23.03.2004

Die EU-Osterweiterung und die Waldorfbewegung

Veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 23.4.2004 (Nr. 17) unter dem Titel: „Eine Frage des Geldes“.

Welche Folgen hat die EU-Mitgliedschaft für unsere osteuropäischen Nachbarn? Als Mitarbeiter der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V. befragte Holger Niederhausen per E-Mail einen Großteil der knapp 50 Waldorfschulen[1] in den Beitrittsländern nach ihren Einschätzungen zum EU-Beitritt am 1. Mai 2004. Er erhielt vier Antworten aus Tschechien, zwei aus Ungarn und je eine aus Polen, Lettland, Litauen und der Slowakei.


Die Waldorfpädagogik selbst wird in den Beitrittsländern durch die EU-Erweiterung ganz allgemein ihren Status einer Alternative zum staatlichen Bildungssystem sichern können. Im übrigen aber ist der Bildungsbereich in hohem Maße noch immer eine nationale Angelegenheit. Auch in den bisherigen EU-Staaten herrschen große Unterschiede in bezug auf die Diskriminierung der Waldorfschulen hinsichtlich der staatlichen Finanzierung und in bezug auf das Hineinregieren staatlicher Ansprüche und Vorschriften, die die Autonomie der Waldorfschulen hinsichtlich ihres Lehrplanes, der Prüfungen und der Einstellung von Lehrkräften einschränken. 

Fast überall müssen Waldorfschulen von den Eltern ein Schulgeld verlangen. Damit ist ein gewichtiges Problem genannt, dessen ganze Schwere sich gerade in den osteuropäischen Ländern offenbart: Die größte Autonomie hat für die Waldorfschulen kaum eine Bedeutung, wenn diese dazu verurteilt sind, ihre eigene finanzielle Diskriminierung an die Eltern weiterzugeben und aufgrund der gesamten Situation des sozialen Organismus zu Schulen für die wirtschaftliche Elite zu werden.

Die Wirtschaft setzt die Maßstäbe

Die „Vorbereitungen“ auf den EU-Beitritt haben die wirtschaftliche Situation der osteuropäischen Länder nicht verbessert. Nach der Wende wurden zerrüttete Volkswirtschaften[2] auf Druck von EU und „Internationalem Währungsfonds“ (IWF) quasi über Nacht auf eine radikale Marktwirtschaft umgestellt – ohne jede Konkurrenzfähigkeit und ohne soziale Sicherungssysteme. Auf westlichen Druck hin wurden sogenannte „Schocktherapien“ umgesetzt: Abschaffung staatlicher Subventionen, Preiserhöhungen und volle Freiheit für ausländische Investitionen und Gewinntransfers. Während Sozialleistungen gekürzt und gestrichen wurden (wo es sie überhaupt gab), erhielten und erhalten ausländische Konzerne jahrelange Steuerbefreiungen.

Und was geschah? In den meisten Ländern vernichtete zunächst eine Hyperinflation die Ersparnisse der Bevölkerung. Der Zusammenbruch der Wirtschaft wurde nicht aufgehalten, sondern beschleunigt. Oft erreichte das Bruttoinlandsprodukt erst zur Jahrtausendwende überhaupt wieder das Niveau von 1989. Während die ausländischen Direktinvestitionen sich bis 2001 auf 115 Milliarden Dollar summierten, stiegen die Schulden der Beitrittsländer auf rund 165 Milliarden Dollar.[3]

Der Westen schützte seine „bedrohten“ Branchen (Stahl, Textil, Chemie, Landwirtschaft) in den „Assoziierungsabkommen“, überschwemmte aber die neuen Märkte im Osten mit seinen subventionierten Produkten. Auch dadurch brach die dortige Wirtschaft zusammen, während ihre Filetstücke zu Spottpreisen aufgekauft wurden. Westliche Konzerne kontrollieren heute zum Beispiel in Polen mehrheitlich die Bereiche Nahrungsmittelindustrie und –handel, Metall- und Maschinenbau, Banken, Medien, Telekommunikation und Versicherungen.

