2007
Was hat Michael mit unserer Schule zu tun?
Der folgende Aufsatz ist eine Art Nachschrift des Vortrages, den ich zu Michaeli 2007 im kleinen Kreis in der Waldorfschule Berlin-Mitte gehalten hatte.
Wenn man nach Michael fragt, so muss man sich wohl zunächst ehrlich eingestehen, dass Michael kein Wesen ist, dem man sich leicht – oder gar leichthin – nähern kann. Und doch ist es ein Wesen, das auf den Menschen wartet.
Das Wesen Michaels... Es hat zu tun mit Mut und Erkenntniskraft, mit Verantwortungsgefühl, Ernst, Begeisterung und mit der „kosmischen Intelligenz“. Wenn wir den Kindern in Erzählungen Bilder von Michaels Kampf mit dem Drachen malen, bringen wir ihnen in einer ersten Weise etwas vom Wesen Michaels nahe. Es sind wirklich Realbilder – und die Kinder haben wohl ein Empfinden dafür. Sie schauen innerlich auf zu Michael, oder auch zu St. Georg, und empfinden diesen mutigen, entschlossenen Kampf gegen den Drachen leise als etwas, dem eine Wirklichkeit entspricht und dem sie sich auch anschließen, auch würdig machen wollen.
Und wenn wir auf uns selbst schauen? Dann müssen wir wohl zugeben, dass auch wir noch ganz am Anfang stehen, was das Verständnis dieses geistigen Wesens angeht – ganz zu schweigen von der den Kindern oft noch so stark eigenen Ehrfurcht!
Im Verständnis von Michaels Wesen machen wir einen ersten, aber einen wichtigen Anfang, wenn wir das Bild des Drachenkampfes einmal auf unser tägliches Leben übertragen. Der Drache ist ein Bild für reale Widersacherkräfte. Wenn man über das Wesen des Menschen und des wahrhaft Menschlichen nachsinnt, kann man entdecken, dass der Mensch eigentlich immer berufen ist, in jeder konkreten Situation das Gleichgewicht zu finden, die rechte Mitte. Doch wo liegt diese?
Widersacherkräfte entdecken lernen
Nehmen wir ein Beispiel: die un-menschliche Polarität von Geiz und Verschwendungssucht. Der Geiz auf der einen Seite will den Menschen verhärten, ihn kalt und seelenlos machen. Die dahinter stehende reale Macht verführt den Menschen dazu, nach Macht und Einfluss zu streben. Die Verschwendungssucht wiederum ist ein Beispiel für den anderen Pol, der das Ich zu selbstbezogen macht, übersteigert, in gewisser Weise auch weltflüchtig. Rudolf Steiner nennt die hinter diesen beiden Polen stehenden wesenhaften Mächte „Ahriman“ und „Luzifer“. Um sie zu überwinden, muss die Mitte gefunden werden – und hier kann man sich Michael verbunden fühlen. Die Mitte kann umschrieben werden mit Begriffen wie „Selbstlosigkeit“ (im besten Sinne), Interesse, Liebe – in dieser Richtung wird man sie immer finden können.
Wo liegt nun aber die Mitte zwischen Geiz und Verschwendungssucht? Wie kann man diese Mitte begrifflich fassen? Zum Beispiel als „gesunde Sparsamkeit“. Aber damit haben wir nur den einen Pol des Gleichgewichts – jenen Pol, der die rechte Mitte zur Verschwendungssucht hält. Wenn es aber gilt, den Geiz zu überwinden, kommen wir zum Begriff der rechten Freigiebigkeit. Die Mitte schwingt lebendig zwischen diesen beiden Begriffen: sparsam und freigiebig. Das Gleichgewicht, das die Widersachermächte überwindet, muss in jeder einzelnen Situation konkret gefunden werden!
Nehmen wir ein anderes Beispiel, den ur-menschlichen Bereich der Kommunikation. Ein Bereich, der ja auch für unsere und jede andere Schule eine ganz zentrale Rolle spielt! Was wären die Extreme, hinter denen sich hier die Widersachermächte verbergen? Man könnte vielleicht sagen: Kommunikation bewegt sich zwischen den un-menschlichen Polen des Machtkalküls und der Selbstdarstellung. Der eine Pol sieht den anderen Menschen nur als Mittel zum Zweck, der andere Pol sieht ihn überhaupt nicht... Die menschliche Mitte dagegen ist die wahre Begegnung.
