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09.11.2002

Porto Alegre als Schule der Brüderlichkeit

Veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 22.11.2002 (Nr. 48).


In diesem Jahr blickte die Welt anläßlich des Weltgipfels nach Johannesburg und sah, wenn sie sehen wollte: Auf der einen Seite die Township Alexandra, wo die Menschen in bitterer Armut und in Schmutz nichts anderes kennen als die menschenunwürdigen Verhältnisse des Slums und ihre tägliche Gewalt. Auf der anderen Seite die durch Zäune, Mauern und Wachmänner gesicherten Wohnanlagen der reicheren Weißen und schließlich der Edelbezirk Sandton mit seinen Banken, Fassaden aus verschwenderischem Marmor, weißen Mercedessen und allen Annehmlichkeiten des Reichtums. Auch hier arbeiten Schwarze: als Portiere oder lebende Parkuhren – modernes Sklaventum. Dabei sind diese Schwarzen noch froh, daß sie solche Arbeit haben... Und die südafrikanische Regierung weiß nicht, wie sie die ungeheuren sozialen Probleme lösen soll. 

Blickwechsel nach Porto Alegre in Brasilien. 1988 gewann hier in der Hauptstadt des Bundeslandes Rio Grande do Sul eine Koalition unter Führung der Arbeiterpartei (PT) die Oberbürgermeisterwahlen. Der neue Amtsinhaber Olívio Dutra führte 1989 den Bürgerhaushalt ein: Die Bürger dürfen wesentlich über die Verwendung der für Investitionen zur Verfügung stehenden Mittel mitentscheiden...[1]

Die Arbeiterpartei wurde 1980 von Gewerkschaften, linken Politikern, Christen und sozialen Bewegungen gegründet, ist basisdemokratisch organisiert und machte von Anfang an das Thema „Partizipation“ zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit. – Die anderen großen Parteien Brasiliens sind eher konturlose Wahlbündnisse, die von den Politikern als Plattform ihrer Machtkämpfe benutzt und teilweise auch skrupellos gewechselt werden, wenn dies vorteilhaft erscheint. Die wichtigsten Medien sind von weniger als einem Dutzend Familien beherrscht, da die Politiker entsprechende Lizenzen an politische Freunde vergaben. Über Porto Alegre wird nur selten berichtet... Auch hierzulande ist Porto Alegre größtenteils nur als Ort für das Weltsozialforum bekannt, das als Gegenpol zum jährlichen Weltwirtschaftsforum in Davos (Schweiz) in den letzten Jahren Zehntausende Teilnehmer hatte. Was geschieht dort aber jedes Jahr außerdem? Was bedeutet Bürgerhaushalt?

Bürgerbeteiligung statt Korruption

In den 16 Stadtvierteln finden Jahr für Jahr viele öffentliche Bürgerversammlungen statt, an denen sich je nach Stadtviertel bis zu 1.500 Menschen beteiligen. Weitere Foren beraten über Investitionen, die die ganze Stadt betreffen (Verkehr und Transport, Gesundheit und Soziales, Erziehung und Freizeit, Kultur, Wirtschaft und Steuerpolitik, Stadtentwicklung). – Die ersten Versammlungen im Frühjahr befassen sich mit dem Bericht der Stadtverwaltung über die Umsetzung der Beschlüsse des letzten Jahres sowie den Vorhaben des kommenden Jahres. Dann werden Delegierte gewählt, die für die Leitung des Diskussionsprozesses mit der Bevölkerung verantwortlich sind und das Bindeglied zum gesamtstädtischen Beirat bilden. Nach einer Zwischenphase, in der die Bürgerinitiativen sich selbst abstimmen, werden im Juni die voraussichtlichen Finanzmittel, die vom Beirat ausgearbeiteten Verteilungskriterien und die Forderungen der Regionaldelegierten vorgestellt. Danach folgt die Neuwahl des Beirats (je zwei Delegierte jedes Viertels und Fachforums). Die Stadtverwaltung arbeitet den Haushaltsentwurf in Abstimmung mit dem Beirat entsprechend der Ergebnisse der Versammlungen aus und stellt ihn im August/September vor. Nachdem der Beirat den Entwurf diskutiert und über ihn abgestimmt hat, erstellt die Stadtverwaltung in Zusammenarbeit mit dem Beirat einen Investitionsplan.

