06.01.2003

Das Gespenst des „freien Marktes“

Beispiel Kaffee – schwarzes Gold für die Konzerne, schwarzer Tod für die Bäuerinnen

Veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 7.2.2003 (Nr. 6).

Was des einen Genußmittel, ist des anderen Lebensunterhalt – oder auch nicht. Am Beispiel des Kaffee kann schlaglichtartig deutlich werden, wie der Welthandel sich gestaltet und was er konkret für die in ihn eingebundenen Menschen bedeutet.[1]


Wenn man im Geschäft eine Ware kauft, geht man zunächst wie selbstverständlich davon aus, daß sie einen gerechten Preis hat. Dabei muß man sich immer wieder klarmachen, daß die eigenen Vorstellungen mit der Realität oft überhaupt nichts zu tun haben. Dazu kommt, daß man bei der Vorstellung „gerechter Preis“ oft nur bis zum Einzelhändler denkt und dessen vermutete Gewinnspanne mit dem vergleicht, was man aus dem eigenen Geldbeutel zu nehmen hat. Es gehört dann zur Schulung des Denkens, auch alle anderen Zusammenhänge mit einzubeziehen, die einen Gegenstand ausmachen. 

Staat oder Markt?

Natürlich kann es auch sein, daß die eigenen Vorstellungen, die ja schließlich irgendwie einmal entstanden sind, zu manchen Zeiten auf manchen Gebieten der Wirklichkeit näher sind. So ermöglichten früher die Einnahmen des Kaffee-Exportes zum Beispiel in der Kilimandscharo-Region in Tansania, daß relativ viele Menschen lesen und schreiben lernten und sich zufriedenstellend ernähren konnten. Damals gab es in vielen Ländern staatliche oder halbstaatliche Kaffee-Organisatio­nen, die die Ernte aufkauften. Auch der Export war oft staatlich organisiert, so daß dessen Erlöse dem Staat zuflossen. Es gab sogar (bis 1989) ein Internationales Kaffee-Abkommen, innerhalb dessen sich die Länder zu be­stimm­ten Quoten verpflichteten, um das Angebot zu kontrollieren.

Alles dies hatte gewisse Wirkungen bzw. führte zu gewissen Wirklichkeiten - naturgemäß mit positiven und negativen Aspekten (Beispiele: Die Bauern bekamen Festpreise. Staatliche Beamte können korrupt sein). Dann kamen Theorien auf, die im Falle eines „freien Handels“ den größtmöglichen Nutzen für alle verhießen. Nun gab es solche Vorstellungen schon früher, doch erst mit der Zeit übten die Industrieländer einzeln und in Gestalt von IWF und Weltbank erfolgreich Druck aus, und jene staatlichen Einrichtungen wurden nach und nach abgeschafft. Das Kaffee-Abkom­men scheiterte von selbst an den nationalen Egoismen. All dies führte zu einem „völlig freien“ Markt, wo am einen Ende die Kaffeebäuerinnen stehen, die oft nicht einmal den aktuellen Weltmarktpreis kennen, am anderen Ende die großen Röst-Konzerne, deren Agenten per Mausklick die billigsten Anbieter ermitteln können.

Theorie und Wirklichkeit

Die abstrakte Vorstellung vom „freien Markt“ geht von abstrakten, identischen, voll informierten und gleich mächtigen Marktteilnehmern aus. Obwohl dies so wirklichkeitsfremd wie nur möglich ist, haben Ökonomen vor nicht allzu langer Zeit Nobelpreise erhalten, die wissenschaftlich nachwiesen, daß ein „unvollkommener Markt“ zu „Verzerrungen“ führt.

Beim Kaffee bedeutet dies, daß schon die lokalen Zwischenhändler nach einem Preisverfall den vollen Gewinn für sich behalten können, wenn die Preise wieder etwas steigen und die Bäuerinnen davon nicht erfahren. Tatsächlich aber führen die Machtverhältnisse dazu, daß im wesentlichen nur die Großkonzerne als Endabnehmer und mächtigstes Glied der Kette eine grandiose Wertschöpfung erzielen, während alle anderen „Marktteilnehmer“ ein Minimum erhalten, das im besten Fall ihren Lebensunterhalt notdürftig sichert.

Konkret hat etwa „Tchibo“ im Jahr 2001 seinen Überschuß im Bereich Kaffee um 47% gesteigert. Im Geschäftsbericht heißt es, man habe von einer günstigen Entwicklung der Rohstoffpreise profitiert. Auf diese Weise wird schon sprach­lich Verteilungs-Unrecht zu einem objektiven „Naturphänomen“, das einen moralisch nichts angeht. Die Umsatzrenditen für löslichen Nestlé-Kaffee liegen bei ca. 26%, das heißt, je 100 Euro Umsatz sind 26 Euro Gewinn.

Von Gewinn wagen die Menschen am anderen Ende der Welt nicht einmal zu träumen. Alles was sie hoffen, ist, daß die für den Anbau eingesetzten Kosten gedeckt werden und sie ausreichend zu essen haben und ihre Kinder zur Schule schicken können. Diese Hoffnungen sind angesichts der realen Weltwirtschaft naiv. Die Handvoll Geld aus dem Verkauf einer Jahresernte reicht nicht für die Schule, sie reicht nicht für Grundnahrungsmittel, sie reicht nicht einmal für die direkten Kosten des Anbaus. Eine Studie von Oxfam ergab, daß etwa in der vietnamesischen Provinz Dak Lak Anfang 2002 die Bauern den Kaffee zu 60% der Produktionskosten verkaufen mußten.

