen, wo versucht wird, Tatsachen unverstellt weiterzugeben.

Noch am 11. Februar erklärte der deutsche Bundeskanzler Schröder, Bush habe ihm versichert, keine Angriffspläne gegen Irak zu hegen. Eine Woche später berichtete der britische Guardian, daß die endgültige Entscheidung für einen Angriff bereits Ende Januar gefallen sei. Das Pentagon begann bereits mit den Vorbereitungen, als Bush am 29. Januar Iran, Nordkorea und Irak als „Achse des Bösen“ bezeichnete. Doch schon seit dem ersten Golfkrieg hatte eine immer einflußreicher werdende Fraktion in Washington es als den größten Fehler angesehen, daß Bush senior die US-Truppen damals nicht bis Bagdad marschieren ließ.

Seit über sechs Monaten stellt nun die US-Regierung Saddam Hussein als die größte Gefahr der Welt hin, und die Propaganda tut nach und nach ihre Wirkung, obwohl bisher kein einziger Beweis vorgelegt wurde – und obwohl scheinbar nahezu die gesamte übrige Staatenwelt gegen einen Alleingang der USA ist. Das laute Kriegsgeschrei wird zumeist zaghaft kritisiert, und am Ende wird man die Handlungen des mächtigsten Staates der Welt hinnehmen. Das heißt, man würde, denn wie es aussieht, bekommt die US-Regierung nun, was sie will: Die ständigen Mitglieder des UN-Sicher­heits­rats sind sich einig, daß der Irak ultimativ zu neuen UN-Inspektionen gezwungen werden soll und bei der geringsten Behinderung ein Angriff erfolgen wird.

Wenn in diesen Tagen dann noch Zahlen oder sogar „Beweise“ für Massenvernichtungswaffen des Irak vorgelegt wurden oder werden – welchen Wahrheitsgehalt haben diese? Der CIA hatte bis jetzt keine Beweise, wie nicht nur US-Zeitun­gen wiederholt berichteten. Im übrigen stand der Irak schon 1991 einem 42-tägigen Angriff und der Zerstörung der industriellen Infrastruktur machtlos gegenüber und hat zusätzlich eine etwa 95-prozentige Abrüstung und ein 11-jähriges Embargo („Öl für Lebensmittel“) hinter sich - eine Bedrohung für die USA, der man mit „präventiver Selbstverteidigung“ zuvorkommen muß?

Schon öfter hat die irakische Regierung Journalisten zu verdächtigten Einrichtungen geführt. Zweimal schon hat sie führende US-Abgeordnete eingeladen, sich zusammen mit Experten selbst ein Bild zu machen. Zu neuen UN-Inspek­tionen ohne US-Amerikaner wäre sie offenbar sofort bereit. Daß unter dem Deckmantel der UN-Inspektorenteams Agenten der USA völkerrechtswidrig im Irak tätig waren und nicht zuletzt Zielkoordinaten für – auch sehr viele zivile – Einrichtungen sammelten, die dann 1998 zerstört wurden, ist inzwischen erwiese

Was ist Recht?

Angesichts dessen ist es zumindest nachvollziehbar, daß die irakische Regierung vor erneuten Inspektionen einige Klarstellungen erwartet. Schon im März überreichte sie Kofi Annan ein entsprechendes Schreiben. Es braucht klare Kriterien, wie eine UN-Mission durchgeführt werden soll und wann eine solche als erfolgreich abgeschlossen gelten kann. Wie kann die UNO sicherstellen, daß künftige UN-Missionen nur ihr Mandat ausfüllen und nicht der Spionage für einen anderen Staat dienen? Wie ist es mit der UN-Charta zu vereinbaren, daß mindestens ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrates aggressiv und offiziell erklärt, die irakische Regierung absetzen zu wollen?

Diese Fragen deuten auf das Problem, daß die USA sich vollkommen außerhalb des Völkerrechts stellen. Nicht nur, daß sie UN-Organe für ihre eigenen Interessen mißbrauchen, sondern auch, daß sie die UN-Charta selbst absolut mißachten.