Beteiligten sich in den ersten beiden Jahren auf diese Weise unter 1.000 Menschen an der Formulierung des Haushaltes, waren es ab 1999 über 20.000. Zusammen mit den informellen Veranstaltungen wirken geschätzt jährlich über 100.000 Menschen mit – 15% der Wahlberechtigten. Probleme wie Korruption, Klientelwirtschaft und Mittelverschwendung gehören der Vergangenheit an, 98% schätzen die Stadtregierung als nicht korrupt ein. Lebten in den 80er Jahren durch das politisch völlig unzureichend beantwortete Wachstum der Stadt schließlich über 40% der Menschen ohne grundlegende Infrastruktur, konnte der Anteil der Abwasseranschlüsse in den 90er Jahren von 46% auf 84% gesteigert werden, die Zahl der Schüler stieg 1985-99 von 13.400 auf über 50.000. In den 90er Jahren wurden 40% aller neuen Wohnungen seit 1950 gebaut.

Kommunalpolitik im Interesse der Menschen

Als die französische Supermarktkette Carrefour (Marktanteil in Brasilien 40%) im Norden Porto Alegres mit Niedrigpreisen, Arbeitsplätzen und einem Kindergarten lockte, kam es zu öffentlichen Bedenken. Darauf erließ die Stadtverwaltung ein Dekret, wonach für größere Investoren künftig eine Analyse der sozio-ökonomischen und ökologischen Folgen erforderlich ist. In einer „Kommission für Unternehmen“ diskutierten Vertreter der heimischen Wirtschaft, der Gewerkschaften, der Stadtverwaltung, sozialer Initiativen, des Beirates und regionaler Bürgerräte. Die Filiale wurde schließlich mit folgenden Bedingungen genehmigt: Für die Kinder der rund 500 Angestellten wird ein Kindergarten gebaut und unterhalten, ein weiterer Kindergarten für 60 Kinder der Umgebung wird gebaut und anschließend von der Stadt verwaltet; 10% der Belegschaft muß älter als 30 sein; der Abfall ist zu selbstverwalteten Wiederverwertungs-Kooperativen zu bringen (statt gewinnbringend an Zwischenhändler zu verkaufen); 10% der Verkaufsfläche ist für lokale Produkte zur Verfügung zu stellen; ein Teil der Einnahmen (ca. 250.000 US$) ist an die Stadtverwaltung weiterzuleiten, um die heimische Wirtschaft zu fördern und arbeitslos werdende Menschen weiterzubilden.

Porto Alegre ist heute nach UN-Kriterien eine der lebenswertesten Städte der Südhalbkugel. 99% der Menschen haben sauberes Trinkwasser, 84% einen Abwasseranschluß. Für praktisch alle Kinder stehen öffentliche und private Schulplätze zur Verfügung. Das kommunale Busunternehmen wurde von der Nationalen Vereinigung zur besten Gesellschaft gewählt, ebenso beispielhaft arbeiten die städtischen Entsorgungsbetriebe. – Dieser Erfolg ist zum einen dem Engagement der Bürger zu verdanken, zum anderen einer Steigerung des kommunalen Haushaltes. Durch eine systematische und gerechtere Besteuerung von Haus- und Grundbesitzern, Beseitigung von Schlupflöchern und ungerechtfertigten Nachlässen für Reiche sowie eine umfassende Beitreibung von Umsatzsteuern konnten die Steuereinnahmen verdreifacht werden. Die sozialen Ausgaben wurden vervierfacht.

