19.07.2007

Wer ist ein Anthroposoph?

Veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 1.8.2007 (Nr. 31) unter dem Titel „Ehrliches Streben“ als Beitrag auf eine entsprechende Frage der Redaktion.

Anthroposophie hat mit wahrhaftigen Begegnungen zu tun: mit sich selbst, der Welt, mit Wesenheiten. Doch der Weg setzt ein stetiges „Erkenne dich selbst“ und eine fortwährende Selbstschulung voraus. Bleibt der Mensch stehen, kann er sich mit immer weniger Recht Anthroposoph nennen, führt Holger Niederhausen aus.


Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltenall führen möchte. Ein Anthroposoph ist jemand, der diesen Erkenntnisweg betreten hat. Dieser Weg führt den Menschen zugleich zu seinem eigenen Geistigen. Was Rudolf Steiner geschrieben hat, hat die Kraft, den Menschen an den Anfang jenes Weges zu führen. 

Wird das, was Rudolf Steiner geschrieben oder gesagt hat, jedoch rein äußerlich aufgenommen, führt dies zu reinem Dogmatismus. Anthroposophie ist der Weg und in höherem Sinne das Wesen lebendiger Erkenntnis. Sie ist damit das Gegenteil von Dogmatismus und auch von abstraktem, totem „Wissen“. Jedes „gehabte“ Wissen bleibt vor dem Auge der Anthroposophie unwahr. „Wissen ist Macht“. Der Mensch kann sich aber nicht Teile der Anthroposophie „aneignen“ und über sie „verfügen“, sondern die Anthroposophie selbst gewährt ihm Zutritt zu ihrer Sphäre – oder die Widersacher lassen einen in der Illusion leben, man befände sich mit seiner Verstandeskraft (die menschheitlich betrachtet den Materialismus hervorgebracht hat) bereits in dieser Sphäre.

Wahre Bescheidenheit und ernstes Streben

Zum spirituellen Streben an sich – in jedem Fall zum Streben eines Anthroposophen – gehört der tiefe Drang nach Selbsterkenntnis, diese wiederum setzt tiefe innere Demut und Bescheidenheit voraus. Das Verhältnis zwischen wirklicher Bescheidenheit und einem hochmütigen Habitus des „ich weiß etwas“ oder gar „ich weiß es besser“ ist ein untrügliches Zeichen, auf welcher Stufe der werdende Anthroposoph sich befindet... Die Wahrheit und die Anthroposophie öffnen sich nur der wahren (strebenden) Bescheidenheit. In diesem Sinne ist ein Anthroposoph zunächst ein Mensch, der sich in vielerlei Hinsicht davor scheut, sich (schon) als solcher zu bezeichnen...

Auf der anderen Seite kann sich raffinierter Hochmut gut als Bescheidenheit maskieren, und zugleich gibt es auch jene falsche Bescheidenheit, die die Maske der Bequemlichkeit oder gar Untertänigkeit ist – Grundlage für faules Jüngertum, das in seiner Schein-Verehrung zum stärksten Dogmatismus führt.

Der dem Anthroposophen notwendige Schulungs- und Erkenntnisweg bringt es mit sich, dass er sich zunächst jedes Urteils über andere Menschen enthält, denn ein Urteil über andere verhindert wahre Erkenntnis und fördert den Hochmut. Ein Anthroposoph kann neidlos (an)erkennen, dass andere auf dem Weg weiter fortgeschritten sind als er – und auch ganz andere Impulse auf dem gleichen Weg.

Da die Anthroposophie ein Entwicklungsweg ist, kann ein Mensch nur solange Anthroposoph genannt werden, wie er sich auf diesem Weg fortschreitend entwickelt. Wer sich am Anfang des Weges befindet, kann zu Anfang Anthroposoph genannt werden, wenn er jedoch stehen bleibt, später mit immer weniger Recht. Zum Begriff des Anthroposophen gehört also das beherzte, bewusste, gewollte In-die-Hand-Nehmen der eigenen Entwicklung – ein ehrliches Streben.

Ein Anthroposoph strebt danach, den Entwicklungsweg zu gehen, d.h. das Geistige in der Welt und in sich selbst zum eigenen bewussten Erlebnis werden zu lassen. Bevor er diese Stufe erreicht, ist er sich deutlich bewusst, dass alles noch nicht wirklich „sein Eigenes“ ist – und trotz (notwendiger) Begeisterung ist er weder missionarisch noch dogmatisch.

Die geistige Welt ... und Christus

Ein Anthroposoph nimmt das, was Rudolf Steiner aus seinem Erleben der geistigen Welt heraus geschildert hat, ernst – er nimmt es weder rein interessemäßig noch skeptisch auf, noch leugnet er es gar. Er weiß, dass es nicht um blindes Glauben geht, aber er ist so bescheiden, dass er sich durch jene Schilderungen auf den Weg führen lässt, während er zugleich sein eigenes Wahrheitsempfinden (weiter) schult. Für die weiteren Schritte zum eigenen Erleben der geistigen Welt ist die bewusste Schulung der Seelenkräfte und schließlich die richtige Meditation unerlässlich: Nur dann macht man sich selbst wirklich auf den Weg.

Auf dem Weg der Anthroposophie findet man das Geistige in der Welt – und findet seine eigene Wesenhaftigkeit in ihrer Tiefe. Das bedeutet, dass jemand, der „das Geistige“ zunächst ganz allgemein, undifferenziert, erlebt, erst am Anfang des Weges steht. Anthroposoph ist er, wenn er dies als Anfang erkennen kann.

Anthroposophie ist ein Weg, der den Menschen in Übereinstimmung mit seinem wahren Wesen und dem Weltenwerden bringen kann – ein Weg der Freiheit und Liebe. Diese Begriffe sind deutliche Wegweiser, auch wenn auch sie viele täuschende „Doppelgänger“ haben.

Christus ist ein mit dem Wesen der Anthroposophie und der Menschheit innig verbundenes Wesen. Man muss (auch) an Christus nicht glauben, um Anthroposoph zu sein. Und die Wirklichkeit der Welt ist so umfassend, dass man den Weg der Anthroposophie durchaus weite Strecken gehen kann, ohne dem Christus bewusst zu begegnen. Das heißt nicht, dass er nicht da ist... Auch hier fälle nicht ich das Urteil, welche Bedeutung der Christus (zum Beispiel für die Anthroposophie) hat, sondern die lebendige Wirklichkeit zeigt es mir, wenn ich weit genug gegangen bin.

Ein Anthroposoph ist ein Mensch, der zunehmend das Geistige in der Welt erkennt und sich in den Dienst der Geist-Wesen-Welten-Entwicklung stellt. Auf diese Weise nähert er sich auch dem Christus, auch wenn er nicht zu Seiner Erkenntnis kommt. Ein Christ ist ein Mensch, insoweit er Christus in sich wirken lässt – wiederum auch wenn er nicht zu Seiner Erkenntnis kommt. Die Weltentwicklung selbst führt dazu, dass dieses Christ-Werden immer mehr Bewusstheit erfordert. Anthroposophie und Christentum als Realitäten im Menschen bewegen sich aufeinander zu...