Wenn wir noch einen Schritt konkreter werden, können wir zum Beispiel die Frage der „Transparenz“ betrachten. Eine Schulgemeinschaft kann nur dann als Gemeinschaft leben und sich lebendig entwickeln, wenn die verschiedenen Geschehnisse und Entwicklungen innerhalb dieser Gemeinschaft für alle Einzelnen „transparent“ werden, wenn also jeder ein Bewusstsein des Ganzen gewinnen kann. Auch hier wieder lassen sich die un-menschlichen Pole finden. Die eine Widersachermacht verführt zum Extrem der „Abschottung“ (völlige Intransparenz, un-/bewusstes Machtkalkül), die andere zu übermäßiger „Transparenz“, also Indiskretion!
War dies mehr von der Seite derjenigen betrachtet, die über ein bestimmtes Wissen verfügen, kann man es auf der Seite derer, die dieses zunächst nicht haben, so beschreiben: Der „Transparenz“ muss ein warmes Interesse entsprechen! Die von dieser menschlichen Mitte abweichenden Pole wären dann ein Streben nach Kontrolle – oder aber ein völliges Desinteresse...
Die Vorschule des michaelischen Weges
Und so kann man für sich jede einzelne Situation des eigenen Alltags betrachten und prüfen – und man wird immer finden, wie man zu zwei Seiten in den Bereich des nicht wirklich Menschlichen abirren kann und stets auch abirrt. Denn das ist ja gerade die großartige Aufgabe: Immer wieder Mensch zu werden, indem man bewusst und durch eigene Anstrengung die Mitte finden darf.
Eine sehr fruchtbare Erkenntnisübung kann es sein, einmal innerlich zu durchdenken, wie es sich in dieser Hinsicht mit den michaelischen Impulsen selbst verhält: Mit Mut, Ernst, Begeisterung, Verantwortungsgefühl. Wann verwirklichen wir diese Qualitäten wahrhaft – und in welche beiden Richtungen können wir sie immer wieder verlieren? Ich will aus Platzgründen die Begriffe, die ich dabei gefunden habe, hier nur kurz wiedergeben. Es lohnt sich aber, sie eine Zeitlang wirklich intensiv innerlich nach- und mit-zu-denken:
Todessehnsucht/Zerstörungswut << Leichtsinn/Draufgängertum < Mut > Wünschen/Sehnsucht >> Angst
Beliebigkeit/Phrase << Laune/Sonntagsstimmung < Ernst > Dogmatismus >> Diktatur
Fanatismus << Realitätsferne < Begeisterung > Bewunderung/Gutwilligkeit >> Resignation/Phrase
Verantwortungslosigkeit << Wichtigtuerei < Verantwortungsgefühl > Pflichtgefühl >> Gehorsam/Befehl
Es kann dabei auffallen, dass die Mitte immer dort gefunden wird, wo das Ich sich im besten Sinne selbstlos mit etwas anderem ganz verbinden kann. Die Widersacherkräfte der „luziferischen“ Seite (links) verführen dazu, das „Ich“ wichtiger zu nehmen, die „ahrimanischen“ Kräfte überwältigen das Ich durch die „Sache“: Bei der „Sonntagsstimmung“ ist meine Laune wichtiger als die Sache, beim Dogmatismus stellt die Sache sich über den Menschen. Bei der Wichtigtuerei bin ich wichtiger, beim Pflichtgefühl die Sache...
Diese Art Übung, durch die man langsam ein Gefühl für die Realitäten gewinnt, in denen man sich täglich mehr oder weniger unbewusst bewegt, ist nun eigentlich erst eine Art Vorschule für den michaelischen Weg.
Denn wenn es einem durch diese innere Schulung – es ist eine Schulung! – gelingt, allmählich besser als zuvor die Mitte zu finden (der Willensimpuls muss natürlich hinzukommen) oder gar die michaelischen Qualitäten zu entwickeln, dann kann und muss ja die Frage auftreten: Wie soll es nun weitergehen? Ich bin nun mutiger, ernsthafter, aber nach was soll ich streben? Wofür soll bzw. darf ich mich begeistern?
„...mit dem Erleben des Geistes Ernst machen“
Hier nun wird ein weiterer Aspekt Michaels ganz wesentlich. Rudolf Steiner schildert, wie Michael seit Urzeiten der Hüter der kosmischen Weisheit war, der „Verwalter der kosmischen Intelligenz“, wie er es auch ausdrückte. Diese kosmische Weisheit ließ Michael dann aber zu einem bestimmten Zeitpunkt der Menschheitsentwicklung „zur Erde sinken“ – im Auftrag der himmlischen Hierarchien. Die kosmische Intelligenz gelangte also in den Bereich der Menschen. Der Zeitpunkt, zu dem dies geschah, kennzeichnet den Beginn des Michael-Zeitalters, in dem wir uns jetzt befinden – dessen Zeitgeist also Michael selbst ist. Und genau diese „zur Erde gesunkene“ kosmische Weisheit ist die Quelle, aus der Rudolf Steiner die Anthroposophie schöpfen konnte. Die Anthroposophie ist die kosmische Weisheit, in eine Form gebracht, die dem menschlichen Verstand zugänglich ist!