Die wirklich produktive Wirtschaft ist auch in den meisten übrigen Ländern mehrheitlich in ausländischer Hand – und hat für das Inland keine reale Bedeutung: Vorprodukte werden importiert, weiterverarbeitete Zwischen- oder Endprodukte gehen auf den Weltmarkt, den Gewinn transferiert der ausländische Konzern ins Stammland...

Hoffnungen und Ängste von Waldorflehrern

Der Prager Waldorflehrer Jaromir Němec sprach sehr deutlich aus, was auch viele anderen beschrieben:

„Unsere größte Hoffnung ist, daß die künftigen Generationen von Europäern Wissen, Werte und Ideale wie Frieden, Achtung vor der Umwelt, religiöse und ethnische Toleranz, Mitleidenschaft für lebende Wesen teilen mögen. Unsere größte Furcht ist, daß die EU von einer Oligarchie multinationaler Konzerne instrumentalisiert werden könnte, die das Leben für ausgewählte wenige einfach und für die Mehrheit der Bürger unerträglich kompliziert machen.“ Die größte Herausforderung für die Waldorfschulen sei es, „für Menschen mit geringen Einkommen zugänglich zu werden.“

Julija Dobrovolska, Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft in Lettland, glaubt, daß sich in näherer Zukunft kaum etwas prinzipiell ändern werde. „Wahrscheinlich wird die Kommerzialisierung, Korruption der Behörden und Verachtung auch der elementarsten Menschenrechte seitens der Machthaber nur fortgesetzt, wenn nicht gar gesteigert. Das Denken kann man ja nicht so einfach ändern.“

Vladimír Havrda von der Waldorfschule im tschechischen Pribram hat ähnliche Befürchtungen: „Wenn die EU ausschließlich oder hauptsächlich ökonomischen Wettbewerb und administrative Vergleichbarkeit ohne kulturelle/spirituelle Freiheit und gegenseitige Bereicherung verfolgt, wird es uns unfreier machen als wir es waren, bevor wir Mitglied wurden.“

Mehrere Lehrer wiesen auf die drohende EU-Bürokratie hin. Havrda erwähnte, daß die Bürokratie in Tschechien schon jetzt jede freie Initiative stranguliere, aber nicht gegen Betrug und Korruption schütze.

Auch für das Bildungswesen wird nach dem EU-Beitritt meist nicht mehr Freiheit erwartet. Maria Swierczek aus Polen verwies darauf, daß auch im Westen die Tendenz zu Beschränkung und Bürokratie zunehme. Frau Dobrovolska betonte, daß die Zukunft der Waldorfpädagogik in Lettland und anderswo nicht so sehr von den äußeren politischen Verhältnissen abhängig sei, „sondern vielmehr vom wachen Enthusiasmus und der Opferbereitschaft der Menschen, die sie vertreten wollen.“

Überhaupt komme in bezug auf die zukünftigen Verhältnisse in Europa alles auf menschliche Taten an, schrieb auch Alena Klčova aus dem slowakischen Bratislava. In jedem Fall gebe die Erweiterung der EU „die Gelegenheit für jedes Land, sein Bestes zum Ganzen beizutragen. Werden wir fähig sein, dies zu tun? Werden wir es wollen? Oder werden wir nur unsere `Wahrheiten´ betonen?“

Zu dem notwendigen Bewußtseinswandel wollen gerade die Waldorfschulen einen Beitrag leisten. Auf die Frage nach der wichtigsten Aufgabe der Waldorfpädagogik antwortete Jaromir NÄ›mec: „In unseren Schülern Liebe zur Freiheit zu erwecken, Achtung und Toleranz gegenüber allen Lebewesen und eine genuine Sehnsucht nach lebenslanger Selbsterziehung.“ Frau Klčova fügte hinzu: „Sie zu lehren, Fragen zu haben.“

