19.03.2003

Die Freiheit verteidigen?

Gedanken zum Selbstverständnis der US-Regierung

Gekürzt veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 4.4.2003 (Nr. 14).


Was hat es mit dem „Unila­tera­lis­mus“ der USA auf sich? Während Männer wie Richard Perle die Weltmacht USA offenbar mehr oder weniger um ihrer selbst willen erhalten und ausbauen wollen, ist es mit dem Verständnis des Präsidenten und Menschen Bush offenbar nicht ganz so einfach. Im Gespräch mit dem Watergate-Journalisten Bob Woodward[1] sagte er, Handeln diene nicht nur strategischen Zwecken oder der Verteidigung. 

„Ganz sicher wird ein Regimewechsel im Irak strategische Implikationen haben, wenn wir vorwärts gehen. Aber es gibt noch etwas darunter, soweit es mich betrifft, und das ist, daß es dort enormes Leid gibt. … Oder Nordkorea … Ich verabscheue Kim Jong Il! … Ich habe Geheimberichte über diese Konzentrationslager gesehen – sie sind riesig -, und er benutzt sie dazu, Familien auseinanderzureißen, Leute zu foltern“. Er frage sich, wie die zivilisierte Welt einfach danebenstehen und den nordkoreanischen Präsidenten hätscheln könne, während er sein Volk verhungern lasse. Dazu komme die Gefahr eines Angriffs auf Südkorea. Ebenso habe Hussein seinen Willen bewiesen, Massenver­nich­tungs­waffen zu beschaffen und einzusetzen. Wenn es zu einem Irak-Krieg komme, „dann wird es darum gehen, die Welt friedlicher zu machen“.[2]

Freiheit als Ideal...

Bei Bush kann man inzwischen wirklich den Eindruck haben, daß er an seine Ideale glaubt, doch betreibt der Großteil seines engsten Umkreises – und dazu die Berater, Geheimdienste, Think Tanks, Lobbygruppen – machtvolle Realpolitik. In diesem Sinne dürfte Bush letztlich oftmals nur einer Marionette ähneln[3], die nicht weiß, daß sie sich genau so bewegt, wie andere aus anderen Gründen es wollen – oder wie die Sachlogik es nahelegt. Welche Schlüsse soll er denn ziehen, wenn etwa ein Geheimdienst meldet, man hätte in dieser oder jener irakischen Fabrik „Bewegungen“ wahrgenommen, die „möglicherweise mit einem Waffenprogramm zu tun haben könnten“?

Zur Realpolitik gehört auch, daß das Ideal der „Freiheit“ offenbar zunächst für das eigene Land umfassend zu sichern ist. Darüber hinaus sehen US-Politiker ihr Land immer (wieder) auch in einer Verantwortung als „Weltpolizei“ – und sogar gleichsam als „Hort“ der Freiheit. Das eigene Land muß mit allen Mitteln verteidigt und gesichert werden (auch zum Beispiel mit teilweise bedenklichen Geheimdienst-Methoden), damit die „Freiheit“ als solche verteidigt ist und der Welt immer wieder neu gebracht werden kann.[4]

Robert Kagan weist darauf hin, daß die Europäer aufgrund ihrer Geschichte auf Diplomatie und internationale Regeln setzen, während die USA gemäß einer „Hobbes´schen“ Welt agieren, in der man sich auf niemanden verlassen kann: „Amerikaner sind Idealisten, doch haben sie keinerlei Erfahrung darin, Ideale ohne den Einsatz von Macht zu verwirklichen. ...und sie haben nur selten Erfahrungen gemacht, die sie veranlassen könnten, ihr Vertrauen auf das Völkerrecht und internationale Institutionen zu setzen...“[5]

Die Kritik an einer handlungsunfähigen UNO ist vielleicht wirklich nicht nur Gerede, doch ist es in erster Linie die US-Politik selbst, die die „Vereinten Nationen“ zur Karikatur werden läßt.[6] Auf diese Weise schaffen US-Politiker täglich selbst die Welt, die sie nach Kagan nur wahrzunehmen glauben.

...oder Vorwand?

Wie auch immer man es auffaßt: Bush´s Ideale allein können die US-Außenpolitik nicht über Nacht glaubwürdig werden lassen, zumal das Alte sich fortsetzt – ich nenne nur die Geheimniskrämerei, gefälschte „Beweise“ und Zwangsdiplomatie mit allen Mitteln. Auch spricht es nicht für einen Sinneswandel, daß die Bush-Regierung seit ihrem Amtsantritt den Rest der Welt zwar in vieler Hinsicht vor den Kopf gestoßen, aber nicht darüber informiert hat, daß sie die seit jeher verkündeten Ideale fortan ernster nehmen und weniger instrumentalisieren wolle.

