Auszüge aus "Stigmata und Geist-Erkenntnis"

Mieke Mosmuller: Stigmata und Geist-Erkenntnis. Judith von Halle versus Rudolf Steiner. Occident, 2008. >> Buchbesprechung.


Der Eingeweihte lebt schauend in bestimmten übersinnlichen Tatsachen, und beschreibt diese so, wie sie erlebt werden können. Ein anderes Mal lebt er in einem anderen Teil der Tatsachen, und schildert sie also von einem anderen ‚Standort'. [...] Man hat nie eine solche Übersicht, wie es sie im sinnlichen gibt. [...] Judith von Halle dagegen liefert einen übersichtlichen Tatsachenverlauf. In dieser Form wird geistige Erkenntnis nicht erlangt. Die Form ist der Beweis für die Ungültigkeit ihrer Erkenntnisse. (S. 89).

Von Rudolf Steiner haben wir gerade gelernt, dass alles Sinnlich-Physische Illusion ist und dass in diesem Sinnlich-Physischen das Geistige als Wesentliches gesucht werden muss. Es gibt gar kein ‚nur Physisches'. Man sollte das aber nicht mit ‚Materiellem' verwechseln. [...] Das Phantom ist eigentlich das Urbild für ein ‚rein‘ physisches Gebilde, aber ohne Materielles, ohne Materie. [...] Geistige Prozesse wirken bis ins Physische, die Christus-Kraft sogar bis in die Zellkerne – jedoch nicht bis in das Sinnliche, sie werden nicht selbst materiell oder sinnlich, sie gestalten. [...] Wirkungen werden sinnlich wahrnehmbar, und auch sie nur als Werk. [...] Alles Vergängliche ist zwar Gleichnis des Geistigen, ist aber nicht selbst geistig. Der physische Leib hat ein geistiges Urbild, das realer Gedanke ist. Die Materie selbst kann nicht vergeistigen, sie ist dasjenige, was übrigbleibt, wenn das Geistige ausfiltriert  ist. (S. 94f).

Was ein Mensch in seinem Innern erleben will, ist seine eigene Freiheit, dagegen wende ich mich gar nicht. Was jedoch nach außen gebracht, offenbart wird, soll – wenn es Anthroposophie heißt – rein geistig sein. Man darf sich dabei keine sinnlichen Vorstellungen bilden müssen; alles was an Bildern dem Leser gezeigt wird, soll sinnlichkeitsfrei, also rein geistig sein. Will man den Leidensweg meditieren, so muss man sich moralische Vorstellungen bilden, diese kann der Lehrer dem Schüler geben. Gibt man sinnlich-reale Schilderungen, so achtet man die Freiheit der Leser nicht und wirkt direkt – unter Umgehen des freien Geistigen – auf den Willen, auf das rein persönliche Heiligtum des Menschen! (S. 120).

Das Phantom verleiht Einweihung, aber es ist selbstverständlich Einweihung im christlichen Sinne. Diese Einweihung hat einige Merkmale, die wir durch Rudolf Steiner kennengelernt haben, und die der strebende Mensch auf seinem eigenen Entwicklungsweg kennenlernt. Diese Merkmale findet man, wie im Vorhergehenden gezeigt wurde, bei Judith von Halle keineswegs. [...]
Freiheit ist ein hervorragendes Merkmal. Einweihungs-Erkenntnisse, die mit dem Phantom erlangt werden, überkommen einen nie. Man muss sich in völliger, bewusster Freiheit zur Erkenntnis hinwenden, und das Bewusstsein wird auch während des Erkennens völlig aufrechterhalten [...]
Weitergebildetes reines Denken ist ein zweites Merkmal. Das Phantom ist zwar physisch, nicht aber sinnlich. Es ist aus reinen Gedanken gewoben und kann deshalb nie Erkenntnisse liefern, die sinnliche Tatsachen in sinnlicher Form wiedergeben. Alles  Sinneswelt-Ähnliche im bildhaften reinen Denken ist Gleichnis der Wirkung, keine regelrechte Realität – Sinnbild, nicht sinnliches Bild. Wenn das reine Denken Eindrücke aus der geistigen Welt empfängt, sind diese zuerst wie reine Wirkungen da. [...] Die Imagination wird gleichsam zum Übersetzer zwischen der geistigen Welt und dem erkennenden Bewusstsein. [...]
Begrifflichkeit ist ein drittes Merkmal. Die sinnlichen Wahrnehmungsqualitäten verschwinden völlig und machen der Begrifflichkeit Raum, die dann Wahrnehmungsstärke bekommt. [...]
Erhöhtes Wach-Sein. Die Wachheit des Sinnes-Verstandes-Bewusstseins wird nicht nur erhalten (s.o.), sondern verstärkt. Nicht die Sinnes-Wahrnehmungen werden stärker – sie schwächen sich gerade, und verschwinden schließlich völlig – sondern das Bewusstsein, und zwar gerade durch das Ausschließen des Sinnlichen.
[...] Bei wahrer geistiger Erkenntnis jedoch bleibt dieses gewöhnliche Sinnes-Verstandes-Bewusstsein als ‚Zuschauer‘ immer anwesend. Dass es bei Judith von Halle verlassen wird, ist gerade der Beweis dafür, dass es Visionen sind. Diese Art des Schauens ist, wie jeder Schüler von Rudolf Steiner weiß, zu überwinden. Sie gehört einer früheren Entwicklungsphase an. Erst nach der Überwindung tritt das freie selbstständige Selbstbewusstsein im abstrakten Verstand ein, und von diesem Verstand aus kann der Mensch sich zu einer neuen Einweihungsart empor entwickeln. Ein Zusammengehen von sinnlichen Visionen und rein-geistigen Erkenntnissen ist faktisch unmöglich. Zwischen dem einen und dem anderen liegt eine Weltepoche der Entwicklung, und die Umgestaltung vom einen in das andere verdanken wir ja Christus!‘ (S. 145ff).