Eine ganz große Frage ist durch die um sich greifende Verarmung, auf die viele Kollegen hinwiesen, gestellt. Vladimir Havrda etwa beschrieb für Tschechien, daß ein Anstieg der Löhne nicht abzusehen sei, während die Lebenshaltungskosten sich stetig dem Westniveau näherten. Von seinen knapp 400 Euro Gehalt könne er gerade die Miete und die nötigsten Lebenshaltungskosten bezahlen – vielen gehe es noch schlechter. Und was wird der EU-Beitritt daran ändern? Für Polen sprach Frau Swierczek die Befürchtungen deutlich aus: Weitere Übernahmen und auch Aufkauf von Grund und Boden durch westliche Firmen und Banken, während sich wirtschaftlich der Graben zwischen Ost und West weiter öffnet.

Egoismus oder Brüderlichkeit?

Schon – und gerade – in jenem Jahrzehnt nach der Wende, wo es am nötigsten gewesen wäre, gab es für den Osten keine echte Hilfe. Vielmehr floß Geld von Ost nach West: Schuldendienst, Gewinntransfer, Fluchtkapital. Maßnahmen, die soziale Katastrophe zu bekämpfen, unterband der Westen regelmäßig – zugunsten eines „freien Spiels der Kräfte“. Das Kräfteverhältnis aber führt heute dazu, daß etwa deutsche Männer sich an den Straßenrändern tschechischer Grenzorte minderjährige Jungen und Mädchen zum Sex kaufen können. Ein Wahrbild: Der Osten ist zur Prostitution gezwungen, die eigentlich eine Vergewaltigung ist.

Die rund 40 Milliarden Euro, die in den ersten drei Jahren an die neuen EU-Mitglieder gehen sollen, bedeuten weniger als 180 Euro pro Kopf[4] – und sie werden durch den bereits erfolgten „Ausverkauf des Ostens“ zu einem Großteil an westliche Industrie- und Agrokonzerne gehen. Dagegen werden allein in der polnischen Landwirtschaft rund drei Millionen Menschen die nächsten Jahre wirtschaftlich nicht „überleben“ – und bei einer Arbeitslosigkeit von 18 Prozent auch anderswo keine Arbeit finden.

Die Situation in den Beitrittsländern wird vermutlich schon in wenigen Jahren die „soziale Frage“ in einer ganz neuen Dimension aufwerfen. Der Egoismus als Grundlage des Wirtschaftslebens muß zwangsläufig Not und Elend hervorrufen und vergrößern.

Die Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners helfen der waldorf- und heilpädagogischen Bewegung grenzüberschreitend mit geschenktem Geld – ein Impuls der Brüderlichkeit. In den letzten 14 Jahren (1990-2003) konnten rund zwei Millionen Euro in die acht neuen EU-Mitgliedsländer weitergeleitet werden. Ein Teil dieses Geldes diente dazu, die Ausbildung der Waldorflehrer in einigen Ländern aufzubauen, um so der Waldorfbewegung überhaupt die notwendige Grundlage zu geben. Die weiteren Mittel ermöglichten größere und kleinere Investitionen, ohne die viele der Waldorfschulen und heilpädagogischen Einrichtungen nicht hätten bestehen können.

Die Waldorfbewegung ist ein Beispiel grenzüberschreitender Solidarität und ein Saatbeet für ein ganzheitliches Denken und brüderliches Handeln. Möge sie im Westen und im Osten die Freiräume finden und nutzen, um den so dringenden Bewußtseinswandel in der Menschheit mit anzustoßen. Und möge neben und mit ihr Schritt für Schritt eine Zivilgesellschaft entstehen, die die Hoffnungen der Menschen aufgreift, die machtvoll eine menschliche Gestaltung der Verhältnisse einfordert und diese auch selbst in die Hand nimmt.

Fußnoten


[1] 18 in Ungarn, 9 in Estland, 8 in der Tschechischen Republik, je 4 in Lettland und Litauen, 2 in Polen, je 1 in der Slowakei und Slowenien.

 

[2] Die Wirtschaftskraft der neuen EU-Mitglieder entspricht gemeinsam der von den Niederlanden (fünf Prozent der Wirtschaftskraft der bisherigen EU).