Diese verbietet eindeutig jegliche Androhung und Anwendung von Gewalt gegenüber anderen Staaten (außer durch UN-Zwangsmaßnahmen, nachdem der Sicherheitsrat förmlich eine Bedrohung oder einen Bruch des Friedens festgestellt hat). Ich will hier nicht auf die von den USA und Großbritannien einseitig festgelegten „Flugverbotszonen“ und die stän­­­digen US-Flugeinsätze dort eingehen. Nur mit einem Satz möchte ich das Embargo erwähnen, das entscheidende Ursache für den Tod von monatlich rund 5.000 Kindern ist (im Sanktionsausschuß blockieren die USA sogar erlaubte Hilfsgüter für mehrere Milliarden Dollar, weil sie rein theoretisch militärisch genutzt werden könnten). In jedem Fall völkerrechtswidrig war auch der Einsatz von Uranmunition 1991 (wodurch auch rund 20% der US-Soldaten erkrankten und rund 600 bereits starben).

Entscheidend für die Zukunft ist, daß die USA die UNO und ihr Gewaltverbot bzw. -monopol inzwischen ganz offen übergehen. Auf diese Weise wird Krieg wieder zum Mittel der Politik werden, und bedeutende Errungenschaften einer Menschheit, die gerade begann, sich in dieser Hinsicht ansatzweise ihrer moralischen Verpflichtungen bewußt zu werden, gehen wieder verloren. So korrupt und ungleich die Prozesse in der UNO auch bisher zumeist gewesen waren – das jetzige Verhalten der US-Regierung macht Fortschritte völlig unmöglich und stößt vielmehr das Tor auf in eine Zukunft des „Kampfes aller gegen alle“.

Was ist der Wille?

Und für genau eine solche Zukunft verschafft die US-Regierung ihrem Land die besten Ausgangsbedingungen. Sie sind selbst der größte Produzent und Besitzer von Massenvernichtungswaffen (fast 40% aller Rüstungsausgaben weltweit). Daß es im Fall Irak nicht um Recht, sondern um Macht geht, zeigt sich schon daran, daß ebenfalls im Nahen Osten ein weiterer Staat ungehindert seine Waffenarsenale stetig aufstockt und - von den USA engagiert verteidigt - souverän eine UN-Resolution nach der anderen verletzt: Israel.

Kaum etwas kann einer machtbewußten US-Regierung wichtiger sein, als daß der Irak Teil ihrer Einflußsphäre oder sogar Standort von US-Truppen wird. In direkter Nähe liegen die riesigen Ölvorkommen der kaspischen Region, einschließlich der Pipelines durch Afghanistan, Pakistan oder die Türkei. Über das irakische Öl könnte der Ölpreis weitgehend beeinflußt werden, die OPEC würde zerbrechen, außerdem sind im Ölgeschäft selbst enorme Gewinne zu machen (vielleicht ist dies in Wirklichkeit das naheliegende Hauptmotiv). Man würde von Saudi-Arabien weitgehend unabhängig. Der Iran würde von beiden Seiten kontrolliert, die gesamte arabische Welt eingeschüchtert – zumindest die politische Ebene. Denn der Fundamentalismus in der gesamten Region würde unweigerlich weiter wachsen.

Am „Irak-Konflikt“ kann man wie in einem Brennglas sehen, welchen Weg die Menschheit gegenwärtig einzuschlagen droht. Natürlich war das Streben nach Macht auch früher da. Doch zum einen hatte das Ideal der UNO, auch wenn es nie verwirklicht wurde, durchaus eine Wirkung. Zum anderen brachte der Zusammenbruch Rußlands völlig neue Ausgangsbedingungen. Dazu kam dann der Machtkampf auf wirtschaftlicher Ebene („neoliberale Globalisierung“). – Die Verhältnisse im Großen und im Kleinen beeinflussen und verstärken sich gegenseitig. Die heutigen Rahmenbedingungen fördern den Egoismus des Einzelnen, dem scheinbar ohnehin nichts anderes übrigbleibt, und umgekehrt. Jemand hat einmal gesagt, jedes Volk habe die Politiker, die es verdient. Dies weist darauf hin, daß die Politik zumindest teilweise schlicht ein Spiegel der Gesellschaft ist, und daß wir in jedem Fall alle mit Verantwortung für die Entscheidungen und Ereignisse um uns tragen.

