2005
Wie christlich ist die Anthroposophie – oder: Was ist ein Eingeweihter?
Entgegnung zu Felix Hau: „Rudolf Steiner integral – Eingeweihter, Lebemann, Priester“ in „Info3“ vom Mai 2005.
Siehe auch meinen Briefwechsel mit der Info3-Redaktion und Artikel im Europäer 10/2005.
Worüber wird eigentlich diskutiert?
Felix Hau hatte in seinem Aufsatz „Rudolf Steiner integral“ die Hauptthese vertreten, Rudolf Steiners Einweihung habe nichts mit dem Christentum zu tun gehabt. Er habe mit 19 Jahren sein Einweihungserlebnis gehabt. Seine Anschauungen hätten sich später nicht mehr gewandelt, er habe sie nur in theosophischen (und später anthroposophischen) Formen vorgebracht, um ein regelmäßiges Einkommen zu haben. Steiner selbst habe Vorstellungen wie Ätherleiber, Engelshierarchien usw. zu keinem Zeitpunkt in sich getragen...
Auf Hau´s Kernthese folgen viel weitergehende Behauptungen, die auch in der Diskussion[1] im Juni-Heft kaum aufgegriffen wurden, erst recht nicht gelöst wurden.
Mein unmittelbares Erlebnis ist, daß Hau nicht die geringste Ahnung davon hat, was „Einweihung“ bedeutet. Von daher kann er in jeder Hinsicht nur zu falschen Vorstellungen kommen. Seine Thesen und Schlüsse mögen für einen zweifelnden Intellekt denk-bar sein, mehr aber auch nicht. Indem ich den Gründen für dieses unmittelbare Erleben nachgehe, werde ich Beweise zusammentragen.
Steiner verteidigen? – oder: überreligiöse Konfession
Welche Anschauungen sollen es denn sein, die der 19-jährige Steiner hatte und die er später nie wieder aufgab, sondern nur neu – theosophisch – einkleidete? Was für eigentliche Ideen sollen sich dahinter verbergen, wenn Steiner später von „Ätherleib“ und von „Engelhierarchien“ spricht? Das würde mich wirklich interessieren. Hau sagt, er hätte in einem Aufsatz nicht alles erklären können, aber eine Antwort auf diese Fragen würde zeigen, ob seine Behauptungen Substanz haben.
In der Diskussion2 spricht Meier von dem bekannten Impuls, Steiner verteidigen zu wollen. Ich glaube, dem liegt mehr zugrunde.
Sicherlich, viele „Anthroposophen“ werden Steiner tatsächlich vor allem deshalb verteidigen wollen, weil sie ihr Bild von Steiner und damit zugleich ihre eigene Biographie angegriffen erleben. Und natürlich ist es immer schwer erträglich, wenn jemand (hier Hau) einen anderen Menschen beurteilen zu können meint, obwohl er sich in seiner eigenen Entwicklung noch Welten hinter diesem bewegt. Aber er spricht ja dadurch sein eigenes Urteil.
Im Grunde braucht Steiner niemanden, der ihn verteidigt. Doch die Anthroposophie selbst – als Wahrheit, die wesenhaft ist – braucht, nun, auch nicht Verteidiger, aber – und das ist mehr – Bekenner. Bekenntnis heißt „confessio“. Damit sind wir nicht bei der Religion, auch nicht bei der überkonfessionellen Religion, sondern bei der „überreligiösen Konfession“.
Anthroposophie – Die Weisheit vom Menschenwesen und aller im Menschenwesen verborgenen kosmischen Geheimnisse – braucht keine blinden Gläubigen, aber Menschen, die darum ringen, sich ihrer würdig zu erweisen. Wer sich in intellektualistischen Gedankengebäuden verstrickt, bleibt vor den Toren. Da es aber kein geistiges Vakuum gibt, bleibt er in den Fängen von Luzifer und Ahriman – um so mehr, je lauter er aufstöhnt, wenn er wieder die „abgedroschenen Namen“ hört.
Was ist Einweihung?
Was also meint Hau mit den Anschauungen des 19-jährigen Steiner? Meint er, daß „Ätherleiber“ nicht existierten? Spricht er nicht viel mehr von seinen eigenen Anschauungen? Sieht er nicht, daß schon die Philosophie der Freiheit ungeheuer viel mit dem Ätherleib zu tun hat, weil sie das Denken von der leiblichen Grundlage loszureißen vermag, wenn man sie richtig zu lesen, zu meditieren weiß?
Streitet Hau die von Steiner unter endlos vielen Blickwinkeln geschilderten Tatsachen der geistigen Welten ab – wie ein gewöhnlicher Materialist, mit der Ausnahme, daß er das sich selbst ergreifende Denken als geistige Realität anerkennt? Ein Ich ohne Ätherleib und ohne Engelshierarchien...?
