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21.11.2002

Sind die Ärmsten nicht arm genug?

Die Zweiklassengesellschaft gilt zunehmend nicht mehr als Problem, sondern als Heilmittel


In Deutschland stehen Staat und Wirtschaft vor dem Zusammenbruch. Während für dieses Jahr der einsame Rekord von 44.000 Firmenpleiten erwartet wird, fehlen dem Staat gegenüber der bisherigen Planung 13,5 Mrd € wegen ungeplanter Steuerausfälle und weiter steigender Arbeitslosigkeit. Der Mitte November verabschiedete Nachtragshaushalt führt zu einer Neuverschuldung von 34,6 Mrd €. Für 2003 sind bis jetzt 20 Mrd € weitere Kredite eingeplant. – Schon zur Jahrtausendwende hatte der deutsche Staat 1200 Mrd € Schulden, für die er jährlich rund 70 Mrd € an Zinsen aufbringen muß. Zum Vergleich: Die gesamten Ausgaben des Bundes liegen bei rund 250 Mrd €, für Investi­tionen bleiben nur rund 25 Mrd €. 

Nun stehen den Schulden eigentlich immer Vermögen gegenüber. Insbesondere gab es Jahr für Jahr ein Wirtschaftswachstum (das jetzt allerdings an ein Ende zu kommen scheint), und so muß das Geld, was nun scheinbar überall knapp wird, doch irgendwo vorhanden sein. Ist es auch – bei den sogenannten Reichen. Zwar herrschen in Europa noch nicht Verhältnisse wie in den USA, wo die reichsten 13.000 Haushalte fast dasselbe Einkommen haben wie die 20 Millionen ärmsten Familien, aber wir nähern uns dem stetig. Denn die „Reichen“ werden als vermeintlicher „Motor“ und Quelle des Wirtschaftswachstums hofiert und in Ruhe gelassen[1], obwohl sie ihre Rendite in der Regel längst nicht mehr über den mühsamen Weg realwirtschaftlicher Investitionen erzielen. Ausnahmen bestätigen die Regel und lassen für die Zukunft des Menschengeschlechtes weiter hoffen.

Sind jedoch die „oberen Zehntausend“ tabu, dann bleibt dem Staat nur noch, die eigene finanzielle Notlage als Druck an die „unteren Zehnmillionen“ (oder 60 Millionen) weiterzugeben. Zumal die Regierung mittlerweile vollkommen von der neoliberalen Ideologie durchdrungen scheint, daß nur allseitige drastische Einsparungen „der Wirtschaft“ wieder auf die Beine helfen können. Wenn aber die normale Bevölkerung immer weniger Geld hat, um sich als Wirtschaftsteilneh­mer verhalten zu können, soll „die Wirtschaft“ dann allein durch den Konsum der „oberen Zehntausend“ ernährt werden?

Beraten läßt sich die deutsche Regierung vom "Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung", den sogenannten „fünf Wirtschaftsweisen“. Ihr Vorsitzender Wolfgang Wiegard stellte Mitte November ein umfassendes Programm vor: Es müßten die „Anspruchslöhne“ weiter gesenkt, der Niedriglohnbereich müsse ausgebaut werden. Das Arbeitslosengeld sei auf ein Jahr zu begrenzen, die Sozialhilfe zu reformieren. Im Gutachten heißt es: „Um den Anreiz zu erhöhen, aus der Sozialhilfe auf den ersten Arbeitsmarkt zu wechseln, sollte der Regelsatz für arbeitsfähige Bezieher von Sozialhilfe abgesenkt werden... Diejenigen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Stelle finden können, müssen ihre Arbeitskraft kommunalen Beschäftigungsagenturen zur Verfügung stellen, um das bisherige Leistungsniveau zu erhalten“. Es scheint, als sei nicht die abnehmende Zahl von Arbeitsplätzen schuld an der Arbeitslosigkeit, sondern die Faulheit und das „Schmarotzertum“ der Arbeitslosen. Wenn diese nur arbeiten wollten – oder eben „müßten“, was immer das heißt  –, dann gäbe es auf einmal die dafür nötigen Arbeitsplätze. Die Menschen sind offenbar gerne arbeitslos, es geht ihnen trotz entwürdigender Sozialhilfe und Ämterschikane noch zu gut.

Diese Logik gipfelt in den Worten des obersten Wirtschaftsweisen: „Wir brauchen mehr soziale Ungleichheit, um zu mehr Beschäftigung zu kom­men.“ – Dazu zählen des weiteren: Mehr befristete Arbeitsverträge, „Einsteigertarife für Arbeitslose“, Lockerung des Kündigungs­schutzes, weitere Steuersenkungen für Unternehmen, noch mehr Privatisierung. Wie sehr diese tödlichen Rezepte als „einziges Heilmittel“ bereits Fuß gefaßt haben, zeigt auch die Tatsache, daß man bei Wiegard noch am ehesten andere Begriffe vermuten sollte. Er ist Mitglied der Sozialdemokraten und der Dienst­leistungsgewerkschaft verdi und war zur 68er-Zeit radikaler Jungsozialist.

„Wir brauchen mehr soziale Ungleichheit“.

Langsam offenbart sich der Zeitgeist. Es ist jener Geist, der massiv versucht, die Geschicke der Menschheit in seinem Sinne zu lenken, während der rechtmäßige Zeitgeist die Freiheit der Menschen achtet und auf sie wartet...

Fußnoten


[1] So sank 1980 bis 1996 etwa der Anteil der Gewinnsteuern am Steueraufkommen von 24% auf 11%. Der Staat erhielt 1996 aus Gewinnsteuern 91 Milliarden DM, aus der Lohnsteuer 249 Milliarden DM. Während letztere von rund 15% auf fast 20% vom Bruttolohn stieg, sank die mittlere Steuerbelastung der Unternehmen von 30% auf unter 15%. Das Volksvermögen hat sich in den 90er Jahren auf fast 7000 Mrd € nahezu verdoppelt, wobei der Anstieg des Reichtums ganz überwiegend die schon vorher reichsten 10% aller Haushalte betraf.