20.06.2006

Ein Roman aus Anthroposophie

„Die Weisheit ist eine Frau“ von Mieke Mosmuller

Buchbesprechung: Mieke Mosmuller: Die Weisheit ist eine Frau. Occident Verlag, 2006 (345 S., 19,50€).

Veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 25.8.2006 (Nr. 35).

Kann ein Roman mehr Anthroposophie vermitteln als ein Buch über Anthroposophie? Ohne Zweifel. Es hängt nur davon ab, wie er geschrieben ist. Ein anthroposophischer Roman ist ja allgemein kein verbreitetes Phäno­men. Ein so unmittelbar aus der Anthroposophie geschriebenes Buch wie „Die Weisheit ist eine Frau“ von Mieke Mosmuller[1] ist eine wahre Seltenheit.


Kein Buch über Anthroposophie. Man begegnet auf Schritt und Tritt ihrem Wesen, doch nur, wenn man ein Gefühl dafür hat. Seite für Seite, Satz für Satz geht es um die seelischen Erlebnisse der handelnden Menschen. Um die Grundfragen und Grundkonflikte des Menschenlebens – nicht mit deutendem Zeigefinger, sondern im Strom der lebendigen Handlung und Schilderung. 

Das Anfangskapitel zeigt zwei etwa 50-jährige Frauen in der Reife ihres Lebens. Die eine betrachtet von einer Bank die Frühlingslandschaft ihrer südniederländischen Heimat und sinnt über Leben und Sterben: Wo ist im Erleben etwas zu finden, was nicht aus den Sinnen kommt? Die andere genießt am Strand den kraftvollen Wind, ihre eigene Schönheit und die Blicke der Männer. Zweieiige Zwillinge...

Die folgenden Kapitel entfalten nun die Lebensschicksale beider Schwestern. In meisterhafter Schilderung erlebt der Leser ihre Kindheit und den Vater, dessen tiefer Glaube jede kleinste Handlung zu einem Gebet werden lässt. Ein einfacher, tief weiser Mann, der nie ein ungerechtes, ja scheinbar überhaupt nie ein Urteil fällt. Schon an ihm scheiden sich die Geister der Kinder: Die eine, Maria, scheint in ihrer Art ebenso still zu sein. Die andere, Agnes, ist eine Draufgängerin, wild entschlossen, ihre Grenzen auszuloten und der „unterträglichen Güte“ zu entfliehen.

Und doch sagt der Vater auch Maria voraus, daß sie ihm über den Kopf wachsen wird. Das schlichte, begnadete Leben des Elternhauses ist nicht das Ende der Wege der Kinder. Dennoch erweist sich bis zuletzt, wie tief diese Eltern das Leben beider Schwestern beschenken konnten.

Sie kommen zum Medizin-Studium nach Amsterdam. Ein Junge mit kritischer Art, René, verliebt sich in Maria, die ihn abweist. Daraufhin werden er und Agnes ein Paar, allerdings in einer sehr machtbetonten Beziehung, in der René immer mehr zwei Seiten seiner Seele zeigt. Es kommt zu großen Konflikten, die allmählich in der Offenbarung existentieller Fragen und Lebensthemen gipfeln. – Maria findet schließlich ihren Mann und die Liebe, was ihre Lebensfragen jedoch nur vorübergehend verdeckt. In ihrer Gewissen­haftigkeit sucht sie die Brücke zwischen ihrem Wissen vom menschlichen Körper und der lebendigen Wirklichkeit, die sie durch das Studium verloren hat.

Eine weitere Person wird nun immer wesentlicher, die auf ihrem individuellen Weg schon fortgeschrit­ten ist und beiden Schwestern Rat geben kann. Maria nutzt die zunächst nur einmalige Begegnung mit Johannes und begibt sich völlig selbständig auf den Weg der inneren Schulung. Agnes richtet sich noch lange weiter nach ihrem eigenen Urteil, bis ihr Lebensthema in Form zunehmender Herzbeschwerden sogar ins Physische hineinreicht...

Jeder Versuch, die weiteren Handlungsstränge in diesem Rahmen zu skizzieren, muß vergeblich bleiben. Zu intensiv entfaltet sich die Seelenwelt, zu sehr besteht das ganze Buch aus seelischer Handlung – ohne jemals lastend zu werden. Beeindruckend, wie die Charaktere geradezu urbildhaft erscheinen, gewisse Aspekte in aller Deutlichkeit zeigend (bei René sogar die Zerrissenheit der Seele), und einem dennoch in jedem Moment auf der Straße begegnen könnten.

Mieke Mosmullers Sprache ist schlicht und meisterhaft zugleich, noch in der Übersetzung. Da wird einmal das Wesen des Vaters in zwei Worten charakterisiert: Lächelnder Ernst... Da wird in zartester und doch glaubwürdigster Weise eine Begegnung Marias mit einem Engelwesen mitten auf freiem Feld in Worte gefasst. Und dann gibt es noch zahllose Schätze in den Dialogen zwischen Maria und dem Vater, Maria und Johannes, den beiden Schwestern... Selbst wenn man nicht das ganze Buch als einen großen Schatz betrachten wollte, würde das Lesen schon wegen bestimmter einzelner Absätze lohnen, die überall verborgen sind. Tiefe Gedanken darüber, wie der in der Welt wirkende Geist zu finden und seine Sprache zu erlernen ist, und noch vieles andere.

„Die Weisheit ist eine Frau“ ist ein leiden­schaftlicher Aufruf an jeden einzelnen Leser, mit dem inneren Weg wirklich zu beginnen. Es ist aber auch eine leidenschaftliche Beschreibung der Vielfalt menschlichen Seelenlebens, das in dieser Gesamtheit in jeder einzelnen Menschenseele zu finden ist! Und ein Aufruf, diese Vielfalt mit Interesse zu suchen – im anderen und in sich selbst – und ihr in Liebe zu begegnen. Das Buch ist – Anthroposophie, von der ersten bis zur letzten Seite.

Fußnoten


[1] In deutscher Sprache liegen von ihr unter anderem noch vor: “Mutter eines Königs“ (Besprechung in “Das Goetheanum“ 07/2005) und “Suche das Licht, das im Abendlande aufgeht“, letzteres kein Roman, sondern ein Werk über die Erfahrung des Denkens, man könnte auch sagen: zu ihr hin.