Wer sich selbst im Denken zu ergreifen beginnt, ist noch lange kein Eingeweihter. Hau schaut auf den Denker Steiner und vermutet hinter allem anderen „Mystifizierung“. Meint er etwa wirklich, sein eigenes Denken halbwegs im Griff wähnend, direkt auf Steiners Spuren zu sein?
Mit dem reinen Denken kommt man irgendwann zu einem ersten, wirklichen Ich-Erlebnis. Jedes normale, sich noch so schlau und „bewußt“ erlebende Denken kommt nur bis zum intensiveren Erleben der normalen Spiegelung des Ich - „Alltags“-Ich, luziferisch. Doch selbst das reine, wirklich sinnlichkeitsfreie Denken kommt nur bis zum Tor der übersinnlichen Welten. Welche Welten im wörtlichen Sinne sich ihm eröffnen können, wird der Mensch erst erleben, wenn Meditation und moralische Schulung dazukommen.
Weiß Hau nicht, daß schon die erste Stufe der echten Einweihung zum Schauen der ätherischen und dann der astralischen Welt führt?[2]
Es ist einfach, diese übersinnlichen Welten – und Steiners Schilderungen – als kleidsame „Gedankenformen“ abzutun. Die zu hoch hängenden Trauben sind eben „sauer“. Hau leugnet diese Welten mit einem – vielleicht nicht für ihn, aber für den wahrhaftigen Leser – ganz offensichtlichen Hochmut. Was bleibt von der Anthroposophie?
Hau scheint sich gar als Retter und jedenfalls als seltenen intimen Kenner Steiners zu verstehen, doch die Gegner der Anthroposophie (vor allem die übersinnlichen...) feiern Freudenfeste.
Anthroposophie und Christentum
Die Frage „Anthroposophie und Christentum“ ist im Grunde nur noch ein Nebenaspekt dieses grandiosen Schlages gegen die Anthroposophie. Steiners Einweihung habe mit dem Christentum „ganz und gar nichts zu tun“? Gut, das ist überhaupt nicht entscheidend – es sei denn, man reduziert Steiner auf den 19-Jährigen!
Steiners Einweihung mag sich wie auch immer ereignet haben. Was Einweihung ist, habe ich weiter oben erwähnt. Der Eingeweihte beginnt nun mit seiner übersinnlichen Forschung. Er faßt das Erlebte in Worte, zuerst in theosophischer Terminologie, und schildert die Geheimnisse des Menschenwesens, der Erdenentwicklung, die Taten der höheren Wesenheiten... Er stößt auf die Wirklichkeit des Christus-Wesens und erkennt in diesen Taten schließlich entscheidende Geschehnisse der Erdenentwicklung – und im „Mysterium von Golgatha“ das zentrale Ereignis überhaupt.
Der Unterschied zwischen Anthroposophie und Christentum? Ganz einfach: Anthroposophie schildert die Tatsachen der geistigen Welten – und die vom bewußten Denken begleiteten Wege dorthin. Das Christentum wendet sich als Religion, also als religiöser Willensimpuls des Menschen, der für die Erdenentwicklung zentralen Wesenheit zu, um sich mit ihr zu verbinden.
Steiner schildert geistige Tatsachen – mehr nicht. Er schildert aber eben auch die Bedeutung des Christus-Wesens; was dieses Wesen für die Erdenentwicklung getan hat, was es den Menschen bringen will – und warum es so entscheidend wird, sich mit ihm verbinden zu können. Daher die enge Verbindung zwischen Anthroposophie und Christentum, die dennoch sauber unterschieden werden können und müssen.
Wenn man das Christus-Wesen leugnet, kann man natürlich nur zu Hau´s Gedankenkonstrukt kommen. Dann werden eben die Schilderungen realer Tatsachen zum „Motiv des Christentums“ (Heisterkamp2), dann ist das „Mysterium von Golgatha“ nur das Erlebnis „Gott wird Mensch“ des 19-jährigen Steiner. Steiner aber hatte mit 19 viel eher das Erlebnis: Der Mensch kann sich wahrhaftig zu den göttlichen Welten hinauferleben. Mit dem „Mysterium von Golgatha“ hat das noch nichts zu tun!
Leugnet Hau den Christus, weil er ihn nicht ertragen kann – oder die „Christen“? Um einmal ebenso zu provozieren wie Hau: Tatsächlich kommt man um den Christus nicht herum! Doch dies bedeutet nicht, daß irgend jemand, der sich „Christ“ nennt, über anderen Menschen stünde. Die geistigen Tatsachen sind entscheidend. In einem wirklich religiösen Buddhisten oder Moslem ist der Christus-Impuls viel stärker wirksam als in einem sich besonders religiös oder gar anderen voraus wähnenden „Christen“.