"Dieser sogenannte Phantomleib ist ja ein verwandelter, ein umgewandelter physischer Leib. Und dieser umgewandelte physische Leib hat auch die Möglichkeit, Sinneswahrnehmungen zu haben. Diese Sinneswahrnehmungen stehen den Sinneswahrnehmungen eines nicht verwandelten physischen Leibes in nichts nach. Sie können sich allerdings auch auf Personen, Orte und Ereignisse beziehen, die Tausende von Kilometern entfernt sind oder zeitlich in großer Entfernung liegen."
(Judith von Halle, „Und wäre Er nicht auferstanden...“, S. 31).


In diesem Zitat wird klar ausgesprochen von welcher Art die Erkenntnisvorgänge sind. Es ist natürlich eine sehr verführerische Art. [...] Dennoch muss man tatsächlich dieser Verführung widerstehen, denn wenn man den anthroposophischen Erkenntnisweg liebt und aus eigener Erfahrung durchaus kennt, dann weiß man: dergleichen Wahrnehmungen können nicht mit dem seelisch-geistigen Erkenntnisvermögen (und hierzu gehört auch das Phantom, denn es ist der geistige Teil des physischen Leibes) gemacht werden. Die Wahrnehmungen von Judith von Halle sind ‚verstärkt-physisch‘, oder ‚unter-sinnlich', sinnlicher als die alltägliche sinnliche Wahrnehmung, was auch durch die verstärkte Intensität der Sinneswahrnehmungen, die aus den Beschreibungen des Miterlebens der Zeitenwende hervorgeht, bestätigt wird. Visionen sind es, interessant, aber nicht geeignet, weitergegeben zu werden – erst recht niemals unter dem Namen der Anthroposophie. Anthroposophie ist geistige Erkenntnis, und diese wird nie in sinnlicher Form gegeben. (S. 150).

Das Wesen der Farbe lebt im Geistigen, es tritt als Farbe in Erscheinung und wird so zur ‚Maya‘, zur Täuschung. Was wir also als Farbe, Ton usw. wahrnehmen, beruht auf der Tätigkeit Ahrimans – auch dann, wenn Farbe, Ton usw. sich stärker wahrnehmen lassen. Erst wenn man Farbe oder Ton als Gleichnis des Geistigen erleben kann, ist die ahrimanische Täuschung überwunden. Man erreicht dann diejenige Welt, die den Sinnen zugrunde liegt, die ätherische Welt. [...] Das Phantom aber ist ein geistiger physischer Leib. Es ist gerade die wirkliche ahrimanische Täuschung, die uns denken lässt, dass auch dieser geistige Teil des physischen Leibes genau dieselben Fähigkeiten des materiellen physischen Leibes haben würde, nur intensiver und frei von der Form und der Zeit. Wenn man jedoch ein wahrhaftiges Erleben des ‚Geistig-Physischen‘ haben möchte, muss man sich vertiefen in den physischen Leib, so wie er auf dem Saturn war. Dann lernen wir, dass dieser physische Leib zwar Sinnesorgane als Anlage bekam, dass aber alle Sinneswahrnehmungen geistig-seelischer Art waren. Rudolf Steiner versucht, uns dies durch den Vergleich zwischen dem physischen Wärme-Erlebnis und dem seelischen Wärme-Erlebnis im Enthusiasmus, in der Begeisterung, erleben zu lassen. So muss man sich alle Sinnes-Wahrnehmungen des geistigen physischen Leibes vorstellen: moralisch-geistig, sinnlich-sittlich-geistig. [...] Nie sind die Sinnesqualitäten dasjenige, was sie in der physischen Welt bedeuten. Sie weisen immer nur hin auf etwas, was sonst nicht wahrnehmbar wäre. Das aber ist die Art des Wahrnehmens mit dem geistigen Teil des physischen Leibes. Der Ätherleib schenkt die Bilder, wenn das starke reine Denken des geistigen Leibes sich dazu hingibt. (S. 160f).

