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15.09.2002

Privatisierung – lat.: Raub

Eine radikale Globalisierungskritik

In weitgehender Anlehnung an den Artikel „Fade Globalisierungssoße“ von M. Greffrath in der Frankfurter Rundschau vom 31.8.2002. Veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 4.10.2002 (Nr. 41).


Reden wir einmal über Ökonomie, genauer gesagt: über die neue Ökonomie, die wir Globalisierung nennen, oder auch Wissensgesellschaft, weil wir uns immer noch nicht wieder trauen, den Kapitalismus mit seinem eigenen Namen zu rufen. Wissen, das an die Erfahrung individueller Menschen gebunden war, wird zu Kapital - die Software, die Erfahrung aufsaugt, ist nun das "geistige Eigentum" der Digitalisierer und derer, die das Programm kaufen. Die hergestellten Dinge sind die gleichen; nur ein nicht unerhebliches Quantum an Zeit wird gespart - und ein paar Menschen verschwinden aus der Wertschöpfungskette. "Die Bedeutung der Arbeit nimmt ab, die von Wissen - und von Kapital - nimmt zu." Das ist die Formel, mit der die "neue Ungleichheit" gerechtfertigt wird: die rasante Umverteilung nach oben, der Druck auf die Löhne, mittelfristig: der Ausschluss eines Drittels der Bürger aus dem produktiven Gewebe der Gesellschaft. Der Reichtum unserer Gesellschaften beruht auf einer sinkenden Zahl von Unverzichtbaren. Die anderen sind, wie man sagt, "Modernisierungsverlierer", oder noch netter gesagt: "eine Unterschicht von Überforderten". Die werden "alimentiert", haben einen Niedriggesundheitssektor und eine Niedrigrente. Die Cleveren aber haben das Recht auf Ungleichheit. Ein "Rassismus der Cleverness" macht sich breit. ...

Das ist wegen der Globalisierung, sagen die Politiker und zucken die Schultern. Aber wer globalisiert da eigentlich? Lassen wir die Multis mal beiseite, dann sind es die Besitzer von 80 Billionen Dollar Geldvermögen - das sind 80.000 Milliarden, das entspricht drei Jahresproduktionen der Industrieländer. Profit aus vergangener Produktion. Geld, das nach profitabler Anlage sucht. Die Spekulanten einmal außen vor gelassen: Wo geht dieses Kapital hin? Zunächst auf andere Kontinente zwecks Herstellung von Volkswagen, Toastern, Handys und anderen unverzichtbaren Utensilien unseres Alltags - auf dass die anderen Kontinente uns gleich werden. Aber dieses Kapital zahlt bei uns so gut wie keine Steuern mehr, und anderswo auch nicht. Der zweite Teil widmet sich der Konzentration der Dienstleistungen: Betreuungs- und Pflegemultis entstehen, Pizza-Imperien, Starbucks-Ketten, Medienkaufhäuser, die Ärzte werden zu Franchise-Nehmern der Pharma-Multis... Und schließlich kaufen die Geldeigentümer das auf, was kürzlich noch uns allen gehört hat - den öffentlichen Reichtum: Schwimmbäder und Sozialwohnungen, Post und Bahn und Wasser werden privatisiert, Sportvereine veräußern ihre Grundstücke an Fitness-Center, Krankenhäuser werden zu AGs - und das alles mit dem Resultat höherer Rentabilität, sprich: teureren Leistungen und weniger Arbeitsplätzen. Auch das fügt unserer Welt nicht nur nichts hinzu, sondern lässt sie schrumpfen.