Wenn man sich innerlich mit dieser Anthroposophie beschäftigt, wird man feststellen, dass man wirklich Schritt für Schritt ein anderer Mensch wird. Durch die Anthroposophie kann jeder Einzelne allmählich dem wahren Wesen des Menschen (und zugleich der Welt) näher kommen. Beide, der Mensch und die Welt, sind viel erhabener, großartiger und göttlicher (und haben viel mehr miteinander zu tun), als man es im Alltag wahrnehmen, erleben und glauben kann... Der „Weg der Mitte“ – die Suche nach dem Gleichgewicht in jedem Moment – ist gleichsam die Vorschule, die einen für diese Sphäre des geistigen Erlebens überhaupt erst offen und empfindsam werden lässt. Die Anthroposophie führt einen dann weiter... Sie ist keine Lehre, kein Zwang, jede Dogmatik wäre eine Abirrung von ihrem Wesen. Anthroposophie ist ein Übungsweg.
Ein ganz wesentlicher ihrer Aspekte ist nun die spirituelle Menschenkunde. Und hier sind wir wiederum ganz konkret in der Schule angekommen. Denn diese Menschenkunde soll ja die Quelle sein, aus der heraus Waldorfpädagogen tätig sind. Man muss heute bis zu dieser geistigen Sphäre kommen, um den heutigen Kindern wirklich begegnen zu können. Guter Unterricht, engagierte Lehrer und die hilfreichen Hinweise Steiners (etwa die Empfehlungen für Unterrichtsthemen) sind das eine, was sicherlich schon eine „gute Schule“ ausmacht. Doch erst, wenn man mit Sehnsucht, Begeisterung und wirklich innerlichem Bemühen an jene angedeutete geistige Sphäre der Anthroposophie rührt, kommt man zu jenen lebendigen Intuitionen, die einen im konkreten Umgang mit den Kindern immer wieder das Richtige finden lassen. Das gilt natürlich auch für Eltern...
Das geistige Streben muss leben! Es handelt sich darum, „dass man mit dem Erleben des Geistes Ernst macht“, wie Rudolf Steiner es im „Pädagogischen Jugendkurs“ (GA 217) einmal ausdrückte. Dies gilt natürlich nicht nur für die Schule, sondern überall in der Welt. Es muss wirklich der Geist in die Zivilisation einschlagen. Die Frage nach dem Grundeinkommen, das Empfinden gegenüber den negativen Folgen der Globalisierung und vieles andere kann als Symptom dafür erlebt werden, dass überall die Frage nach dem wahrhaft Menschlichen – und damit auch nach dem Wesen des Menschen – unterschwellig lebt. Es kommt aber darauf an, dass überall das Wesenhafte der Dinge mehr und mehr erfasst wird. Nur dann wird man aus Erkenntnis handeln können.
In Bezug auf den eigentlichen pädagogischen Impuls glaube ich, dass eine Waldorfschule gerade heute ganz stark auf die Unterstützung der Eltern angewiesen ist. Das Ringen um die Erkenntnis des Menschenwesens – und jedes individuellen Menschenkindes –, die spirituelle Wahrhaftigkeit überhaupt, all dies kann nur lebendig bleiben bzw. immer wieder neu lebendig gemacht werden, wenn den Pädagogen (genügend) Eltern zur Seite stehen, die sich um diese Fragen ebenfalls bemühen. Auch wenn dies zunächst jeder einzelne für sich tut, entsteht auf diese Weise doch eine Art Substanz, die im Grunde ein Lebenselixier der Schule ist.
Zu alledem gehört natürlich ein wahrhaft herzlicher Umgang miteinander. Es gehört dazu der ernsthafte Versuch, die immer wieder zu erlebenden Rollenmuster zu durchbrechen und hinter sich zu lassen, d.h. also einander wirklich zu begegnen, den anderen wahr-zunehmen. Steiner betonte, wie die ganze Menschheit immer mehr in der Phrase, in der Konvention und in der Routine lebt. Überwinden kann man dies nur durch Begeisterung, Herz und Initiative. Dann aber sind wir schon mitten auf dem Wege Michaels.