2004
Der kaukasische Teufelskreis
Auch Russlands „11. September“ führt nicht zum Aufwachen
Veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 27.9.2004.
Wohin steuert Rußland? Eine Serie von drei Anschlägen, die in den Ereignissen von Beslan gipfelte, forderte innerhalb von 10 Tagen fast 500 Menschenleben. Präsident Putin strebt nun – angeblich für eine effektivere „Terrorbekämpfung“ – eine weitere Zentralisierung der Macht an. Künftig wird keiner der Duma-Abgeordneten mehr direkt gewählt (nur noch über Listenplätze bestimmt), die Gouverneure der Regionen werden vom Präsidenten ernannt. Pragmatisch nutzte Putin die Gelegenheit, seine Macht nicht zuletzt gegenüber den regionalen Eliten zu steigern.
Der Westen äußerte unverbindliche Bedenken, in Wirklichkeit will kaum jemand es mit Russland verderben. Das russische Öl ist unverzichtbar und ein Autokrat Putin besser als eine im Chaos versinkende ehemalige Supermacht. Ohnehin hat Putins künstlich geschaffene Hauspartei „Einheitliches Russland“ mit Koalitionspartnern schon jetzt eine Zweidrittel-Mehrheit in der Duma und kann alle Gesetzesentwürfe „abnicken“.
Machtpolitische Hintergründe
Die Ursache von Beslan wird kaum angesprochen: der Tschetschenien-Konflikt.
Die Moskauer Journalistin Anna Politkovskaja ist eine der wenigen, die die Ereignisse in Tschetschenien ans Licht bringen – und spricht vom „vergessenen Völkermord des 21. Jahrhunderts“[1].
Der Einmarsch der russischen Armee im September 1999 war ein wichtiger Teil der Wahlkampagne für die Präsidentschaft. Erst kurz zuvor hatte der Jelzin-„Clan“ den absolut unbekannten Putin (bis dato Geheimdienstchef) zum Premier ernannt. Er gewann die Wahlen im März 2000 als „starker Mann“ gegen die „Separatisten“. – Danach wurde Tschetschenien mit einem dichten Schleier überzogen: Bald gerieten die beiden landesweit ausstrahlenden privaten Fernsehsender ORT und NTV unter staatliche Kontrolle, und Ende 2002 beendete Putin die OSZE-Beobachtermission in Tschetschenien. Von den Ereignissen im fernen Tschetschenien dringt kaum noch etwas an die Weltöffentlichkeit.
Jelzins ehemaliger Menschenrechtsbeauftragter, Sergej Kowaljow, empfahl den Europäern schon 1999, Russland die Kredite zu sperren und ihre Botschafter zurückzurufen. Heute übt er wiederum heftige Kritik an Putin: „Die Priorität dieser Innenpolitik ist, alle unabhängigen Kräfte unter Kontrolle zu bringen.“[2] Auch in Tschetschenien: Hier wurde vor einem Monat der absolut „zuverlässige“ Alu Alchanow nach geradezu „sowjetischen“ Wahlmanipulationen neuer Präsident, nachdem der im Vorjahr ebenso „gewählte“ Statthalter einem Attentat zum Opfer gefallen war.
Jeder „Terrorismus“ hat Ursachen. Über den islamistischen Terrorismus hätte der Westen viel nachzudenken. In Tschetschenien allerdings faßte der islamische Fundamentalismus erst nach dem ersten Tschetschenien-Krieg Fuß. Putin selbst verspielte Jahr für Jahr eine mögliche politische Lösung des Konflikts, zu der der 1997 rechtmäßig gewählte, von Putin aber nicht mehr anerkannte tschetschenische Präsident Maschadow immer wieder drängte. Doch obwohl es heute vielen jungen Rebellen, die unter der Führung von Schamil Bassajew kämpfen, tatsächlich um die Ehre Allahs geht, liegen den Spengstoffanschlägen andere Realitäten zugrunde. Die Mehrzahl wurde seit 2001 von Tschetscheninnen durchgeführt, die in der Vergangenheit ihren Mann, ihren Bruder, ihre Familie verloren hatten.
Die verschuldete Tragödie
Seit 1999 die russische Armee wiederum in Tschetschenien einmarschierte, wurden und werden erneut willkürlich Menschen verhaftet, gefoltert, vergewaltigt und ermordet bzw. gegen einige hundert Dollar Lösegeld wieder freigelassen. Selbst Verbrechen, die ans Licht kamen, führten nie zur Verurteilung eines Verantwortlichen.
Noch im Geiseldrama in einem Moskauer Musical-Theater vor zwei Jahren hatten die Attentäter(innen) einzig die klare und fast flehentliche Forderung nach Verhandlungen über die Unabhängigkeit. Sie wurden durch Nervengas betäubt und aus nächster Nähe erschossen. Jetzt, wo niemand mehr an eine politische Lösung glaubt, gehören auch die Attentate nur noch zur militärischen Konfrontation.
Wer die Tragödie von Beslan nicht nur verständnislos als Tat tschetschenischer Terroristen, die abstrakt für eine Unabhängigkeit kämpfen, erleben will, muß sich mit der tschetschenischen Tragödie beschäftigen. Einen tiefen Einblick in den Tschetschenien-Konflikt bietet die Berichterstattung der Frankfurter Rundschau.[3]
Hoffnung auf eine Lösung des Konfliktes gibt es kaum noch. Zu vielen Beteiligten kommt der jetzige Zustand entgegen – durch Sonderzulagen, Geiselhandel, Veruntreuung von Geldern für den Wiederaufbau, illegalen Ölhandel und anderes. Anna Politkovskaja sagt: „Seit Anfang 2000 wissen Militärs, Geheimdienst und Staatsanwaltschaft, dass es keinen Sieg geben wird. Sie verrichten dort im Kaukasus ihren Dienst, machen Karriere und verdienen Geld.“ Als sie am ersten September nach Tschetschenien fliegen wollte, um Maschadow zur Vermittlung in Beslan zu gewinnen, überlebte sie im Flugzeug nur knapp einen Anschlag mit vergiftetem Tee.[4]
Da Putin weiter auf Konfrontation setzt, wird der Konflikt weitere Kreise ziehen, zunehmend „islamisiert“ werden und den ethnischen und religiösen Haß weiter wachsen lassen. Wo Ziele und Hoffnungen verschwinden, regiert nur noch das „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ – der Teufelskreis schließt sich.
Fußnoten
[1] Anna Politkovskaja: Tschetschenien: Die Wahrheit über den Krieg. Du Mont 2003
[2] www.zdf.de/ZDFde/inhalt/5/0,1872,2190661,00.html
[3] www.fr-online.de/tschetschenien (ehemals www.fr-aktuell.de/uebersicht/alle_dossiers/politik_ausland/tschetschenien_der_vergessene_krieg)