Es könnte nur anders werden, wenn wir tief verinnerlichen, was da eigentlich passiert: eine Enteignung nämlich. Jeder regt sich auf, wenn Gene patentiert werden. Stopp, rufen die Kritiker, hier wird Natur privatisiert! Die gehört uns allen! Wenn die Pharmamultis die Pflanzenkunde indischer Bauern ausnutzen und einen Baumextrakt patentieren lassen, dann nennen wir es Öko-Impe­rialismus. Aber wenn das Menschheitserbe an Produktionswissen, wenn die an die Personen gebundenen Kenntnisse von Beleuchtern, Bergbauingenieuren, Flugzeugbauern, Feinoptikern oder Currywurst- und Soßeninnovatorinnen digitalisiert und damit kapitalisiert und globalisiert werden und zahllose Menschen und ihre anspruchsvollen Tätigkeiten überflüssig werden - dann soll das als normaler technischer Fortschritt gelten? Wo ist unser Erbschein, mit dem wir unseren Anteil an den 80 Billionen einfordern können? Wie viele Maschinen sind nicht zuerst von einfachen Arbeitern erfunden worden, um sich ihre Tätigkeit zu erleichtern! Einfache Menschen vereinfachten den Arbeitsprozess und gewannen dadurch Zeit: für ein Gespräch, zum Lesen, zum Spielen. Sie alle waren die namenlosen Begründer der Bildungsgesellschaft oder - des Reichs der Freiheit. Erfinder, denn sie haben der Welt wirklich etwas hinzugefügt und die Möglichkeiten zu menschlicher Entfaltung erweitert. Aber sie haben ihre Entdeckungen ebenso wenig patentiert wie der Brennmeister sein Alchimistenwissen, der Chemieprofessor seine Formeln oder der Be­triebs­ingenieur seine alltäglichen Verbesserungen. Sie haben es weitergegeben an die Menschheit. "An der Arbeit, die in unsichtbarer Verkettung alle leisten, sind alle berechtigt. ... Eigentum, Verbrauch und Anspruch sind nicht Privatsache." So schrieb vor knapp hundert Jahren der AEG-Erbe und Millionär Walter Rathenau.

Warum ist ein Land reich? Warum ein Landstrich kreativ? Da kommt viel zusammen: Weil ein Fürst mit dem Geld, das er den Bauern abgepresst hat, eine Akademie der Wissenschaften gegründet hat; weil die Bürger die Stadtfreiheit erkämpften; weil Seeleute fremde, neue Ideen in eine Hafenstadt bringen; weil Flüchtlinge härter arbeiten als andere; weil zehn begabte Feinmechaniker zehn andere anziehen; weil Bauern in langen Wintern darauf verfallen, Uhren zu bauen - kurz, weil die ganze Geschichte einer Region, die ganze Gesellschaft eines Landes mitproduziert hat. Und deshalb ist "Wirtschaft keine Sache von Privaten". Nur zur Erinnerung: Heute betragen die privaten Nettovermögen in unseren deutschen Landen - ohne die Billionen, die außer Landes geschafft werden - rund 7500 Milliarden Euro. Eine Vermögenssteuer von nur einem Prozent ergäbe 75 Milliarden im Jahr. Daraus könnte man die Schäden von fünf Fluten pro Jahr beseitigen oder die gesamte Arbeitslosigkeit finanzieren. Ohne Beitragszahlungen. Oder aber sieben Milliarden Stunden für die Zivilisierung Europas einsetzen - und anspruchsvolle Arbeit schaffen. Unser Zynismus besteht darin, dass wir nach 200 Jahren öffentlicher Erziehung den Wanderarbeiter, das Dienstmädchen und den Tagelöhner wieder einführen und das dann noch die flexible, disponible, moderne Ich-AG nennen.

Die Arbeitslosen von heute und die staatlichen Leiharbeiter von Herrn Hartz und die frühverrenteten Akademiker und wir alle werden die wachsende Ungleichheit hinnehmen müssen - die an Geld und die an Chancen, sinnvoll zu arbeiten, wenn wir nicht wieder anfangen zu denken wie ein radikaler bürgerlicher Millionär vor 100 Jahren. Wenn wir nicht gegen die 80 Billionen die Erbansprüche geltend machen, die uns von den namenlosen Erfindern des Vanillepuddings, der Zentralheizung, der Windmühle und all den anderen, die der Welt etwas hinzugefügt haben, überkommen sind. Wenn wir die Forderung nicht als selbstverständlich empfinden, dass die 7,2 Milliarden Arbeitsstunden, die pro Jahr brachliegen, unser aller Erbe sind. Denn sie liegen brach, weil die Arbeit der Vergangenheit - deren Produktivität auf der "unsichtbaren Verkettung aller" beruhte, so erfolgreich war. 7,2 Milliarden Arbeitsstunden zur Verbesserung unseres Lebens, zum Spielen, zum Pflegen der Alten, zum Erzählen, zum Bewohnbarmachen der Städte, wir sind es den namenlosen Erfindern, wir sind es der Achtung vor den Opfern und Träumen unserer Eltern und Großeltern schuldig, sie einzuklagen und neu zu verteilen.