Macht oder Dreigliederung

Daß es in der Politik nur korrupt zugeht, glauben heute die meisten. Dies bewahrheitet sich nicht zuletzt selbst, da die besten Geister sich oftmals entweder von vornherein von der Politik fernhalten oder aber „abgesägt“ werden, für eine eigene Initiative nicht jene Mitstreiter finden, die sie bräuchten, oder noch anderes. Klar ist, daß die ganze Struktur der Gesellschaft - insbesondere der letztlich fast alles bestimmenden Politik - dasjenige be- und verhindert, was heute den Menschheitsfortschritt ermöglichen und bedeuten würde. Die bestehenden Strukturen fördern oder erlauben viel zu sehr die Ausbildung von Macht. Zukünftige Strukturen müßten dies dagegen überall verhindern. Das Gegenteil von Macht für wenige ist: Freiheit (als selbstverantworteter Freiraum) für alle. Die notwendige Struktur, die dazu die Bedingungen schafft, ist die soziale Dreigliederung.

Der Bereich der „Politik“ würde nur noch die eigentliche Aufgabe haben: Gesetze und Regeln zu beschließen, die das Menschlich-Zwischenmenschliche betreffen – was ist das Recht jedes einzelnen (und damit die Verpflichtung der anderen)? Entlastet von der Aufgabe, sich um wirtschaftliche und kulturelle Richtlinien oder Prioritätensetzungen zu kümmern, wären die „Politiker“ nicht mehr „Zielgruppe“ zahlloser Lobbies und könnten sich erstmals insgesamt um die objektive Erfüllung ihrer Aufgabe bemühen. – Das Geistesleben und das Wirtschaftsleben würden sich selbst verwalten, mit eigenen Parlamenten, untereinander vernetzten Gremien, und so weiter. Das Wirtschaftsleben sollte aber auch selbst die vom Rechtsleben gesetzten Vereinbarungen (z.B. über das, was ein menschenwürdiges Leben bedeutet) umsetzen bzw. für sie Lösungen finden. Es würden Absprachen und Vereinbarungen der verschiedenen Wirtschaftsteilnehmer erforderlich, wie die Finanzströme zu leiten sind, damit jedem zukommt, „was recht ist“. Da das Wirtschaftsleben diese Aufgabe selbst zu lösen hätte, würden die verschiedenen Interessen und Bedürfnisse direkt aufeinandertreffen und hätten gar keine andere Möglichkeit, als aufeinander einzugehen. Natürlich würde sich die gesamte Struktur des Wirtschaftslebens umfassend verändern. Und was bisher in Form von Steuergeldern dem Geistesleben zukam, wäre in Vereinbarungen zwischen den Organen des Wirtschafts- und des Geisteslebens direkt zu regeln.

Die Politiker des Rechtslebens aber, die nun keine Interessenvertretung mehr betrieben, hätten auch keine (von ihrer Wählerklientel nahegelegten oder auch nur scheinbar erwarteten) Machtambitionen mehr – auch nicht außenpolitisch. Auf diese Weise würden sich auch die Vertreter der Staaten, wenn sich ihre Gesellschaften eine dreigliedrige Struktur gegeben haben, vollkommen anders – nämlich nach und nach gleichberechtigt, später nach und nach brüderlich – begegnen. Spätestens dann könnten die Staatsgrenzen völlig aufgelöst werden und die drei Bereiche des Geistes-, Rechts- und Wirtschaftslebens auch innerhalb der einen Menschheit wirklich zusammenwachsen. Jenen Staaten aber, die weiterhin Machtpolitik betreiben, könnte gemeinsam in innerer Wahrhaftigkeit entgegengetreten werden.

Daß es unmöglich ist, in drei Absätzen die Dreigliederung darzustellen, dürfte wahrscheinlich klar sein. Eine wichtige Frage wäre, wie man den Weg zur Dreigliederung beginnen kann. Damit sich irgendwann die ganze Gesellschaft eine solche Struktur gibt, ist es sicherlich erforderlich, daß einzelne Gemeinschaften (z.B. Institutionen oder Zusammenschlüsse von solchen) die Dreigliederung so vorleben, daß die fruchtbaren Wirkungen unübersehbar nach außen treten. Dreigliederung innerhalb einer Institution manifestiert sich wiederum anders als im Großen, was die Aufgabe nicht einfacher macht. Doch alles, was ins konkrete Leben wirken will, muß im Konkreten und Kleinen beginnen. Das Leiden an der Erkenntnis falscher Strukturen und Entwicklungen in der Welt muß den Willen zum Handeln im eigenen Umfeld befeuern.