Eine Idee hat Erfolg

Inzwischen haben über 200 Städte, in denen die PT die Stadtpolitik (mit)verantwortet, das Modell des Bürgerhaushalts übernommen – zum Beispiel Belo Horizonte, Belém, Campinas und Recife. Teilweise wird es auch in Sao Paulo sowie Montevideo und Buenos Aires praktiziert. – 1998 gewann Porto Alegres Ex-Bürgermeister die Wahlen zum Gouverneur von Rio Grande do Sul und führte 1999 den Beteiligungshaushalt für das gesamte Bundesland mit 10 Millionen Einwohnern ein. Die Opposition versuchte, die Bereitstellung der notwendigen Infrastruktur (Räume, Publikationen usw.) zu verhindern, worauf Verbände und Organisationen selbst Geld sammelten. Im Juli 2000 entschied dann die Justiz, daß die Landesregierung den Beteiligungsprozeß bezahlen und organisieren darf.

In den Versammlungen der rund 500 Kommunen kann jeder Vorschläge für Investitionen einbringen und schließlich aus allen Vorschlägen drei gewichtete Prioritäten auswählen. Die entstehende Rangordnung wird zehn Themenfeldern zugeordnet: Landwirtschaft, Verkehr, Kultur, Bildung, Soziales, Energie, Sicherheit, Umwelt, Gesundheit, Wohnungen. Die Kommunalversammlungen wählen auch Delegierte (einen je 20 Anwesende) für die Koordination auf regionaler und Landesebene. Im Jahr 2001 gab es 360.000 Teilnehmer und 18.000 Delegierte. Für die Zuteilung der Finanzen spielt neben den Prioritäten der Infrastrukturmangel und die Bevölkerungszahl der Regionen eine Rolle. In einem Rechenschaftsbericht informiert die Landesregierung, wie der Investitionsplan ausgeführt wurde und welche Probleme aufgetaucht waren. Die Bevölkerung kann dann die Regierung kritisieren und Verbesserungsvorschläge machen.

Freiheit und Gleichheit führen zur Brüderlichkeit

Der Bürgerhaushalt ist ein erfolgreiches Beispiel für konkrete Schritte in Richtung einer Selbstverwaltung der Zivilgesellschaft. Rudolf Steiner hatte für die drei Bereiche des sozialen Organismus je eigene Parlamente gefordert. Dies ist in Porto Alegre so nicht gegeben. Doch ist ein wesentliches Ziel der Dreigliederung im Ansatz erreicht: Die verschiedenen Akteure des Wirtschaftslebens begegnen sich gleichberechtigt, und ihre Interessen können und müssen sich (weitgehend) frei von Machtverhältnissen ausgleichen. So ist der Bürgerhaushalt auch ein deutlicher Schritt hin zur Befreiung des Individuums, wie Steiner schon 1898 im Anschluß an das „soziologische Grundgesetz“ formulierte:

Der Staat und die Gesellschaft, die sich als Selbstzweck ansehen, müssen die Herrschaft über das Individuum anstreben, gleichgültig wie diese Herrschaft ausgeübt wird, ob auf absolutistische, konstitutionelle oder republikanische Weise. Sieht sich der Staat nicht mehr als Selbstzweck an, sondern als Mittel, so wird er sein Herrschaftsprinzip auch nicht mehr betonen. Er wird sich so einrichten, daß der Einzelne in größtmöglicher Weise zur Geltung kommt.“ (GA31).

Damit einhergehend ermöglicht die Tatsache, daß im Rahmen des Bürgerhaushaltes die verschiedensten Bedürfnisse zusammenfließen können, die langsame Herausbildung jenes Prinzips, das für das Wirtschaftsleben mehr und mehr zentral werden muß: Das Prinzip der Brüderlichkeit. Die brüderliche Frage ist: Wessen bedarf mein Menschenbruder? Indem in einem transparenten Verfahren die Bedürfnisse aller Menschen der verschiedenen Bezirke und Regionen im Haushaltsentwurf Berücksichtigung finden, kann sich ein Verständnis und ein Bejahen der Bedürfnisse auch des anderen immer mehr entwickeln. – Porto Alegre und sein Bürgerhaushalt sind ein Ruf in der Wüste unserer dreigliederungs-blinden Zeit.

Fußnoten


[1] Die folgenden Fakten sind der Broschüre entnommen: Vom Süden lernen. Porto Alegres Beteiligungshaushalt wird zum Modell für direkte Demokratie. Herausgegeben 2002 von Misereor, DGB Bildungswerk und Servicestelle Kommunen in der Einen Welt.