Der „freie“ Fall der Erzeuger-Preise

Die Weltmarktpreise für Kaffee, die sich zum Beispiel an der Terminbörse in New York bilden, lagen 2001 und auch größtenteils 2002 nur noch bei 60 Cent pro Kilogramm für Robusta-Kaffee (der feinere Arabica kostet rund 60 Cent mehr). Das ist weniger als zu irgendeiner Zeit in den letzten 30 Jahren, und rechnet man die Inflation ein, hatte Kaffee niemals vorher einen so billigen Preis. In realen Preisen lag er vor 20 Jahren bei dem Sechsfachen und noch 1997 bei dem Dreifachen.[2]

Sollte man nun darauf verweisen, daß das Angebot eben die Nachfrage übersteigt (zur Zeit um 8%), wäre dies zynisch genug. Dennoch hätte man damit die Wirklichkeit nicht einmal berührt. Vor einem Jahr sah die Preisentwicklung eines Kilos Kaffees, der schließlich als löslicher Kaffee im Regal eines englischen Geschäftes steht, folgendermaßen aus: Die Kaffeebäuerin erhält 14 Cent, der Zwischenhändler und der Betreiber der Schälanlage empfangen je 5 Cent, der Exportunternehmer 19 Cent (Sortierung, Abfüllung etc.), der Importunternehmer 11 Cent (inkl. Hafenlöschung und Transport zur Rösterei). Einschließlich Fracht- und anderer Kosten und schon unter Berücksichtigung des Gewichtsverlustes bei der Herstellung löslichen Kaffees liegt der Preis bei Ankunft in der Rösterei bei 1,64 Dollar. Fast die gesamte Differenz zum Ladenpreis gehört nun der Rösterei – verkauft wird der Kaffee in England für über 26 Dollar...

Gemittelt über alle Kaffeesorten und Länder bekommt eine Bäuerin etwa 6% des Erlöses, die ihren gesamten Lebensunterhalt darstellen - während im Fall Tchibo 26% des Erlöses bereits Gewinn nach Abzug aller Kosten sind. Hatte vor 10 Jahren der Export zu einem Drittel Anteil am gesamten Erlös, sind es heute keine 10% mehr – während der Kaffeemarkt stetig wuchs, gingen die weltweiten Exporterlöse von 10 auf 6 Mrd $ zurück. In Mittelamerika wird die Kaffeekrise mit dem Hurrikan „Mitch“ verglichen. Allein in der vorletzten Saison sanken die Export-Einnahmen um 44%, 600.000 Arbeiterinnen verloren im Kaffeesektor kürzlich ihre Arbeit. In Äthiopien zum Beispiel gingen die Einnahmen um ein Drittel zurück. Der Verlust liegt hier bei über 100 Mio $ allein in jener der vorletzten Saison - während die reichen Länder sich rühmen, Äthi­opien rund 60 Mio $ seines Schuldendienstes erlassen zu haben.

Nur der bewußte Wille könnte den Markt menschlicher gestalten

Ist Kaffee ein extremes Beispiel? Nein, er steht beispielhaft für andere Rohstoffe. Statistiken der Weltbank zeigen, daß die realen Rohstoffpreise (gemittelt, außer Rohöl) seit 1940 immer um einen gewissen Mittelwert pendelten, bis sie nach 1980 schnell abfielen. Seit 1987 lagen sie bestenfalls gut halb so hoch und haben sich inzwischen weiter verschlech­tert. Auch ein äthiopischer Bauer, der noch vor drei Jahren rund 100 Dollar für seine Maisernte erhielt, bekommt heute nur noch 35 Dollar.

Im sogenannten Fairen Handel erhalten die Produzentinnen zur Zeit einen Mindestpreis, der mehr als das Doppelte des Marktpreises beträgt. Dieser Faire Handel, der versucht, bei der Preisbildung bzw. der Aufteilung zumindest grundlegende Bedürfnisse der Produzentinnen zu berücksichtigen, weist die Richtung, in der sich eine von Abstraktionen befreite Weltwirtschaft bewegen müßte: Hin zu Organen, in denen sich alle Marktteilnehmer überhaupt erst einmal wahrnehmen und als Menschen anerkennen, um dann zu einer gemeinsamen Preisbildung zu kommen.

Die Menschheit wird aber noch viele bittere Erfahrungen machen müssen. Heute läßt der reichere Teil millionenfaches Elend zu, weil es jeweils namenlos ist. Nur bisweilen erhält es ein Antlitz, etwa als sechs Frauen tot in der Wüste von Arizona gefunden wurden – sie hatten 2001 versucht, vor dem Hunger in ihrer Heimat in die USA zu fliehen.

Die Vorstellung des heilbringenden „freien Marktes“ ist ein Gespenst, das die Menschheit noch lange gefangen halten wird, zumal einflußreiche Kreise an der Aufrechterhaltung dieser Illusion größtes Interesse haben. Doch selbst eine objektive Erkenntnis des bisherigen Egoismus bedeutet ja noch nicht dessen Überwindung. Wie klar stehen einem mitunter die Verhältnisse vor Augen - und wie sehr freut man sich oft dennoch, etwas billig gekauft zu haben. In einem hat die Theorie des Marktes recht: Letztlich entscheidet der Konsument. Jeder einzelne hat in jedem Augenblick Anteil an der Wirklichkeit. Mit jeder Tasse Kaffee können wir entweder die Not in der Welt mit verursachen - oder einen kleinen Beitrag zu ihrer Minderung leisten.

Fußnoten


[1] Der Aufsatz basiert auf der Broschüre von Oxfam: Bitter! Armut in der Kaffeetasse. – Berlin 2002, 56 Seiten

 

[2] 2002 stieg der Preis im November allmählich wieder auf 84 Cent im November. Preisübersichten für verschiedene Rohstoffe finden sich unter www.worldbank.org/prospects/pinksheets/pink1202.htm