"Ich lehne für den Bereich der geistigen Erkenntniskräfte jede menschliche Verrichtung ab, die unter das reine Denken herunterführt, und erkenne nur eine solche an, die über dieses reine Denken hinausgeleitet. Ein vermeintliches Erkennen, das nicht in dem reinen Denken eine Art Vorbild anerkennt und das sich nicht im Gebiete derselben Besonnenheit und inneren Klarheit bewegt wie das ideenscharfe Denken, kann nicht in eine wirkliche geistige Welt führen."
(Rudolf Steiner, GA 35, S. 321).


Das Ich muss lernen, sich außerhalb von sich selbst zu stellen und sein Erden-Ich anzuschauen. In dieses eigene Anschauen mischt sich dann das Angeschaut-Werden durch die Hierarchien. (In meinem Buch ‚Der Heilige Gral‘ beschrieb ich den Ausnahmezustand als das Finden des Grals, und das Empfinden des Angeschaut-Werdens als Erfüllung mit Christus). Dass Judith von Halle während ihrer Wahrnehmungen nicht außerhalb ihres Erden-Ichs steht, geht aus den Beschreibungen der Erlebnisse selbst hervor und beweist, dass sie nicht mit dem Phantom wahrnimmt, denn dieses gibt nur Erkenntnisse in der Art des Angeschaut-Werdens. (S. 173).

Ich sagte, dass sich dieses Grunderlebnis ändert, sobald man in die geistigen Welten hinaufsteigt. [...] So wie die Gegenstände zu dem Ich gestanden haben, so steht jetzt das Ich zu den Wesenheiten der höheren Welten, man nimmt nicht mehr wahr, sondern man erlebt, dass man wahrgenommen wird, dass einen die geistigen Wesenheiten der höheren Hierarchien anschauen. [...]
Ohne dieses Grunderlebnis ist alles Verhältnis zur geistigen Welt verkehrt, wie ohne das Grunderlebnis ‚ich stelle die Gegenstände vor‘ alles Verhältnis zur physischen Welt verkehrt wäre. [...] Nun gibt es an der Schwelle, beim Übertritt in die geistige Welt, gewissermaßen eine Region, eine Strömung, in der man die ganze Konfiguration, die ganze Eigentümlichkeit des Verhältnisses zur physischen Welt beibehält. Man kommt nicht los von dem ‚Ich schaue an‘, man kann nicht aufsteigen zu dem ‚Ich werde angeschaut‘. [...] Das heißt, Swedenborg sieht nur so viel von der geistigen Welt, als ihm in seine von den Gewohnheiten der physischen Welt angekränkelten Imaginationen eingekleidet wird. Gewiss sieht er darin hochgeistige, bedeutende geistige Wesenheiten, aber eben immer in dem Kleid, das nicht ihr eigenes ist, sondern ihnen übergeworfen wird von ihm selber.
(Rudolf Steiner, GA 253, S. 53ff).


Das Phantom ist eigentlich das Wort des physischen Leibes. Es ist der göttliche Urgedanke, der allen Sinn, alle Bedeutung, Substanz, Eigenschaften und Formen des physischen Leibes als Urgedanken enthält, nur nicht die Materie selbst. Hier liegt die größte Schwierigkeit, das Phantom in seiner wesentlichen Art zu verstehen. Die Materie macht den Leib sichtbar, tastbar, macht ihn sinnlich wahrnehmbar. Mit den körperlichen Sinnen ist das Phantom also nicht wahrzunehmen. Und seine Sinne wiederum nehmen nichts Materielles wahr. Wäre es sinnlich wahrnehmbar und könnte es sinnlich wahrnehmen, so wäre es nicht mehr das Phantom, denn gerade diese ‚materielle Sinnlichkeit' ist die Folge des luziferisch-ahrimanischen Einflusses. Dass es doch scheinbar sinnlich wahrgenommen werden kann – wie in den Evangelien beschrieben steht – beruht auf etwas anderem. [...]
Das übersinnliche Phantom kann sich verdichten. Es wird zwar nicht sinnlich-materiell, es wird aber in einen Zustand gebracht, bringt sich in einen Zustand, der der Sichtbarkeit nahekommt. [...] Die Auferstehungsleiblichkeit verdichtet sich, wird wahrnehmbar, als ob sie sinnlich wahrnehmbar wäre. Sie kann aber dennoch durch geschlossene Türen hindurchgehen, kann plötzlich erscheinen und wiederum verschwinden. Sie kann aber auch Widerstand leisten, wodurch man sie wie berühren kann. Und sie kann sogar eine Mahlzeit zu sich nehmen und ertragen. (S. 184ff).