Das zumeist sehr selbstherrliche Auftreten läßt vermuten, daß die Vorstellung der eigenen „Mission“ von sehr luziferischen Illusionen und handfesten Interessen durchsetzt ist. Welch grandiose Verschleierungen und Lügen (und möglicherweise bei Bush: welch tragische Blindheit) dies mit sich bringt, zeigt eindrucksvoll ein langes Interview mit dem früheren Leiter des UN-Hilfsprogramms für den Irak.[7]

Die „Verteidigung der Freiheit“ ist zutiefst problematisch. Nur der individuelle Mensch kann sich zur Freiheit hin entwickeln. „Freiheit“ im üblichen Sinne meint dagegen die Existenz einer Rechtssphäre, in der sich die individuelle Freiheit entfalten kann. Welche Illusion liegt also zugrunde, wenn man meint, „Freiheit“ verteidigen zu können, indem man jegliches internationale Recht mißachtet? Die US-Regierung wirft dem Irak den Bruch von UN-Resolutionen vor, verstößt aber durch ihr Handeln selbst gegen die absoluten Grundsätze der UN-Charta. Auf diese Weise kann man zugleich in „God´s own country“ die „Demokratie“ als höchsten Wert behaupten und international das Recht des Stärkeren beanspruchen und (wieder) einführen.

Selbst wenn eine „Bedrohung durch den Irak“ nicht vorgeschoben wäre: Wie viele Menschen darf ein Politiker durch einen Krieg sterben lassen, um eine mögliche oder sogar erst zukünftig mögliche Bedrohung „seines Landes“ auszuschalten?

Der Terrorismus wirft Fragen auf

Selbst wo Al Qaida ein reales Problem ist: Habe ich das Recht, einen „Terroristen“ zu töten? Bevor oder nachdem er seine Tat begangen hat?

Es wäre an denen, die eine friedlichere Welt als eigene Intention behaupten, sich schonungslos Rechenschaft darüber abzulegen, was die Welt in die Extreme treibt. Die US-Politik (aber auch die übrige „westliche Welt“) müßte sich klar werden, in welchem Ausmaß sie tatsächlich nur die eigenen Interessen vertritt. Wie zum Beispiel die eigene Wirtschaftsmacht schonungslos ausgespielt wird. Kann man wirklich glauben, daß doch jeder „Chancengleichheit“ habe – bei abgrundtief verschiedenen Voraussetzungen? Kann man sich „Freiheit“ auf die Fahnen schreiben und sie sogar als menschheitliches Ideal verstehen, ohne genauso innig die Solidarität zu vertreten? Wer die Idee des Menschen ergreift (oder auch nur „die Welt friedlicher machen“ will), kommt doch an der Idee der Brüderlichkeit gar nicht vorbei!

Dies ist vielleicht ein Schlüssel für einen Aspekt der US-Politik. Insbesondere in den USA scheint oftmals Freiheit so verstanden zu werden, daß man sich zwar schon für alle Menschen Freiheit, Wohlstand und so weiter wünscht, auch dazu beitragen will, jedoch an einem gewissen Punkt sagt: Der andere hat seine Chance gehabt, ich kann ihn nicht zu seinem Glück zwingen. – Die Freiheit wird so verabsolutiert und mißverstanden, daß auch vom „freien“ Markt nur der allgemeine Wohlstand erwartet und jedenfalls nie das Gegenteil auch nur für möglich gehalten wird.[8]

Die eigene Verantwortung

Die entscheidende Frage ist vielleicht, was es heißt, „Hüter meines Bruders“ zu sein. Der eben angedeutete Freiheitsbegriff beinhaltet, daß sich letztlich jeder selbst um sich zu kümmern habe. Das hat etwas absolut Richtiges. Es darf nur nicht den Blick darauf verdecken, was meine eigenen Taten tatsächlich für Folgen für den anderen haben. Daß also die Umstände, in denen er lebt, nicht (nur) seiner „Unfähigkeit“ zuzuschreiben sind, sondern von mir (mit) hervorgerufen wurden und werden.