Das „Christentum ist größer als alle Religion(en)“, weil die Christus-Taten in jedem Menschen bereits wirksam sind und weil der Christus von jedem Menschen aufgenommen werden will und kann, unabhängig davon, ob man ihn mit diesem Namen belegt oder nicht.
Soviel Menschenliebe, so viel vom Christus-Impuls lebt in einem – jedoch: auf jeden einzelnen Menschen bezogene und in Taten sich äußernde Liebe.
Das Christus-Wesen findet nicht, wer über sich nur einen konturlosen „Urgrund“ erkennen (und ertragen?) kann oder will. Es findet auch derjenige nicht, der das Rätsel zwischen wahrer Selbstlosigkeit und wahrer Ich-Findung nicht lösen kann.
Hau und Steiner
Hau ist davon Abgründe entfernt, wenn er schreibt, es sei eine merkwürdige Vorstellung, daß ein Eingeweihter automatisch einen vorhersehbaren, anti-individuellen und trostlos spießigen Lebenswandel führen müsse.
Hau´s Worte offenbaren eine Überheblichkeit, die die Selbstgefälligkeit des „Spießers“ weit übersteigt. Der Individualismus, der dem Großteil der „normalen“ Menschheit den Stempel des „Spießertums“ aufdrückt, ist selbst zum Trend geworden. Er garantiert jedoch noch lange keine Originalität, offenbart aber in der Regel immer auch die eigenen Mühen, selbst dem „Spießertum“ wirklich zu entkommen...
Wer im „anti-individuellen“ „Lebenswandel eines Eingeweihten“ nur trostloses Spießertum sehen kann, hat selbst ein Problem mit der Frage der „Individualität“. Steiner war ohne Alkohol erst recht kein Spießer.
Richtig: Die Einweihung selbst erlaubt kaum Voraussagen auf den künftigen Lebenswandel. Steiner war aber kein gewöhnlicher Eingeweihter. Er hat den mit den ersten Einweihungs-Erlebnissen begonnenen Weg konsequent fortgesetzt. Durch seine Fähigkeiten zur übersinnlichen Forschung und Mitteilung seiner Erlebnisse – und den Willen, diesem sein ganzes Leben zu widmen, wurde er zu einem Menschheitsführer. Er wirkte im Sinne der „weisen Weltenlenkung“ und tat das, was in seinen Kräften stand. Das ist höchste Selbstlosigkeit und Selbstverwirklichung in einem.
Wer diese Größe und die Größe der geistigen Welten nicht anerkennen will, wird das „Phänomen Rudolf Steiner“ nicht verstehen – denn er will es eben im Grunde nicht. Das scheinbar „voraussetzungslose“ Denken, mit dem Hau an seine „Fragestellung“ herangeht, ähnelt der materialistischen Wissenschaft, die ohne die „Hypothese Gott“ auskommen wollte – und folglich Gott auch nicht mehr finden konnte. Denken allein reicht eben nicht um zur Wahrheit zu kommen. Wer mit missionarischem Eifer und leisem (oder lautem) Selbstgenuß seines Ketzertums eine „skandalöse“ Entdeckung beweisen will, ist erst recht oft völlig auf dem Holzweg.
Ja, Felix Hau, es ist schlimm, daß wir „Anthroposophen“ das, was Steiner bringen konnte, fast alle noch so wenig selbst durchdrungen haben. Gegen jede eitle Selbstwahrnehmung, man „hätte es schon“ ist erst recht der aufweckende Hammerschlag legitim und notwendig. Wenn Sie aber die „Anthroposophie“ selbst als Mystifikation oder Verkleidung der Anschauungen des 19-jährigen Steiner hinstellen, ist das geschlossene zurückweisende Urteil aller Menschen, die sich mit dem Wesen der Anthroposophie irgendwie verbunden fühlen, keine „Inquisition“ einer selbstimmunisierten Gemeinde von Dogmatikern, sondern die unvermeidliche Konsequenz jedes wahrhaftigen Strebens.
Fußnoten
[1] „Rudolf Steiner zwischen Geist-Erleben und Christentum“, Info 3, Juli/August 2005
[2] Einfache Erleuchtungs-Erlebnisse erfassen noch nicht die unendlich vielgestaltige Wesenhaftigkeit der Welt. Wie jedoch auch hier der Christus als zentrales Wesen gefunden werden kann, beschreibt Zoran Perowanowitsch in seinen Aufsätzen („Rätsel Erleuchtung“, Info 3, Mai und Juni 2005).