"Was ist nun also die Besonderheit des Phantoms in bezug auf die Sinne? Man kommt diesem Phänomen näher, wenn man sich auf die oben erwähnte ‚Ausdehnung‘ der Sinne konzentriert. Beim Geruchssinn ist eine Verfeinerung, eine Ausdehnung in einem Maße vorhanden, dass es zum Beispiel möglich ist, Bestandteile von Cremes zu identifizieren, ebenso Lebensmittel, die ein anderer am Vortag zu sich genommen hat oder erhöhte Eisenwerte im Blut eines anderen Menschen, der den veränderten Geruch seines Blutes über die Haut ausdünstet. [...] Dieser in der Außenwelt reale Ur-Gedanke der Sinne, das eigentliche ‚Wesen‘ der Sinne, ist mindestens ebenso exakt wie die Sinneswahrnehmung im physischen Leib. Übertragen auf den Sehsinn bedeutet das, dass das sinnliche Seherlebnis ohne den optischen Apparat [...] erfolgen kann. Der sinnlich-optische Eindruck entsteht dann allein durch die physisch-gestaltenden Kräfte des Phantomleibes. Daher kann jede Sinneswahrnehmung über eine Entfernung von Tausenden von Kilometern stattfinden oder auch in einer anderen Zeit."
(Judith von Halle, „Und wäre Er nicht auferstanden...“, S. 50f).


Wenn man glauben muss, dass [...] dies auf der Sinneswahrnehmung mit dem Auferstehungsleib beruhe, dann holt man die Geistigkeit des Phantoms tief herunter! Diese verstärkte und erweiterte Sinneswahrnehmung findet man bei ‚Paragnosten‘, die tatsächlich im Stande sind, genau zu wissen, was sich in weiter Entfernung abspielt oder abgespielt hat. Da hat man es mit physischen Ausschweifungen zu tun, die von physischer Hellsichtigkeit wahrgenommen werden können. So etwas könnte man auch ‚Phantome‘ nennen, denn es sind im Physischen erlebbare, unsichtbare Gebilde. Von Rudolf Steiner wissen wir, dass der Mensch in seinem Astralleib Dämonen erzeugt, in seinem Ätherleib Spektren und in seinem physischen Leib Phantome. Da finden wir eine andere Bedeutung für das Wort ‚Phantom', die uns besser verstehen lässt, warum Rudolf Steiner das Wort Phantom für die Auferstehungsleiblichkeit gewählt hat. Dort ist es im heiligen Sinn gemeint, hier aber sind es keine heiligen Erzeugnisse, sondern Absonderungen des egoistischen Verhaltens. (S. 205).

Wenn man den Entwicklungsweg der Anthroposophie ernst nimmt und diesen selber gehen will, pflegt man zuerst sein Denken so, dass es zum reinen Denken erhoben wird – für die Zeit des Übens. Dieses reine Denken muss dann durch Meditation erkraftet werden. Dadurch erlangt man die Fähigkeit, in reinen Kraftformen zu leben, zu denen das zur Kraft gewordene reine Denken geworden ist. Reines Denken ist dann zugleich reiner Wille. Diese Kraftformen, in denen man lange und immer länger zu leben lernen muss, werden zur Schale, in die die geistige Welt aus Gnade hereinfließt. [...] Das Denken wird ein Wahrheitsgewebe: es vermählt sich freudig mit wahrhaftigen Gedanken und Vorstellungen, sträubt sich jedoch, wenn es Unwahres und Unwahrhaftiges denken muss. [...]
Wenn nun ein Anthroposoph auftritt, der beansprucht, weit vorangeschritten zu sein in der inneren Entwicklung – so weit, dass Christus selbst seinen physischen Leib umgewandelt hat –, dann müssen seine Gedanken und Vorstellungen selbstverständlich völlig mit dem Wahrheitsweben eins sein. Erstens müssen die Bilder, die er bringt, widerstandslos im reinen Kraftdenken leben können. Zweitens müssen die Untermauerungen, die er an Hand der Aussagen Rudolf Steiners gibt, auch wirklich völlig mit der Anthroposophie im Einklang sein. [...]
In diesem Buch habe ich gezeigt, dass Judith von Halle sowohl dem ersten, als auch dem zweiten Anspruch keineswegs gerecht wird. Das reine, empfindende Kraftdenken kann ihre Vorstellungen unmöglich mitdenken. Ihre ‚Bausteine‘ aus dem Werke Rudolf Steiners erweisen sich als untauglich. Entweder versteht sie die Geisteswissenschaft nicht, oder sie deutet sie nach ihrem Bedarf um. (S. 254).