Terrorismus und Fundamentalismen aller Art sind nicht zu entschuldigen. Insofern ist auch der „ärmste Tropf“ für seine Verbrechen selbst verantwortlich. Aber auch der Nadelstreifen-Geschäftsmann für die seinen, die man heute noch nicht als solche erkennt. Gerade der Terrorismus entspringt aus Wurzeln der Demütigung und Verzweiflung (das trifft nicht unbedingt auf die Anführer zu, sicher aber auf einen Großteil der „Massen“). Darum ist es schlicht unmöglich, diese Art der Gewalt durch andere Gewalt zu bekämpfen. Der hier gemeinte Fundamentalist greift zur Gewalt, weil er gar keinen anderen Weg mehr sieht. Die „Be­kämpfung“ seiner Gewalt läge also darin, ihm wieder Wege zu eröffnen. Das setzt voraus, daß ich auch – und gerade – im Terroristen noch immer den Menschen sehen kann. Das wiederum setzt voraus, daß ich meinen eigenen Anteil an dem sehen kann, was ihn auf diesen Weg gebracht hat.[9]

Jede Macht, die nicht selbstlos ausgeübt wird, ruft Terror hervor und ist selbst Terror – eben deshalb erzeugt sie die Antwort, die ihr entspricht. Die „westliche Welt“ ist noch immer fast blind dafür, daß allein schon ihre Wirtschaftsmacht, so wie sie sich heute darlebt, die Ideale der Menschenrechte zu Worthülsen werden läßt. Ohne Selbsterkenntnis oder Verständnis des Anderen (beides würde sich gegenseitig erwecken) kann die neue Gewalt des internationalen Terrorismus nicht verstanden und ihr nur mit gleicher Gewalt begegnet werden. Wie fast überall, so ist auch hier die not-wendige Mitte noch nicht gefunden, weil Selbsterkenntnis und Verständnis fehlen – eine Mitte, die durchaus stark (also: wehrhaft) ist, ohne daß von ihr selbst Gewalt ausgeht. Die Menschen werden anscheinend durch immer leidvollere Ereignisse vor die Entscheidung geführt werden: Wollen sie die Idee der einen Menschheit und damit der Brüderlichkeit nur denken oder auch wirklich ergreifen – bis in die menschlichen Ein­richtungen etwa der Weltwirtschaft?

Fußnoten


[1] Bob Woodward: Bush at War – Amerika im Krieg. – Deutsche Ausgabe 2003

 

[2] Thomas Schmidt meint in der Zeit vom 20.3.2003 („Völker, wollt ihr die Randale?“), daß unter Bush die bisherige US-Außenpolitik, je nach eigenen Interessen Gewaltherrscher zu stützen oder gar selbst aufzubauen, eine Kehrtwende vollzieht. Auch weist er daraufhin, daß in der europäischen Politik „der Staat“, für die USA dagegen „Völker“ Vorrang haben. Beides kann hochproblematisch sein, jedenfalls aber scheint die Tatsache, daß die EU-Staaten eher mit Regimen als mit Dissidenten gesprochen haben, zu der starken US-Anlehnung der neuen osteuropäischen Staaten beigetragen zu haben.

 

[3] Woodward erwähnt, daß Bush wiederholt von seinen Instinkten sprach: „Ich handele nicht nach Lehrbüchern, ich handele aus dem Bauch heraus.“

 

[4] Es scheint, als stünde die Freiheit anderer Länder immer unter Vorbehalt – soweit diese die Interessen des „Freiheits-Quells“ USA nicht beeinträchtigen (ähnlich erscheint oft die Beziehung zwischen den großen Industrieländern und der Dritten Welt im Rahmen der Globalisierung).

 

[5] Die Wege Europas und der USA trennen sich, in: Frankfurter Rundschau vom 16.10.2002 (online). Kagan selbst ist Mitgründer des extrem konservativen Think-Tank "Project for the New American Century". – Kagan wäre zu fragen, wie man Ideale jemals mit Hilfe von Macht durchsetzen kann. Sie können nur vorgelebt werden.

 

[6] Die US-Diplomaten setzen durch Druckmittel aller Art immer wieder die Ziele der US-Außenpolitik durch und behalten sich zugleich jeden Alleingang vor. - In einer Karikatur rast ein US-Bomber auf einen Wolkenkratzer mit der Aufschrift UN zu.

 

[7] Hans von Sponeck und Andreas Zumach (2003): Irak - Chronik eines gewollten Krieges. Wie die Weltöffentlichkeit manipuliert und das Völkerrecht gebrochen wird.

 

[8] Es ist auch leicht, einen Diktator durch Militärübermacht zu stürzen (und „die Kollateralschäden so klein wie möglich halten“ zu wollen), viel schwerer ist es, in einem zerstörten, verarmten Land ein demokratisches Gemeinwesen zu stiften, das nicht neuen Machthabern, Warlords oder mafiosen Strukturen zum Opfer fällt.

 

[9] Steiner schildert, wie die Vorstellung des guten Gottes und gegenüber dem bösen Widersachers nur zur Anbetung Luzifers führen kann, solange man nicht erkennt, daß der Mensch immer das Gleichgewicht zwischen zwei Widersachern zu finden hat. Der „Gute“, der den „Bösen“ bekämpft, ist allzu oft Opfer eines noch bedenklicheren Bösen, das ihn und seine Umwelt perfekt über die eigentlichen Realitäten und Ursachen täuscht.